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Jenseits des Spiegels

Buch Eins

Prolog

Nachdem die Schreie seiner Mamá verstummt waren, war sein Schluchzen das einzige Geräusch in dieser Nacht.

Sie waren im Schutz der Dunkelheit gekommen, lautlos wie Schatten und hatten sich das zurückgeholt, was ihnen gehörte. Sie wollten was ihnen durch eine List genommen worden war, doch seine Eltern hatten es nicht freiwillig geben wollen. Sie gaben nie das zurück, was sie sich genommen hatten. Sie glaubten ein Recht auf all diese Dinge zu besitzen, doch dieses Mal war es anders gekommen.

Tief in der Nacht war seine Mamá in sein Zimmer gestürmt und hatte ihn nicht nur aus dem Schlaf, sondern auch aus dem Bett gerissen. Die ganze Luft hatte nach Blumen gerochen, so als wenn sie die Luft verzaubert hätte, um alle anderen Gerüche zu überdecken.

Im Flur gab es unter dem Teppich eine geheime Luke, die seine Eltern direkt nach ihrem Einzug dort eingebaut hatten. Seine Mamá hatte sie hastig geöffnet und ihn hineingesetzt. „Du musst ganz leise sein“, hatte sie gesagt und ihm liebevoll über die Wange gestrichen. „Gib keinen Mucks von dir.“

Warum? Was war los? Er hatte es nicht verstanden. „Mamá, ich …“

„Hier.“ Wie aus dem Nichts zauberte sie seine Kuscheldecke hervor, die, die er schon besaß, seit er ein kleines Baby war und eigentlich gar nicht mehr brauchte, weil er schon groß war. Und doch hatte er sie lieb und kuschelte noch immer gerne mit ihr. „Und nun sei still.“

Mit einem letzten Blick auf ihn, hatte seine Mamá die Luke geschlossen. Durch die Ritzen war noch ein wenig Licht gefallen, aber nur, bis sie den Teppich wieder darüber gelegt hatte. Dann saß er in Dunkelheit und Stille.

Warum nur musste er hier drinnen sein? Was war denn los? Ängstlich hatte er die Decke an sich gedrückt und gewartet. Wo war nur sein Papá? Was hatte seine Mamá? So sonderbar hatte sie sich noch nie verhalten.

Eine ganze Weile war es ruhig gewesen, dann war jemand durch die Tür gekommen, viele Jemande. Er hatte es an ihren Schritten gehört, hatte sie gezählt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Er konnte schon zählen, war ein in-ti-li-genter kleiner Junge, das sagte seine Mamá immer. In-ti-li-gent. Ja, das war er.

Sechs Leute waren gekommen. Dann hatte sein Papá gesprochen. Er hatte die ruhige, tiefe Stimme gehört, die ihm abends immer eine Geschichte vorlas, damit er gut schlafen konnte.

Aber jetzt hörte er diese Stimme nicht mehr. Sie war verstummt, genauso wie die seiner Mamá. Warum? Warum hörte er sie nicht mehr?

Nachdem sein Papá gesprochen hatte, war es laut geworden. Jemand hatte wütend geantwortet, dann gab es einen Knall, einen Ruf und dann hatte seine Mamá angefangen zu schreien. Sie hatte so laut geschrien, dass er sich die Ohren zuhalten musste und diesen Laut doch nicht aussperren konnte.

Er hatte das Kratzen auf dem Holzboden gehört, das Knurren und die Schreie. Von seinem Papá war nichts mehr an seine Ohren gedrungen. Und dann hatte alles abrupt geendet. Kein Geräusch mehr, kein Schreien, nur noch Schritte. Er hatte sie gezählt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Sie waren zur Tür gegangen, sechs Leute. Sechs Leute waren gekommen und sechs wieder gegangen. Danach war alles ruhig gewesen.

Jetzt wartete er darauf, dass seine Mamá ihn aus dem kleinen Loch holte, aber sie kam nicht. Warum kam sie denn nicht? Er konnte nicht ahnen, dass sie tot auf dem Teppich lag, direkt neben seinem Papá, der ihm nie wieder etwas vorlesen würde. Er wusste nicht, dass ihre leblosen Augen starr auf die Wand gerichtet waren und ihr Blut langsam aber sicher durch den Teppich sickerte und drohte auf den kleinen in-ti-li-genten Jungen zu tropfen.

 

°°°°°

Tag 1

„Geh weg“ nuschelte ich und versteckte mein Gesicht unter meinem Arm. Aber natürlich ging, wer auch immer mich da gerade belästigte, nicht weg, sondern rüttelte mich noch nachdrücklicher an der Schulter. Jetzt, nachdem er die ersten Lebenszeichen von mir erhalten hatte, wollte er/sie wohl nicht so schnell nachgeben.

Mein Schädel brummte, wie nach einer ausgiebigen Sauftour und mein Rücken schmerzte protestierend auf, als ich versuchte, es mir bequemer zu machen. Wo war ich hier eigentlich? Mein Bett jedenfalls war viel weicher … glaubte ich zumindest. Wo kamen nur diese höllischen Kopfschmerzen her? Ich konnte mich nicht erinnern. Kein klarer Gedanke reichte durch diesen Dunstnebel unter meiner Schädeldecke.

Wieder ein Rütteln an der Schulter, nun schon ungeduldiger.

„Oh krass, du nervst!“

Jemand grummelte und ich hörte ein Kind kichern. Ein Kind? Ich konnte mich nicht erinnern … nun schlug ich die Augen doch auf, ganz langsam, um mich an das schummrige Licht, das durch die kleinen Fenster fiel, zu gewöhnen und meinem Kopf keinen weiteren Grund zu geben, mich mit einer neuerlichen Schmerzattacke zu malträtieren.

Das Erste, was ich wahrnahm, war der Holzboden. Genauer gesagt ein staubiger Holzboden, den ich scheinbar zu meinem Nachtlager auserkoren hatte. Die Frage war nun warum? Und noch wichtiger, wo befand sich dieser Holzboden?

Das Zweite, was mein benommenes Hirn versuchte zu erfassen, war die Gestalt die vor mir hockte. Ich musste ein paar Mal blinzeln, um meine Sicht klar zu stellen und registrierte, dass sich vor mir ein breitschultriger Typ mit grimmigen Gesicht und buschigen Augenbrauen befand. Er hatte seine Stirn so tief in Falten gezogen, dass es den Anschein erweckte, ihm säße eine Raupe über den Augen. Mitte dreißig schätzte ich ihn, schwarzes Haar, braune Augen und mir völlig unbekannt.

Das erschreckte mich nicht, etwas anderes aber schon.

Es war nicht so, dass ich oft auf einem fremden Fußboden, mit einem fremden Mann in einer mir fremden Umgebung aufwachte – jedenfalls fiel mir kein ähnliches Szenario ein. Was mich erschreckte war seine Aufmachung. Er trug nichts als einen Lendenschurz. Einen Lendenschurz! Fremder Fußboden, okay, kam ich mit klar. Fremde Umgebung, konnte ich auch noch mit leben. Aber ein fremder, fast nackter, alter Kerl war dann doch zu viel. Ich fuhr so schnell hoch, dass der Typ einen Satz rückwärts machte. Mein Kopf ruckte nach hinten und schien von innen her zu explodieren. Ich hatte etwas getroffen, sehr hart sogar. Schützend riss ich die Arme über den Kopf. Glassplitter rieselten auf mich herunter, klirrten auf dem Boden und ritzen mir leicht die Haut an den Armen auf. Der Krach verklang und es folgte eine gänsehautbringende Stille.

Langsam und sehr vorsichtig öffnete ich erst das eine Auge, dann das andere.

Der Typ mit den buschigen Augenbrauen stand aufrecht, blickte finster auf mich herunter und mahlte mit den Zähnen, als versuchte er, eine lederne Schuhsohle kleinzukriegen. Erst jetzt merkte ich, dass sich noch weitere Leute hier aufhielten. Ein Junge und ein Mädchen, die nicht älter als zehn sein konnten und eine junge Frau, die mich mit unverhüllter Neugierde musterte. All diese Leute waren mir unbekannt. Und wie der Mann trugen auch sie nichts weiter als diesen Fetzen um die Hüfte.

Die Frau lachte unvermittelt auf, so dass ich zusammenzuckte. „Na, jetzt kann Boa sich nicht mehr beschweren, wenn ich diesen hässlichen, alten Spiegel entsorge.“

Und mir wurde klar, dass ich mit meinem Dickschädel einen mannshohen Spiegel zerdeppert hatte. Ein Licht blitzte vor meinem inneren Auge auf, wie eine Erinnerung. Der Schmerz in meinem Kopf explodierte, dann wurde alles schwarz.

 

°°°

 

Als ich das nächste Mal zu  mir kam, lag ich ausgestreckt auf einer Couch in einem Arbeitszimmer, das mir entfernt bekannt vorkam. Sehr entfernt, denn die Möbelstücke waren mir völlig fremd. Weder mit dem großen Schreibtisch, noch mit den Regalen an den Wänden oder der Couch mit dem Glastisch, auf der ich lag, konnte ich etwas anfangen. Auch der Teppich, die Wände und die Vorhänge waren mir nicht geläufig. Im Grunde kannte ich nur die Form des Zimmers und das Gefühl von Vertrautheit, welches dieser Anblick bei mit auslöste.

Ich drehte meinen Kopf ein Stück und … BAM! Der Schmerz kehrte mit einem Schlag in meinen Kopf zurück. Ich stöhnte, wodurch die drei Anwesenden im Raum auf mich aufmerksam wurden. Der Mann mit der Raupe über den Augen und die Frau, der der Begriff Schamgefühl völlig fremd war. Außer ihr war noch eine weitere Frau anwesend, die sich der Kleiderordnung der Blonden angepasst hatte.

„Aber wenn es draußen frisch wird, zieht ihr euch eine Jacke über, oder?“ Gehörte diese raue, lallende Stimme wirklich zu mir? Was hatte ich nur getrunken? Gott mein Schädel!

Die neue Frau hatte tiefschwarzes Haar, mit ein paar weißen Strähnen, das ihr glatt bis auf den Po fiel. Sie war schlank und durchtrainiert – was ich bei ihrer Kleiderwahl mehr als deutlich feststellen konnte. Erste Falten zeigten sich um ihre Augen und den Mund. Ich schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie hatte einen harten Zug im Gesicht, aber nichts davon beunruhigte mich so sehr wie ihre gelben, stechenden Augen, die sich bei meinem Aufstöhnen auf mich gerichtet hatten. Nicht nur, dass ich noch nie im Leben von jemand mit gelben Augen gehört hatte, in ihnen lag auch etwas Herrisches und Unbarmherziges, das mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Ihr Blick ließ sich ganz leicht mit einem Wort beschreiben: Wild.

„Ich bin Prisca, die Alphahündin vom Wolfsbaumrudel. Du bist in mein Territorium eingedrungen.“

Hä? Redete die mit mir? So wie die mich fixierte, war die Antwort wohl ein ganz klares Ja. Aber viel wichtiger: Alpha, Rudel und Territorium? Okay, egal, wo ich hier war, die Frau hatte mächtig ein an der Waffel und ich sollte zusehen, dass ich hier schleunigst verschwand.

Prisca setzte sich in Bewegung, auf eine Art, die ich nur als geschmeidig bezeichnen konnte, etwas, das sie irgendwie furchterregend wirken ließ. Sie setzte sich vor mir auf die Tischkante, die Augen unablässig auf mich gerichtet. „Ich habe drei Fragen und es wäre besser für dich, wenn du sie zu meiner Befriedigung beantwortest.“

War das eine Drohung? Also, ich war mir ganz sicher, dass das eine war. Langsam bekam ich leichte Beklemmungen. Wo war ich hier nur gelandet? Ach ja, dem Territorium des Wolfsbaumrudels. Oder besser gesagt, inmitten des Nestes der Spinner.

Ich blinzelte ein paar Mal um meine Augen klar zu kriegen. Gott, diese Kopfschmerzen verbesserten  meine Situation nicht im Mindesten. „Okay, frag.“ Was hätte ich sonst sagen sollen?

Prisca nickte. „Wer bist du, warum bist du hier und wie ist es dir gelungen in unser Lager einzudringen?“

„Und in mein Haus“, fügte der Mann mit einer Raupenaugenbrauen hinzu.

„Genauer auf seinen Dachboden.“ Die Blonde schien nicht ärgerlich zu sein wie die beiden anderen, sondern einfach nur neugierig.

Prisca hob die Hand als Zeichen zum Schweigen. „Domina, Fang, seid ruhig.“ Dann hatte ich wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit – ich Glückspilz! Diese Frau strahlte etwas aus, das mich wünschen ließ, ganz weit weg zu sein. Sie strahlte Macht aus, unbändige Macht. Wenn man ihren Worten glauben konnte, dann stand Alphahündin wohl für Anführer. Super, ich hatte den Anführer der Spinner vor mir.

Ich drückte mich tiefer ins Polster, in der Hoffnung, dass sie mich übersah. Fehlanzeige, sie hob lediglich ihre Augenbraue.

„Nun?“

„Ähm …“ Ja, was nun? „Wie war noch mal die Frage nochmal?“

„Wer, wie und warum“, half mir die Blonde – Domina – hilfreich.

„Ich …“ Ich runzelte die Stirn. Ja, wie war ich eigentlich hier hergekommen? Ich wusste es nicht. Es war irgendwie weg, ein totaler Black Out. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier hergekommen war, noch warum. Ich wusste ja nicht mal, wo ich war. Scheiße, ich wusste nicht mal, wo ihr herkam, ich … diese verfluchten Kopfschmerzen! „Ich weiß nicht“, gab ich verunsichert zu. „Ich weiß nicht warum ich hier bin.“

Diese Domina machte einen Schritt zur Seite, um einen besseren Blick auf mich zu erhaschen. „Vielleicht verrätst du uns erst mal deinen Namen.“

„Ich bin …“ Verdammt, wer war ich denn? Wie lautete mein Name? Mein Name, wie war der? Ich suchte in meinem Gedächtnis, aber da war nichts, ich wusste ihn nicht. Ich konnte doch nicht meinen Namen vergessen haben. Scheiße, das ging doch nicht, ich hatte keine Ahnung wer ich war.

Panisch sah ich von einem zum anderen, als mir klar wurde, dass ich ihn nicht wusste. Mein Atem ging schneller, mein Herz schlug wie wild. Es war weg, alles war weg! Da, wo meine Erinnerung sein sollte, war nur ein großes, dunkles Loch! „Fuck, ich … ah!“ Als ich hochfuhr explodierte der Schmerz hinter meinen Schläfen. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich fiel mit einem Rums von der Couch.

Prisca sprang überrascht zur Seite.

Mein Gott, wer war ich? „Mein Name, mein Name, ich weiß nicht … wie ist mein Name? Ich weiß nicht wer ich bin“, murmelte ich in den Teppich. Vorsichtig, ganz vorsichtig richtete ich meinen Oberkörper auf und sah die drei nacheinander an. Was war hier los, warum wusste ich nicht mehr, wer ich war? „Wer bin ich? Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht, wer ich bin. Was habt ihr mit mir gemacht?“

„Was wir mit dir gemacht haben?“ Prisca hockte sich vor mich. Ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr dabei wie ein Schleier um den Körper. Ich lehnte mich so weit zurück, wie es die Couch in meinem Rücken zuließ. Diese eindringlichen Augen jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken, ich wollte sie nicht so nahe bei mir haben. Ja, ich gab es zu, diese Frau jagte mir echt Angst ein und dazu stand ich auch.

„Wir haben dich gefunden“, sagte sie, „und dann hier hergebracht.“

Das konnte nicht alles sein, da war ich mir sicher. Sie log, garantiert. „Aber warum weiß ich dann nicht mehr wie ich heiße?“, fragte ich herausfordernd.

Prisca forschte in meinen Augen, suchte nach der Lüge in ihnen, danach, dass ich hier eine Show abzog, doch das, was sie sah, veranlasste sie zu seufzen. „Ich weiß es nicht. Domina, geh bitte und hol Rem.“

„Bin schon weg.“

Dann musterte Prisca mich erneut. Was sie wohl sah? Verdammt, ich wusste nicht mal mehr wie ich aussah! Was zum Teufel war hier los? „Katze, sag mir was das Letzte ist, an das du dich erinnerst.“

Katze?

„Sag es!“

Schluck. „Ich … ich weiß nicht.  Ich bin … ich war … oh Gott, ich kann mich an nichts erinnern.“ Wer war ich, warum war ich hier? „Das gibt’s nicht. Ihr habt irgendwas mit mir gemacht!“ Und das war der Moment, in dem ich in Panik geriet. Ich wusste nicht mehr was da aus meinem Mund kam, nur das es wirres Zeug war, kurz bevor ich Prisca umstieß und versuchte abzuhauen. Diese Aktion endete damit, dass ich wieder mit tränenden Augen auf dem Boden landete. Diesmal war jedoch nicht der Schmerz in meinem Kopf dafür verantwortlich – obwohl ich die Bewegung nicht gut verkraftete – sondern der Typ mit der Raupe – Fang –, der mich mit der Nase voran in den Teppich drückte.

„Lass mich los!“, schrie ich. „Loslassen, Hilfe, HIIIIILFE!“

„Hey, ganz ruhig …“

„Nein, nein, nein. Nimm deine Finger von mir. Hilfe, ist da jemand? Hilfe … lasst mich los!“ Ich kämpfte gegen ihn, merkte aber schon bald, dass ich keine Chance hatte. Er war nicht nur stark, er drückte mich auch mit seinem ganzen Gewicht auf den Boden. „Bitte, lass mich los“, bettelte ich. „Lass mich los, lass mich gehen.“ Oh Gott, in was hatte ich mich hier reingeritten?

„Lass von ihr ab“, hörte ich Prisca.

Fang zögerte einen Moment, gab mich dann frei und postierte sich so, dass mir der Fluchtweg zur Tür abgeschnitten war. Also trat ich den Rückzug an, solange, bis ich die Wand in meinem Rücken spürte, an der ich mich zu einem kleinen Häufchen schützend zusammenkauerte. „Was passiert mit mir, was wollt ihr von mir?“ Ich wollte hier weg. Was hatten diese Leute mit mir angestellt? Es war doch nicht normal, dass ich mich nicht an meinen Namen erinnern konnte.

Ohne klopfen trat Domina zurück in den Raum. Ihr auf dem Fuß folgte eine Frau in den mittleren Jahren. Auch sie trug nichts weiter als den Lendenschurz. Sie war riesig und damit meinte ich wirklich riesig, aber das besondere an ihr war die Haarfarbe. Sie waren feuerrot. Es schien, als ständen sie in Flammen.

„Domina sagte, du brauchst mich für einen Notfall?“

„Die Katze, Rem, sag mir, was mit ihr ist.“

Rem warf mir nur einen kurzen Blick zu, sah mich verwirrt und verängstigt an der Wand kauern, bevor sich ihre Gesichtszüge verhärteten. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“

„Sie hat Prisca angegriffen“, sagte Fang. „Ich habe dafür gesorgt, dass sie es kein zweites Mal tut.“

„Sie hat mich nicht angegriffen“, erwiderte Prisca gereizt. „Und jetzt, Rem, bitte.“

Die Frau mit dem Feuerhaar kam auf mich zu. Ich rutschte solange vor ihr zurück, bis ich nicht mehr weiter kam, in eine Ecke zwischen Wand und Regal, ließ sie keinen Moment aus den Augen. „Keine Angst, ich tu dir nichts.“ Sie kniete sich vor mir, behielt dabei aber Abstand. „Ich will dir nur helfen. Sag mir einfach was dir wehtut.“

„Es geht nicht um ihr körperliches Befinden, sondern warum …“

„Ich bin hier die Heilerin“, unterbrach Rem sie unwirsch. „Du willst, dass ich ihr helfe, also lass mich meine Arbeit so tun wie ich es für richtig halte. Ich rede dir in deine auch nicht rein.“ Der Blick mit dem sie Prisca bedachte war hart und ließ die selbsternannte Alphahündin verstummen. Dann wandte sie sich wieder mir zu, viel sanfter, weicher. „Also, wie kann ich dir helfen?“

Ja, als wenn ich auf diesen Hilfequatsch eingehen würde. Ich wusste nicht, was hier los war, aber eins wusste ich mit Sicherheit, diesen Leuten war nicht zu trauen.

„Geht bitte raus, damit ich mit ihr allein sprechen kann“, bat Rem. Was waren das eigentlich für seltsame Namen?

Keiner zögerte, keiner erhob Widerworte. Selbst Prisca machte sich daran Rems Aufforderung sofort nachzukommen. Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken, dann war ich mit der Rothaarigen allein. „Okay, jetzt sind sie weg.“ Sie setzte sich in den Schneidersitz, stützte den Kopf in eine Hand und wartete. Eine ganze Weile, tat nichts weiter als mich still zu beobachten, doch mein Herz wollte einfach nicht langsamer schlagen. Mir war heiß und kalt zugleich, ich spürte wie mir der Schweiß ausbrach und das Blut in meinen Ohren rauschte. Was war nur mit mir geschehen? Was wollten diese Leute von mir?

„Wenn du Schmerzen hast wäre es vielleicht ganz gut, wenn du sie mir mitteilst“, durchbrach sie irgendwann die Stille, nahm dabei sehr genau wahr, wie ich bei ihrer Stimme zusammenzuckte. „Ich bin die Heilerin des Rudels und würde dir gerne helfen.“

Noch eine von denen. Was war das hier, eine Sekte? Heilerin. So was gab es nur in schlechten Filmen.

„Vielleicht fangen wir mit etwas Einfachem an. Magst du mir nicht deinen Namen sagen?“

„Ich kann nicht.“ Gehörte diese dünne Stimme etwa mir?

„Warum kannst du nicht?“

„Weil ich mich nicht an ihn erinnere.“ Warum sagte ich ihr das eigentlich?

Sie schwieg einen Moment. „Du erinnerst dich nicht an deinen Namen? Kannst du mir sagen wie alt du bist?“

Nein, das konnte ich nicht, wie mir klar wurde. Ich konnte gar nichts über mich sagen und schüttelte daher ganz leicht den Kopf.

„Weißt du, wo du herkommst?“

Noch ein Schütteln, nur ganz vorsichtig, um meinen Kopfschmerzen keinen Grund zu geben, wieder voll aufzudrehen.

„Wie alt bist du?“

Ich zuckte die Schultern.

„Hm.“ Sie musterte mich mit einem prüfenden Blick. „Du kannst dich also an gar nichts erinnern?“

Ein weiteres Schütteln.

„Ist dir sonst noch etwas Ungewöhnliches an dir aufgefallen?“

„Mein Kopf.“ Ich fuhr mit der Hand langsam an die Schläfe. „Er tut furchtbar weh. Als hätte mich ein LKW gerammt. Oder vielleicht auch zwei.“ Ich versuchte ein vorsichtiges Grinsen, was eher in einer Grimasse endete. Gott, was war nur mit mir los?

„Darf ich mir deine Augen genauer ansehen?“

Durfte sie? Ich war mir nicht sicher. Eigentlich wollte ich mich von ihr nicht berühren lassen, von keinem. Zwar schien sie mir hier als die bisher zugänglichste Person, aber Eindrücke konnten täuschen. Andererseits war da etwas in ihren Augen, etwas Sanftes, das jeden meiner Schutzwälle mit einem einzigen Luftzug niederriss. Ich nickte wie in Trance. Viel schlimmer konnte es kaum noch werden und sie schien mir wirklich helfen zu wollen.

Rem zog eine kleine Taschenlampe aus einem Gürtel, den sie um die Hüfte trug, schaltete sie ein und beugte sich leicht vor. Wow, diese Leute kannten also doch noch andere Kleidungstücke.

„Wie bei Batman“, hörte ich mich sagen.

„Wie bitte?“ Sie zog mir ein Augenlid hoch und leuchtete mir mit einem schwachen, bläulichen Licht hinein. Es war so sanft, das meine Kopfschmerzen nicht schlimmer wurden. Zwar besserten sie sich auch nicht, aber von weiteren Schmerzattacken blieb ich verschont.

„Der Gürtel. Batman hat auch so einen. Aus dem zieht er auch immer das, was er gerade braucht.“

„Ich kenne keinen Batman.“ Das Licht wanderte zu meinem zweiten Auge.

„Du kennst Batman nicht? Den Superheld mit Robin an seiner Seite und seinem Erzfeind, dem Clown? Den kennt doch jeder.“

„Nein, ist mir nicht geläufig.“ Sie steckte die Lampe zurück in den Gürtel und band einen kleinen Beutel davon los. Mit den Fingerspitzen tupfte sie hinein, so dass etwas Staub an ihnen haften blieb. Damit strich sie mir sanft am Kopf entlang. Meine Schläfen erwärmten sich angenehm. Langsam breitete sich die Wärme über meinen ganzen Kopf aus und vertrieb überall, wo sie langkroch, die Schmerzen.

Ich seufzte erleichtert.

„Besser?“

„Ja.“ Viel besser. „Danke.“

„Nichts zu danken, ich tu das gerne.“ Rem wischte sich die Finger an den Beinen ab und band das Säckchen zurück an ihren Gürtel. Dann untersuchte sie mit meiner Erlaubnis meinen Kopf. Nach ein paar Minuten war sie fertig und ließ sich zurück in den Schneidersitz fallen. „Ich kann dir nicht genau sagen, was mit dir los ist. Deine Kopfschmerzen und die fehlende Erinnerung deuten auf eine Kopfverletzung hin, aber er sieht völlig in Ordnung aus.“

„Ich habe meine Erinnerung verloren?“

„Wie würdest du es sonst nennen?“

Gute Frage. Aber, wie hatte das passieren können? „Eine Amnesie.“

Fragend legte Rem den Kopf zur Seite, sagte aber nichts, bis sie aufstand. „Ich muss mich kurz entschuldigen, um mit Prisca zu reden. Warte hier, wir sind gleich wieder zurück.“

Sie ging hinaus, ließ aber die Tür offen, so dass sie mich sehen konnte, während sie den anderen ihre Diagnose mitteilte. Keine Chance durchs Fenster abzuhauen. Sie würden es sofort merken. Ich schlang die Arme um mich. Plötzlich war mir mehr als kalt. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir passiert war, oder warum ich an diesem Erinnerungsverlust litt. Ich drücke meine Arme enger um mich und spürte dabei etwas in meiner Jackentasche. Etwas Dickes. Ein Portemonnaie! Und in einem Portemonnaie bewahrte man üblich jede Menge Kleinkram auf. Vielleicht …

Hastig zog ich es aus der Tasche. Es war klein und so dick, das der Drückknopf fast von allein aufsprang. Vorsichtig, als hätte ich Angst vor seinem Inhalt, öffnete ich es. Das Erste, was ich in die Finger bekam, waren ein Haufen Visitenkarten, die ich achtlos auf den Boden fallen ließ. Ein Gutschein über eine Kugel Eis in irgendeinem Eiscafé. Ein paar Quittungen, fünfunddreißig Euro in Scheinen und dann fand ich ein Fach aus dem ich eine EC-Karte zog. Kontonummer, Bankleitzahl und ein Name. War das mein Name? Ich fand noch einen Führerschein und einen Ausweis. Beide waren auf denselben Namen ausgestellt, doch mit dem Foto konnte ich nichts anfangen. Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, wie ich aussah. Was war nur mit mir geschehen?

„Was hast du da?“

Ich zuckte vor Schreck so hastig zusammen, dass mir der Führerschein aus der Hand fiel, direkt vor Dominas Füße. Sie hob ihn auf, schaute ihn sich von allen Seiten an und dann zu mir. „Was ist das?“

Wollte die mich verarschen? Oder lebte diese Sekte wirklich so abseits von allem, dass sie nicht mal einen Führerschein kannte? Gab es hier dann auch keine Autos? Wie war ich dann hierher gekommen, verflucht noch mal? Das ergab doch keinen Sinn!

Ich antwortete nicht auf ihre Frage, stattdessen stellte ich eine eigene. „Habt ihr hier …“ Ich musste mich räuspern, so rau war meine Stimme. „Hab ihr einen Spiegel? Kannst du mir einen Spiegel geben?“

Sie konnte. Im Regal lag ein kleiner Handspiegel den sie mir reichte. Ohne sie zu berühren, nahm ich ihn ihr ab. Das Gesicht, das mich daraus ansah, kannte ich nicht, aber es war das Gleiche wie auf dem Foto. Weißblondes Haar, das zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten war, große grüne Augen, die leicht schräg standen. Helle Haut, herzförmiges Gesicht. Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass ich einen schmalen Körper besaß. Nicht schlank, sondern richtig schmal, kaum Oberweite und einen flachen Hintern. Rundungen suchte man vergeblich.

Die Fingernägel waren kurz geschnitten und ein weiterer Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich kein Make-up trug. Ich sah wieder in den Ausweis und zurück auf mein Spiegelbild. „Mein Name ist Talita Kleiber.“

 

°°°

 

Talita Kleiber, zwanzig Jahre, ein Meter achtundsiebzig, Wohnort München. Meine Krankenkasse war die Technikerkasse, bei der ich unter der Nummer 983634653536 geführt wurde. Meine Bank war die Sparkasse. Das und noch ein paar andere Dinge fand ich heraus, als ich das Portemonnaie praktisch auseinandernahm.

Ich hatte mir bei einem Supermarkt eine Packung Kaugummis und eine Flasche Selters gekauft. Die Ware auf dem zweiten Kassenbon lief unter Geschenkartikel, daher hatte ich keine Ahnung, für was ich dort mein Geld gelassen hatte. Ich besaß Visitenkarten von verschiedenen Ärzten, darunter auch ein Tierarzt. Besaß ich ein Tier? Und wenn ja, welches? Ein Videothekenausweis, ein Sozialversicherungsausweis und ein Mitgliedsausweis für einen Sportverein. Visitenkarten für einen Friseur und einen Fitnessclub hatte ich auch. Fahrscheine und ein Studentenausweis steckten in einem Seitenfach. An Geld besaß ich genau Achtunddreißig Euro und zweiundsiebzig Cent.

All diese Sachen machten mich aus, ergaben mein Leben, aber ich kannte nichts davon. Selbst die Menschen auf den vier Fotos, die ich unter dem Klarsichtfach fand, waren mir völlig unbekannt. Inklusive meines eigenen Gesichts, das mich von drei der Fotos anlächelte.

Auf dem ersten Foto musste ich jünger gewesen sein, noch ein halbes Kind. Eine Frau hatte von hinten ihre Arme um meine Schultern geschlungen und lächelte in die Kamera. Sie besaß braune Haare, hatte ähnliche Gesichtszüge wie ich. War das meine Mutter? Eine Tante? Oder einfach nur jemand, den ich kannte?

Auf dem zweiten und dem dritten Foto war ich mit einem Mädchen zu sehen, das in meinem Alter sein musste. Sie war hübsch, hatte lange, braune Haare und ein freundliches Gesicht. Sie war das, was man einen Traum der Männer nannte. Auf dem einen Bild hielt sie mir Hasenohren an den Kopf, auf dem anderen standen wir Arm in Arm vor einem Café.

Das letzte Foto zeigte einen schwarzhaarigen Kerl mit grünen Augen und jeder Menge Sommersprossen im Gesicht. Er lächelte schüchtern. Ein echt süßer Typ, aber wer er war und was er für mich bedeute, wusste ich nicht.

Ich drehte alle Fotos hin und her, in der Hoffnung weitere Informationen zu bekommen, die eine Erinnerung in mir wachrufen würden, doch da war nichts. Kein Datum, kein handgeschriebener Kommentar, nichts. Ich hatte einen Haufen Kram und konnte im Grunde nichts damit anfangen. Aufgereiht lagen diese Bruchstücke meines Lebens vor mir. Sie konnten mir weder sagen, wer ich war, noch mir meine Erinnerung zurückgeben.

„Einen solchen Ausweis habe ich noch nie gesehen“, sagte Prisca. Nachdem Domina ihnen meinen Führerschein gezeigt hatte, war sie mit den anderen wieder reingekommen, um sich mein Leben auf diesen Überbleibseln anzusehen.

Ich saß jetzt wieder auf die Couch und die wenigen Dinge, die ich besaß, waren über den Tisch verteilt, wo jeder der Anwesenden sie gründlich – und in Dominas Fall sogar fasziniert – unter die Lupe nahm.

„Das ist ein Führerschein.“ Das einzig Positive an der ganzen Sache war, dass dank Rem meine Kopfschmerzen verschwunden waren. Ein wirklich schwacher Trost. Was war hier nur los? Man verlor doch nicht so einfach seine Erinnerung.

„Wofür?“

Was? Ach ja, Führerschein. „Der bezeugt, dass ich ein Auto steuern darf.“

„Was ist ein Auto?“, fragte Rem, die sich gerade eines der Fotos ansah.

Ungläubig schielte ich zu ihr rüber. Wollte die mich veräppeln? „Du weißt nicht was ein Auto ist?“

„Nein, das sagt mir genauso wenig wie dieser Batman, oder das seltsame Wort, das du vorhin benutzt hast. Amne … äh …“

„Amnesie?“

„Genau das. Es ist, als sprichst du eine andere Sprache. Wirklich seltsam.“

„Nicht nur ihre Sprache ist seltsam“, mischte Fang sich an. „Seht euch nur ihre Kleidung an. Nicht mal in der Stadt habe ich so etwas gesehen. Oder die Dinge, die sie bei sich trägt. Wie sind diese Bilder zustande gekommen.“ Er deutete auf meine Fotos. „Oder das da, Videothekenausweis. Was ist das, eine Videothek?“

Ja und das war es, was noch merkwürdiger war, als die Tatsache, dass alles aus meinen Erinnerungen gestrichen war, was auch nur annähernd mich betraf. Diese paar Leutchen wussten wirklich nichts über den ganz normalen Alltag. Sie konnten nicht einmal mit dem Wort Arzt etwas anfangen. Es war, als lebten sie in einer ganz anderen Welt. Ich meine, wer wusste den bitte nicht, was ein Auto war? Hier war doch echt etwas oberfaul.

Meine einzige Erklärung für diese Situation war, dass ich mich in einem Traum befand. Ja, genau, ich träumte und sobald ich aufwachte würde der ganze Spuck ein Ende haben. Ich würde wieder wissen, wer die Personen auf den Fotos war, oder die junge Frau, die aus dem Spiegel zurück schaute. Ich würde meinen Namen wissen, ohne auf einen Ausweis zu gucken und darüber lachen, was für verrückte Sachen ich mir in meinem Kopf zusammenspinnen konnte.

Doch ich wachte einfach nicht auf. Ich blieb eine Gefangene in meiner Phantasie.

Prisca seufzte, legte den Führerschein zurück auf den Tisch und sah mich einfach nur an. Unter diesem Blick fing ich an mich zu winden. Das war unheimlich, als überlegte sie, wie sie mich schnellstmöglich auf besonders grausame Weise wieder loswurde, weil ich ihren Frieden gestört hatte. „Was soll ich nur mit dir machen?“

Hatte sie die Frage an mich gestellt oder einfach nur laut gedacht? Da ich es nicht wusste, bevorzugte ich es an dieser Stelle einfach zu schweigen. Davon mal abgesehen hätte ich sowieso nicht gewusst, was jetzt passieren sollte. Hallo? Gedächtnisverlust, ich war noch ratloser als sie.

„Schick sie einfach fort“, brummte Fang. „Jag sie aus dem Wald. Es ist nicht an uns, ihre Probleme zu lösen.“

„Aber wenn sie euch nur etwas vorspielt, dann erreicht sie damit genau das was sie will.“

Alle, eingeschlossen mir, wandten sich der Stimme an der Tür zu.

Oh. Mein. Gott!

Da stand ein Traum von einem Mann, der fleischgewordene Traum meiner schmutzigen Phantasien, ein richtiger Adonis. Hellbraunes Haar, das ihm in die gelben Augen fiel. Groß, einen ganzen Kopf größer als ich, muskulös, durchtrainiert. Markantes, hartes Gesicht, kantiges Kinn und an der Hüfte hatte er eine lange Narbe. Ich konnte sie auf der leicht gebräunten Haut genau sehen, weil er – schluck – im Adamskostüm vor uns stand. Völlig nackt! Ich konnte wirklich alles sehen und daran schien er sich nicht im Geringsten zu stören – keiner im Raum schien sich daran zu stören.

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und mir ziemlich heiß wurde. Jetzt fang nur nicht an zu sabbern, das wäre echt peinlich. Hastig senkte ich den Blick, sah mir den plüschigen Teppich an, die Struktur der grauen Couch, mein Hosenbein, alles nur nicht ihn.

Verdammt, was war nur mit den Leuten hier los, besaßen die gar keinen Anstand?

„Wie meinst du das?“, wollte Prisca wissen.

„Sie tut nur so, als besäße sie keine Erinnerung. Sie will, dass du sie fortschickst.“

Ich spürte plötzlich alle Blicke auf mir.

„Das stimmt nicht“, sagte ich sehr leise, aber das schien niemanden zu interessieren. Die Verschwörungstheorien von diesem Typ waren wohl einfach interessanter.

Der nackte Kerl neigte leicht den Kopf. Ich spürte seinen Blick auf mir, der mir praktisch Löcher in die Haut brannte. „Wer weiß schon warum sie hier ist. Aber wenn sie die Informationen hat, die sie braucht, dann liegt es nur nahe, dass die wieder weg möchte.“

Hallo? War der als Baby mal auf den Kopf gefallen? Ich war doch keine Spionin!

„In einem Stück, versteht sich“, fügte er noch hinzu.

Okay, das hätte er jetzt einfach mal stecken lassen können.

„Wenn das so wäre, dann hätte sie sich aber reichlich dumm angestellt“, ließ Domina verlauten. „Einfach auf dem Dachboden einzuschlafen und sich erwischen zu lassen. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube ihr.“

„Doch nur, weil sie eine Katze ist“, erwiderte der Adonis kalt.

„Pass auf, was du sagst, Veith.“ Domina funkelte ihn gefährlich an. Ihr ganzer Körper hatte sich angespannt, als wollte sie ihm gleich den Hintern versohlen.

Verwirrt sah ich zwischen den Leuten herum – dabei versuchte ich untere Regionen NICHT zu streifen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir hier etwas entging, etwas Entschiedenes. „Warum nennt ihr mich Katze?“ Das war jetzt schon das dritte Mal.

Als keiner bereit war sich meiner zu erbarmen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, sich gegenseitig mit Blicken zu erdolchen, gab Rem sich einen Ruck. „Weil du eine bist.“

„Weil ich eine …“ Verwirrt sah ich auf meine Arme. Helle, glatte Haut, zwei Hände mit je fünf Fingern. Kein Fell, keine Krallen, keine ledernen Ballen, alles in Butter. „Ihr Leutchen seid echt seltsam“, murmelte ich sehr leise, doch alle schienen es gehört zu haben.

„Nicht wir sind seltsam, du bist es, Katze“, ereiferte sich Fang.

„Ich bin keine Katze, ich bin ein Mensch, oder habe ich neuerdings Schnurrhaare, von denen ich nichts weiß?“ Zur Sicherheit tastete ich mein Gesicht mit den Händen ab, weil ich plötzlich wirklich befürchtete, dass da etwas war, was dort absolut nichts zu suchen hatte. Aber nein, nur glatte Haut. „Seht ihr, ich bin ein Mensch, keine Katze.“

Wieder gingen Stirnrunzeln und verwirrte Blicke durch die Menge.

„Was ist ein Mensch?“, fragte Domina neugierig.

„Was ein …“ Das konnte doch nicht ihr ernst sein. „Ich, ich bin ein Mensch, ihr seid Menschen, die ganze verfluchte Bevölkerung der …“

Als aus dem Flur plötzlich ein wütendes Brüllen und Poltern erklang, verstummte ich. Eine Frau fluchte und dann stürmte ein breitschultriger Mann im Lendenschurz mit Glatze herein. Er sah mich und dann … knurrte er. Ein echtes, richtiges Knurren. „Wo ist Isla?“, grollte er. Seine hasserfüllten Augen ließen mich kaum merklich zittern.

Meinte der mich? Verständnislos sah ich zu den anderen, aber auch denen schien plötzlich jede Freundlichkeit abhanden gekommen zu sein – falls da überhaupt mal welche gewesen war. „Ähm … wer?“

„Isla, meine Tochter, wo ist sie?!“, brüllte er mich an, machte einen wütenden Schritt auf mich zu, der mich umgehend dazu veranlasste, mich zu erheben, um mich notfalls aus dem Staub machen zu können. Keine Ahnung was jetzt schon wieder los war, aber der Typ war so wütend, dass ich ganz schnell aus seiner Gegenwart raus wollte. „Du hast sie, Katze, du hast sie geholt, und nun bist du zurückgekommen und jetzt sagst du mir, wo sie ist, sonst reiße ich dir die Kehle raus!“

Mir entglitt jeglicher Gesichtsmuskel. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Ich hatte doch nichts getan – zumindest glaubte ich das, sicher sein konnte ich mir gerade nicht.

„Wo ist sie?!“

Woher verdammt noch mal sollte ich das wissen. Hektisch schüttelte ich den Kopf, sah die anderen hilfesuchend an, aber die warteten einfach nur ab, was jetzt passierte. Verdammt, wo zum Teufel war ich hier gelandet? „Ich weiß nicht, wo ihre Tochter ist, ich kenne keine Isla …“ Oder kannte ich sie vielleicht doch und konnte mich nur nicht an sie erinnern? Scheiße! „Der Name sagt mir nichts.“

„Lüge“, knurrte der Mann und kam einen weiteren bedrohlichen Schritt auf mich zu.

Mich hielt nichts mehr. Mit einem Satz war ich über die Couch und drängte mich an die Wand. Wo sollte ich auch sonst hin? Die würden mich hier nicht raus lassen, jedenfalls nicht in einem Stück. Die sahen mich alle so feindselig an, dass ich langsam richtig Panik schob. „Bitte, ich weiß wirklich nichts über Isla, ich weiß nicht wer das ist, ich weiß nicht …“ Mein Augen wurden groß, als dem Mann plötzlich Haare aus dem Kopf sprossen, blondes Haar. Sein Gesicht verformte sich, wurde länger, die Augen schräger, stechender, so voller Hass und Verachtung. Die Lippen verzogen sich zu Lefzen, scharfe Zähne im Maul, der Körper streckte und bog sich, die Hände wurden erst zu Klauen, dann zu riesigen Pfoten. Eine Rute, lange, spitze Ohren, muskulöser Körper. Er fiel nach vorn, die ganze Haut überzog sich mit blondem Fell und dann stand vor mir ein geifernder, zähnebleckender Wolf – mit Lendenschurz.

Mir entrang sich ein Wimmern. Das konnte nicht wahr sein, meine Augen mussten mir einen bösen Streich spielen, oder ich hatte Halluzinationen, aber sowas gab es nicht. Männer konnten sich nicht einfach in Wölfe verwandeln, das war unmöglich!

„Ich frage nur noch einmal“, sagte der Wolf/Mann mit tiefer grollender Stimme. „Was hast du mit Isla gemacht? Wo hast du sie hingebracht?“

Ich konnte nicht antworten, nur wimmern. Das konnte nicht real sein. Ein Wolf, ein sprechender Wolf, der vor einer Minute noch ein Mensch gewesen war. Sowas gab es einfach nicht. Und doch stand mir jetzt einer gegenüber.

„Wulf“, kam es da von Veith. „Ich glaube nicht …“

Und da sprang der Wolf los, riss den Tisch um und setzte über die Couch weg. Ich schrie, als ich ihn auf mich zukommen sah, spürte schon fast, wie sich seine Zähne in meinen Hals versenken wollten und war zu nichts anderem mehr fähig, als zu schreien und die Arme vors Gesicht zu schlagen. Ein einfacher Reflex, auch wenn er nichts nutzen würde. Er würde mich fressen, er würde mich töten!

Er prallte gegen mich, riss mich zu Boden und schnappte nach meiner Kehle, während ich nichts anderes tun konnte, als um mein Leben zu schreien, zu treten, aber das half nichts. Er war zu stark, er war einfach überall. Der wilde Blick, seine Zähne. Der Geifer tropfte mir ins Gesicht, als ich versuchte, seinen Schädel von mir wegzuhalten. Ich spürte den Luftzug nah an meinem Hals, als ich mich im letzten Moment den Kopf zur Seite riss, hörte sein Knurren, wie die Zähne neben meinem Ohr aufeinander krachten und dann war das Gewicht plötzlich von mir verschwunden.

Hecktisch robbte ich sofort rückwärts, bis ich die Wand im Rücken spürte und sah, wie dieser Veith den Wolf von mir wegzog. Er hatte Schwierigkeiten, der Wolf drohte sich seinem Griff im Nacken zu entreißen und Fang musste ihm helfen. Aber erst als sich auch Prisca einmischte, sich vor ihn hocke und leise auf ihn einredete, hörte er auf sich gegen die anderen zu wehren. Er warf mir noch einen letzten, hasserfüllten Blick zu und wurde dann von Fang aus dem Raum eskortiert.

Ich konnte nichts weiter tun, als an dieser Wand zu kauern und alles mit großen Augen zu verfolgen. Der wollte mich töten. Der hätte mich getötet, wenn Veith ihn nicht von mir runtergeholt hätte. Tränen liefen mir über die Wangen und mein ganzer Körper zitterte vor Angst. Wenn Veith nicht eingegriffen hätte, würde ich Gevatter Tod jetzt die Hand reichen. Und wieder waren alle Augen im Raum auf mich gerichtet, diese gelben Augen, die auch der Mann/Wolf hatte.

Keiner sagte ein Wort, alles blieb still, bis eine schlanke, schwarze Wölfin in den Raum getrottet kam. Sie hatte nur einen kurzen, abschätzenden Blick für mich übrig, bevor sie sich an Prisca wandte. „Die Drillinge sind bei dir im Haus. Sie wollen wissen …“

Mit einer unwirschen Handbewegung schnitt Prisca der Wölfin das Wort ab. „Ich komme gleich. Sie sollen sich einen Moment gedulden.“

Die Wölfin verdrehte die Augen, „Als wenn sie das je gekonnt hätten.“ Sie wandte sich wieder um und verschwand aus dem Raum.

Prisca strich sich das lange Haar aus dem Gesicht und drehte sich dann zu mir um, nur um mich wieder mit diesem Blick zu malträtieren, als versuchte sie meine Seele selber zu ergründen. Dann schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben. „Veith, du hast recht, ich kann sie nicht einfach so gehen lassen. Bis ich genaueres über sie weiß, wird sie unserer Gast sein.“

Was? Die wollten … Gast? Die wollten mich gefangen halten? Das durften sie doch nicht! Die konnten doch nicht einfach so über mich bestimmen! „Aber das könnt ihr nicht machen“, kam es schwach von mir. „Ihr könnt doch nicht einfach …“

„Ich kann und ich werde“, unterbrach Prisca mich grob. „Domina? Ich möchte, dass du ein Auge auf sie hast. Sie darf sich im Lager bewegen, aber nicht allein.“

„Verstanden.“

„Gut. Kümmere dich bitte auch darum, wo sie für die Nacht untergebracht wird. Und für dich, Talita, hoffe ich wirklich, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Ich lasse mich nämlich nicht gerne zum Narren halten.“

Ich drückte mich noch enger an die Wand, versuchte förmlich mit ihr zu verschmelzen, in der Hoffnung, dass sie mich dann einfach vergessen würden. „Aber ich sage die Wahrheit“, beteuerte ich. Warum sollte ich auch lügen? Das ergab doch keinen Sinn.                                          

„Wollen wir es hoffen.“ Und dann zog sie sich völlig ungeniert den Lendenschurz herunter und wurde zu einem schwarzen Wolf mit weißen Stichelhärchen, der aus dem Raum trappte.

Ich konnte wieder nur wimmern. Ein Mann der sich in einen Wolf verwandelte, eine Frau, die sich in einen Wolf verwandelte, Menschen die sich in Wölfe verwandelten, als wären sie … so als … wie Werwölfe. Ich war umgeben von Monstern, eine Gefangene in ihrer Hand.

Ich merkte kaum, wie alle bis auf Domina aus dem Raum gingen, wie Veith mir noch einen kurzen Blick zuwarf. Er hatte mich gerettet, aber er hatte nichts als Verachtung für mich übrig.

Warum passierte mir das? Ich hatte doch nichts getan. Ich wusste nicht, wer diese Isla war, wer diese Menschen waren, oder was das für ein Ort war. Ich wusste gar nichts, bis auf die Tatsache, dass ich nicht hier sein wollte.

Ich revidierte meine vorherige Aussage, das war kein Traum, das war ein Alptraum, aus dem ich einfach nicht erwachte.

 

°°°

 

Eine ganze Weile ließ mich Domina einfach in Ruhe. Ich durfte an der Wand hocken, bis meine Tränen getrocknet waren. Sie ließ mir Zeit, damit ich meine Gedanken ordnen konnte, doch das wollte mir einfach nicht gelingen. Werwölfe? Wurde ich jetzt verrückt? Vielleicht war ich das ja schon und wusste es nur nicht. Vielleicht war ich ja auch schizophren. Das würde so einiges erklären. Einiges, aber nicht die Werwölfe.

„Hier rumzusitzen ist ganz schön langweilig“, warf sie irgendwann in die Stille hinein.

Bei ihrer Stimme zuckte ich zusammen, als hätte sie mir eins mit der Peitsche übergebraten.

„Willst du nicht mal langsam aufstehen? Wir könnten ein bisschen rumlaufen, in den Wald oder runter zum Fluss.“

Vorsichtig riskierte ich einen Blick zur Seite. Domina hatte sich auf die Couch auf den Rücken gefläzt und warf immer und immer wieder einen kleinen Ball in die Luft, der gekonnt zurück in ihre offenen Hände fiel. Hoch, runter, hoch, runter.

„Unterhältst du dich dann wenigstens mit mir?“ Als ich wieder nicht antwortete seufzte sie, fing den Ball auf und drehte sich so, dass sie mich im Auge hatte. „Wulf hat dich wirklich erschreckt, was?“

Das würde ich mit keiner Antwort würdigen. Der böse Blick den sie bekam, musste ihr reichen.

„Du darfst es ihm nicht übel nehmen.“

Doch, das durfte ich und wie ich das durfte. Und ich tat es auch. Naja, zumindest solange ich nicht vor Furcht zitterte. Ich konnte immer noch seinen heißen Atem im Gesicht spüren. Diese Zähne. Gott, diese Zähne würde ich wahrscheinlich nie wieder vergessen können.

„Eigentlich ist Wulf ein echt netter Kerl, aber seit Isla vor fast sechs Wochen verschwunden ist, ist er nicht mehr ganz er selbst.“ Sie schwieg einen Moment und seufzte dann schwer. „Isla ist alles was er noch hat, seit seine Frau vor vier Jahren gestorben ist. Er liebt sie abgöttisch und dass er nicht weiß, was mit ihr passiert ist, macht ihn halb wahnsinnig. Uns alle, aber ihn hat es am schlimmsten getroffen.“

Das Wort Wahnsinnig war wirklich wie für ihn geschrieben. Diese Augen, niemals würde ich den Blick darin vergessen. So voller Hass.

„Er vermisst sie einfach nur, er ist verzweifelt. Seit Isla verschwunden ist, ist er einfach nicht mehr derselbe.“

„Wie ist sie denn verschwunden“, hörte ich mich fragen. War ich denn noch zu retten? Hallo? Talita an Hirn, ist da oben jemand Zuhause? Das da war ein verfluchter Werwolf! Ich sollte vor Angst bibbern und mich nicht auf ein Kaffeekränzchen mit ihm einlassen. Wer wusste schon, wie Domina meine Frage interpretierte. „Tut mir leid“, beeilte ich mich hinterher zu sagen. „Ich wollte nicht neugierig sein.“

„Ist schon in Ordnung.“ Sie rollte sich auf die Seite und ließ den Arm mit dem Ball runter baumeln. „So genau wissen wir auch nicht, was passiert ist. Sie wollte eigentlich nur in den Wald ein bisschen spazieren gehen, die Reviergrenzen ablaufen, aber als sie am Abend noch immer nicht zurück war, haben sich ein paar von uns auf die Suche nach ihr gemacht. Ihre Spur verlor sich aber schon ein paar hundert Meter hinter dem Lager. Es war, als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst. Eben war da noch ihre Spur und dann Puff, einfach weg. Wir haben alles abgesucht, tagelang, aber bis auf ein bisschen Blut nichts von ihr gefunden. Und überall hatte es nach Katze gerochen.“ Bei den letzten Worten behielt sie mich genau im Blick. „Der Geruch nach Katze hing in der Luft, an den Bäumen, auf dem Boden und auch da, wo wir Islas Spur verloren haben. Deswegen hat Wulf auch so auf dich reagiert. Erst verschwindet seine Tochter in der Nähe des Lagers und die einzige Spur, die wir haben ist ein Geruch, der dort nicht sein durfte und ein paar Wochen später tauchst du hier auf. Eine Katze im Lager. Hätte mir eigentlich gleich klar sein müssen, was passiert.“

Und da war es wieder, Katze. Vielleicht hatte ich ja so ein Samtpfötchen als Haustier, das würde jedenfalls erklären, warum ich nach einer roch und auch, warum ich die Visitenkarte eines Tierarztes mit mir herumtrug. „Und weil ich nach Katze rieche, geht er davon aus, dass ich es gewesen bin.“

„Es liegt zumindest nahe, das musst du einsehen.“

„Nein, tut es nicht, diese Anschuldigung ist völlig an den Haaren herbeigezogen“, zischte ich. „Nur weil mir der Geruch einer Katze anhaftet, muss ich nicht gleich für das Verschwinden …“

„Anhaftet?“ Sie lachte spöttisch auf. „Die haftet nichts an, du strömst diesen Geruch aus. Du bist eine Katze, darum hat er es gemacht.“

„Ich bin ein Mensch, keine Katze, das habe ich bereits gesagt!“, fuhr ich sie an, hatte völlig vergessen, dass ich es hier mit einem Wesen zu tun hatte, das mir den Kopf abreißen konnte, wenn ich ihm auf den Sack ging. „Ich hab nicht die kleinste Ähnlichkeit mit einer Katze, oder bist du blind, dass du das nicht siehst?!“

Mein kleiner Ausbruch ließ sie schmunzeln. „Ich sehe grade auch nicht aus wie eine Katze, aber dennoch bin ich eine. Kannst du das denn nicht riechen?“

Sie war eine Katze? Ich klappte den Mund auf, aber irgendwie wollte da kein Ton rauskommen, deswegen schüttelte ich einfach nur den Kopf.

„Du kannst es nicht riechen?“

Hallo? War ich ein Hund oder was, dass ich einfach nur die Nase in den Wind halten musste, um eine Fährte aufzunehmen? „Nein“, sagte ich schlicht. Halleluja, ich hatte meine Stimme wiedergefunden.

Wie sie es schon so oft an diesem Tag gemacht hatte, musterte Domina mich ein weiteres Mal, als hoffte sie, irgendwann auf das Geheimnis zu stoßen, welches ich war. Ich wünschte ihr viel Glück und dass sie ihre Erkenntnisse bei Gelegenheit mit mir teilte. „Du bist wirklich seltsam.“

Wer von uns beiden hier seltsam war, würde ich jetzt sicher nicht mit ihr diskutieren. „Du bist also kein … ich meine … du …“

„Ich bin eine Löwin, wenn es das ist, was du wissen möchtest“, lächelte sie.

„Löwin“, wiederholte ich nicht sehr geistreich. Also hatten wir jetzt Menschen die sich in Wölfe verwandeln konnten und eine Frau, die die Gestalt einer Löwin annahm, wenn ihr danach war. Was bitte kam als nächstes? Ein Bär? Verdammt, ich sollte den Teufel nicht an die Wand malen, nachher bekam das Schicksal noch weitere merkwürdige Ideen.

„Ja, ein Löwin. Ich komme eigentlich aus dem Sommerland, aber …“ Sie verstummte kurz und nahm Einblick in eine Vergangenheit, die nur ihr allein zustand. „Ich bin als Kind hergekommen und aufgewachsen. Ich gehöre jetzt in dieses Rudel, das hier ist mein Zuhause.“

Ihr Zuhause. Sie wusste, wo es war, sie wusste, wer sie war, hatte alles was mir fehlte. „Und wo ist mein Zuhause? Wo komm ich her?“, fragte ich schwach. Es waren nur Kleinigkeiten, aber sie waren weg, einfach so, nichts war mehr da.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie schlicht.

Natürlich wusste sie es nicht, woher auch? Niemand hier wusste es, mich eingeschlossen und dass war eine ziemlich bittere Pille.

Als ich den Kopf wieder hob, fiel mein Blick in den Flur. Direkt gegenüber der Tür hing ein Bild von einer Frau mit langem weißem Haar. Falsch, sagte irgendetwas in mir. Das Bild dort war nicht richtig, es durfte da nicht hängen. Und auch die Tapete kam mir verkehrt vor. Nur weiß, dabei müsste sie eigentlich mit hellblauen Schnörkeln durchzogen sein.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wo kamen den diese Gedanken plötzlich her?

„Was ist?“, fragte Domina. „Warum guckst du so?“

„Das Bild, es ist … es darf da nicht hängen.“

„Warum?“

Das war eine wirklich ausgezeichnete Frage, aber da ich selber keine Ahnung hatte, hielt ich einfach den Mund.

Domina erhob sich und spähte durch die Tür. „Das ist, oder besser war, Merima, die Mutter von Prisca. Als ich noch klein war, war sie unsere Heilerin, aber das ist schon lange her.“

Merima, also. Der Name sagte mir gar nichts, auch nicht das Gesicht. Das war nur dieses Gefühl, dass es nicht richtig war, dass dort dieses Bild hing – das dort überhaupt ein Bild hing. Diese Stelle müsste leer sein, aber warum das so war, wusste ich auch nicht zu sagen.

„Möchtest du es dir ansehen?“

Hm, wollte ich das? Eigentlich nicht. Diese Ecke war doch recht bequem und dort draußen waren die Monster. Hier drinnen kam es mir wesentlich sicherer vor.

„Nun komm schon, Talita, steh auf. Prisca hat erlaubt, dass du dich hier bewegen darfst. Du bist keine Gefangene.“

Na, das sah ich aber definitiv anders. Ich durfte nicht abhauen und wurde überwacht. Wenn das keine Gefangenschaft war, dann sollte sie mir mal erklären, was das Wort für sie bedeutete.

„Na los, komm schon. Du brauchst keine Angst haben, Prisca hat Wulf verboten, noch mal in deine Nähe zu kommen.“

Das musste wohl passiert sein, als sie so eindringlich auf den wütenden Wolf eingeredet hat. Bei der Erinnerung daran spannte sich mein Körper ganz automatisch an. Diesem Kerl wollte ich kein zweites Mal begegnen.

Domina streckte mir ihre Hand entgegen. „Wir anderen sind ganz harmlos, das verspreche ich dir. Ich werde schon aufpassen, dass dir nichts passiert.“

Super. Eine Werkatze wollte mich vor den Werwölfen beschützen. Und was sollte ich bitte machen, wenn sie plötzlich Lust auf einen kleinen Snack verspürte?

Unsicher sah ich von ihr zum Flur. Einfach hier sitzen zu bleiben wäre wohl das Gescheiteste und trotzdem erhob ich mich langsam – ohne ihre Hand zu nehmen. Ganz ehrlich, von diesen Leuten wollte ich nicht berührt werden.  Aber ich war neugierig. Ich wollte wissen warum ich dieses komische Gefühl hatte. Das war schon aufgetaucht, als ich aus meiner Ohnmacht erwacht war. Dieses Zimmer war mir so bekannt vorgekommen, obwohl alles irgendwie verdreht wirkte.

Vorsichtig schob ich mich Richtung Tür, spähte kurz um die Ecke, weil ich Domina nicht zu lange aus den Augen lassen wollte. Dass ich da praktisch einen Löwen im Rücken hatte, wollte mir so gar nicht gefallen. Wer konnte mir das schon verdenken?

Der Flur war leer, weit und breit keine Seele zu sehen – besaßen diese Wesen überhaupt Seelen? Der Korridor war nicht sehr lang, hatte an beiden Enden Türen, die hinaus ins Freie führten – woher wusste ich das nun schon wieder? War ich vielleicht doch eine Spionin, die über die Gegebenheiten dieses Haus Bescheid wusste? Quatsch, das war doch Blödsinn, das musste einen anderen Grund haben.

Als alles ruhig blieb schob ich mich hinaus in den Korridor, direkt vor das Bild, aber es kam mir immer noch nicht richtig vor. Ich sah mich um. Hier gab es noch zwei Räume. Eine Küche und ein kleines Zimmer, dessen ganzer Boden mit Matratzen, Kissen, Decken und Laken so voll war, dass der eigentliche Untergrund nur noch zu erahnen war. Keine Möbel, nur dieses Chaos, das an ein sehr großes Bett erinnerte.

Domina hielt mich nicht auf, als ich mich langsam durch den Flur bewegte, die Umgebung in mich aufnahm und auf die Treppe in die erste Etage zuhielt – sie folgte mir still. Es kam mir vor, als sei ich diesen Weg schon tausendmal gegangen und doch konnte es nicht so gewesen sein. Diese Leute kannten mich nicht, also konnte ich folglich noch nie hier gewesen sein. Oder?

Dennoch, alles war so vertraut und völlig fremd zugleich. Ich kannte die Treppe, wusste, dass die dritte Stufe knarrte, noch bevor ich einen Fuß daraufgesetzt hatte. Aber es war falsch. Alles hier war irgendwie falsch. Die Bilder an den Wänden, der Teppich auf den Stufen, die Topfpflanze auf dem Treppenabsatz. Ich wusste nicht genau was es war, einfach nur ein Gefühl, aber nichts hier schien richtig.

Als ich die erste Etage betrat, verstärkte sich dieses Gefühl nur noch. Gleich die erste Tür. Sie sollte rosa lackiert sein, mit unzählbar vielen Aufklebern versehen, aber es war nur eine schlichte Holztür. Warum sah ich sie anders, als sie war?

Meine Finger glitten über das glatte Holz und wieder kam mir nur eine Gedanke: Falsch.

Wurde ich verrückt? War ich es vielleicht schon gewesen, bevor sich meine Erinnerung verabschiedet hatte? Es würde zumindest so einiges erklären.

Domina war nichts als ein stiller Beobachter, der jede meiner Regungen genauestens unter die Lupe nahm.

Ich ließ meinen Blick durch den Flur gleiten und blieb zwei Türen weiter hängen. Das Badezimmer. Ich wusste nicht, woher ich dieses Wissen hatte, aber so sicher wie ich wusste, dass ich nichts wusste, wusste ich, das hinter dieser Tür, das Bad lag. Ganz schön kompliziert, was? Aber wirklich sicher konnte ich mir erst sein, nachdem ich nachgeschaut hatte. So schritt ich entschloss auf die Tür zu, um mir zu beweisen, dass ich recht hatte und nicht gerade dabei war meinen Verstand zu verlieren. Mein lautloser Schatten blieb mir neugierig auf den Fersen, unternahm aber nichts.

Ich riss die Tür auf und … blieb abrupt stehen. Zwei gelbe Augen unter einem roten Schopf  blickten mich durch den Spiegel überrascht an. Der Kerl stand mit dem Rücken zu mir, war riesig, fast zwei Meter. Er überragte mich bestimmt weit über einen Kopf, was bei meiner Größe gar keine so leichte Aufgabe war. Eine Zahnbürste im Mund, ein Handtuch um die Hüfte gewickelt, wartete er neugierig, dass ich etwas tat oder sagte. Hm, ich hätte vorher vielleicht klopfen sollen. Wenigstens stand er vor dem Spiegel und saß nicht auf dem Klo. Das wäre wirklich peinlich geworden.

Irgendwie war es seltsam, das Handtuch reichte ihm bis über die Knie, aber trotzdem kam  er mir nackter vor als all die Leute hier mit ihren Lendenschurz – die ja mehr freiließen, als sie verdeckten. Oder Veiths schamlose Art.

Nervös schaute ich von ihm zu Domina und wieder zurück. Was sollte ich jetzt tun? Eine Entschuldigung mit anschließendem Rückzug wäre wohl die richtige Lösung gewesen, aber mein Kopf war von all den Eindrücken so voll, dass ich gar nicht erst auf diese Idee kam.

Er nahm die Zahnbürste aus dem Mund, drehte sich um und neigte den Kopf zur Seite, als bekäme er so einen besseren Blick. „Kann ich vielleicht irgendwie helfen?“, fragte er mit einer sanften, melodischen Stimme, doch ich hörte ihn kaum. Meine Augen wanderten über die Einrichtung. Über die Toilette, die Badewanne, das Waschbecken, den Handtuchhalter und wieder schrie alles in mir: das ist nicht richtig!

„Domina?“, fragte der Kerl. Sie bedeutete ihm ruhig zu sein und beobachtete mich weiter. Naja, wahrscheinlich passte sie eher auf, dass ich nicht gleich durchdrehte.

„Sie müssten grau sein.“ Da war ich mir sicher. Genau wie mit der rosa Tür oder der Topfpflanze auf dem Treppenabsatz.

„Was?“

„Die Fliesen“, antwortete ich ihm. „Die Farbe ist falsch. Sie müssten grau marmoriert sein und nicht weiß.“

„Warum?“

Eine einfache Frage. Und sie brachte mich völlig aus dem Konzept. Mehr als verwirrt dreinschauen war bei mir gerade nicht drin. „Wie warum?“

„Warum müssten sie grau sein? Nicht, das ich etwas gegen den Vorschlag hätte, aber bevor wir hier anfangen, ohne Fangs Erlaubnis die Wände einzureißen, sollten wir doch erst mal diese Frage klären.“

Aha, ein Klugscheißer. Und trotzdem. „Da stimme ich dir zu.“

Sein Mundwinkel verzog sich zu einem halben Lächeln. „Das freut mich. Also, warum grau?“

Ja, gute Frage. „Ich weiß nicht.“

„Oh.“ Der Typ schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich glaube nicht, dass dies eine Antwort ist, mit der Fang sich zufriedengeben wird.“

Nein, das würde er mit Sicherheit nicht. Erst recht nicht, nachdem er mich hatte einfach davonjagen wollte. Meine Anwesenheit störte ihn und ich konnte nicht mal sagen warum. Okay, vielleicht doch. Ich war eine Fremde und hatte auf seinem Dachboden ein Nickerchen gehalten. Wäre es andersherum gewesen, würde seine Anwesenheit bei mir auch nicht gerade für Begeisterungsstürme sorgen.

„So nachdenklich?“ Der Klang seiner Stimme hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, sie war … schön, tröstend.

„Ich, nein, ich … tut mir leid.“ Für was entschuldigte ich mich hier eigentlich? Ich hatte nichts falsch gemacht. Naja, wenn man mal von der Tatsache absah, dass ich unangemeldet einfach ins Bad geplatzt war. Ich rieb mir mit den Händen übers Gesicht. Langsam wurde das ganze echt lächerlich.

„Schlimmer Tag, hm?“

Er hatte ja keine Ahnung. Obwohl, vielleicht ja doch. Über meine Ankunft schienen hier verdammt viele Leute Bescheid zu wissen.

„Ich bin übrigens Pal.“ Er lehnte am Waschtisch, völlig entspannt und hielt mir die Hand hin, als würde er täglich von fremden Weibern im Bad überrascht werden.

Ich starrte ihn an, starrte seine Hand an und wusste nicht so recht was ich damit anfangen sollte. Es widerstrebte mir, sie zu nehmen, gleichzeitig war es aber auch unhöflich, sie einfach zu ignorieren. Rede einfach, na los, dann kommt schon alles in Ordnung. „Ich bin …“ Was stand noch gleich in meinem Ausweis? Ach ja: „Talita. Mein Name ist Talita Kleiber. Ich bin zwanzig Jahre und einen Meter und achtundsiebzig. Und ich wohne in … ich wohne in … verdammt!“ Ich konnte mich nicht erinnern. So wenig Informationen und ich vergaß jetzt schon die Hälfte.

„München“, half mir Domina. „Du wohnst in München.“

Ach ja, stimmt ja, wie konnte ich das nur vergessen? „Ja, ich wohne in München. Ich komme aus einer Stadt namens München. München, da komme ich her.“ Wenn ich es nur oft genug wiederholte, konnte ich es nicht wieder vergessen, oder?

„München?“ Pal blickte nachdenklich. „Sollte ich das …“

„Braucht ihr noch lange für euer Plauderstündchen? Andere wollen nämlich auch mal den Feuchtraum benutzen.“

Da war er wieder, Veith, mein Retter und er hatte noch immer keine Klamotten gefunden.

Ich trat so schnell zur Seite, dass ich über meine eigenen Füße stolperte und mit einem ordentlichen Rums im Flur auf den Hintern knallte. A-ua, das tut weh!

Domina schmunzelte, Veith hatte nur einen abschätzenden Blick für mich übrig und Pals roter Schopf schaute zur Tür heraus. „Alles okay mit dir?“

„Ich … es … tut mir leid.“ Hastig rappelte ich mich wieder auf die Füße und streifte dabei wieder Veiths nackten Körper. Verdammt, konnte der sich keine Klamotten leisten? Oder wenigstens hässlich aussehen? Da kam man dann wenigstens nicht in Versuchung ihn anzustarren. „Ich wollte nicht stören“, sagte ich eilig und sah dann zu, dass ich das Weite suchte.

Gott, das war echt peinlich gewesen.

 

°°°

 

 

Als ich angestoßen wurde, zuckte ich so heftig zusammen, dass ich mit dem Knie gegen den Tisch knallte.

„Oh, das hat bestimmt wehgetan.“

Das halbe Lächeln von dem Typ, der sich neben mich auf die Bank gequetscht hatte, kam mir bekannt vor. Ich braucht einen Moment, um ihn unter all den neuen Gesichtern, die ich heute gesehen hatte, als den auszumachen, den ich im Bad überrascht hatte. Wie hieß der noch mal? Wulf? Nein. Wulf war der Kerl, der versucht hatte, mich zu fressen. „Oh Gott!“ Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Wie war es geschehen, dass ich mit Fabelwesen zu Mittag aß? Wobei ich noch froh sein konnte, dass ich mit ihnen essen durfte und nicht selber das Tagesmenü war.

Nach meinem überaus eleganten Abgang auf dem Flur, hatte ich mich wieder nach unten in das Büro an meine Wand verkrümelt und da einfach nur die nächsten Stunden gesessen und nachgedacht. Zusammenfassung meiner Gedanken: Ich war voll am Arsch. Ich wusste nicht, wer ich war, wo ich war und saß jetzt mit einem Haufen Werwölfen in einem großen Speisesaal beim Mittagessen.

Domina hatte mir meinen Teller mit etwas vollgehauen, das mich entfernt an Hühnerfrikassee erinnerte, doch davon abgesehen, dass ich nicht glaubte, dass mein Magen im Moment Essen vertrug, vertraute ich der ganzen Sache auch nicht wirklich. Außerdem wurde mir von dem Geruch schlecht. Nein, essen war im Augenblick wirklich keine gute Idee. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich es lange bei mir behalten würde, so wie mein Magen sich ständig zusammenkrampfte.

Die restlichen knapp zwanzig Teilnehmer an dieser Mahlzeit hatten nicht mit solchen Problemen wie ich zu kämpfen. Es wurde geredet, gelacht und verputzt was das Zeug hielt.

Ich fühlte mich völlig fehl am Platz.

Der rothaarige Typ – wie war noch mal sein Name? Scheiße, was war nur mit meiner Erinnerung los? – musterte mich sehr intensiv. „Schwerer Tag, hm?“

Ich schaffte es nicht mal, ihm ein höfliches Lächeln für seine Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem ich die Hände zurück in den Schoß hatte fallen lassen. Nachher glaubte er noch, ich fletschte die Zähne und nahm es als Entschuldigung die Speisekarte doch noch etwas abzuändern. Oh mein Gott, mit was für Gedanken ich mich rumschlagen musste!

„Du scheinst ein wenig angespannt zu sein.“

Ich starrte ihn an. „Natürlich bin ich angespannt. Ich sitze mit einem Haufen Werwölfen an einem Tisch, die nicht besonders erfreut über meine Anwesenheit scheinen. Verdammt, hör doch nur mal, was ich hier rede: Werwölfe! So was gibt es nur im Märchen!“

Domina, mir gegenüber, verfolgte unser Gespräch interessiert, ließ sich davon aber nicht beim Essen stören. Sie hatte sich bereits ihre dritte Portion genommen, während meine erste schon etwas angetrocknet aussah.

Der Typ mit Namen –  irgendwas mit P, oder? – runzelte die Stirn. „Was sind Werwölfe.“

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass er nicht gerade versuchte, mich zu verarschen, sondern die Frage ernst meinte. „Du, die anderen, alle hier.“ Naja, bis auf Domina. Die war eindeutig kein Werwolf. Zumindest wenn es stimmte, was sie behauptete. Oh Gott, ich war definitiv im falschen Film gelandet.

„Wir sind Lykaner, keine Werwölfe.“ Er schob seinen noch leeren Teller ein Stück zurück. Ich war wohl gerade interessanter als das Essen.

„Andere Bezeichnung, gleiche Bedeutung“, erwiderte ich nur. „Da, wo ich herkomme, nennt man solche Wesen wie euch Werwölfe, oder auch Lykanthropen.“

„Du kannst dich also wieder erinnern?“

Ich zuckte erneut zusammen, als am Ende des Tisches eine Frau laut auflachte. „Nein, das nicht. Es ist komisch. Irgendwie kann ich mich an Sachen erinnern, die … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Dinge, die mich nicht betreffen weiß ich, alltägliche Dinge, Allgemeinwissen. Ich weiß, was eine Straße ist, wie eine Rose riecht, oder wie unser aktueller Bundeskanzler heißt, aber alles, was mit mir selbst zu tun hat, ist wie weggeblasen. Einfach verschwunden.“ Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. „Doch was ich ganz sicher weiß ist, dass es Wesen wie euch nicht gibt, dass meine Fantasiemir einen üblen Streich spielt.“ Warum war ich nur plötzlich so redselig? Das musste mit dem Kerl zu tun haben. Vielleicht, weil er hier der Erste war, der mir ein wenig freundlich entgegengekommen war. Gut, Domina war auch nicht gerade die Grausamkeit in Person, aber sie guckte mich immer so seltsam an, das mochte ich nicht. Wenn ich etwas von dem Essen zu mir genommen hätte würde ich fast vermuten, dass sie mir etwas darunter gemischt hatten, aber dem war ja nicht so. „Und außerdem ist hier alles irgendwie verdreht. Ich kenne dieses Haus, das weiß ich, aber es ist unstimmig, nicht richtig, verstehst du?“

Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein, nicht wirklich.“

„Natürlich nicht.“ Pal, so hieß der Kerl. Na wenigstens schien meine Erinnerung jetzt ein wenig in die Gänge zu kommen. Die Frage war nur wie lange sich dieser Zustand anhielt. „Vielleicht träume ich ja auch nur. Wenn ich aufwache ist alles vorbei.“ Hoffentlich. Oh bitte, wach doch auf, bitte.

Auf der anderen Seite des Tisches knurrte ein Mann, mit einer üblen Narbe an der Augenbraue, einen kleinen Wolf an, der versuchte, ihm sein Fleisch vom Teller zu stibitzen. Ich versteifte mich. Gruselig traf es nicht mal annähernd. Eine menschliche Kehle war nicht dazu gedacht, solche Geräusche von sich zu geben, das sollte allein den Tieren vorbehalten bleiben. Andererseits saß ich hier ja mit Tieren, mit einem Haufen Wölfen und einer Löwin.

Der Mann bemerkte, dass ich ihn beobachtete und zeigte mir seine Zähne. „Was guckst du so? Kümmere dich um deinen Kram!“

„Ich …“ Mein Blick senkten sich hastig auf meinen Teller. Gib ihm keinen Grund dich zu fressen, tu einfach was er sagt. „Entschuldigung.“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Pal unter dem Tisch nach dem Mann trat. Der guckte ihn zwar böse an, kümmerte sich aber nicht weiter darum. „Du darfst ihnen nicht zeigen, dass du Angst hast“, versuchte es der Rotschopf in meine Richtung.

„Ich habe aber Angst“, flüsterte ich und war selber überrascht, dass ich ihm dieses Einverständnis gab.

„Warum?“

Ich biss mir auf die Lippen, um meinen Mund ihm Zaun zu halten. Sonst hätte ich ihn vielleicht angeschrien, oder wäre hysterisch geworden. Warum fragte er? Es war doch offensichtlich! Die hatten Zähne und Krallen. Ich hatte gerade mal Beine, mit denen ich mich aus dem Staub machen konnte. Das waren Tiere in Menschengestalt und ich saß mitten unter ihnen und wusste nicht, was sie mit mir vorhatten.

„Komm mal mit, ich will dir was zeigen.“ Pal rutschte von der Bank und hielt mir die Hand hin. Dabei hatte er seinen Kopf zur Seite gelegt, als versuchte er, kleiner und unschuldiger zu wirken. Es half nicht wirklich, ich sah den Wolf in seinen Augen. Der war allgegenwärtig. „Keine Angst, ich beiße nicht.“ Er grinste. „Kleiner Scherz.“

Den ich in dieser Situation überhaupt nicht witzig fand.

Unsicher sah ich zu Domina. „Ich soll aber bei ihr bleiben, das hat Prisca gesagt.“ Und mit der wollte ich mich ganz sicher nicht anlegen. Mich schauderte es immer noch, wenn ich an diese seltsame Aura dachte, die sie umgab.

„Das geht schon in Ordnung, oder?“

Domina zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du sie verlierst werde ich dir den Hintern zerkratzen und Prisca anschließend mit einem freundlichen Lächeln in deine Richtung verweisen.“

„Ich hab dich auch lieb, mein Schatz.“

Domina grinste ihn auf eine Art an, die mich eher an ein wildes Zähnefletschen erinnerte. Ich zögerte noch, sollte ich wirklich gehen?

Als der Mann mit der Narbe an der Augenbraue über den Tisch setzte, weil der kleine Wolf nun von der anderen Seite versuchte, an sein Essen zu kommen, sprang ich vor Schreck von der Bank. Dabei riss der Kerl einen Großteil von dem Geschirr um. Ein paar knurrten, andere beschwerten sich, was den Mann nicht interessierte. Er hatte den kleinen Wolf im Nacken gepackt und hielt ihn nun eine Standpauke auf Wolfsart: Er schüttelte ihn ordentlich durch.

Ich war … entsetzt war wohl der falsche Ausdruck. Eher überrascht, verängstig. Eben unsicher, was ich davon halten sollte.

„Kinder müssen gemaßregelt werden, sonst würde sich das hier sehr bald in ein Tollhaus entwickeln“, sagte Pal mit noch immer erhobener Hand. Ich ergriff sie nicht, ließ mich aber von ihm nach draußen bringen. Hier wollte ich nicht länger bleiben.

 

°°°

 

Das Lager war so ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Nun ja, eigentlich hatte ich mir gar nichts vorgestellt, ich war einfach zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen.

Das hier war ein kleines Dorf. Inmitten des Waldes stand es und verschmolz perfekt mit der Natur. Also, es stand nicht auf einer Lichtung oder so, nein, die Häuser standen zwischen den Bäumen. Es gab ein paar Trampelpfade und in der Mitte des Lagers war eine größere, freie Fläche für Feste – das hatte Pal mir erklärt – aber ansonsten standen hier überall Bäume. Riesige Bäume mit einem sehr dichten Blätterdach, das nur spärlich die Sonne durchließ.

Die Häuser sahen im Großen und Ganzen so aus wie kleine Blockhütten, die aus dem zusammengezimmert waren, was der Wald so her gab. Es gab nur drei Gebäude, die sich von den anderen unterschieden. Das eine war das Haus von Fang, in dem ich erwacht war – zwei Mal schon und das am selben Tag. Es war sehr groß. Nicht wie eine Villa, aber da kamen schon ein paar Zimmer zusammen. Laut Pal wohnten dort ja auch zwölf Personen und die brauchten halt ´ne Menge Platz. Neben Fang gehörten er und Veith auch zu den Bewohnern. Veith und Pal waren Cousins und Fang Pals Vater. Er nannte ihn Papá, irgendwie fremd ausgesprochen. Wer die anderen neun waren, hatte ich noch nicht ermittelt und ganz ehrlich, für den Anfang reichten mir die drei Namen erst mal.

Das zweite Haus, das aus dem Rahmen fiel, war das sogenannte Rudelhaus. So wie ich ihn verstanden hatte, war das nichts anderes als ein Gemeinschaftshaus, in dem man sich treffen konnte, um sich die freie Zeit zu vertrödeln. Dort hatte ich auch gegessen, oder, naja, meinen Teller angestarrt, bis das Essen altbacken und kalt war.

Das dritte und letzte Haus, das sich von den anderen unterschied, war das von Prisca. Ich hatte es nur kurz von außen gesehen und dass hatte mir gereicht. Priscas machtvolle Aura war mir noch sehr gut in Erinnerung und wenn ich ihr erst in einer Woche wieder begegnen würde, wäre das immer noch zu früh. Je weiter diese Frau von mir entfernt war, desto wohler fühlte ich mich. Oder eben einfach nur etwas besser.

Pal streckte den Arm aus und zeigte an einem Baum vorbei zu einer kleinen Hütte, auf deren Dach gerade fleißig ein Männlein hämmerte. „Vor vier Tagen ist ein richtig übler Sturm über uns hinweggefegt. Ein paar Häuser hat er abgedeckt, aber ansonsten ist nichts weiter geschehen.“

Ich sah zum Himmel hinauf, oder versuchte es zumindest, denn durch die Bäume war nicht viel zu erkennen. Etwas blau hier, ein paar Tupfer dort. Sah für mich nach Sonne aus. „Passiert das …“

Ein Scheppern ließ mich erschrocken herumfahren, aber da war nur eine Frau die scheinbar versuchte, Reste aus einer Schüssel zu bekommen, indem sie die gegen ihre Hauswand schlug. Sie schaute einmal misstrauisch in meine Richtung und dann verschwand sie wieder in ihrer Hütte. Mein Herz allerdings ließ sich nicht in so kurzer Zeit beruhigen. Es trommelte wild in meiner Brust, als wollte es einen neuen Weltrekord aufstellen.

„Warum zuckst du bei jedem Geräusch zusammen“, fragte Pal verwundert. „Wir tun dir doch gar nichts.“

„Werwölfe sind Monster“, rutschte es mir raus, ohne dass ich vorher über meine Worte nachdachte.

Er blieb stehen und sah mich überrascht an.

Na ganz große Klasse, da konnte ich mir ja auch gleich auf die Stirn tätowieren: saudummer Snack, bitte nicht alle auf einmal abbeißen, ist genug für alle da. „Ist doch so“, murmelte ich, nicht bereit nachzugeben. Er konnte ruhig wissen, dass ich wusste, womit ich es hier zu tun hatte.

Eine Horde Kinder rannte an uns vorbei. Menschliche, aber auch welche in Wolfsgestalt. Mit einer raschen Bewegung griff Pal sich den kleinsten Welpen von ihnen, einen Schwarzweißen und drückte ihn mir einfach so in die Arme. Ich musste zupacken, sonst wäre er einfach auf den Boden geknallt. „Das ist Tess. Sieht sie für dich wie ein Monster aus?“

Ich hielt den kleinen Wolf auf Armeslänge von mir fern, unsicher was ich machen sollte. Klein, pelzig, eigentlich ganz süß. „Nein.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Du kannst sie ruhig richtig auf den Arm nehmen. Ich bezweifle, dass ihr der Sinn danach steht, dich aufzufressen. Damit wäre sie ja mindestens eine Woche beschäftigt. Soviel Zeit hat sie gar nicht, da käme sie ja gar nicht mehr zum Spielen.“

Ich warf Pal einen bösen Blick zu – das war nämlich nicht mal annähernd so witzig, wie er glaubte – und überlegte dann, was ich mit dem kleinen Wolf machen sollte, der neugierig zwischen Pal und mir hin und her schaute. Mit Kindern hatte ich keine Erfahrung – davon ging ich einfach mal aus – und mit Wölfen erst recht nicht – davon war ich felsenfest überzeugt. Vorsichtig bettete ich die Kleine in meiner Armbeuge. Zum Dank wusch sie mir mit ihrer Zunge das Gesicht, stupste mich mit der Nase an und schnüffelte neugierig an mir. „Katze“, sagte sie dann mit einem Quietschestimmchen und zappelte, um in eine bessere Position zum Schnüffeln zu bekommen. Als sie mir dann die Nase ins Ohr steckte, fing ich an zu kichern. Nein, ich stand nicht kurz vor einem hysterischen Anfall, auch wenn meine Nerven blank lagen und dieser gerechtfertigt gewesen wäre. Es kitzelte einfach.

„Katze!“, sagte sie erfreut und knurrte spielerisch.

„Das hast du richtig erkannt.“ Pal lächelte und wuschelte ihr über den Kopf, woraufhin sie verspielt nach ihm schnappte. Dann zappelte sie wieder.

Ich ließ sie runter und sie flitzte auf allen Vieren den andern Kindern hinterher, fiel dabei über ihre großen Pfoten und pflügte mit der Nase voran im Dreck. Das tat ihrer Laune aber keinen Abbruch. Bevor ich auch nur einen Fuß heben konnte, um ihr zu helfen, hatte sie sich schon wieder aufgerappelt und war um die nächste Hausecke verschwunden.

„Wir sind vielleicht anders als du, aber das macht uns noch lange nicht zu Monstern“, sagte Pal dann ernst, den Blick auf mich gerichtet. „Auch wir haben Freunde und Familie. Wir lieben und wir trauern, lachen und weinen. Wir können mutig sein und uns fürchten und …“

„Wovor fürchtet sich den ein Werwolf?“

Pal grinste. „Lykaner.“ Er führte mich weiter durch das Lager. Langsam, im gemächlichen Schritt schlenderten wir um Hauser und Bäume herum.

Überall gingen die Menschen hier geschäftig ihrem Treiben nach. Auch Wölfe sah ich immer wieder. Es war friedlich, ruhig, idyllisch. Irgendwie unwirklich. Ein Dorf voller friedlicher Monster, aber ich hatte sie schon von der anderen Seite kennengelernt. Der Schreck saß mir immer noch in den Knochen.

„Und natürlich haben wir Ängste wie jeder andere auch. Kinder, die sich vor einem Gewitter fürchten zum Beispiel. Wir haben hier auch eine Frau, Febe heißt sie, meine Großmamá und sie hat fürchterliche Angst vor Spinnen. Wenn sie eine sieht, fängt sie immer an zu kreischen und hört erst wieder auf, wenn sie einer wegmacht.“

„Aber sie lebt in einem Wald, der ist voll von Krabbelkäfern“, musste ich einfach anmerken.

„Ja, das ist ja der Witz an dieser Sache. Und jetzt sag mir, würde ein Monster wie du es dir vorstellst, sich vor einer Spinne fürchten?“

Nicht wenn sie genauso aussahen wie die Spinnen die ich kannte. Klein, mit acht Beinen und leicht haarig. Aber mal ehrlich, ich wurde hier von einem Werwolf durch sein Lager geführt. Woher sollte ich also wissen, dass wir hier nicht von Riesenspinnen sprachen, die sich auch gerne mal einem Menschen ins Netz gehen ließen? – Wortspiel beabsichtigt. Ich antwortete ihn nicht, sondern stellte ihm meinerseits eine Frage. „Und was macht dir Angst?“

Er zog eine Augenbraue hoch und schmunzelte. „Du versuchst doch nicht etwas meine Schwächen herauszufinden, oder?“

„Nein, ich … entschuldige. Es geht mich wirklich nichts an.“

Er lächelte wieder dieses halbe Lächeln und wollte gerade etwas sagen, als ein lautes Brüllen durchs Lager fegte. Nein nicht durchs, über dem Lager erscholl es. Über den Kronen der Bäume. Es schallte zwischen den Bäumen und brachte Zweige zum Zittern. Erschrocken sah ich mich um. „Was war das?“

Einige andere Wölfe, die draußen geschäftig ihrem Alltag nachgingen, hielten kurz inne, sahen zu dem bisschen Himmel, das zwischen dem Blätterdach durchschimmerte und machten dann in aller Seelenruhe weiter.

Da ertönte es ein weiteres Mal und ich drückte mich mit dem Rücken an den nächsten Baum. Mein ängstlicher Blick ging nach oben, aber außer Blättern war nichts zu sehen.  

„Keine Sorge, das war nur ein Drache auf der Jagd.“ Er sagte das so leicht hin, als spräche er davon, sich vor dem Mittagessen noch ein paar Kekse in den Mund zu werfen.

Ich schnappe wie ein Fisch an Land, öffnete den Mund, aber es kam kein Ton raus. Erst bei dem vierten Versuch hatte ich meine Stimme wiedergefunden. „ Ein … ein Drache?“ Huch, kam dieses schrille Quieken wirklich von mir?

„Natürlich.“ Pal legte den Kopf schief und musterte mich neugierig. „Wenn ich dein ungläubiges Gesicht richtig entziffere, dann gibt es da, wo du herkommst, genauso wenig Drachen wie Lykaner?“

„Nein, nein, Drachen sind ein Mythos, die gibt es nur im …“ Ich schloss den Mund.

„Märchen?“, fragte er und benutze damit das gleiche Wort, dass ich schon auf die Werwölfe angewandt habe.

„Ja. Ja, genau. Drachen sind Märchengestalten, nur Legenden, die erfunden wurden um die Leute zu unterhalten. Sie können nicht … wie kannst du da nur stehen und von Drachen auf der Jagd sprechen und dabei so völlig unbeteiligt wirken?“, fuhr ich ihn an. Wie konnte er es wagen so ruhig zu sein, während ich hier fast einen Herzinfarkt bekam? Das war nicht gerecht!

„Weil wir keine Beute der Drachen sind.“

„Aber sie sind …“

„Du brauchst keine Angst vor ihnen haben, nicht hier.“ Er hob seine Hand, als wollte er mir damit beruhigend über den Arm streichen. Eigentlich eine nette Geste, aber ich sah nur, wie dieser Wulf seine Arme nach mir ausgestreckte hatte, sah in dem Kerl vor mir nur den Wolf, der unter der Oberfläche lauerte und wich ihm so hastig aus, dass ich über eine Wurzel stolperte und schon wieder auf dem Hintern landete.

Pal wirkte über meine Reaktion eher erschrocken als gekränkt, zögerte kurz, als überlegte er mir wieder aufzuhelfen, trat dann aber zurück und versuchte kein zweites Mal sich mir zu nähern. Er schwieg einen Moment, beobachtete mich nachdenklich und nahm dann einfach wieder den Faden auf, als würde ich nicht gerade total lächerlich zu seinen Füßen auf dem Boden hocken. „Wir kennen die Drachen ganz gut, da sie hinter den Wolfsbäumen im Drachengebirge leben …“ Also besonders einfallsreich waren die hier mit den Namen ja nicht gerade. „… und wir sie deswegen öfters sehen. Sie greifen aber nicht an, weil sie genau wissen, töten sie einen von uns, macht das ganze Rudel Jagd auf ihn, bis wir ihn zur Strecke gebracht haben. Ein Rudel voller Lykaner ist vielleicht das Einzige, was ein Drache fürchtet. Wir respektieren sie und sie respektieren uns. Aus dem Grund brauchst du keine Angst vor ihnen zu haben.“

Das ganze Gerede von Jagd und Töten wirkte nicht wirklich beruhigend auf meine Nerven und das ging Pal wohl auf. Daher ließ er das Thema fallen und schwenkte um. „Ich würde dir gerne noch etwas anderes zeigen. Natürlich nur wenn du Lust hast.“

Ob ich Lust hatte? Lust? Verdammt, das Einzige, was ich wollte war möglichst schnell möglichst weit weg zu kommen, einfach nur aus diesem Alptraum aufzuwachen und nicht mir … was auch immer anzusehen.

„Vertrau mir, es wird dir gefallen.“ Dieses halbe Lächeln zupfte wieder an seinem Mundwinkel und er strahlte eine Ruhe aus, die sich auf mich übertrug. Vielleicht war es, weil er bisher der Einzige war, der nett zu mir gewesen war und mir die Dinge erklärt hatte, aber ich … naja, ich vertraute ihm nicht, er war schließlich immer noch ein Werwolf, aber bei ihm fühlte ich mich sicher. Irgendwie. Ein bisschen. Zumindest sicherer als unter all den anderen Wölfen.

Nervös nahm ich die Hand, die er mir hinhielt, um mir wieder auf die Beine zu helfen. Aber sobald ich stand, ließ ich hastig wieder los und wich zurück. „Na gut, dann zeig mir … was auch immer.“

„Dann komm.“ Er führte mich weiter vom Lager weg. Den ganzen Weg über wirbelten die Gedanken in  meinem Kopf. Drachen, hier gab es Drachen!

 

°°°

 

„Erzähl doch mal, an was du dich erinnern kannst, vielleicht helfen wir deinem Gedächtnis so auf die Sprünge.“

Ich wich einer Pflanze aus, bei der ich das Gefühl hatte, dass sie mich beobachtete – war das zu fassen? Pflanzen hatten keine Augen! – und beäugte sie misstrauisch. Die sah aber auch seltsam aus, irgendwie wie ein Korkenzieher, mit einer grünen Blüte, die mich an eine Mondsichel erinnerte. „Ich weiß nur das, was ich heute gesehen und gehört habe und dann, naja, Dinge eben, die nichts mit mir zu tun haben.“ Hatte ich ihm das nicht bereits erzählt? „Alles andere ist einfach weg.“

„Dann ist das hier sozusagen dein erster Tag.“ Ohne Anlauf sprang er über eine Ansammlung von Dornensträuchern und landete grinsend auf der anderen Seite.

Wolf, musste ich mir wieder ein Erinnerung rufen. Er war ein Wolf in Menschengestalt. Die konnten sowas wohl.

Ich nahm lieber den Umweg außen rum. Ich hatte nämlich keine Lust wie ein verfluchtes Nadelkissen auszusehen. „Ja, könnte man wohl sagen.“ Ein Tag, ich war ein Tag alt. Ich schnaubte, wenn das nicht traurig war, was dann? „Zumindest ist meine Erinnerung einen Tag alt.“

„Ach, das wird sich schon geben. Du wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung.“ Er streckte die Hand aus, als wollte er mir die Schulter freundschaftlich tätscheln, doch ich wich ihm aus und tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Auch sein Stirnrunzeln ignorierte ich. Ich wollte mich nicht von ihm anfassen lassen, das war irgendwie, naja, es war schon weil er eine Bestie war, aber da war auch noch etwas anderes, dass ich nicht benennen konnte.

„Ist es noch weit?“, fragte ich, einfach um irgendwas zu sagen. Mir war es eigentlich egal.

„Nein, es ist gleich da vorn.“ Er hielt mir einen Ast zur Seite, damit ich daran vorbeihuschen konnte. „Mit deinem Auftauchen hier hast du ganz schön für Chaos gesorgt.“

„Glaub mir, es wäre mir auch lieber, wenn ich nicht hier wäre.“ Sondern Zuhause, wo auch immer das sein mochte.

Pal winkte ab. „Ach was, ein bisschen Trubel kann nicht schaden und hier mal ein neues Gesicht zu sehen ist auch ganz … ah, Moment, da ist es, gleich hinter den Sträuchern.“

Ich hoffte nur er führte mich nicht geradewegs in ein Drachennest – bauten Drachen überhaupt Nester, oder schliefen die in Höhlen? Vielleicht bauten die ja Nester in Höhlen.

„Es ist einer der schönsten Orte im ganzen Wolfsbaumwald.“ Er deutete mir vorzugehen und nach kurzem Zögern tat ich das dann auch. Kämpfte mich durch das Dickicht von Blättern, Ästen und Zweigen und fluchte einmal energisch, als meine kurzen Haare sich in dem Gestrüpp verhedderten. Pal befreite mich schmunzelnd, knickte ein paar Zweige ab und zum Schluss sah ich bestimmt so aus, als würde da ein Vogel auf meinem Kopf nisten. Blödes Grünzeug.

Ohne weitere Zwischenfälle schob ich mich auf die andere Seite ins Freie und fand  mich dann vor einem schmalen Bach wieder, der fröhlich vor sich hinplätscherte. Eine kleine, moosige Lichtung, die von den Strahlen der Sonne in Licht getaucht wurde und die dem ganzen etwas mystisches gab. Wunderschön. Doch als ich den Blick etwas gleiten ließ stieg mir die Schamesröte mit einem Schwall heißen Blutes ins Gesicht. Auf der anderen Seite, nur ein paar Meter entfernt, lag ein Pärchen im Gras und machte heftig miteinander herum. Besser gesagt, er lag im Gras, die Hände an pikanten Stellen auf dem Frauenkörper und sie saß auf ihm. Was die da machten war eindeutig und die Geräusche, die sie von sich gaben, erzählten den Rest. Die trieben es frisch fröhlich mitten im Wald und ich wurde widerwillig Zeuge dieser Tat.

Pal kam hinter mir aus dem Gebüsch und stieß mich dabei versehentlich an, weil ich noch im Weg stand. Ich rutschte auf dem feuchten Untergrund weg und ruderte noch mit den Armen, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Vergeblich. Mit der Nase voran landete ich im Bach und stieß einen spitzen Schrei aus, als das eiskalte Wasser um mich aufspritzte. „Verflucht noch mal!“, schimpfte ich. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. War ich so ein Tollpatsch, oder warum fiel und stolperte ich ständig?

„Atzaklee von unter den Wolfsbäumen! Würdest du mir mal bitte erzählen, was du da treibst?!“, forderte Pal mit strenger Stimme.

„Na das ist doch wohl offensichtlich“, murmelte ich, sah Pals Mundwinkel zucken und kroch rückwärts aus dem Bach. Meine Hose war dreckig, mein Top war nass und die Lederjacke im Eimer. „Na ganz große Klasse.“ Ich ließ mich auf den Hintern fallen – die Hose war jetzt eh hin, zumindest solange, bis ich eine Waschmaschine fand – und wagte es einen kurzen Blick auf das Pärchen zu werfen. Die beiden konnten kaum älter als fünfzehn sein – rechnete man bei Werwölfen das Alter nach den gleichen Maßstäben, wie bei den Menschen? – und wirkten mehr als nur ertappt.

„Ich warte“, sagte Pal streng und verschränkte die Arme. Er wirkte ganz so wie der verärgerte Vati, der um die Keuschheit seiner Tochter bangte. Naja, um die war es auf jeden Fall geschehen. War nichts mehr mit jungfräulich in die Ehe.

„Ich …“ Atzaklee wandte sich sichtlich unter Pals Blick, straffte dann aber die Schultern und sah ihm gradewegs in die Augen. „Er ist mein Freund.“

Pal mahlte sichtlich mit den Zähnen. „Geh zurück ins Lager und zwar ganz schnell, bevor ich auf die Idee komme, deine kleine Liaison deiner Mamá zu berichten.“

„Aber …“ begann der Junge, wurde durch Pals Blick aber belehrt, dass es im Augenblick besser für ihn wäre, einfach zu schweigen.

„Und du solltest ganz schnell zu deinem Rudel zurückkehren, bevor ich das Bedürfnis bekomme, dich aus unserem Territorium zu jagen, Felswolf.“

Der Kleine war so schnell ausgesprungen, dass er das Mädel praktisch von sich runter warf. Dann gab er Fersengeld und war von der Lichtung verschwunden. Eine Staubwolke war alles was von ihm übrig blieb. Bildlich gesprochen natürlich. Hier war es viel zu feucht um staubig sein zu können. Ich musste es wissen, meine Hose war bereits durchgeweicht.

Atzaklee guckte ihm erst etwas betröppelt hinterher und dann wurde sie richtig wütend. „Ja, renn nur, Haitis, lauf nur zu deiner Mamá, du Feigling!“ Sie rappelte sich auf die Beine, warf Pal noch einen echt finsteren Blick zu und verschwand dann in die andere Richtung des Waldes.

Tja, war wohl nichts mit große Liebe und so.

„Ich glaube wir haben die ganze Stimmung versaut“, überlegte ich laut.

„Besser wir als ein anderer. So konnte der Kleine wenigstens in einem ganzen Stück verschwinden.“ Pal ließ die Arme wieder sinken und scharte auf dem Moos herum. In seinem Kopf arbeitete es.

„Warum im ganzen Stück? Ich meine, klar, die beiden sind noch ziemlich jung, aber da probiert man halt ein wenig rum.“ Den Kleinen deswegen gleich in Stücke zu zerreißen, fand ich dann doch ein wenig hart.

„Es geht hier nicht um das Alter, sondern darum, dass der Junge aus einem anderen Rudel ist. Er hat hier nichts zu suchen, das hier ist unser Territorium.“

Aha. Die Leutchen hier schienen mir ein wenig revierfixiert zu sein. Über meinen Besuch waren sie ja ähnlich erfreut. So wurde das aber nichts mit der guten Nachbarschaft.

„Allein dafür, dass er es betreten hat, hätte ich ihm an die Kehle gehen dürfen.“

Okay, dieses Thema wollte ich nicht weiter vertiefen. Das ging mir schon wieder viel zu sehr in die Blut und Klauen Kategorie, deswegen zog ich es vor, mir meinen Teil einfach zu denken und zu schweigen.

„Ich frag mich, wie er überhaupt so weit eindringen konnte, ohne entdeckt zu werden.“ Nachdenklich sah er zu mir runter. „Genau wie bei Isla.“ Es schien ihm Sorge zu bereiten, dass ihre Sicherheitsmaßnamen so einfach überwunden werden konnte, ohne, dass es jemand mitbekam. „Und bei dir.“

Na ich fiel ja wohl mal völlig aus dem Konzept. Der junge Typ wusste schließlich noch wohin er rennen konnte. „Ich schätze Atzaklee hat ihm geholfen.“ Ich schlang die Arme um mich, weil es mich mittlerweile ganz schön fröstelte. Die Klamotten waren nass und kalt, meine Haut klamm. Ich hatte schon eine richtige Gänsehaut. „So jedenfalls hätte ich es an ihrer Stelle gemacht.“ Schön auf meinem eigenen Territorium bleiben und den Kerl zu mir locken, dass würde für mich am wenigsten Ärger bedeuten.

„Du zitterst ja“, ging Pal plötzlich auf. „Ist dir kalt?“

„Ne, ich versuche mich als Schüttelshake.“

Pal verzog verwirrt das Gesicht. „Was ist ein Schüttelshake?“

Ich glaube, ich sah ihn wie ein Pferd an, bevor ich einfach nur ungläubig den Kopf schüttelte. Gott, wo war ich hier nur gelandet, wenn man hier nicht mal Shakes kannte? Ich überging diese Frage einfach und hielt mich an die vorige. „Ich habe gerade ein Bad im Bach genommen, meine Klamotten sich klitschnass und ein besonders warmes Lüftchen vermisst man hier auch, also ja, mir ist kalt.“

„Na dann zieh die nassen Sachen doch einfach aus.“

„Ich soll … du tickst doch wohl nicht mehr ganz korrekt! Ich zieh mich hier doch nicht vor dir aus! Da frier ich lieber.“ Der hatte doch echt nicht mehr alle Kerben im Holz. Als wenn ich mich hier vor ihm nackig machen würde. Nur weil ihm und den ganzen anderen Leuten hier jeglicher Anstand verloren gegangen war, musste das nicht auch zwangsläufig auf mich zutreffen.   

„Aber warum denn? Das ist doch albern.“

Wie bitte? Meine Ohren mussten an einer Funktionsstörung leiden, anders konnte ich mir diese saudämliche Frage nämlich nicht erklären. „Das ist nicht albern, das nennt man Schamgefühl, etwas, das euch allen hier anscheinend abhanden gekommen ist.“

„Aber du kannst doch so nicht hier sitzen bleiben. Nachher wirst du noch krank.“

„Ich werde bestimmt keinen Lendenschurz anziehen.“ Soweit kam es noch. „Bei mir bleibt alles schön verpackt, wie bei jeder züchtigen Frau. Ende der Diskussion.

Pal runzelte die Stirn und kaute nachdenklich auf seiner Lippe herum. In seinen Augen musste ich mich wirklich albern benehmen, er kannte es ja schließlich nicht anders. Andere Menschen, andere Sitten, obwohl man hier ja nicht wirklich von Menschen sprechen konnte. Aber auch wenn ich vorerst hier bleiben musste, ich würde nicht anfangen, so wie die rumzulaufen.  Und abhauen kam im Moment gar nicht in Frage, ich wusste ja nicht wohin mit mir und Werwölfe zu verärgern kam mir nicht sehr weise vor. Die hätten mich wahrscheinlich in null Komma nichts wieder eingefangen. Und was dann kommen würde wollte ich gar nicht erst wissen. Nein danke, das konnte ich mir wirklich sparen.

„Na gut, das ist vielleicht ein wenig seltsam und überflüssig …“ Er bedachte mich mit einem bedeutenden Blick. „… aber ich kann dich nicht in den nassen Klamotten lassen.“ Das halbe Lächeln erschien wieder in seinem Gesicht und ließ mich sofort misstrauisch werden. „Guck nicht so, ich will dir nichts Böses. Also, Boa hat auf dem Dachboden noch eine Kiste mit alten Kostümen. Das Rudel wird dich vielleicht ein wenig komisch angucken, wenn du damit rumläufst …“

Als wenn sich das von den bisherigen Blicken groß unterscheiden würde.

„… aber die Kleidung hat wesentlich mehr Stoff, als das hier.“ Er zeigte auf seinen Lendenschurz, bei dem die sehnigen, muskulösen Beine sehr gut zur Geltung kamen.

Hach, was dachte ich da denn schon wieder? Ich war wirklich nicht mehr ganz dicht.

„Das wäre doch in Ordnung, oder?“

Hm, irgendwie wollte mein Misstrauen nicht weichen. Wenn sie diesen Lappen schon als Kleidung bezeichneten, war ich mir nicht wirklich sicher, ob ich wissen wollte, was in ihren Augen Kostüme waren. Nachher lief ich hier noch rum wie ein Paradiesvogel mit Federboa in giftgrün herum. Obwohl die Farbe ja gerade zweitrangig war.

„Nun komm schon, du kannst es dir doch wenigstens angucken, oder?“

Ja, das konnte ich. Ablehnen war dann immer noch drinnen. „Na gut“, willigte ich ein, ignorierte die helfende Hand, die er mir hinhielt und stand allein auf. Meine Ablehnung schien seiner Stimmung keinen Abbruch zu tun. Er lächelte einfach weiter und unterhielt mich den ganzen Weg durch den Wald mit Smalltalk. Erst als wir zurück in das Werwolfslager traten, merkte ich, wie sehr ich mich in Pals Gegenwart entspannt hatte. Ich hatte beinahe vergessen, was für ein Wesen er war, aber als ich jetzt wieder von ihnen umzingelt war, konnte ich nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung. Ich war hier inmitten von Monstern, die mir teils neugierige und teils feindliche Blicke zuwarfen. Nicht einer war dabei, den ich als freundlich interpretieren konnte.

Pal schien meine wachsende Unsicherheit zu spüren und dirigierte mich in das große Haus von Fang, nach oben auf den Dachboden – und zwar ohne mich zu berühren.

Der Dachboden war groß, ordentlich und staubig. Zwar war ich hier aufgewacht, aber so wirklich konnte ich mich nicht erinnern. Durch ein paar Deckenfenster drang nur spärlich Licht herein und tauchte alles in ein unheimliches Licht voller dunkler Ecken und Schatten, in denen Schreckensgestalten lauern konnten. Obwohl, was machte ich mir eigentlich für Sorgen? Das Monster stand bereits neben mir und steckte seinen roten Schopf in einen Stapel Holzkisten.

„Ich weiß, dass sie hier irgendwo sein müssen. Boa kann einfach nichts wegschmeißen. Wir würden hier wahrscheinlich schon untergehen, wenn Tyge nicht  hin und wieder ein Machtwort sprechen würde, aber selbst er kann nicht immer verhindern, dass sie ihrer Sammelleidenschaft frönt.“

Wer auch immer dieser Tyge sein mochte.

„Die müssen doch … ah, da sind sie ja.“ Pal schob ein paar grobgezimmerte Holzkisten zur Seite um an die Truhe dahinter ranzukommen. An einem eisernen Griff zog er sie auf die Freifläche und ich konnte ganz in Ruhe bewundern, wie seine Muskeln unter der straffen Haut arbeiteten. So sehnig, so straff …

Boah ey, was war denn jetzt los? Pal sah zwar schon ganz niedlich aus, aber das war doch noch lange kein Grund hier zu einem sabbernden Pfützchen zusammenzuschmelzen. Andere Mütter hatten auch hübsche Söhne und bei denen verhielt ich mich doch auch nicht so. Glaubte ich zumindest. Mist.

Pal neigte den Kopf leicht zur Seite. Wie bei einem Hund, schoss es mir durch den Kopf. Oh Mann.

„Warum guckst du mich so an?“

Super und noch mal Mist. Jetzt hatte er auch noch bemerkt, wie ich ihn angestarrt hatte. „Ich wollte nicht …“ Hastig senkte ich den Blick und nahm meine Finger unter Augenschein. Die schienen auf einmal sehr interessant. „Tut mir leid.“

„Muss es nicht.“ Sein Mund zuckte zu diesem allgegenwärtigen, halben Lächeln. „Ich hab bestimmt kein Problem damit, wenn ich von hübschen Mädchen beobachtet werde.“

Das war ein Kompliment, oder? Flirtete er etwa mit mir? Irgendwie wollte mir das gerade nicht wirklich gefallen und machte sicherheitshalber einen Schritt von ihm weg. Der sollte ja nicht erst auf komische Gedanken kommen.

Sein Lächeln verrutschte etwas. „Ich mache dir immer noch Angst.“ Keine Frage, eine Feststellung und da er damit ja recht hatte, gab es für mich keinen Grund, etwas zu erwidern.

Er seufzte schwer. „Ich würde dir gerne zeigen, dass wir nicht die grausamen Monster sind, für die du uns hältst.“

„Dieser Wulf wollte mich töten und das nur weil er der Meinung ist, dass ich nach Katze rieche.“ So ganz glauben konnte ich das nämlich noch immer nicht. Ich denke schon, dass ich ein ziemlich sauberer Mensch war. Allein von meinem Besuch im Wald fühlte ich mich mittlerweile so dreckig, dass ich am liebsten sofort unter die nächste Dusche gesprungen wäre. Da war es doch reichlich unglaubwürdig, dass mir irgendein Geruch so extrem anhaftete, das jegliches Duschgel versagte. Also auch wenn ich eine Katze mein eigen nannte, konnte ich nicht so schlimm danach stinken, wie hier alle behaupteten.

„Du kannst uns nicht an Wulf messen, er ist montan nicht ganz er selbst.“

„Ich weiß, das wurde mir bereits gesagt und doch rechtfertig es nicht das, was er tun wollte.“

Einen Moment sah Pal so aus, als wollte er noch etwas sagen, ließ es dann aber und hockte sich vor die Truhe, um den schweren Eisenbeschlag zu öffnen. „Boa hat hier die Kostüme aus den ganzen letzten Jahren gesammelt. Da hinten steht noch eine, falls wir hier nichts finden. Bei so vielen Leuten kommt halt ganz schön was zusammen. Auch von mir müssen noch ein paar dabei sein. “ Er lächelte schief, als versuchte er, die Stimmung wieder etwas aufzulockern. Es misslang gründlich. „Komm und sieh es dir an.“

Hm, okay, warum nicht. Bisher war er ja auch freundlich gewesen. So von jetzt auf gleich würde er sicher nicht auf den Gedanken kommen, ein wenig an mir rum zu knabbern. Naja, das hieß, solange ich ihm keinen Grund dazu gab und das hatte ich nicht vor. Auch wenn ich gerade nicht so recht wusste, was da mit mir falsch lief, ich hing doch an meinem Leben.

Ich näherte mich der Truhe, hielt aber weiter Abstand zu ihm. Hier oben allein mit ihm auf dem Dachboden, war es doch etwas ganz anderes als dort draußen im Wald. Weniger Fluchtmöglichkeiten. Ich fühlte mich eingeengt und unsicher. Trotzdem griff ich nach einem gelben Stoff, der sich als Rock entpuppte. Oder wenigstens etwas in der Art. Auf beiden Seiten war er bis zur Hüfte geschlitzt. Das waren eigentlich nur zwei Stofftücher, die durch einen goldverzieren Gürtel zusammengehalten wurden.

„Den hat meine Mutter vor ein paar Jahren getragen. Warte, dazu fehlt noch ein Teil.“ Er kramte ein wenig in der Kiste rum und förderte dann einen breiten Halsschmuck zutage, der auf den Schultern auflag.

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Kein Oberteil?“

„Ähm … nein.“

Damit fiel das Teil nun schon mal aus dem Rennen. Ich wiederholte mich nur sehr ungern, aber ich würde hier sicher nicht oben ohne rumrennen. Das nächste Teil, das ich rauszog, war nichts weiter als ein paar Stricke, die an strategisch günstigen Stellen miteinander verwoben waren. Okay, das fiel definitiv aus dem Rennen.

„Das würde dir aber wirklich gut stehen“, kommentierte Pal und zog einen bläulich schimmernden Stoff heraus. Eine Hose wie aus Tausend und eine Nacht. Schade nur, dass sie durchsichtig war.

„Kleidet ihr euch eigentlich auch mal in irgendetwas, das mehr als den Bauchnabel verdeckt?“

„Nein, warum auch. So sind wir auf die Welt gekommen. Wir zeigen uns, wie wir sind, zeigen, wer wir sind, ganz natürlich. Wir haben keinen Grund, etwas zu verbergen. Wenn man sich versteckt und sei es nur hinter Kleidung, trägt man ein Geheimnis mit sich.“ Er grinste mich frech an. „Und Geheimnisse gilt es immer zu ergründen.“

Ja, aber sicher doch. „So siehst du es. Da, wo ich  herkomme, gibt es eine Kleiderordnung. Es gibt halt Menschen, die sich daran stören, andere nackt zu sehen. Das ist etwas heiliges, etwas intimes, dass man nicht mit jedem teilt.“

„Ihr seht den Körper als etwas Heiliges an?“

Hm, das war wohl irgendwie falsch rübergekommen. Aber ich hatte jetzt auch keine Lust, ihm das zu erklären, also zuckte ich einfach nichtssagend mit den Schultern. „Gibt es hier denn niemanden, der sich daran stört?“

„Nein.“ Ganz einfach.

Etwas rotes erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich zog es aus der Truhe und bekam etwas in die Hand, das mich an seidene Armstulpen mit merkwürdigen, metallenen Häkchen erinnerte. Als ich sie es jedoch überzog, fing Pal an zu lachen. „Was ist, warum lachst du?“

„Weil man das so nicht trägt. Pass auf.“ Er beugte sich vor und zog es mir wieder vom Arm. Ich spannte mich deutlich an. Als er dann auch noch meinen Arm streifte, war das fast zu viel für mich und ich musste an mich halten, ihn nicht einfach von mir zu stoßen. Werwolf angreifen, keine gute Idee.

Pal merkte meine Anspannung natürlich, aber bis auf einen leicht traurigen Blick kam nichts von ihm. Er ließ sich auf den Fußballen zurücksinken, drehte das Stück Stoff ineinander und fummelte kurz an diesen Hakendingern herum. Dann präsentierte er mir sein Werk. Er hatte die Enden miteinander verbunden, so dass es einen Kreis ergab, aber wirklich etwas anfangen, konnte ich damit nicht.

„Was ist das?“

„Die Frauen befestigen es an ihrem Oberarm. Für die Männer.“

„Für die Männer?“

„Ja, dieses hier gehörte meiner Mutter und mein Vater war es, der es ihr wieder abnahm. Kurz drauf war ich dann unterwegs.“

Oh ha. „Du … du meinst …?“

„Ja.“ Er grinste breit. „Damit wird uns Männern signalisiert, dass ihr Frauen willig seid. Also, wenn du es tragen möchtest, nur zu.“

Keine Ahnung, was ich in dem Moment für ein Gesicht gemacht hatte, aber Pal prustete aus vollem Hals los und damit war die Stimmung wieder gehoben.

Den Rest der Zeit alberten wir miteinander rum. Er hielt immer vorsichtig Abstand, als wollte er mich nicht bedrängen. Es machte Spaß mit ihm und er zog sogar ein paar den Klamotten an, einfach um mich zum Lachen zu bringen. In einem sah er aus wie Xena, die Kriegerprinzessin. Ein anderes erinnerte mich an die Tänzerinnen aus Rio, mit Federn und Kopfschmuck.

Wir zogen dann auch noch die zweite Kiste hervor und schlussendlich entschied ich mich für einen Rock – ich denke, dass man dieses Teil so bezeichnen konnte. Es war grün, reichte bis auf den Boden und war bis zu den Knien geschlitzt. Links und rechts war ein Streifen milchig durchsichtig, aber damit konnte ich leben. Dazu zog ich eine Art Poncho an, der mit unzähligen Fransen übersät war. Es war weiß, mit goldenen Fäden durchzogen und der Ausschnitt war so groß, dass er mir immer über die Schulten rutschte. Aber mit meiner Unterwäsche darunter ging das schon in Ordnung. Schuhe hatte ich ja noch meine eigenen.

Als ich Pal erlaubte, mich zu begutachten, fing er wieder an zu lachen und ich konnte nur mit einstimmen. Ich sah aus wie ein Clown, doch besser wie die klammen und verdrecken Sachen war es allemal.

Wir brachten meine Wäsche nach unten zu einem Bottich, in den ich sie warf. Er versprach, dass sie bis morgen sauber sein würde und auch wenn es mir gar nicht gefiel, meine wenigen Habseligkeiten aus den Augen zu lassen, musste ich doch ein wenig Vertrauen in seine Worte haben.

Danach gingen wir für ein kleines Abendessen in die Küche. Naja, mein Abendessen war klein, nur eine Frucht, die lila schimmerte und sich Glusglu nannte. Beim ersten Blick war ich noch ziemlich misstrauisch, aber sie war so lecker, dass ich zwar langsam, aber alles aufaß. Pal dagegen haute sich seinen Teller mit allem, was der Kühlschrank hergab, so voll, dass davon eine Fußballmannschaft satt geworden wäre. Dieser Kühlschrank unterschied sich auch von denen, die ich kannte. Er war aus Holz gefertigt, es gab keine sichtbare Kühlung, die die Kälte darin erklären würde. Aber das Essen war kalt.

Die ganze Küche strahlte diese Andersartigkeit aus. Nirgends schien es Strom zu geben, keine Technik und trotzdem funktionierte alles. Nur wie? Genau das fragte ich dann auch.

„Na mit Magie, womit den sonst?“

Ja, womit den sonst. „Magie gibt es nicht.“

Das seltsame Sandwich, das auf halbem Wege zu seinem Mund war, stoppte in der Luft. „Ist das dein Ernst? Willst du damit sagen, da wo du herkommst, gibt es keine Magie?“

„Natürlich nicht. Magie ist ein Märchen, genau wie …“ Ich verstummte, als mir plötzlich wieder klar wurde, wen, oder besser gesagt, was ich da vor mir hatte.

„Genau wie ich?“ Sein linker Mundwinkel zog sich langsam nach oben.

Okay, sollte das heißen … konnte das … Magie? Ich … das … okay, jetzt mal ganz langsam. Sollte das heißen, ich befand mich an einem magischen Ort? Das war … naja, nicht viel unrealistischer als der Werwolf vor mir, der sich grade die Reste seines Essens in den Mund schob. „Komm, wir müssen los, sonst bekommen wir keine Plätze mehr.“ Kurz hatte es den Anschein, als wollte er meine Hand greifen und mich aus dem Raum ziehen, aber dann überlegte er es sich wohl noch mal und winkte mich einfach nur mit sich.

Ich stieß mich von der Anrichte ab. „Plätze? Wofür?“

„Du wirst schon sehen.“

Irgendwie war das nicht die Erklärung, die ich mir erhofft hatte.

 

°°°

 

Der Raum, in den er mich führte, war rappelvoll. Männer und Frauen jeglichen Alters drängten sich dicht an dicht vor einer Wand, die komplett aus schwarzem Glas zu bestehen schien. Wie ein riesiges Fenster, nur konnte man halt nicht durchsehen. Auch eine Handvoll Kinder lungerte zwischen den Erwachsenen herum, darunter sogar ein neugeborenes Baby. Ein paar hatten sich Plätze auf der Couchgarnitur ergattern können, davon auch einige auf den Lehnen, aber die meisten hatten sich auf dem Boden breitgemacht und sahen erwartungsvoll zu der schwarzen Glaswand auf.

Mein Outfit bekam zwei drei schnelle Blicke, wurde dann aber nicht weiter beachtet, genau wie ich. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass ich nicht feindlich oder unverhohlen neugierig angestarrt wurde. Die Stimmung war ausgelassen. Leute lachten und quatschten und schienen auf irgendwas zu warten.

Nachdem ich einen ersten Eindruck von dem Raum bekommen hatte, dirigierte Pal mich zwischen den Anwesenden durch, verscheuchte ein paar Teenys von ihren Plätzen ganz vorn und verfrachtete mich dort auf den Boden. Es gab einiges Gemurmel und Stirnrunzeln, aber niemand schien sich wirklich an meiner Anwesenheit zu stören. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen weit hinten im Raum zu sitzen und nicht hier vorn wie auf dem Präsentierteller. Ich fühlte mich einfach nicht wohl mit all den Blicken in meinem Rücken. Blicken von Werwölfen.

Krass, ich konnte es immer noch nicht glauben: Werwölfe! Das war doch einfach … nun ja, unglaublich eben, auf eine sehr schräge Art. Und dann noch Magie. das Ganze wurde wirklich immer besser.

Pal schien dieses Problem nicht zu haben. Lächelnd setzte er sich neben mich und stupste mich mit der Schulter an, weswegen ich mich sofort wieder versteifte. Mann, morgen würde ich einen ordentlichen Muskelkater haben. „Entspann dich, die meisten von uns haben bereits zu Abend gegessen.“

„Wenn du nur halb so witzig wärst, wie du denkst, wärst du doppelt so witzig, wie du bist!“

Pal halbes Lächeln entfaltete sich zu einem Ganzen. „Hast du mich etwa gerade beleidigt?“

„Ich …“ Oh nein. Talita an Hirn, Werwolf beleidigen nicht gut. Überhaupt nicht gut.

„Ganz ruhig, ich werde dich schon nicht gleich fressen.“

„Ja, drück nur immer weiter mit dem Finger in die Wunde.“ Verdammt, könnte mir mal jemand eine Maulschelle verpassen, damit ich wieder Vernunft annahm?

„Wow, wenn du nicht vor Angst bibberst, gefällst du mir gleich viel besser.“

Bevor ich darauf antworten konnte, legte er mir einen Finger auf die Lippen. Ich riss erschrocken die Augen auf und brauchte all meine Willensstärke, um davor nicht zurückzuschrecken. Und Pal wusste das genau. „Pass auf, es geht gleich los.“

Nun zog er seine Hand von allein fort. Ich wollte fragen was losginge, da flackerte die schwarze Glasscheibe und ein Bild erschien.

„Ein überdimensionaler Fernseher“, rief ich aus und bekam dafür von allen Seiten komische Blicke zugeworfen.

Auf dem Bildschirm war eine junge Frau erschienen, die der Kleidung nach zu urteilen, oder besser gesagt, deren weitläufigem Fehlen, wohl eine Werwölfin sein musste. Sie lief völlig entspannt im Wald herum. Aber sie war nicht allein, jemand verfolgte sie. Sie wurde nur von hinten, aus dem Blickwinkel des Verfolgers gezeigt.

Es war schon seltsam, die Szene war weder mit Musik unterlegt, noch wurde das Mädchen mal aus einem anderen Winkel gezeigt. Außerdem war das Bild zu den Rändern hin verschwommen.

Vor dem Mädchen breitete sich eine große schlammige Pfütze aus. In dem Moment, in dem sie darüber hinwegsetzten wollte, schoss ihr Verfolger aus dem Gebüsch und stieß sie mit dem Gesicht voran hinein. Sie stieß noch einen überraschten Schrei aus, dann landete sie auch schon mit der Nase im Dreck. Das dreckverschmierte Gesicht wandte sich den Zuschauern zu, dann …

„DU!“

Über den Ausruf fuhr ich mal wieder vor Schreck zusammen. Ein junges Mädchen, vielleicht neunzehn, war aufgesprungen. Ohne den ganzen Matsch im Gesicht war sie nicht ganz leicht zu erkennen, aber es war ganz eindeutig das Weib aus dem Film.

Du warst das!“

„Oh Mist, du bist ja auch hier.“ Das kam von einem Jungen, der sein hellbraunes Haar im Nacken zu einem Flechtzopf zusammengefasst hatte. Der Zopf reichte ihm bis weit auf den Rücken. Er war jünger als sie und ziemlich erschrocken über ihre Anwesenheit. Hastig sprang er auf, als das Mädchen sich durch die Leute auf ihn zu bewegte.

„Kovu, bleib stehen!“

Aber Kovu dachte nicht im Traum daran. Er floh eilig aus dem Raum, gefolgt von einer stinkwütenden Wölfin. Alle im Raum lachten und amüsierten sich köstlich. Außer mir, ich verstand nur Bahnhof.

„Jetzt ich“, rief ein Mann in den mittleren Jahren. Etwas Kleines, Schwarzes wurde an ihn weitergereicht. Er legte die Finger darauf, nahm einen konzentrierten Ausdruck an und die schwarze Glasleinwand, die bei dem überraschten und matschverzierten Gesicht hängen geblieben war, erwachte erneut zum Leben.

Ein Platz umringt von Häusern, hier in diesem Lager. Ich kannte diesen Platz, Pal hatte ihn mir heute gezeigt. Und da, der Sichtwinkel verschob sich und ich war im Bild. Von hinten, neben Pal. Wir liefen nebeneinander und verschwanden zwischen den Bäumen. Kurz darauf kam ein Haufen tollender Welpen ins Bild gewetzt und lief in eben diese Richtung, in der wir kurz zuvor verschwunden waren, Tess als letzte hintendran. Die Kamera setzte sich in Bewegung.

Ich wandte mich zu Pal. „Ihr habt mich gefilmt?“ Nur warum und … nein, das war kein Film, das war … nun ja, ich hatte keine Ahnung was das war, aber ich war mir sicher, dass hier niemand mit einer Kamera rumgelaufen war. So oft, wie ich mir über die Schulter gesehen hatte, wäre mir das sicher aufgefallen.

Pal verzog angestrengt das Gesicht und versuchte einen Sinn in meine Worte zu bekommen. Er scheiterte kläglich. „Ich verstehe deine Frage nicht.“

Ein paar Leute lachten. Ein kurzer Blick auf die Leinwand bestätigte mir, dass nicht ich dafür verantwortlich war. „Das da“, sagte ich und deutete auf die Frau auf dem Bildschirm, die gerade versuchte, einen Welpen zu baden, der damit gar nicht einverstanden war. Er kaute auf ihrer Hand herum und spritze mehr Wasser auf den Boden, als ihn selbst erwischte. „Da war ich gerade drauf.“

Sein Gesicht glättete sich. „Das Flimmerglas. Wir sehen uns Erinnerungen an.“

„Erinnerungen?“

„Ja, aus unserem Kopf.“ Er tippte sich gegen die Schläfe. „Kennst du das auch nicht?“

Auch nicht. Wie sich das anhörte, als wäre ich hier diejenige welche, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Dabei waren doch die Leute um mich herum jene, die an Magie und den ganzen Schwachsinn glaubten. Andererseits saß ich hier zwischen ihnen und war mehr als nur gewillt einzusehen, dass es diesen ganzen Hokuspokus gab. Was mich daran erinnerte, dass ich vielleicht auch ein paar Schrauben locker hatte. Werwölfe. Gott nein, was kam als nächstes, Vampire? Okay, Schluss damit. Mit solchen Gedanken brachte man das Schicksal nur auf dumme Gedanken.

Da Pal noch auf eine Antwort wartete, tat ich genau das. „Nein, da, wo ich herkomme, gibt es so etwas nicht.“ ich runzelte die Stirn. „Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran.“

„Und was macht ihr, um euch die Zeit zu vertreiben?“

„Fernsehen.“ Das war zumindest das, was dem hier als nächstes kam. „Das sind Schauspieler, die auf ganz viele kleine Bilder gebannt und zu einen ganz langen Band zusammenfügt werden. Spielt man die in der richtigen Reihenfolge schnell ab, entsteht dabei ein Film, den …“ Ich unterbracht mich. „Du verstehst kein Wort von dem was ich sage, oder?“

„Die meisten Worte verstehe ich schon, bloß der Zusammenhang ergibt keinen Sinn.“

Es gab ein allgemeinstes „Oh!“ im Raum. Ein Blick auf das Flimmerglas – wie Pal es nannte – zeigte ein knautschiges rosa Etwas, mit einem braunen Haarschopf kurz nach seiner Geburt. Der Schrei, den das Ding ausstieß, bestätigte es mir. Das war ein frisch geborenes Baby, dass der Welt aus Leibeskräften mitteilte, was es von seiner eigenen Geburt hielt. Nämlich gar nichts!

„Süß, nicht?“

Ich zuckte nur mit den Schultern. Mit Babys konnte ich nichts anfangen, das … ich glaubte das zumindest. Verdammt, es war wirklich frustrierend, nicht mal die kleinste Kleinigkeit über sich selbst zu wissen.

„Ich hab eine Idee“, sagte Pal, mehr zu sich selber als zu mir und dann klaute er sich das kleine schwarze Teil, das ich anfangs fälschlicherweise für eine Fernbedienung gehalten hatte. Die Frau die gerade ihre süße Nichte auf dem Flimmerglas vorführte, gab ein empörtes „Hey!“ von sich, verstummte aber sofort, als Pal das kleine Teil an mich weiterreichte.

Im Raum machte sich neugierige Spannung breit. Alle hier hatten  meine Geschichte gehört und fragten sich wohl, was an ihr dran war.

„Okay.“ Pal beugte sich weiter zu mir und erklärte: „Das hier ist eine Azalee …“

„Ein Azalee?“ Eine Azalee war, soweit ich mich erinnern konnte, doch einer Pflanze, oder? Aber gut, um mein Erinnerungsvermögen war es im Moment sowieso nicht sonderlich gut bestellt.

„Ja, benannt nach seinem Erfinder Blind Azalee …“

„Es gibt einen Typen der Blind Azalee heißt?“ Oder war das ein Frauenname?

„Gab und ja, aber darum geht es jetzt nicht. Also pass auf, ich zeige es dir einmal.“ Er legte die Azalee auf seinen Schoss, die Hand obendrauf und dann verschwand das Bild von dem Baby. Auf dem schwarzen Glas vor uns erschien eine große Feier in vollem Gange. Überall waren Menschen, äh Werwölfe, Lykaner, was auch immer. Riesige Lagerfeuer türmten sich über den ganzen Platz. Ich entdeckte Prisca, die zwischen all den anderen Frauen in der Festmitte tanzte. Auch Domina war bei ihr und ein paar andere Frauen, die ich im Lager gesehen hatte, aber die meisten waren mir unbekannt. Durch die Musik, das Feuer und den Rauch verhüllt, bekam das Ganze eine mystische Note. Ich sah eine Handvoll Frauen, die sich von dem Rest trennten, zu einigen Schalen liefen, die am Rand aufgebaut waren und sich damit unter die Männer mischten. Die Schalen enthielten verschiedene Farben. Sie benutzen sie um sich und die Männer mit kunstvollen Zeichnungen zu bemalen. Linien, Schnörkel und Ranken …

„Und jetzt du. Du legst deine Hand einfach hier rauf, so.“ Er legte ein etwa handgroßes, schwarzes Holzstück in einer ovalen Form auf mein Bein und zeigte mir wie ich die Finger richtig auf das aus Metall eingelassene Muster legten musste. „Jetzt musst du dir einfach vorstellen, was du uns zeigen willst und es erscheint auf dem Flimmerglas.“

„Du meinst … alles, also nicht nur meine Erinnerung?“

„Natürlich. Du kannst dir auch Dinge ausdenken. Es gibt Wesen, die sich ganze Geschichten ausdenken und damit jede Menge Geld machen.“

Aha, märchenhafte Drehbuchautoren, Produzenten und Schauspieler in einem. Interessant.

„Aber am besten fängst du erst mal mit etwas an, das du bereits kennst, das ist einfacher.“

„Okay.“ Ich dachte darüber nach, was ich ihnen zeigen sollte und das Erste was mir auf der Wand erschien war ein übergroßes Bild von Veith, genauso wie ich ihn das erste Mal gesehen hatte. In voller Pracht, nackt im Türrahmen. Ich zog meine Hand so hastig weg, dass die Azalee auf den Boden fiel. Doch das Bild verschwand nicht, sondern blieb einfach stehen. Mir war das so peinlich, dass mir ganz heiß wurde und als dann auch noch ein paar kicherten, wurde ich auch noch rot.

„Keine Sorge“, beschwichtigte Pal mich. „Wenn ich eine Frau wäre, würde ich wahrscheinlich abends mit seinem Bild unter meinem Kissen einschlafen. Natürlich erst, nachdem ich es abgeknutscht hätte.“ Er verzog die Nase. „Und ich nicht mit ihm verwandt wäre.“

Eine Frau neben Pal, mit blondem Haar, das sie zu zwei langen Zöpfen geflochten hatte, nickte eifrig. „Oh ja, wie recht du hast. Bei Veith kann das weibliche Geschlecht schon mal auf unanständige Gedanken kommen.“ Ein träumerischer Ausdruck trat in ihr Gesicht.

„Siehst du, also kein Grund sich zu schämen. Hier …“, er legte mir die Azalee zurück aufs Knie, „…versuch es einfach noch mal.“

Okay. Ich hatte mich bereits bis auf die Knochen blamiert, schlimmer hätte es nur kommen können, wenn Veith selber anwesend wäre. Ich ließ meinen Blick vorsichtig durch den Raum schweifen, nicht dass er sich doch in irgendeiner Ecke versteckt hatte.

„Er ist nicht hier“, sagte Pal, als er meine Gedanken erriet.

Also gut, auf zu einem neuen Versuch. Doch dieses Mal legte ich meine Hand erst auf die Azalee, als ich mir überlegt hatte, was ich zeigen wollte. Auf dem Bildschirm erschien Pal, so wie ich ihn das erste Mal gesehen hatte, im Bad, mit nichts als einem Handtuch um die Hüfte. Er drehte sich langsam zu mir – und zu allen anderen im Raum – um. „Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?“

Von hinten kamen ein paar Pfiffe, als die prächtige Männerbrust auf dem Flimmerglas zu Schau gestellt wurde.

„Domina?“

„Sie müssten grau sein“, hörte ich dann meine eigene Stimme, völlig abgerückt von der Welt. Ich ließ die Erinnerung laufen, bis sich Veith zu uns gesellte. Dann dachte ich ganz schnell an etwas anderes. Wieder erschien Pal. Auf der Leinwand stieß ich mir das Knie am Tisch.

„Oh, das hat bestimmt wehgetan.“

Das Bild wechselte nach draußen. Die kleine Tess in meinen Armen, wie sie mir das Gesicht ableckte und dann waren wir an dem Bach, den Pal mir hatte zeigen wollen, wo wir das Pärchen überraschten und wieder wurde gepfiffen. Die Erinnerungen vermischten sich. Dann waren wir auf dem Dachboden, wo Pal seine kleine Modenschau für mich abzog und auch, wie er lachte, nachdem er mir erklärt hatte, was es mit diesem roten Seidenband auf sich hatte. Die Bilder kamen unkontrolliert in schneller Abfolge. Wechselnde Gesichter, andere Situationen. Wie Fang mich auf dem Dachboden angesehen hatte, Prisca, Tess, das Pärchen am Fluss. Dann kam Domina, wie sie auf der Couch lag und mit dem Ball spielte. „Hier rumzusitzen ist ganz schön langweilig.“ Wieder war Pal zu sehen und sagte: „Wir sind vielleicht anders als du, aber das macht uns noch lange nicht zu Monstern.“

Und dann sah ich Wulf vor mir, wie er in das Zimmer gestürzt kam, den Hass und die Verzweiflung in den Augen. Es folgte die Verwandlung, die gebleckten Zähne, wie er sich auf mich stürzen wollte. Er wollte mich töten, ich sah es an dem Funkeln in seinen Augen …

Pal riss mir die Azalee aus der Hand und überdeckte meine Erinnerung mit seiner Eigenen. Wieder die Szene, in der ich Tess auf dem Arm hatte, wie sie mir das Gesicht abgeleckt hatte und ich kicherte, diesmal nur aus seinem Sichtwinkel. „Katze!“ rief die Kleine begeistert, doch konnte dieses Bild das andere nicht überdecken. Sie existierten beide, wie zwei Seiten einer Medaille, Gut und Böse, Tag und Nacht, schwarz und weiß.

Alles hat zwei Seiten, rief ich mir ins Gedächtnis.

Pal versuchte mich nicht zu bedrängen, blieb still, aber ich bemerkte deutlich, wie er mich von der Seite beobachtete.

„Schon gut.“ Es stimmte zwar nicht, aber ich wollte ihn nicht beunruhigen. „Ich komm damit schon klar und jetzt gib her, ich war noch nicht fertig.“ Ich brachte die Azalee wieder an mich, auch wenn ich eigentlich gar nicht wusste, was ich den anderen zeigen sollte. Ich tat es einfach nur, um nicht durchzudrehen. Das schien mir in diesem Moment am sinnvollsten.

Als wüsste Pal, was in meinem Kopf vorging, flüsterte er: „Zeig uns doch die Dinge an die du dich erinnerst.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Zeig uns das Band mit den vielen kleinen Bildern.“

„Welchen denn?“ Dumme Frage, als wüsste er, welche Filme es alles gäbe.

„Wie viele gibt es denn?“

„Soweit kann ich gar nicht zählen.“ Ich überlegte und dann ließ ich auf dem Flimmerglas einen Fernseher erscheinen.

„Was ist das?“, fragte eine weibliche Stimme aus den hinteren Reihen.

Ich antwortete ohne mich umzudrehen. „Ein HD-TV Flatscreen.“ Als niemand darauf regierte, fügte ich hinzu: „Das ist so etwas ähnliches wie eurer Flimmerglas, doch statt Erinnerungen spielt dieses Gerät Filme ab.“

„Was sind Filme?“ Das kam dieses Mal von der Blonden neben Pal.

Ich versuchte es so gut es ging zu erklären, aber ich glaubte nicht, dass sehr viele im Raum verstanden, was ich da dozierte. Aber so begann unser Spiel. Ich zeigte Dinge, an die ich mich erinnerte, besonders technische Geräte und erklärte dann, wozu diese nutzten. Auch Orte und berühmte Menschen erschienen auf dem Flimmerglas, doch am meisten fasziniert waren die Werwölfe von den technischen Errungenschaften des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Computer, Lampen, Handys, Waschmaschine, Kühlschrank, Steckdosen, Kabel, MP3-Player, Toaster. Auch Häuser und andere berühmte Monumente, wie die Freiheitsstatue, das Brandenburger Tor und der schiefe Turm von Pisa. Aber besonders witzig fanden die Wölfe, wie wir Menschen sie uns und auch andere Fabelwesen vorstellten. Aus Twilight zeigte ich ihnen den glitzernden Edward im Sonnenlicht, was zu allgemeinen Erheiterung beitrug. Oder auch die Hexen und Zauberer aus Harry Potter. Charmed und Buffy waren auch der Renner, oder Reaper. Besonders amüsant fanden sie unsere Vorstellung von Einhörnern, obwohl mir nicht klar wurde, was daran so witzig sein sollte.

So machten wir weiter. Keiner nahm mir die Azalee ab, alle wollten wissen, was in meinem Kopf vorging. Es mussten Stunden vergangen sein, als mir das Bild eines Spiegels in den Sinn kam und auf der Leinwand erschien. Eine Sekunde nur, dann wurde das Flimmerglas von einem blauen Blitz durchzuckt und mein Verstand setzte einfach aus. Das Bild wurde schwarz.

Ich kannte das …woher kannte ich das, was war das? Dieses Licht, ich …

„Talita?“

Ich drehte den Kopf zu Pal herum. So wie er mich ansah, hatte er schon ein paar Mal meinen Namen gerufen, ohne damit eine Reaktion bei mir auszulösen.

„Alles okay mit dir? Die bist plötzlich so blass.“ Er forschte in meinen Augen, meinem Gesicht und was er da sah, beunruhigte ihn.

Ich schüttelte den Kopf und sagte „Ja.“ Ja ich weiß schon, widersprüchlicher ging es nicht. „Ja, alles okay. Ich brauch nur mal kurz frische Luft.“ Als ich aufstand merkte ich kaum, wie die Azalee von meinem Bein rutschte und auf den Boden schlug. Ich spürte die Blicke im Rücken, als ich den Raum verließ, doch das realisierte ich nur am Rande. Was war nur mit mir los? Was war das für ein Licht und warum setzte die Erinnerung in mir nur so ein Gefühlschaos in Gang?

 

°°°

 

Die Gedanken in meinem Kopf wirbelten so schnell, dass ich keinen davon zu fassen bekam.  Nur eine Sache schob sich immer wieder in den Vordergrund: dieses seltsame Gefühl, gefolgt von einem blauen Blitz. Was war das?

Ich hatte mich, nachdem ich aus dem Gemeinschaftsraum – oder wie auch immer die ihn hier nannten – geflohen war, Zuflucht unter einem Grüppchen Bäumen gefunden, zwischen denen ich mich vor den Blicken aus den Häusern um mich herum verbergen konnte. Ich hatte allein sein wollen, doch hier draußen fühlte ich mich verlassen. Nach drinnen zu den anderen wollte ich aber nicht wieder zurückkehren. Außerdem machte es keinen großen Unterschied. Ich war ein Außenseiter und das ließen sie mich deutlich spüren. Ich war kein Teil der Gemeinschaft und die meisten fragten sich wahrscheinlich sowieso, warum Prisca mich noch nicht fortgeschickt, oder sogar getötet hatte. Ich zumindest tat das.

Was dachte ich da eigentlich? Ich wollte nicht dazugehören, ich wollte nur hier weg, wollte wissen, was mit mir geschehen war, wer ich war, alles andere war egal.

Gott, was war nur los mit mir?

„Was tust du hier draußen?“

Mein Kopf zuckte hoch. Vor mir saß ein hellbrauner Wolf. Ein sehr helles Braun. Die gelben Augen schienen mich festzunageln. Ich hatte das Gefühl in den geladenen Lauf einer AK-54 zu schauen. Nur nicht bewegen, dann bemerkt er dich vielleicht nicht.

Ja sicher.

„Ich habe dich etwas gefragt.“

Die Stimme war unverkennbar. Auch wenn sie tiefer und rauer war, als in seiner menschlichen Gestalt, ich hatte ihn sofort erkannt. Vor mir saß Veith. Ich atmete einmal tief durch, um meine Panik vor dem großen, bösen Wolf zu verbergen. „Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen.“ Bitte friss mich deswegen nicht gleich. „Ich brauchte einen Moment für mich allein, ich wollte nicht abhauen oder so.“

Den Blick, mit dem er mich bedachte, konnte ich nicht entschlüsseln. Vielleicht, weil ich es nicht gewohnt war mit Wölfen zu sprechen – oh krass, hört euch das an, ich spreche mit einem Tier und mache mir Sorgen darüber, was das für meinen Geisteszustand bedeutete – oder auch einfach, weil Veith so gut wie keine Mimik zuließ, weder als Mensch noch als Tier.

„Warum nicht?“

„Hä?“ Wirklich, das war doch mal eine bemerkenswert einfallsreiche Erwiderung.

„Du gehörst nicht hierher. Durch dich gibt es nur Unruhe im Lager.“

Das tat weh. Klar, ich wusste, dass ich hier nicht willkommen war, aber es so vor den Latz geknallt zu bekommen war doch eine andere Geschichte, als das diese Vorstellung nur im eigenen Kopf bestand. Ich schlang meine Arme um mich und senkte den Blick auf den laubigen Boden. Ich fröstelte und das hatte nichts mit dem Wetter zu tun. „Ich weiß“, sagte ich nur kleinlaut.

„Es wäre besser wenn du gehst.“

Und wohin bitte soll ich gehen? Wollte ich ihn anschreien. Ich biss mir auf die Lippen, um diesen Ausbruch zu vermeiden. Es kam mir nicht besonders gescheit vor, einen Werwolf … oh, entschuldigen Sie bitte, ich meine natürlich einen Lykaner, anzuschreien.

Es war ja nicht so, dass ich mich diesen Leuten aufdrängen wollte, ich wusste einfach nicht wohin ich mich sonst wenden sollte. Und außerdem wollte Prisca nicht, dass ich verschwand. Nicht bevor sie wusste, was genau es mit mir auf sich hatte.

Das Unterholz hinter mir knackte. „Ach, da bist du ja“, sagte Pal so munter wie immer. „Ich wollte nur mal nachsehen …“ Er unterbrach sich kurz. „Hey, was hast du denn?“ Pause. Dann: „Was hast du zu ihr gesagt?“ Pals Stimme war ein tiefes Knurren. Ich wusste auch ohne dass ich den Kopf hob, dass er mit Veith redete.

„Nur die Wahrheit. Wenn sie nicht damit umgehen kann, ist das nicht mein Problem. Kein Grund mich anzuknurren.“ 

„Du bist ein Arsch, weißt du das eigentlich? Nimm deine tollen Ratschläge und nerv damit jemanden, der sie hören möchte. Komm.“ Das letzte Wort galt mir. Er nahm meine Hand, zog mich auf die Beine und das war das erste Mal, dass ich bei eine so plötzlichen Berührung von ihm vor Schreck nicht beinahe aus der Haut fuhr. Vielleicht war es die späte Stunde und meine Erschöpfung, oder auch all die neuen und seltsamen Eindrücke, die ich an diesem Tag gesammelt hatte. Vielleicht aber auch einfach Veiths unverblümte Art mir zu sagen, dass er mich zum Teufel wünschte, oder einfach nur Pal, der die ganze Zeit nichts anderes als nett zu mir gewesen war. Wie auch immer, es war okay. Ich ließ mich von ihm an der Hand nehmen und zum Haus führen. Nicht das, in dem ich meine Erinnerungen auf eine schwarze Glasscheibe projiziert hatte, sondern in das, in dem mein Leben angefangen hatte, meine Erinnerungen, mein erster Tag in dieser unwirklichen Welt.

Ich sah nicht zu Veith zurück, konnte seinen Blick aber im Rücken spüren, bis wir im Haus verschwunden waren.

 

°°°

 

Pal brachte mich in seinem Zimmer unter. Er meinte, hier sei ich sicher. Ich kaufte es ihm nicht ganz ab, aber ich war so müde, dass ich nicht protestierte. Er selber wollte im Bau schlafen – was auch immer das war – und somit hatte ich das ganze Zimmer für mich allein. Diese Vorstellung war auf eine Art tröstlich, zugleich aber auch beängstigend. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob es nun besser war einen Raum in einem Haus voller Werwölfe für mich alleinzuhaben, oder denjenigen welchen, bei dem ich die Bezeichnung Vertrauen am ehesten eingesetzt hätte, bei mir zu behalten. Beide Varianten hatten ihre Vor und Nachteile.

Pal jedenfalls blieb bis ich eingeschlafen war – vielleicht wollte er aber auch einfach nur aufpassen, dass ich mich nicht doch noch aus dem Staub machte, immerhin stand ich ja eigentlich unter Bewachung – was trotz des ganzen Geschehens an diesem Tag recht schnell ging. Danach schlich er leise aus dem Raum und schloss die Tür.

 

°°°°°

Tag 2

Ich schreckte aus dem Schlaf, als die Tür aufschlug. Noch bevor ich die Augen richtig offen hatte, sprang etwas ins Bett und benutze den unteren Teil der Matratze als Hüpfburg. Nicht etwas, sondern Pal, in einem von diesen allseits beliebten Lendenschurz.

„Los aufstehen, Schlafmütze, es ist fast mittags. Zeit, den Schönheitsschlaf zu beenden. Außerdem will Prisca dich sprechen.“

Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, wo ich war und als es mir wieder einfiel, konnte ich nicht gerade sagen, dass es mich glücklich machte. Werwölfe, Drachen, Magie und ein Fernseher, der Erinnerungen aus dem Kopf direkt auf die Mattscheibe projizierte. Pals Anwesenheit ließ meine Hoffnungen auf einen bösen Traum verpuffen. Na ganz Klasse, so begann der Morgen …äh, Mittag schon mal fantastisch. Seufz.

„Na los, komm schon, raus aus den Federn.“ Er hüpfte noch ein bisschen mehr, ließ sich dann auf die Fersen sinken und neigte den Kopf auf diese hündische Art zu Seite. „Warum guckst du mich so an?“

Weil mit seinem Auftauchen alles wieder real wurde. „Ach nur so.“

Er kaufte es mir nicht ab, kein Wunder, ich log grottenschlecht, doch er beließ es dabei, griff nach vorn um … ach was weiß ich, vermutlich um mir die Decke wegzuziehen, doch ich sah in dem Moment den Wolf in seinen Bernsteinaugen und das Bild von Wulf, wie er mich angriff wurde auf meiner Erinnerung gespuckt. Wie auch immer, ich schreckte vor der Hand dermaßen zurück, dass ich mit dem Kopf an die Rückenlehne des Bettes knallte. Au-a!

Ich sah die leichte Kränkung in Pals Blick, konnte aber nichts dagegen tun. „Immer noch Angst, wie?“ Er ballte die ausgestreckte Hand kurz zur Faust und ließ sie dann mit verkniffenem Mund sinken.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise. Tat es wirklich. Pal war der Einzige, der die ganze Zeit freundlich zu mir gewesen war und es war nicht nett von mir, ihn wegen einer solch kleinen Geste dermaßen vor den Kopf zu stoßen, doch ich konnte gar nichts dagegen tun. Vielleicht wäre es anders, wenn ich nicht kurz nach dem Aufwachen auf Wulf und seine verzweifelte Wut gestoßen wäre, aber so war es nun mal. Es war passiert und nur Veiths beherrschtes Eingreifen hatte schlimmeres verhindert.

Pal kletterte aus dem Bett.

„Es tut mir leid“, wiederholte ich. Lahm, das wusste ich, aber es war das Einzige, was mir einfiel.

„Was kann ich tun, um dir zu beweisen, dass wir nicht die Monster sind, für die du uns hältst?“

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich es nicht wusste. Ich konnte mir nicht mal erklären, warum es ihm so wichtig war.

Nachdenklich sah er mich an und dann erhellte sich sein Gesicht. „Ich weiß!“, sagte er und was dann kam, schockierte mich zutiefst. Er zog sich ohne jegliches Zögern den Lendenschurz herunter, einfach so, aus heiterem Himmel. Hastig wandte ich den Blick ab. Klar, ich hatte bereits mitbekommen, dass die Kleiderordnung hier sehr lässig, praktisch überhaupt nicht vorhanden war, aber das ging dann doch zu weit. Erst im zweiten Moment wurde mir klar, dass es vielleicht ziemlich dumm war, einfach wegzugucken. Schließlich war ich hier allein mit ihm im Zimmer, auch wenn die Tür offen stand und er war nackt. Wegrennen wäre angebrachter gewesen, doch bevor ich auch nur einen Finger krümmen konnte, hörte ich ein leises Fipsen neben mir. Zögernd sah ich zu der Stelle, an er eben noch Pal gestanden hatte.

Auf dem Boden lag ein großer, rötlicher Wolf mit weißem Bauchfell und bedachte mich mit einem Blick, den ich nur als Hundeblick interpretieren konnte. Ich starrte ihn nur an, wusste nicht ob es besser war, bewegungslos in dem Bett sitzen zu bleiben, oder mich schnellst möglich aus dem Staub machen sollte.

Pal sah wie mein Blick zwischen der Tür und ihm hin und her sprang. Er öffnete das Maul, ließ die Zunge raushängen und sah mich erwartungsvoll an. Dann machte er einen Satz auf die Pfoten, der mich fast an die Decke springen ließ und … fing an, seinen Schwanz zu jagen. Im ersten Moment war ich zu verblüfft um irgendwas zu denken, dann stolperte er über seine eigenen Pfoten und fiel wie ein gefällter Baum um.

Ich wusste, dass er das nur machte um mich aufzumuntern, mir meine Angst zu nehmen und mir nicht wirklich die Sicherheit gab, dass er ungefährlich war, aber es sah so witzig aus, dass ich gar nicht anderes konnte, als loszulachen.

„Das findest du also witzig?“, fragte er. Seine Stimme war tiefer geworden, rauer, aber es war immer noch seine Stimme. „Na dann pass mal auf.“ Er sprang wieder auf und setzte durch das kleine Zimmer, vollführte Bocksprünge, kauerte sich auf dem Boden, das Hinterteil in der Luft und wedelte mit der Rute wie ein Verrückter hin und her. Er sprang nach einer imaginären Beute und triumphierte, als hätte er sie wirklich gefangen. Dann tänzelte er auf den Hinterbeinen, machte Männchen und rollte sich wie ein gut erzogenes Hündchen herum.

So einen riesigen Wolf das machen zu sehen war so lächerlich, dass ich mir zum Schluss den Bauch hielt. Es machte ihm gar nichts aus, sich für mich so lächerlich zu benehmen. Schon gestern auf dem Dachboden hatte er das gemacht, aber das hier war um Klassen besser. Ich hatte richtig Lachtränen in den Augen.

Zum Schluss ließ er sich auf den Boden plumpsen und rollte sich auf den Rücken, den Blick offen und erwartungsvoll auf mich gerichtet. Ich wusste sofort, was er von mir wollte, wusste aber nicht, ob ich das konnte.

Nun sei mal nicht so ein Feigling, er wird dich schon nicht fressen.

Naja, so sicher war ich mir da nicht. Und doch, trotz aller Unsicherheiten schlug ich die Decke zurück und schwang zögernd die Beine aus dem Bett. Pal bewegte sich nicht, als ich mich vorsichtig neben ihn hockte. Und als ich langsam die Hand nach ihm ausstreckte, hielten wir wohl beide die Luft an.

Du kannst das, sagte ich mir. Ich hatte doch auch gestern die kleine Tess auf dem Arm gehabt. Das hier war das gleiche, nur halt ein paar Nummern größer. Okay, viele Nummern größer, aber immer noch das gleiche.

Meine Finger berührten seine Brust, wo das Fell weicher war, als das borstige Deckfell auf dem Rücken. Er schloss genießerisch die Augen, als ich ihn dort kraulte, was mich mutiger werden ließ. Ich nahm auch noch die andere Hand, strich ihm über die Brust zum Hals und wieder zurück, zum Ende seines Brustkorbs. Dort angelangt zuckte er mit dem Hinterlauf, als wäre er kitzelig. Ich tat es noch einmal und wieder zuckte er, was mich lächeln ließ und ermutigte weiterzumachen.

Doch dann knurrte er plötzlich. Erschrocken zuckte mein Blick zu seinem Kopf, doch er sah gar nicht mich, sondern etwas hinter mir an. Im Türrahmen stand Veith – hey, der hatte seine Kleidung gefunden! – einen missbilligenden Ausdruck im Gesicht. Pal rollte sich herum, so dass meine Hände auf seinem Rücken zu liegen kamen und knurrte.

Veith ließ das völlig kalt. „Prisca will sie sehen.“ Und dann war er auch schon wieder weg.

„Irgendwann einmal“, knurrte Pal und wurde sich dann wieder bewusst, dass ich noch immer bei ihm auf dem Boden hockte. Er grinste mich mit einem halben Wolfslächeln an und leckte mir dann mit viel Gesabber über die Hand.

„Iii!“

„Was?“, fragte er scheinheilig. „Magst du das etwa nicht.“ Und dann fing er mit einer Gesichtswäsche bei mir an. Gesicht, Hals, einmal sogar quer über den Mund.

„Iii, Pal lass das, das ist ja eklig, hör auf, nein, Pal!“

Er schubste mich um, bis ich auf dem Rücken lag und ich wehrte mich und lachte über dieses viel zu hündische Verhalten. Und zum ersten Mal seit ich hier war, war ich wirklich ein wenig entspannt.

 

°°°

 

Nur zögernd trat ich in das Haus der Alphahündin. Ich hatte keinen Blick für meine Umgebung, war viel zu angespannt wegen dem, was mich erwartete. Warum wollte sie mich sprechen? Ließ sie mich gehen, oder … okay, an dieser Stelle wollte ich nicht weiter denken.

„Keine Sorge“, versuchte Pal mich zu beruhigen. „Sie will sich nur mit dir unterhalten, ganz harmlos.“

„Sicher?“, quiekte ich mit viel zu schriller Stimme.

Pal lächelte aufmunternd. „Ja, nur ein kurzes Gespräch, niemand wird dir dein hübsches Köpfchen vom Hals trennen.“

Da, er hatte es schon wieder getan, genau wie gestern auf dem Dachboden, ein Kompliment. Wie sollte ich damit umgehen? War es gut, Komplimente von Werwölfen … äh, ich meinte natürlich Lykanern, entgegen zu nehmen? Naja, schlecht war es ja nicht unbedingt, oder? Gott, war ich schon immer so unsicher gewesen? Das war ja nervend.

Mittlerweile waren wir an einer Tür angekommen, hinter der ich Priscas leise Stimme vernehmen konnte und mein Herz legte gleich mal einen Zahn zu. Mann, diese Frau hatte mir nichts getan, doch allein ihre Ausstrahlung machte mir eine solche Scheißangst, dass ich erzitterte, wenn ich nur an sie dachte. „Du bleibst doch bei mir, oder?“

Pal zögerte einen Moment, in dem ich ihn entsetzt ansah. Er konnte mich doch nicht allein lassen!

„Wenn ich darf, ja. Aber keine Sorge, auch wenn ich raus muss, sie lässt dich schon in einem Stück.“

Fand der seine ständigen Witze von meinem baldigen Tod etwa auch noch amüsant? Der war wohl als Kind mal auf den Kopf gefallen und zu hart aufgeschlagen. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du überhaupt nicht lustig bist?“

Er grinste frech. „Bisher nur du.“

Immerhin.

„Na los, komm schon. Wird sicher nur halb so schlimm, wie du dir das vorgestellt hast.“

Genaugenommen hatte ich mir bisher noch überhaupt nichts vorgestellt, weil ich meiner Fantasienicht traute. Wer wusste schon, was da rauskam. Verdammt, ich wollte da nicht rein.

„Talita?“

Na gut, ewig konnte ich hier draußen ja auch nicht stehen bleiben. Zögernd griff ich nach Pals Hand und drückte sie leicht. So hatte ich wenigstens das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Sie war weich und so viel wärmer als meine.

Im ersten Moment war Pal überrascht, aber dann hatte er wieder dieses halbe Lächeln im Gesicht und schloss seine Finger fest um meine, damit ich auch ja nicht auf den Gedanken kam, es mir plötzlich anders zu überlegen. „Bereit?“

„Nein.“

„Na dann los.“ Er machte die Tür auf und zog mich hinter sich in den Raum. „Ich bring dir dein Mittagessen, musst du allerdings noch selber erlegen.“

Mir wich jegliche Farbe aus dem Gesicht.

Pal sah lächelnd zu mir, doch es verrutschte leicht, als er mein Gesicht bemerkte. „War wohl wieder mal ein schlechter Witz.“

Ich konnte nur nicken. Einmal runter und einmal hoch. Sowas konnte er doch nicht sagen! Nachher nahm Prisca ihn noch für voll und ich endete nett angerichtet mit einem Apfel im Mund auf einem silbernen Tablett, während um mich herum Werwölfe saßen, kleine Teile von mir verspeisten und darüber redeten, wie das Wetter morgen werden würde.

„Hey, tut mir leid“, sagte der Rotschopf zerknirscht. „Ich verspreche dir in Zukunft solche geschmacklosen Scherze zu unterlassen, in Ordnung? Nur guck bitte nicht mehr so entsetzt, da bekomm ich ein richtig schlechtes Gewissen.“

„Verdient hättest du es“, schimpfte ich und wurde mir erst wieder darüber im Klaren, dass wir nicht allein waren, als sich Prisca vernehmlich räusperte. Sofort hatte sie meine ganze Aufmerksamkeit.

Sie lag seitlich auf einem beigen Tierfell und kraulte den Pelz eines hellbraunen Wolfes mit schwarzen Pfoten und einer schwarzen Schnauze. Die Augen halb genießerisch geschlossen, fühlte er sich pudelwohl in seiner Haut. „Wenn ihr dann so weit seid, würde ich auch mal gerne zu Wort kommen.“ Sie sah genauso aus wie gestern, immer noch mit dieser mächtigen Ausstrahlung und den Augen, die mich einfach zu durchleuchten schienen.

„Klar“, grinst Pal. „Aber eine Sache wäre da noch. Ich würde gerne hier bleiben, wenn du nichts dagegen hast.“ Er drückte meine Hand und ich wusste, dass er das nur wegen mir gesagt hatte. Irgendwie war das ja süß.

Prisca winkte nur ab. „Meinetwegen und jetzt setzt euch endlich.“

Zufrieden mit sich und der Welt zog Pal mich mit sich auf den Boden. O-kay, unter Setzen hatte ich mir zwar etwas anderes vorgestellt, als an Ort und Stelle zu Boden zu sinken, aber bitte.

„Ich möchte das du ehrlich mit mir bis, Talita“, fing Prisca an. „Im Moment habe ich keinen Grund dir zu schaden, aber ich mag es nicht, angelogen zu werden. Hast du das verstanden?“

Schluck. „Ja.“

„Gut.“ Ihre Finger fuhren in das Nackenfell des Wolfes. Er grummelte zufrieden und schloss die Augen ganz. „Ich möchte wissen, ob seit gestern irgendwelche Erinnerungen zurückgekehrt sind. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist.“

„Nein“, sagte ich sofort

Prisca sah mich an, als würde sie mich durch ein Zielfernrohr ins Visier neben. „Da hab ich aber etwas ganz anderes gehört.“

„Was? Aber … ich …“ Hilfesuchend sah ich zu Pal, doch der wirkte auch nicht schlauer als ich selber. „Ich schwöre, da ist nichts.“ Scheiße, was sollte ich machen, wenn sie mir nicht glaubte? Da war doch wirklich nichts. Alles was ich wusste, wusste sie auch. Da gab es nichts Neues, nichts war mir mehr eingefallen, kein Gedankenblitz, der etwas mit meiner Vergangenheit zu tun hatte, alles war leer. Sollte ich sie etwa anlügen, damit sie zufrieden war? Das schien mir nicht sonderlich gescheit, nicht wo sie meine Gedanken praktisch spüren konnte. „Ich schwöre es dir, ich erinnere mich nicht.“

Prisca blieb völlig entspannt. „Gestern warst du mit einem Teil meiner Wölfe im Rudelhaus und hast ihnen deine Erinnerungen gezeigt. Ein paar von ihnen waren sehr beeindruckt, von den Dingen, die du preisgegeben hast.“

„Aber das waren nur Dinge, nichts über mich. Ich weiß nichts mehr von meinem alten Leben, nur noch alltägliche Sachen, aber das hatte ich dir schon gesagt.“

„Und warum bist du dann plötzlich aus dem Raum gestürzt?“

„Das war … ich weiß nicht.“ Wie sollte ich das erklären? „Da war ein Bild, ein blauer Blitz, aber weiß nicht, was er zu bedeuten hat.“

„Und ein Spiegel“, warf Pal noch mit ein und sah mich von der Seite an. „Bevor der blaue Blitz kam, war da noch ein Spiegel, ein ziemlich Alter. Nur ganz kurz, aber er war da.“ Sein Kopf wandte sich Prisca zu. „Das hab ich mir gemerkt, weil es so anders war, als die Sachen, die sie uns vorher gezeigt hatte.“

Ach wirklich? Ich konnte mich nicht so ganz daran erinnern. Es waren nur verschwommene Bilder, die in rascher Abwechslung aufeinander gefolgt waren und dann war da nichts mehr.

„Was sagst du dazu, Talita?“, wollte Prisca wissen.

„Ich … ich weiß nicht.“ Mann, konnte die mal aufhören mich so anzusehen? Da bekam ich glatt das Gefühl gehäutet zu werden. „Da war dieser Blitz und dann war da gar nichts mehr, alles weg.“ Mit leichter Verzweiflung sah ich zu Pal. „Ich weiß nichts von einem Spiegel, das schwöre ich.“

„Aber er war da“, sagte er mit weicher Stimme und ließ seinen Daumen beruhigen über meinen Handrücken kreisen.

„Hm“, machte Prisca. „Was hast du denn vor dem blauen Blitz gezeigt?“

„Ich habe gezeigt, wie sich die Menschen Fabelwesen vorstellen. Das Letzte, glaube ich, waren die Einhörner. Alle haben gelacht und dann kam halt … der Blitz“, endete ich schwach. Was sollte ich auch sonst sagen? Ich wusste es doch nicht und langsam bekam ich doch das Gefühl, dass ich auf der Speisekarte enden würde, wenn sie mit meinen Ausführungen nicht zufrieden war.  

Lange tat die Alphawölfin nichts anderes als mich anzusehen. Unter diesem Blick zitterte ich praktisch und als sie dann die erlösenden Worte sagte, fiel mir eine zentnerschwere Last vom Herzen. „Ich glaube dir.“ Sie seufzte. „Aber das hilft uns nicht weiter. Du bringst zu viel Unruhe in mein Rudel, das kann ich nicht gebrauchen. Auch wenn es seltsam ist und keinen Sinn ergibt, ich glaube dir, dass du deine Erinnerung an dich selber vollkommen verloren hast. Trotzdem, oder gerade deswegen, kannst du nicht hierbleiben. Ich weiß nicht, wer du bist, kann nicht einschätzen, ob du für meine Wölfe eine Gefahr bedeutest. Ich werde es nicht riskieren. Du musst gehen, Talita.“

„Was?“ Sie schickte mich fort? Meine Hand krampfte sich um die von Pal. „Aber … aber … wo soll ich denn hin?“

„Nach Sternheim. Dort wird man dir sicher helfen können.“

„Sternheim?“ Ich sah zu Pal und dann wieder zu Prisca. „Das kenn ich nicht, ich weiß nicht, wo das ist!“

„Das ist die nächste Stadt hinterm Wolfsbaumwald“, erklärte Prisca. „Dort wirst du Hilfe finden.“

„Aber …“ Verdammt, jetzt stiegen mir wirklich Tränen in die Augen. Gestern noch hatte ich nicht hierbleiben wollen, doch jetzt, wo sie mich wegschicken wollte, fühlte ich mich einfach nur verloren. Ich kannte doch niemanden außer den Wölfen. Die Welt dort draußen war noch unbekannter als das Lager. Ich wollte nicht in die Fremde geschickt werden, wollte das Gefühl der Ahnungslosigkeit kein zweites Mal durchmachen. „Wie soll ich denn dahin kommen?“, frage ich leise, fast verzweifelt. Ich wollte wirklich nicht gehen. „Ich weiß doch gar nicht wo das ist, ich weiß gar nichts.“ Nicht über mich und auch nicht über diesen Ort.

Priscas Blick wurde zum ersten Mal seit ich sie kannte ein wenig weich. „Du brauchst keine Angst haben. Ich schicke dich nicht einfach in die Welt hinaus, um dich dir selbst zu überlassen. Ein paar meiner Wölfe werden dich begleiten …“

„Ich mach das!“, rief Pal und bekam sofort einen bösen Blick von seiner Alpha, unter dem der große Kerl zu schrumpfen schien. Prisca hatte es wohl gar nicht gerne, so rüde unterbrochen zu werden. „Ich bin schon still“, sagte er unterwürfig.

„Das hoffe ich, sonst wirst du nämlich rausgehen und draußen warten.“

Wie ein kleiner Schuljunge, ging es mir durch den Kopf.

Prisca wandte sich wieder mir zu. „Morgen früh wirst du mit ein paar meiner Wölfe aufbrechen, die dich nach Sternheim begleiten werden.“ Sie warf Pal einen kurzen Blick zu, aber der schwieg diesmal ganz artig. „Dort werden sie dich zu … einem alten Bekannten bringen. Ich werde dafür sorgen, dass er dich in seine Obhut nimmt und dir hilft, deine Erinnerung wiederzuerlangen.“

Okay, für eine Unterkunft war also gesorgt, aber trotzdem. „Muss ich wirklich gehen?“

„Ja.“ Kurz und knapp.

Ich kniff die Lippen zusammen und senkte den Blick. Ich wollte nicht gehen. Trotz der ganzen Monster um mich herum wollte ich bleiben. Wer wusste schon, was mich dort draußen für Kreaturen erwarten würden.

 

°°°

 

„Na siehst du, war doch halb so schlimm“, sagte Pal, als wir wieder draußen vor dem Haus standen. Er hatte meine Hand noch immer nicht losgelassen und wahrscheinlich war das auch gerade das Einzige, was mich auf den Beinen hielt. Ja schon klar, ich verstand mich ja selber auch nicht. Ich war hier nicht willkommen, bekam scheele Blicke und einer hatte sogar versucht mich umzubringen, aber irgendwie, ich wusste auch nicht recht, wie ich das erklären sollte … es war einfach … ich kannte doch nichts anderes.

„Hey, nun lach mal wieder. Mit so einem Gesicht kann ich dich ja gar nicht zum Fest mitnehmen.“

„Fest?“, fragte ich, obwohl ich immer noch mit meinem eigenen Drama beschäftigt war. So paradox es auch klang, ich wollte nicht gehen, ich fühlte mich hier … naja, nicht unbedingt wohl, aber es war … okay.

„Ja, der Geburtstag von den Drillingen. Seit Wochen haben die drei kein anderes Thema mehr als den heutigen Tag. Stell dir vor, gestern haben sie einen riesigen Aufstand gemacht, weil Prisca sie nicht den ganzen Tag befeiern wollte. Das ist ihr fünfundsiebzigstes Jahr und die drei sind der Meinung, dass ihnen in diesem Alter mehr zusteht, als Prisca genehmigen wollte.“

Fünfundsiebzig. Nach menschlichen Maßstäben, wären die Drillinge ja schon Omis. Ob hier genauso gerechnet wurde? „Wie alt können Werwölfe denn werden?“

Um uns herum war ziemlich viel Betrieb, doch die Kleiderordnung an Feiertagen hatte sich nicht großartig geändert. Die Leute, die ich sah, hatten sich mit Perlen und Bändern geschmückt. Um Hals, Handgelenke und Hüfte klimperten sie fröhlich vor sich hin. Aber am faszinierendsten waren doch die, die sie sich in die Haare geflochten hatten. Nein, mehr Klamotten am Leib trugen sie nicht, aber sie sahen hübsch aus, irgendwie exotisch.

Pal schlenderte mit mir in Richtung Lagermitte. Heute bekam ich nicht mehr so viele Blicke, auch nicht mit dem seltsamen Kostüm. „Also, Fünfundsiebzig ist schon ziemlich alt“, überlegt er laut.

„Pal von unter den Wolfsbäumen!“, keifte da eine kratzige Stimme zu uns herüber.

Pal duckte sich, als hätte er Angst, gleich eine Übergebraten zu bekommen und sah sich unsicher um. „Oh nein.“

Pal von unter den Wolfsbäumen? War er mit dieser Atzaklee verwand? Die hieß doch auch so, oder täuschte ich mich da?

Ich folgte seinem Blick. Um die Hausecke bog eine ältere Frau, die mit großen Schritten resolut auf uns zuhielt. Sie hatte langes, graues Haar, das ihr fast bis in die Kniekehlen reichte. Es war zu vielen dünnen Zöpfen geflochten und mit Federn, Perlen und Lederschnüre verziert. Sie war kleiner als ich, fast winzig. Um Augen und Mund hatte sie tiefe Falten und doch wirkte sie irgendwie zeitlos.

Sie hielt direkt auf Pal zu, schnappte ihn sich so schnell am Ohr, dass er gar nicht ausweichen konnte und zog ihn zu sich herunter.

„Au au au au au!“

Ich ließ ihn los und trat hastig zurück. Egal was jetzt kam, ich wollte nicht mit hineingezogen werden.

„Hast du mich gerade alt genannt?“, fragte sie mit ruhiger Stimme.

„Nein, natürlich – au! – nicht.“ Er versuchte ihre Hand von seinem Ohr loszumachen. Zwecklos, der Griff war eisenhart. „Ich habe ihr nur gesagt, dass du dich gerade – au! – in der Blüte deiner Jahre befindest, so wunderschön, dass du immer noch reihenweise Männerherzen brichst und dir auch heute niemand widerstehen kann.“

Ihr Mundwinkel zuckte, nur ganz kurz, aber ich sah es genau. „Ist das die Art, wie man dem Geburtstagskind anständig gratuliert?“ Sie kniff die Augen zusammen und ließ von ihm ab.

Missmutig rieb er sich über sein schmerzendes, rotes Ohrläppchen und warf der Frau einen bösen Blick zu. „Ich hatte ja noch nicht mal die Gelegenheit, dir zu gratulieren.“

„Die zweite Sonne steht bereits am Himmel, du hattest genug Zeit. Du bist mir aus dem Weg gegangen.“

Zweite Sonne?

„Bin ich gar nicht“, grummelte er wie ein kleiner Junge, der eine Standpauke erhielt, weil er an der Keksdose genascht hatte.

Die Frau – Werwölfin? – schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du und deine ständigen Widerworte. Jetzt stehe ich seit zwei Minuten hier und wurde von dir immer noch nicht in den Arm genommen. Geht man so mit dem Geburtstagskind um?“

Ich konnte praktisch spüren, wie Pal die Augen verdrehte. Trotzdem beugte er sich vor und drückte die kleine Frau an seine stolze Brust. „Alles Gute zu deinem fünfundsiebzigsten Jahr, Naara.“

„Na geht doch.“ Sie ließ ihn los und wandte sich in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen war. „Und nun komm, Febe und Banu warten schon. Das Mädchen kannst du auch mitnehmen.“

„Wie gnädig“, murmelte er.

„Das habe ich gehört“, teilte sie ungerührt mit und führte uns zu der baumumringten Freifläche in der Mitte des Lagers. Hier war richtig was los. Überall standen und tanzen Leute. Es gab einen langen Tisch mit einem Buffet, ein Lagerfeuer und alles war mit Blumengirlanden geschmückt. Ein paar Gesichter erkannte ich wieder. Fang, der mit der Raupe als Augenbraue, tanze mit der riesigen Heilerin Rem. Aber nicht so, wie ich es kannte. Es hatte mehr etwas von einer indianischen Note. Domina rannte laut lachend vor dem Kerl mit der Narbe an der Schläfe davon. Kinder flitzten umher, man drängte sich am Buffet und fütterte sich gegenseitig. Vereinzelt mischten sich auch ein paar Wölfe unter die Leute, aber am interessantesten fand ich die vier Musiker. Solche Instrumente hatte ich noch nie gesehen. Naja, gut, die Trommel schon, aber nicht den langen Stab mit den Löchern, der auf den ersten Blick an eine Flöte erinnerte. Nur dreimal so lang. Und es wurde auch nicht hineingeblasen. Das Instrument lag auf dem Schoss der blonden Frau mit den zwei Zöpfen, die gestern neben Pal vor dem Flimmerglas gesessen hatte. Sie hielt in verschiedenen Kombinationen die Löcher zu und erzeugte damit Klänge, ähnlich einer Gitarre.

Der breite Mann neben ihr hielt einen Metallring in der Hand und je nachdem, wo er ihn berührte, entstanden andere Klänge. So was hatte ich noch nie gehört. Ich kannte nichts, mit dem ich diese Töne vergleichen konnte. Sie waren tief, herb und sie vibrierten bis auf die Knochen.

Vor den Beiden auf dem Boden saß ein Mann mit dunkelbraunem Haar. In seinem Schoss lag eine längliche, ovale Platte aus dem gleichen Material wie das Flimmerglas. Er tippte auf der glatten Fläche herum und immer, wenn er sie berührte, leuchtete das Glas gelb auf. Das war ein magisches Keyboard. Zumindest klang es so.

Als mich jemand an der Hand berührte, zuckte ich zurück, aber es war nur Pal, der mich nachsichtig anlächelte. „Komm, du kannst dich später umsehen.“ Er startete einen neuen Versuch nach meiner Hand zu greifen und war zufrieden, als ich es ihm erlaubte.

Naara war nicht mehr zu sehen, sie war zwischen den vielen Leuten einfach untergegangen – kein Wunder bei ihrer Größe, oder dessen Fehlen.

Vor mir wetzte ein halbstarker Wolf mit einem Stück Fleisch vorbei, der von einer braunhaarigen Frau verfolgt wurde. Sie drohte ihm lautstark den Hintern zu zerkratzen, wenn sie ihn erwischte.

Ich konnte nur ratlos hinterher sehen. „Ihr seid ganz schön verrückt.“

Pal schmunzelte. „Ach, das ist doch noch gar nichts. Du hättest Julica mal beim Feuerfest sehen müssen.“ Er zog mich zielgenau an den Leuten vorbei zu einem Baldachin, unter dem die drei Geburtstagskinder saßen.

„Dir ist schon klar, dass ich weder weiß, wer Julica ist, noch jemals etwas von einem Feuerfest gehört habe?“

„Dann werde ich es dir bei Gelegenheit erzählen.“ Er beugte sich zu mir vor, so dass ich seinen warmen Atem an meinem Ohr spüren konnte. „Aber jetzt müssen wir erst mal das hier hinter uns bringen“, flüsterte er so leise, als vertraute er mir ein enorm wichtiges Geheimnis an.

Das war mir dann aber doch zu nahe und ich machte einen Schritt von ihm weg. Die Hand halten war okay, aber seinen Atem im Nacken spüren ging mal gar nicht. Er tat so, als hätte er es nicht bemerkt und zog mich vor den Baldachin. „Das sind unsere drei Geburtstagskinder. Naara, Febe und Banu“, stellte Pal sie mir vor und zeigte nacheinander auf die drei Frauen. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen, nur an ihren Frisuren waren sie zu unterscheiden. Naara hatte sie zu vielen, langen Zöpfen geflochten, Febe trug sie lang und offen und Banu hatte sie zu einen komplizieren Zopf an den Kopf geflochten. Nur vorn waren zwei Strähnen, die mit bunten Holzperlen geschmückt waren.

Unter dem Baldachin war alles mit Kissen und Tüchern ausgepolstert, in denen die Drei es sich bequem machen konnten und das taten sie auch.

Febe neigte den Kopf auf die gleiche Weise, wie auch Pal es immer tat. „Du bist die Katze.“

„Sie hat auch einen Namen“, sagte Pal sofort.

„Und wie ist der?“, wollte Banu wissen.

„Ähm …“

„Ähm?“ Naara zog die Stirn kraus. „Was ist das den für ein Name?“

„Nein“, sagte ich schnell.

„Was nein?“, fragte Banu.

„Damit meint sie, dass das nicht ihr Name ist“, sagte Febe.

„Aber wie heißt sie denn dann?“ Wieder Banu.

„Das hat sie immer noch nicht gesagt“, kam es wieder von Naara. „Also Mädchen, sag es uns, wir werden auch nicht jünger.“

„Jetzt bedräng das arme Kind doch nicht so“, versuchte Febe mich zu verteidigen. „Du hast doch gehört, dass sie ihre Erinnerung verloren hat.“

„Aber man vergisst doch nicht seinen Namen“, erwiderte Naara im Brustton der Überzeugung und wandte sich dann wieder mir zu. „Du hast doch nicht auch deinen Namen vergessen, oder?“

„Doch.“

„Hab ich doch gesagt“, triumphierte Febe.

„Du weißt also nicht wie du heißt?“, wollte Banu wissen.

„Doch.“

„Na was denn nun?“, fragte Naara brüsk. „Hast du deinen Namen nun vergessen oder nicht?“

Hilflos sah ich zu Pal. Dieses Gespräch verwirrte mich, doch er lächelte einfach nur sein halbes Lächeln und sah zu, wie ich mit dem Problem allein klar kam. „Ähm … ich hab meinen Namen vergessen, aber jetzt weiß ich ihn wieder.“

Banu beugte sich neugierig vor. „Das heißt, du kannst dich doch wieder erinnern?“

„Nein“, gab ich zu.

„Aber woher weißt du denn dann deinen Namen?“, wollte Febe wissen.

„Ich hab ihn auf meinem Ausweis gelesen.“

„Ah“, kam es von allen dreien gleichzeitig und sie nickten verstehen.

„Aber, wie du heißt, hast du uns immer noch nicht gesagt“, stellte Naara fest.

„Talita“, sagte ich schnell. Mein Gott, ich hätte nicht gedacht, dass es so kompliziert sein konnte sich vorzustellen.

Banu runzelte die Stirn. „Das ist ein seltsamer Name.“

„Also ich finde ihn schön“, sagte Febe. „Talita, der Klang ist bezaubernd.“

Naara ignorierte ihre Schwestern einfach. „Und weiter?“

„Ähm … was?“ Die Frage verstand ich nicht.

„Wo kommst du her? Weißt du das auch?“

Mann, wurde das hier ein Verhör, oder was? Trotzdem nickte ich brav. „Aus München.“ Jup, das hatte ich mir gemerkt.

„Talita München.“ Naara lehnte sich zurück in ihre Kissen. „Merkwürdiger Name. Ich kenne kein München, ist mir noch nicht untergekommen und ich habe schon eine Menge gesehen.“

„Nein, Kleiber.“

„Was ist Kleiber?“, fragte Banu.

„Das ist mein Nachname.“

„Was ist ein Nachname?“ Das kam von Febe.

„Das ist … äh …“ Wie sollte ich das erklären. „Das ist mein zweiter Name.“

Und wieder erklang ein eintöniges „Ah“ von den dreien.

Pal neben mir schmunzelte die ganze Zeit vor sich hin. Er fand diese Situation wohl urkomisch. Ich unterdrückte das Bedürfnis ihm den Ellbogen in die Seite zu rammen und lächelte einfach nett.

„So meine Damen“, entschuldigte er uns dann, „ich denke ich werde Talita dann mal zum Buffet entführen. Sie hat heute nämlich noch nichts gegessen.“

„Na dann geht schnell Kinder“, sagte Banu.

„Ja, an dem Mädchen ist ja kaum etwas dran“, fügte Febe noch hinzu.

„Aber zuerst muss Pal uns noch manierlich gratulieren“, kam es von Naara.

Pal beschloss wohl, sie nicht darauf hinzuweisen, dass er es bei ihr bereits ausgiebig getan hatte und umarmte die drei nacheinander, ließ sich artig das Köpfchen tätscheln und lächelte fein artig, wie sie es von ihm erwarteten.

„Und jetzt geht“, sagte Naara brüsk. „Da wollen uns noch andere gratulieren, die man nicht extra dazu auffordern muss.“

Ich sah zwar niemand anderes, aber das behielt ich lieber für mich.

Pal schnappte sich wieder meine Hand und zog mich eilig vom Baldachin fort, mitten zwischen die ganzen tanzenden Werwölfe … äh, Lykaner. Ob ich das irgendwann in den Kopf bekommen würde? „Du bist ziemlich gut weggekommen“, schmunzelte er.

„Kann sein, aber jetzt habe ich einen Knoten im Gehirn.“

Er lachte. „Ja, manchmal können sie einen ganz schön verwirren, besonders wenn sie alle gleichzeitig mit dir reden.“

Das konnte er laut sagen.

„Aber so sind meine Großmamás schon immer gewesen. Nur zu mir sind sie nicht so.“ Pal zwinkerte mir zu. „Ich bin nämlich ihr kleiner Liebling.“

Ich runzelte die Stirn. „Meinst du Großmamás im Sinne von einem Titel, oder sind die drei wirklich mit dir verwandt?“

„Febe ist die Mamá meines Papás. Von Banu stammen Onkel Tyge und Tante Boa und Naaras Sohn ist Wulf.“

Ganz schön viele Namen. Aber Moment mal, hatte ich ihn richtig verstanden? „Du bist mit Wulf verwand?“

„Er ist mein Onkel.“

Aber das hieß ja dann … „Isla ist deine Cousine.“

„Ja.“ Ich klappte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Was sagte man in solch einer Situation auch? Mein Beileid? Das kam mir irgendwie zu wenig vor, schließlich sprachen wir hier von einem verschwundenen Familienmitglied.

Ein tanzendes Pärchen drängte gegen mich, so dass ich Pal ganz schön auf die Pelle rücken musste, um nicht im Weg zu stehen. Aber so richtig realisieren, was ich da machte, tat ich erst, als ich seine Körperwärme an meinen nackten Armen spürte. Sofort versteifte sich mein Körper und ich rückte hastig ab. „Tut mir leid.“ Mist, das hatte sich jetzt ziemlich kläglich angehört.

Pal seufzte bei meinem verschüchterten Anblick und zog mich ein wenig zur Seite, damit wir die anderen nicht störten. „Muss es nicht. Und jetzt guck mich nicht wieder an, als würde ich dir gleich den Kopf abreißen. Es stört mich wirklich nicht.“ Er hob die Hand, wollte mir damit über die Wange streichen, doch ich zuckte bereits zusammen, bevor seine Finger vorsichtig über meine Haut strichen.

Es war nicht so, dass es nicht angenehm war, es war eher etwas körperliches, instinktives, das mich zu einer solchen Reaktion veranlasste. Irgendwie fühlte ich mich nicht wohl dabei, von ihm angefasst zu werden. Ob das nun daran lag, dass unter seiner Haut ein Monster lauerte, er ein Kerl war, oder im Prinzip ein Fremder, konnte ich nicht sagen. Ich runzelte die Stirn. Konnte meine Berührungsangst auch andere Gründe haben, als die, die ich bisher vermutet hatte? Irgendwie gefiel es mir nicht, in welche Richtung meine Gedanken glitten, weil ich dann gezwungen wäre mich zu fragen, was das für Gründe sein könnten. Was war in meiner Vergangenheit geschehen?

„Wir lieben Berührungen, Talita, ohne würden wir jämmerlich eingehen. Sieh dich doch nur mal um, wir alle berühren uns ständig. Das ist völlig normal für uns, stärkt die Bande und ist gut für die Seele.“ Ein sanftes Lächeln glitt über seine Züge, ein letztes Streicheln auf meiner Wange, dann ließ er seine Hand wieder sinken. „Es ist okay, wenn du mich berührst. Viel schlimmer finde ich es, wenn du vor mir zurückweichst, weil du Angst davor hast, obwohl ich dir diese Körperprivilegien zustehe, was normalerweise nur dem Rudel vorbehalten ist. Also, wenn du jetzt das Bedürfnis nach Kuscheln verspürst, komm ruhig zu mir, ich opfere mich gerne.“

Wie er den letzten Teil sagte, so verrucht und zweideutig, dass ich eine Augenbraue leicht anhob. „Du bist echt schlimm, weißt du das eigentlich?“

„Ja“, grinste er ohne Scheu. „Und jetzt komm, ich habe Hunger.“

Meine Wange zuckte, aber ich verbot mir, meine Belustigung zu zeigen. „Ich dachte, du wolltest zum Buffet weil ich noch nichts gegessen habe.“

„Ja natürlich, aber du glaubst doch nicht, dass ich einfach nur daneben stehe und dir zugucke.“

Nein, das glaubte ich wirklich nicht. Nicht, wenn ich daran dachte, was für einen Fressalienberg er sich gestern in kürzester Zeit einverleibt hatte.

Entschlossen zog Pal mich durch die Feiernden und drängte am Tisch einen älteren Kerl weg, um an etwas zu kommen, dass wie große, rote, wabblige Murmeln aussah. „Hier, probiere mal.“ Und schwupp, hatte ich das Ding ohne jegliches Mitspracherecht im Mund.

Das war irgendwie glitschig, geschmacklos, bis auf ein ganz leichte Süße, die vom Inneren ausging. Als ich die Murmel mit der Zunge zerdrückte, platzte sie auf und der flüssige Inhalt ergoss sich in meinen Mund. Meine Geschmacksknospen tanzten Tango. Überrascht riss ich die Augen auf. Ich kostete diesen zuckersüßen Geschmack bis zum letzten Tropfen aus und konnte nicht widerstehen mir eine weitere Murmel zu nehmen. „Was ist das? Das ist phantastisch.“ Genießerisch schloss ich die Augen, als die zweite Kugel in meinem Mund zerplatzte.

„Rothoden.“

Und so schnell wie ich es mir in den Mund gesteckt hatte, spuckte ich es auch wieder aus. Zum Glück für mich, traf ich dabei niemanden, aber ein paar Blicke bekam ich schon. „Was?!“ Wow, wieder diese quietschige, schrille Stimme, die schien wirklich zu mir zu gehören. Das hörte sich ja fast an wie eine hysterische Minnie Mouse.

Pals Lippen verzogen sich zu einem teuflischen Lächeln. „Das sind Früchte vom Hodenstrauch.“

„Du meinst, es sind keine echten Hoden?“ Oh bitte, lass ihn nein sagen, bitte, bitte, bitte.

„Nein.“

Gott sei es gedankt. Das hätte ich wohl nie verkraftet. „Und warum nennt ihr die dann so?“ Außer angehende Touristen zu schocken?

„Musst du das wirklich fragen? Das ist doch selbsterklärend, du hattest sie doch gerade im Mund.“

„Das ist …“ Ich war sprachlos. Welche Gesellschaft nennt den schon eine Frucht nach einem männlichen Geschlechtsmerkmal? Das war doch einfach nicht zu fassen.

Pal schien sich an meinem kleinen Aussetzer nicht zu stören. „Sie schmecken, da ist es doch egal woher sie kommen, oder wie sie heißen. Hier.“ Er hielt mir eine weitere ihrer Spezialitäten unter die Nase.

Dieses Mal beäugte ich sie misstrauisch, bevor ich sie mir einfach einverleiben ließ. „Was ist das?“

„Nun mal nicht so argwöhnisch.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen.

Pal seufzte. „Das nennen wir Piru. Es ist ein süßes Gebäck. Boa backt sie. Es schmeckt wirklich lecker.“ Wie, um es mir zu beweisen, nahm er sich ein zweites, das er sich in den Mund schob.

Aber so schnell würde ich nicht wieder Testkoster spielen. Nachher steckte ich mir wirklich noch etwas in den Mund, das dort nichts zu suchen hatte. „Und was genau ist da drinnen?“

„Madeninnereien.“

„Nicht witzig“, teilte ich ihm mit und hoffte gleichzeitig, dass er wirklich nur einen Scherz gemacht hatte.

Er seufzte schwer. „Kräuter und Gewürze in einem Teig. Probier doch einfach.“

Na gut. Vorsichtig nahm ich das Teilchen in die Hand und begutachtete es von allen Seiten. Es war rund, erinnerte entfernt an einen Muffin mit grünlicher Füllung. Ein feiner Geruch nach Kräutern ging davon aus. Nach kurzem Zögern biss ich, unter Pals belustigten Blick, ein klitzekleines Stück ab. Salzig, pikant, herb. Ein seltsamer Geschmack, aber durchaus gut. Ich schob mir den Rest in den Mund.

„Na siehst du, war doch gar nicht so schlimm.“

„Es ist nur … ungewohnt. Sowas kenne ich nicht, jedenfalls nicht das ich wüsste.“

„Nein? Was isst man denn da wo du herkommst?“ Und ein weiterer Piru fand ein Ende in Pals Futterlucke.

„Ach, alles Mögliche. Vielleicht mache ich dir bei Gelegenheit ja mal etwas.“

Er begann zu strahlen wie die Sonne selber. „Wirklich?“

Oh, das war voll süß. „Klar, warum nicht.“

„Heute noch?“

Ein dickes Grinsen zeichnete mein Gesicht. „Meinst du nicht, dass das Essen hier erst mal ausreicht?“

„Nicht wenn du …“

„Paaal!“, rief eine mir bekannte Stimme.

In der Nähe des Lagerfeuers stand die große, rothaarige Rem und winkte den Fresssack neben mir zu sich. „Komm, wir wollen den Kreis tanzen. Banu hat sich das gewünscht.“

Pals Gesicht hellte sich auf. „Moment, Mamá, bin gleich da.“

Mamá?

„Los, du musst mittanzen.“ Und schon zerrte er mich wieder hinter sich her.

„Was? Aber ich weiß doch nicht mal ob ich tanzen kann.“

„Ach das kannst du schon“, wischte Pal meinen Protest einfach vom Tisch. „Es ist ganz einfach. Tu es einfach wie die anderen, dann kannst du nichts verkehrt machen.“

Na da war ich mir nicht so sicher, doch Pal war das egal. Er zog mich einfach mit sich, egal ob ich das wollte, oder nicht.

„Dann lass mich wenigstens kurz zugucken, damit ich den anderen nicht auf die Füße trete.“

„Aber nur kurz.“ Damit ließ er mich los und reihte sich bei den anderen Männern mit dem Rücken zum Lagerfeuer ein. Die tanzten bereits zu einer ziemlich wilden Musik. Sie sprangen einmal in die Luft, stießen dabei etwas aus, dass sich wie ein Kriegerschrei anhörte und das völlig synchron.

Im äußeren Kreis tanzten die Frauen, drehten sich einmal um sich selber und hoben dann die Hand, damit ihr männlicher Gegenüber die seine daranlegen konnte. Sie drehten sich einmal so, dass sie die Plätze tauschten, machten dann eine halbe Drehung um sich selber, legten die Hand wieder an die des anderen und wandten sich so umeinander, dass sie ihre ursprünglichen Plätze wieder einnahmen. Dann ging es von vorn los. Die Männer sprangen mit ihrem Kriegerschrei, zogen die Beine dabei weit nach oben und die Frauen drehten sich im Außenkreis einmal um sich selber, so dass sie einen Platz weiter rutschen und ihre Hand dem nächsten Mann darbieten konnten.

Das ganze sah ziemlich wild aus. Sie lächelten und lachten. Neben mir wurde geklatscht und ein paar Leute/Wölfe hatten einen seltsamen Gesang angestimmt. Die Männer am Feuer sprangen wieder, die Frauen drehten sich mit einer anmutigen Eleganz und ich erwischte mich, wie ich lächelnd den Takt mit klatschte.

Irgendwo pfiff einer, die Stimmung war fantastisch, riss einen einfach mit und Pal sah fantastisch aus, wie er da vor dem Feuer tanzte. Es hatte was Naturgebundenes, etwas nicht alltägliches, das mir noch nie unter die Augen gekommen war.

Dann verließ Pal plötzlich seinen Platz, kam auf mich zu und schnappte mich am Arm, obwohl ich die Hände abweisend erhob. Er zog mich einfach in den Kreis der Frauen, stellte sich zurück an seinen Platz und sprang in die Luft.

Irgendwoher kam noch ein Mann, um die Zahl wieder auszugleichen, postierte sich neben dem Rotschopf und dann war da plötzlich Pals erhobene Hand. Seine Augen lächelten verschmitzt und forderten mich heraus. „Na los, du kannst das.“

Ich sah mich noch einmal um, guckte wie die anderen es machten und merkte, dass ich von niemanden beachtet wurde. Sie tanzten einfach nur, freuten sich, feierten. Ich atmete tief durch und legte dann meine Hand an seine, drehte mich, wie ich es bei den anderen gesehen hatte, ließ kurz von ihm ab, um ihm nach einer halben Drehung erneut die Hand zu reichen und lachte, als er mich schnell herumwirbelte, damit wir nicht zu sehr aus dem Takt gerieten.

„Ich warte hier auf dich“, sagte er noch, bevor er meine Hand freigab und mit einem erneuten Schrei in die Luft sprang, so als wollte er allen seine Stärke beweisen.

Ich wirbelte herum, fand mich vor einem unbekannten Mann wieder und zögerte nur einen Moment, bevor ich ihm meine Hand bot, um mit mir eine Runde zu tanzen. Er lächelte, drehte seine Runde mit mir und verabschiedete sich mit einem kurzen Händedruck. Ich drehte mich und tanzte, lachte und grinste. Jede Runde ein anderer und ich fühlte mich völlig frei, fühlte mich als ein Teil des Ganzen. Zum ersten Mal seit ich erwacht war machte ich mir keine Gedanken darüber, was die anderen von mir dachten, wer ich war, oder was die Zukunft für mich bereit hielt. Ich genoss einfach den Moment und alles andere kam später.

Es machte Spaß und ich dachte an nichts als den nächsten Takt, den nächsten Schritt, die nächste Drehung, bis ich dann plötzlich jemand bekanntes gegenüberstand, bei dem mein Lächeln gefror.

Veith.

Sein Gesicht war ausdruckslos, abweisend und doch unterbrach er den Tanz nicht, reichte mir die Hand und als sie meine berührte wurde mir augenblicklich heiß. Plötzlich sah ich ihn wieder vor mir, nackt wie Gott ihn geschaffen hatte und ich riss erschrocken meine Hand weg. Ich wollte ihn nicht in meiner Nähe haben, nicht so nahe, das löste ein Gefühl von Angst bei mir aus. Warum? Was sollte das? Was war hier los?

Seine Lippen pressten sich ganz leicht aufeinander, als wir einfach nur dastanden und uns ansahen und ich glaubte etwas wie Wut in seinem Blick zu erkennen. Weil ich ihn abgewiesen hatte? Weil ich mich in die Feier drängte? Weil ich noch hier war?

Ich musste wieder daran denken, was er gestern Abend zu mir gesagt hatte, wie feindlich er sich mir gegenüber gab, obwohl ich ihm nichts getan hatte und verstand nicht, warum mein Atem schneller wurde. Dieser Blick mit dem er mich ansah, diese Augen, ich konnte in ihnen nicht lesen. Er war wie ein Buch mit sieben Siegeln, das nicht geöffnet werden wollte und ich sollte verflucht noch mal aufhören, ihn so anzustarren.

Irgendwann trat er einfach einen Schritt zurück in die Reihe und sprang mit einem tiefen Schrei in die Luft. Dieses Geräusch erschreckte mich so sehr, dass ich am ganzen Körper zusammenzuckte und einen Moment neigte er den Kopf, als fragte er sich, warum ich so reagierte. Oder warum ich nicht das Weite suchte.

Erst als ich von der Seite angestoßen wurde, bemerkte ich, dass ich weiter musste und machte einen schnellen Schritt zur Seite. Doch irgendwie schaffte ich es nicht, mich richtig auf meinen Tanzpartner zu konzentrieren. Immer wieder sah ich zu Veith und zu meiner Verwunderung tat er es mir gleich. Nicht mit dieser misstrauischen Abweisung wie sonst, eher nachdenklich, fragend.

Dann musste ich mich weiter drehen und sah mich einem anderen Bekannten gegenüber: Fang, Pals Vater, oder wie sie es hier aussprachen, sein Papá.

„Talita.“ Er nickte mir zu und legte seine Hand an meine. „Du tanzt mit uns.“

„Pal hat mich dazu genötigt.“

Wir wandten uns um, nur um anschließend wieder unsere Hände aneinander zu legen.

„Freunde dich nicht zu sehr mit Pal an. Du weißt, dass du gehen musst und er nimmt sowas immer sehr schwer.“ Er trat zurück in seine Reihe und sprang, ich wirbelte weiter zum Nächsten.

Fang hatte diese Worte nicht böswillig gesprochen, sondern eher so, als würde er sich Sorgen machen. Wahrscheinlich hatte er, wie alle anderen auch, bereits mitbekommen, dass ich seit gestern Mittag praktisch die ganze Zeit an Pals Rockzipfel hing. War ja auch kein Wunder, schließlich war er der Einzige hier, der mich nicht allein für meine Existenz zu verfluchen schien.

Ich mochte ihn, kam mit ihm klar. Er brachte mich zum Lachen, aber ich glaubte nicht, dass er es allzu schwer nahm, wenn ich morgen abgeschoben wurde. Eigentlich ein ziemlich trauriger Gedanke.

Die restliche Zeit tanzte ich gedankenverloren, was nicht weiter schlimm war, da die anderen nicht wirklich Interesse daran hatten, mit mir zu quatschen, aber dann stand ich nach einer ganzen Runde wieder dem Rotschopf gegenüber.

Er war verschwitzt. Seine Haut glänzte im Feuerschein und als er meine Hand nahm, drückte er sie fest. „Weißt du eigentlich, dass ich diesen gelben Rock, wie du ihn nennst, vor zwei Jahren getragen habe?“

Einen Moment sah ich ihn nur an, einfach nur um zu verarbeiten, was er da gerade gesagt hatte, um einen Sinn dahinter zu bringen. Dann prustete ich los. Pal im Lendenschurz? Daran hatte ich mich mittlerweile gewöhnt, genau wie an die ganzen Brüste, die mir hier vor Augen kamen, aber Pal im Rock? Die Vorstellung allein war so absurd, dass ich einfach nicht anders konnte als zu lachen.

 

°°°

 

„Höher!“

„Das geht nicht höher.“ Ich lachte, als ich bei meiner Landung fast umfiel.

„Geht nicht gibt es nicht, also los, höher!“

Na gut. Ich ging in die Kniebeuge und sprang so hoch ich konnte. Dabei versuchte ich die Sterne vom Himmel zu pflücken. „Das ist unmöglich und das weißt du auch.“

„Nur weil es noch niemand geschafft hat, heißt das noch lange nicht, dass es unmöglich ist.“ Pal sprang auch, er schaffte problemlos die doppelte Höhe.

„Doch, genau das heißt es“, sagte ich, sprang aber trotzdem. „Rein wissenschaftlich ist das gar nicht machbar.“

„Das hat mit Wissenschaft gar nichts zu tun, sondern mit dem Glauben.“

Ich sprang wieder. Naja, hüpfen konnte man das wohl eher nennen und griff nach den Sternen. Wie erwartet bekam ich keinen zu fassen. „Kannst du mir noch mal erklären, warum wir das machen?“ Und noch ein Hüpfer.

„Höher!“

„Ja ja, ich versuch es ja.“

Mit einem grinsenden Kopfschütteln kommentierte er meine kläglichen Versuche. Klar, er war ja auch ein Werwolf, die konnten schon von Natur aus besser springen. „Wir machen das, weil es eine Tradition ist, den Geburtstagskindern die ersten erwachenden Sterne der Nacht darzubringen. Damit ehren wir sie und ihre Jahre.“

Würden die anderen Leutchen hier nicht genauso einen auf Springehopps machen, dann könnte ich glatt annehmen, dass Pal mich verarschte, um sich auf meine Kosten zu amüsieren. Aber nein, um mich herum versuchte jeder Mensch/Wolf – Gott, das bekam ich wohl nie auf die Reihe – zu den Sternen zu fliegen, um den Drillingen einen darbieten zu können. Ein paar schafften es höher als andere, aber ich stand definitiv auf dem letzten Platz. Selbst die Kinder kamen weiter hinaus. Schon irgendwie traurig.

Ich sprang wieder, griff nach den Sternen und kam so ungünstig auf, dass ich Pal in die Arme fiel und ihn fast noch mit umriss. Ein paar Umstehende, die es gesehen hatten, lachten und ich stimmte mit ein. Das war ja auch albern. „Ich glaub, ich brauch mal eine Pause.“

„Nicht schwächeln.“ Er stellte mich wieder richtig hin und dann ging es für ihn wieder in die Höhe.

„Doch, ich bin nämlich nicht annähernd so ausdauernd wie du.“ Oder durchtrainiert, fügte ich im Stillen hinzu. Die Muskeln an seinen Armen, die ich gerade unter den Händen gespürt hatte, konnten so manches Frauenherz höher schlagen lassen. Meines tat es jedenfalls, aber das kam wahrscheinlich eher von der Anstrengung.

Durch die hopsende Masse schob sich eine zierliche Frau mit sehr hellem, braunem Haar. Ich bemerkte sie eigentlich erst, als sie neben uns stand und Pal vertraulich eine Hand auf den Arm legte. Ihre Züge waren fein, die Haut wie Alabaster und, mein lieber Scholli, die hatte einen Vorbau, der eines Waffenscheins bedurfte. Sie war eindeutig älter als Pal.

Dabei fiel mir ein, wie viele Jahre zählte Pal eigentlich? Er musste in meinem Alter sein, also zwanzig?

„Tante Boa, was gibt es?“ Pal strich ihr über den Kopf.

Seit er mir das mit den Berührungen gesagt hatte, achtete ich die ganze Zeit darauf und diese Leutchen mussten wirklich ständig aneinander rumfummeln. Sie umarmten sich, strichen über Arme, Haare, Wange, nahmen ohne zu fragen die Hand des anderen, oder liefen so dicht nebeneinander, dass sich ihre Körper zwangsläufig berühren mussten. Immer Kontakt zum anderen.

„Prisca möchte dich kurz sprechen.“

„Jetzt?“

Boa zog die Augenbrauen hoch. „Ich gehe mal davon aus, sonst hätte sie mich nicht geschickt, meinst du nicht?“

Er warf einen kurzen Blick zu mir.

„Keine Sorge, ich bin ein großes Mädchen, ich werde schon nicht verloren gehen. Und außerdem wollte ich doch sowieso eine Pause machen.“ Die hatte ich bitter nötig. Gott, ich war vielleicht Mitglied in einem Sportverein, aber Ausdauer wurde da anscheinend nicht trainiert.

„Nun komm schon“, drängte Boa.

„Ich geh solange ans Buffet und versuch mich noch mal an euren fremdartigen Spezialitäten.“

Pal grinste. „Aber halt dich vom Hexenhirn fern, das ist echt scharf.“

„Das war ein Scherz, oder?“ ODER? Die konnten hier doch nicht wirklich das Hirn einer Hexe servieren. Oh mein Gott, wenn nur jemand meine Gedanken hören würde! Nicht das ich mir Sorgen machte, dass es hier sowas wie Hexen geben könnte, nein, meine Gedanken drehten sich darum, ob ihr Hirn hier verspeist wurde. Ich brauchte dringend einen Kopfdocktor, ich war schon genauso verrückt wie die anderen hier und langsam bezweifelte ich stark, dass ich hier nur in einem Traum gefangen war. Vielleicht hatte ich ja auch einen Unfall gehabt und lag nun im Koma. Wäre auf jeden Fall eine logische Erklärung dafür, warum ich nicht einfach aufwachte.

Pal lächelte nur verschlagen und ließ sich dann von seiner Tante mitnehmen. Mann, diese Wölfe mussten einen wirklich ständig durch die Gegend ziehen. Mein rechter Arm war bestimmt schon länger als der Linke, weil Pal das auch die ganze Zeit machte. Was war nur aus dem guten alten nebeneinander Laufen geworden?

Kopfschüttelnd schlängelte ich mich durch die Kängurus und passte auf, dass ich dabei  niemanden ins Gehege kam. Es war bereits dunkel und die Festwiese wurde nur durch strategisch angebrachte Lampions erleuchtet. Das riesige Lagerfeuer war geschürt worden und erledigte den Rest. Daher hatte ich genug Licht, als ich mich vor dem Buffet wiederfand und die Essbarkeit der einzelnen Speisen abwog.

Da war etwas, dass sah aus, als hätte man Nudeln um einen Schaschlik gedreht, aber sie waren blau. Ich kannte grüne Nudel und rote. Sogar schwarze hatte ich schon gesehen, aber blau? Ne, das sollte ich meinem Magen besser nicht antun. Wer wusste schon, was dabei herauskommen würde.

Dann gab es da noch etwas Braten. Ich beäugte ihn misstrauisch von allen Seiten, aber es sah wirklich aus wie einfacher, kalter Braten. Keine seltsamen Farben, keine merkwürdige Form und kein komischer Geruch. Einfach nur ein Stück Fleisch, das darauf wartete, verspeist zu werden.

Ein ganz kleines Stück nur machte ich mir ab und legte es argwöhnisch auf meine Zunge. Hm, auch geschmacklich stimmte es mit dem Aussehen überein. Ich beschloss, dass es wirklich nur Braten war, nahm mir eine ganze Scheibe und lehnte mich damit an den Tisch.

Mein Blick schweifte über die anderen Gäste – ob man das hier so nennen konnte? – während ich daran rumknabberte. Ich entdeckte die Drillinge, die zusammen unter ihrem Baldachin saßen und ein kleines Baby von einem zum anderen reichten. Die vermutliche Mutter saß vor ihnen und sah alles wohlwollend mit an.

Ein Stück weiter entdeckte ich ein wild knutschendes Pärchen, aber … war das nicht Atzaklee? Die Jungend und ihre Sprunghaftigkeit, mehr war da wirklich nicht zu sagen. Wie sich das anhörte, als sei ich bereits uralt – was ich definitiv nicht war.

Ein paar Leutchen standen in Grüppchen zusammen, lachten und alberten zusammen herum. Ich gehörte nicht dazu, hier hatte ich nur Pal, der mit mir lachte. Hatte ich da, wo ich herkam Freunde, mit denen ich sowas auch tat, oder war ich eher ein Einzelgänger, der mit der Masse nichts zu tun haben wollte? Wie sah es mit Familie aus, hatte ich überhaupt eine? Wurde ich vermisst? Hatte ich einen Freund, einen Partner, oder sogar einen Ehemann? Ich sah auf meine Finger. Kein Ring. Das Letzte dann wohl eher nicht. Aber wo und wie wohnte ich, was hatte ich für einen Job und was tat ich gerne in meiner Freizeit? Was aß ich gerne, was war meine Lieblingsfarbe, meine Lieblingsblume?

So langsam wurde mir bewusst, was dieser Gedächtnisverlust für mich wirklich alles mit einschloss. Seit gestern war ich mit dem Werwolf und Magiekram so beschäftig gewesen, dass mir erst jetzt, in einem Moment der Ruhe so richtig aufging, was das Ganze wirklich für mich bedeutete. Weg, alles weg. Es gab mich nicht mehr. Kein Lieblingsfilm, kein Lieblingsbuch, nicht mal ein Lieblingskleidungsstück. Ich hatte mich selbst verloren und ich wusste nicht einmal warum.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, so überhaupt nichts über sich zu wissen. Warum war ich auf diesem Dachboden gewesen? Wie war ich hierher gekommen? Und warum gab es hier niemanden der wusste, was ein Mensch war? Warum waren Dinge, die für mich alltäglich erschienen, für die Leute hier faszinierende Neuentdeckungen? Oder umgekehrt, warum befand ich mich an einem Ort, der mir genauso fremd war, wie ich selber? Würde meine Erinnerung zurückkehren, oder blieb sie mir fern?

Von diesen ganzen Gedanken bekam ich Kopfschmerzen. Darum versuchte ich sie abzuschütteln. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wollte nicht wissen, was es für mich bedeutete.

Konzentrier dich einfach auf etwas anderes.

Ja, etwas anderes. Das war eine gute Idee. Ich ließ meinen Blick wieder wandern, doch leider war die Ablenkung, die ich mir aussuchte, auch nicht viel besser.

Am Ende des Buffets, an eine Hauswand gelehnt, entdeckte ich Veith und … er lächelte. Mein Herz setzte einen Moment aus, nur um mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Dieses Lächeln, es war so atemberaubend, dass ich wohl nicht die Einzige hier war, die plötzlich Atemschwierigkeiten hatte. Wie hatte die blonde Frau gestern noch gesagt? Bei Veith kann das weibliche Geschlecht schon mal unanständige Gedanken haben.

Oh ja, wie recht sie damit hatte.

Aber das Lächeln galt nicht mir – natürlich nicht – und auch keinem anderen weiblichen Wesen, sondern einem Jungen, den ich als den ausmachte, der gestern mit einer ziemlich angesäuerten Wölfin auf den Fersen fluchtartig den Gemeinschaftsraum verlassen hatte. Der Flechtzopf, der ihm bis auf dem Rücken reichte, war heute mit Perlen und blauen Lederbändern durchzogen.

Er fuchtelte wild mit den Händen herum, benutzte viel Körpergestik um etwas zu erklären – musste eine Mordsgeschichte sein, so wie er sich gebärdete – und das Lächeln in Veiths Gesicht wurde immer breiter. Damit sah er gut aus, noch besser, als er es sowieso schon tat und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich es auch schaffen würde, ihm so ein freies Lächeln zu entlocken.

Als hätte er meinen Blick gespürt wandte er mir den Kopf zu und diese völlig emotionslose Maske dabei sagte mir alles. Nein, er würde nicht lächeln. Nicht wegen mir und schon gar nicht für mich. Schon allein dafür, dass ich diesen Gedanken gehabt hatte, wollte ich mich am liebsten selber ohrfeigen.

Wie vorhin taten wir nichts weiter als uns anzustarren. Ich würde nicht wegsehen, würde keine Schwäche zeigen. Er hatte ein Problem mit mir, nicht umgekehrt und wenn er glaubte, ich würde klein beigeben – und wenn es dabei nur um etwas so profanes wie einen Blick ging – dann hatte er sich geschnitten. Ich blieb eisern. Entweder er würde herkommen und mich wieder dumm anquatschen, oder wegsehen. Die Entscheidung lag bei ihm.

Doch es geschah nichts dergleichen. Als der Zopfbubi bemerkte, dass ihm Veiths Aufmerksamkeit flöten gegangen war, sah auch er in meine Richtung, um den Grund dafür rauszubekommen. Er bemerkte mich und sein Gesicht hellte sich neugierig auf, doch als er einen Schritt auf mich zu machen wollte, schoss Veiths Hand hervor und hielt den Jüngeren am Arm fest. Er sagte etwas zu ihm, was ich wegen des Lärms und der Entfernung nicht verstehen konnte, aber das Gesicht des Kleinen sprach Bände: Es passte ihm nicht. Ich sah nur, wie er etwas erwiderte, woraufhin Veith nur den Kopf schüttelte, einmal hin und wieder zurück. Der Zopfbubi straffte die Schultern, machte sich von Veith frei und ging dann mit einem letzten, kurzen Blick auf mich beleidigt davon.

Ganz langsam wandte Veith sich wieder mir zu und ich verstand ganz genau, was er gerade getan hatte. Der Kleine hatte zu mir gewollt, warum auch immer und Veith hatte es verhindert. Das war wirklich eine miese Nummer von ihm gewesen. Wenn er ein Problem mit mir hatte, okay. Ich verstand zwar nicht warum, aber das war sein Bier. Doch, dass er versuchte, andere von mir fern zu halten, nur weil ihm mein Gesicht nicht passte, nahm ich ihm sehr übel. Dem würde ich …

Etwas zupfte an meinem Rock und verlangte meine Aufmerksamkeit, die ich nur widerwillig  hergab. Neben mir stand ein kleines Mädchen mit weißem Haar, in dem schwarze Strähnen einem extremen Kontrast bildeten. Diese Haarfarbe war nicht nur merkwürdig, sondern richtig sonderbar.

Als wenn das hier das einzige Sonderbare wäre.

Auch wieder war.

„Kann ich dir helfen?“, fragte ich freundlich und hockte mich zu ihr runter. Auf gleicher Augenhöhe sprach es sich doch gleich viel besser miteinander.

Sie machte große Augen, lächelte leicht und nickte dann.

Drei, vielleicht vier Jahre, ging es mir durch den Kopf. Älter konnte die Kleine auf keinen Fall sein. „Und womit kann ich dir helfen?“

„Ich mag einen Piru von Boa. Boas Pirus schmecken.“

Ich lächelte. „Ja, da kann ich dir nur zustimmen.“ Ich erhob mich wieder und nahm einen der letzten Gebäckteilchen vom Teller, doch als ich es ihr reichen wollte, tauchte von irgendwo her eine Frau mit den gleichen Haaren auf und riss das Kind förmlich aus meiner Reichweite. „Halt dich von unseren Kindern fern, Katze, du bist hier nicht willkommen!“, fauchte sie mich an, nahm die Kleine auf den Arm und verschwand irgendwo in der Menge.

Und ich stand da, das Teilchen noch in der Hand und konnte ihr nur noch hinterher sehen. Diese offene Feindseligkeit hatte mich getroffen. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, es tat weh. Als wenn ich der Kleinen etwas tun würde. Erst Veith und jetzt diese Frau. Was dachten diese Leute nur von mir? Ich war doch kein kinderfressendes Monster. Diese Abneigung hatte ich nicht verdient, ich hatte schließlich nicht darum gebeten, hier zu landen.

Wie in Trance legte ich das Gebäckstück zurück auf den Teller. Obwohl es wahrscheinlich niemand mehr essen wird, dachte ich bitter. Schließlich hatte ich es in der Hand gehalten und ich konnte ja ansteckende Krankheiten haben. Und dann kreuzte sich mein Blick wieder mit dem von Veith. Ich konnte die Befriedigung in seinen Augen sehen. Es gefiel ihm, dass man mich auf meinen Platz verwiesen hatte.

Das Brennen in meinen Augen kam wenig überraschend. Beim Tanz hatte ich noch glauben können, ich gehörte irgendwie dazu, aber dem war nicht so. Ich war ein Außenseiter, ein Eindringling, ein Niemand und sie alle wollten nur eines von mir: Ich sollte verschwinden und das möglichst schnell.

Eilig wandte ich mich ab. Okay, er hatte gewonnen, aber ich würde ihm nicht meine Tränen sehen lassen. Diesen Triumph gönnte ich ihm nicht. Sie wollten mich hier nicht? Bitte, dann würde ich mich eben ein Weilchen verziehen.

Ich bekam kaum mit, wie ich am Rand des Festplatzes eilig entlanglief. Ich wollte nicht länger hier sein, wollte nicht noch länger ihre Abneigung spüren, brauchte ein stilles Plätzchen, wo ich ganz für mich allen sein konnte. Niemand nahm wirklich Notiz von mir. Ein zwei Leutchen guckten zwar, aber keiner hielt mich auf, als ich die Freifläche verließ und hinter dem Schein der Lampions in die Schatten abtauchte.

Eine Träne fand ihrem Weg aus meinem Auge und lief mir über die Wange. Ich hatte es nicht verdient wie eine Aussätzige behandelt zu werden. Nicht ich war hier das Monster, nicht ich verhielt mich falsch. Ich tat alles, was sie sagten, benahm mich, verstieß nicht gegen ihre Regeln und hatte niemanden etwas getan, also warum wurde ich dann so geschnitten? Das war ungerecht, das war …

Als ich plötzlich am Arm gepackt wurde, strauchelte ich und fiel fast auf die Nase. Nur mit Mühe und Not hielt ich mich auf den Beinen.

„Kannst du mir mal sagen, wo du hin willst?“, fragte Domina angesäuert. „Nur weil du hier ein paar Freiheiten hast, heißt das noch lange nicht, dass du dich allein auf die Socken machen kannst.“

Scheiße, sie gönnten es mir nicht mal, mich irgendwo zu verkriechen, um mich in meinem eigenen Leid suhlen zu können. Hatte ich denn gar keine Freiheiten? Vielleicht war es ja doch ganz gut, das Prisca mich wegschickte. Ein Schluchzen entrang sich mir und ich konnte nichts dagegen tun.

„Heulst du etwa?“

Ich sah sie nicht an, ließ meinen Kopf abgewandt. Das waren meine Tränen, die gingen sie nichts an.

„Hallo?“ Sie schüttelte mich leicht. „Kannst du mir mal antworten?“

„Ja verdammt!“, fuhr ich sie an und wirbelte herum. War doch egal, ob sie es sah. „Ich heule, oder ist mir das etwa auch verboten?!“

Einen Moment schien sie wegen meines kleinen Ausbruchs ziemlich perplex zu sein, dann seufzte sie. „Du kannst aber trotzdem nicht einfach abhauen.“ Da war nichts Weiches in ihrer Stimme. Sie befolgte nur die Anweisungen, die sie von Prisca bekommen hatte. „Du kannst dich auf dem Fest bewegen, wo wir dich im Auge haben, aber allein durchs Lager streifen geht nicht.“

„Nein, natürlich nicht. Und wenn ich auf dieser Party stehe und einen Wasserfall produziere, euch ist es gleich. Euch interessiert nur, dass ich euch ein Dorn im Auge bin. Wie es ist nicht mal mehr zu wissen, wie die eigene Haarfarbe ist, ohne in den Spiegel zu gucken, ist euch gleich.“ Ich riss meinen Arm los und schlang sie um mich. „Ich hasse das.“ Und dann liefen die Tränen richtig. Ich kam gar nicht dagegen an. Die taten hier alle so, als wäre ich das Böse in Person, aber wie es mir dabei ging war ihnen völlig egal. Konnten die sich überhaupt vorstellen, was das für ein Gefühl war nicht zu wissen, wer man war? Wahrscheinlich nicht. Und da ich keine von ihnen war, sahen sie auch keinen Grund dazu, sich mal in meine Lage zu versetzen. 

„Domina!“, kam von irgendwoher eine männliche Stimme. „Kommst du jetzt, oder was?“

Domina kratze sich am Kopf, sah zu mir und dann zum Fest. „Kannst du mal Pal holen?“

„Geht klar“, kam es zurück.

„Ich will … ihn nicht … nicht sehen“, schluchzte ich. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass der Einzige, den ich hier mochte, mich in diesem aufgelösten Zustand sah.

„Ist mir egal“, sagte Domina. „Ich will zurück zur Feier, aber du offensichtlich nicht.“

Nein, wirklich? Wie sie nur auf diesen glorreichen Gedanken kam?

„Pal wird es nicht stören mit dir abzuziehen.“

Und wieder wurde ignoriert, was ich wollte. Warum wunderte mich das noch? War bisher ja nicht so gewesen, als hätten sie meine Wünsche berücksichtig. Niemand fragte mich, was ich wollte, alles wurde über meinen Kopf hinweg entscheiden.

„Willst du mir sagen warum du heulst?“, fragte sie irgendwann genervt, weil ihr mein Geflenne wohl auf den Keks ging.

Aber sicher doch, konnte mir gar nichts Besseres vorstellen.

„Hallo?“

„Nein!“, ranzte ich sie an und wandte mich ab. Warum konnte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? War ja nicht so, dass ich mitten in der Nacht in einen unbekannten Wald rennen wollte, ich wollte eben nur  … meine Ruhe. Ein stilles Plätzchen ganz für mich allein, wo mich niemand sah. Nur ich und meine Gedanken. Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt.

„Ist ja gut, brauchst ja nicht gleich so giftig werden“, grummelte sie nur.

Was, sollte ich auch noch dankbar dafür sein, dass sie sich so liebevoll um mich kümmerten? Und ich dachte, ich wäre hier die mit dem Gehirnschaden. So konnte man sich täuschen.

Hinter mir hörte ich eilige Schritte. Dann: „Was hast du mit ihr gemacht?“

Pal.

Ich drehte mich weiter weg, wollte nicht, dass er mich so sah.

„Gar nichts!“, verteidigte Domina sich sofort. „Die hat schon geheult, als ich sie mit geschnappt habe.“

„Was heißt hier geschnappt?“

„Sie wollte abhauen.“

Pal schnaubte nur. „Geh zur Feier zurück, ich mache das hier schon.“

Machen. Wie sich das anhörte. Als wenn ich irgendein Ding wäre, um das man sich dringen kümmern müsste, weil es im Weg war.

Leise Schritte entfernten sich und dann spürte ich Pals Hand auf meiner Schulter. „Hey …“

Ich schüttelte ihn ab und ging hastig ein paar Schritte weiter, wollte mich jetzt nicht von ihm berühren oder trösten lassen. Die sollten mir alle bloß fern bleiben. Morgen war ich eh weg, dann hatten sie wieder ihre Ruhe vor mir.

„Talita?“

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen, aber die Tränen wollten einfach kein Ende nehmen.

„Was hast du denn, was ist passiert?“

Als ich wieder nichts sagte, kam er vor mich. Dabei interessierte er sich auch nicht dafür, dass ich mich wieder abwandte, er kam einfach hinterher.

„Was ist los, warum weinst du?“

Weil mein Leben beschissen war und ich behandelt wurde wie ein Monster, darum!

„Talita?“

„Geh weg.“

Das tat er natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Er machte einen Schritt nach vorn und im nächsten Moment wurde ich an eine glatte Männerbrust gezogen. Er drückte mich an sich, doch das wollte ich nicht, versuchte mich gegen ihn zu stemmen, aber er hatte meine Arme eingekesselt. Egal wie sehr ich mich wehrte, er gab mich nicht frei, murmelte nur beruhigende Dinge und irgendwann gab ich einfach nach.

Ich kam hier nicht weg, nicht wenn er es nicht wollte, dafür war er einfach zu stark. Der Gedanke daran machte mir Angst. Das war zu nahe, zu viel Nähe, zu viel Mann. Ich begann zu zittern. Das wollte ich nicht, das war mehr als nur unangenehm. „Lass mich los“, piepste ich. Mein Atem ging immer heftiger, mein Herz raste in der Brust. Ihn so nahe zu spüren machte mir eine scheiß Angst und ich wusste nicht mal warum. Das war zu viel, zu viel von ihm, zu viel Nähe.

„Talita, ich habe dir doch schon gesagt …“

„Lass mich los!“, schrie ich beinahe hysterisch.

Egal was es war. Das Zittern, die Panik in meiner Stimme, meine Körpersprache, er ließ mich sofort los.

Ich sank einfach in mich zusammen. „Fass mich nicht an.“ Das ertrug ich nicht, das ging nicht, das war zu viel. „Nicht anfassen.“

„Talita?“

„Bitte, nicht anfassen.“

„In Ordnung, ich fass dich nicht an.“ Er hockte sich vor mich, berührte mich aber nicht. „Was ist denn los? Warum hast du Angst?“

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Keine Ahnung, was plötzlich mit mir los war. Es war einfach unerträglich ihn so nahe bei mir zu spüren.

„Willst du es nicht sagen, oder kannst du nicht?“

„Ich weiß nicht.“

Seine Hand zuckte, als wollte er mich berühren, doch er ließ es. „Na gut. Komm, stehe auf. Lass uns ins Haus gehen.“

 

°°°

 

Das warme Wasser schien direkt aus der Decke zu fallen. Keine Löcher, nur eine glatte, feste Oberfläche. Ich fragte nicht, genoss die warme Dusche einfach, unter der ich schon seit einer Ewigkeit zu stehen schien. Pal hatte sogar schon angeklopft, weil ich einfach nicht herauskam. Aber ich wollte nicht, konnte nicht. Ich verstand es ja selber nicht. Verdammt, was war nur mit mir los? Ich konnte es mir nicht erklären. Er hatte mich doch nur umarmt, warum hatte ich so eine Panik geschoben? Das ergab doch keinen Sinn.

Wenn Pal mich nicht ins Haus gebracht hätte würde ich wahrscheinlich immer noch wie ein bibberndes Häufchen draußen sitzen. Selbst hier unter der Dusche im Bad – oder Feuchtraum, wie er hier genannt wurde – hörte das Zittern nur nach und nach auf.

Ich konnte es mir nicht erklären, wusste nicht, warum ich so reagierte und das war es wohl, was mich am meisten belastete. War es weil er ein Werwolf war? Was sollte es denn sonst sein? Verdammt, so kam ich nicht weiter und machte mich nur selber fertig.

Ich hielt mein Gesicht in den warmen Regen und stellte mir vor, dass er alles Überflüssige wegspülte, dass er nur noch mich allein zurückließ, aber es wurde nicht besser. Meine Erinnerung war immer noch weg und das frisch erlebte steckte mir in den Gliedern. Erst Veith, dann das kleine Mädchen und dann mein Aussetzer. Für heute war ich wirklich fertig mit der Welt.

Langsam wurde es Zeit rauszukommen. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich konnte ja nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben. Meine Haut war schon ganz schrumpelig und auch wenn ich mich nicht wirklich besser fühlte, hier zu bleiben würde mir auch nicht helfen.

Ich stieg aus der Dusche. Das Wasser stellte sich von allein ab, sobald ich sie verlassen hatte. Keine Ahnung wie das schon wieder funktionierte – wahrscheinlich auch mit Magie –, aber es war cool. Dass ich das so einfach hinnehmen konnte zeigte mir, wie anpassungsfähig ich war. Oder einfach nur fertig.

Neben der Dusche am Waschbecken lag ein großes, flauschiges Handtuch, mit dem ich mich erst abtrocknete und dann einwickelte. Dann stand ich vor dem Spiegel über dem Waschbecken und sah in dieses unvertraute, fremde Gesicht, suchte, forschte mit den Augen, fand aber nichts Bekanntes.

Ich kannte weder das weißblonde, kurze Haar, noch die grünen Augen, oder die kleine Narbe an der Augenbraue. Woher ich die wohl hatte? Auf dem Spiegel fuhr ich die Kinnlinie dieser fremden, jungen Frau nach. Dieses herzförmige Gesicht, die leicht schrägen Augen, der eigentlich zu dünne Körper. Sie war hübsch, aber das war nicht ich, dieses Abbild sagte mir nichts.

Ich wandte mich ab und verließ den Raum, weil es einfach nichts brachte, mich weiter im Spiegel anzustarren.

Direkt neben der Tür auf dem Boden lehnte Pal an der Wand und sah mich mit diesem halben Lächeln an, als ich rauskam. Er schien unsicher, was er jetzt tun sollte. Da waren wir schon zwei.

„Hey“, sagte ich versuchsweise.

Das Lächeln kletterte höher. „Geht es dir besser?“

Ich machte mit der Hand eine wage Handbewegung.

Er rappelte sich auf die Füße, kam mir dabei aber nicht zu nahe. „Möchtest du was essen?“

Essen? Warum sollte ich jetzt etwas essen wollen? „Nein, ich habe keinen Hunger.“

„Dann vielleicht Erinnerungen gucken?“

Das war nett, er versuchte mich aufzumuntern, aber im Moment wollte ich nur eines. „Ich würde gerne schlafen gehen.“

Sein Lächeln verrutschte ein wenig. Er hatte sich wohl erhofft, noch ein wenig Zeit mit mir zu verbringen, um aus mir raus zu kitzeln, was mit mir nicht stimmte. Warum auch immer. „Na dann, du kannst wieder in meinem Bett schlafen, wenn du möchtest.“

„Wenn es dich nicht stört.“

Er winkte ab. „Das geht schon in Ordnung. Nach so einem Tag wie diesem schlaf ich ganz gerne im Bau.“ Immer noch mit Abstand ging er mit mir den Korridor entlang, drei Zimmer weiter und öffnete seine Tür für mich.

„Was ist der Bau?“ Das hatte mich gestern schon interessiert.

„Das ist unten der Raum mit den vielen Decken und Kissen.“

Aha, der, der aussah, als sei er ein einziges, großes Bett.

„Dort können mehrere schlafen, Rudel eben. Das stärkt die Gemeinschaft.“

„Schlaft ihr da auf zwei, oder auf vier Beinen?“

„Sowohl als auch.“ Er sah kurz zum Bett und dann  zur Tür. „Ich geh dann wohl mal besser und lass dich allein.“ Als von mir kein Widerspruch kam, wandte er sich ab.

Plötzlich kam ich mir verloren vor, allein. Seinen Rücken zu sehen gefiel mir gar nicht. Ich biss mir auf die Lippe. Ich wollte nicht allein sein. „Pal?“

Sofort blieb er stehen und sah fragend zu mir rüber.

„Bleibst du wieder hier, nur bis ich eingeschlafen bin?“

Er grinste. „Ich dachte schon du fragst nie.“ Die Tür schloss er von innen und setzte sich dann ans Fußende des Bettes, während ich samt Handtuch unter die Decke schlüpfte. Er sprach nicht, beobachtete mich nur schweigend, als ich es mir bequem machte, mich ins Kissen kuschelte und ich konnte sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten.

„Pal?“

„Hm?“

„Danke für alles.“ Dafür das du der Einzige bist, der mir nicht misstraut, der in mir ein Wesen mit Gefühlen sieht und nicht nur ein Etwas, das in dein Revier eingedrungen ist.

Dafür bekam ich wieder dieses charakteristische Pallächeln. „Das tue ich doch gerne.“

Das glaubte ich ihm sogar.

„Schlaf jetzt, Talita.“

Und das tat ich dann auch. Trotz der Tatsache, dass da ein praktisch fremder, halbnackter Mann im Bett saß, driftete ich ins Land der Träume, kaum dass ich die Augen geschlossen hatte.

Vielleicht auch gerade deswegen.

 

°°°°°

Tag 3

Etwas kitzelte mich im Gesicht. Eigentlich war ich noch müde und wollte einfach weiter schlafen, aber auch nachdem ich mit der Nase gewackelt hatte, ging es nicht weg. Da waren wohl härtere Maßnahmen erforderlich. Notgedrungen hob ich die Hand und wollte es wegwischen, nur um einen warmen Körper neben mir zu spüren. Erschrocken stieß ich mich weg, realisierte zu spät, dass das Bett nicht sehr breit war und knallte mit dem Hintern voran auf den Boden. Geistesgegenwärtig hielt ich noch mein Handtuch fest, bevor sich der Knoten in Wohlgefallen auflöste. Autsch, das tat echt weh. Aber viel mehr interessierte mich, wer sich da in mein Bett geschlichen hatte.

Die Antwort bekam ich, sobald ich den Kopf gehoben hatte. Es war Pal, aber nicht so wie gestern Abend auf zwei Beinen, sondern als Wolf, der jetzt die Vorderpfoten und den Kopf über die Bettkante schob, um auf mich runterzugucken. „Bist du in Ordnung?“

„Ob ich … das ist doch völlig egal!“, fuhr ich ihn an. Auf so miese Weise geweckt zu werden konnte selbst die liebsten Gemüter in wilde Bestien verwandeln. „Was hattest du in dem Bett zu suchen? Du wolltest doch gehen, wenn ich schlafe!“

Er wirkte nicht ertappt und auch nicht schuldbewusst, eher amüsiert. Das fand ich reichlich ärgerlich. „Ich wollte ja auch gehen, aber du hast dich im Schlaf umgedreht und dich halb auf mich gelegt. Ich wollte dich nicht wecken und dann bin ich selber eingeschlafen.“  

Hm, das mit dem umgedreht konnte stimmen. So, wie ich hier auf dem Boden saß, lag es nahe, dass mein Kopf am Fußende gebettet gewesen war. Trotzdem gab es da noch eine Kleinigkeit, die nicht ins Bild passte. „Und warum bist du jetzt ein Wolf?“

Er zuckte nur nichtssagend mit den Schultern. „Hab mich verwandelt. Passiert im Schlaf manchmal.“

Hm … na gut. Da ich hier kein Drama machen wollte glaubte ich ihm einfach mal. War ja auch weiter nichts passiert, ich hatte mich halt nur erschrocken.

„Willst du etwas frühstücken?“

Vor allen Dingen wollte ich meine Klamotten.

Als hätte Gott mein Sehnen erhört, öffnete sich genau in dem Moment die Tür hinter mir und der junge Typ mit dem langen Zopf strahlte ins Zimmer. „Hey, Veith hat gesagt, ich soll dir die bringen.“ Mit meinen Klamotten in der Hand wedelte er in der Luft herum. Sauber und trocken. Okay, irgend wen würde ich küssen müssen.

„Kovu!“, hörte man Veith aus dem Korridor rufen.

Der Kleine bekam ein Lausbubenlächeln, anders ließ sich das nicht beschreiben. „Okay, er hat es nicht gesagt. Er wollte die Sachen selber bringen, aber ich war schneller.“

Wahrscheinlich wollte er den Kleinen wieder von mir fern halten. Arschloch.

Kovu musterte mich kurz und runzelte die Stirn. „Warum sitzt du auf dem Boden?“

Diese Frage wurde nicht mehr geklärt, weil ein ziemlich angepisster Veith ins Zimmer kam. „Verdammt, Kovu, was hab ich dir gesagt?“

„Ich weiß nicht. Du redest immer so viel, das kann ich mir gar nicht alles merken.“

Viel reden? Also bisher hatte ich ihn immer sehr schweigsam erlebt.

Veith sah das wohl ähnlich wie ich. Er sagte nichts – wer hätte das erwartet? – sondern griff nach vorn, um den Kleinen am nicht vorhandenen Kragen zu packen und aus dem Raum zu ziehen. Nur schade für ihn, dass der damit gerechnet hatte. Er ließ die Klamotten an Ort und Stelle fallen und machte über Pal hinüber einen Satz aufs Bett, so dass der Wolf zwischen den Beiden lag.

Das passte Veith gar nicht. „Kovu“, knurrte er mit einer Stimme, unter der ich wahrscheinlich zusammengesunken wäre und vor Angst am ganzen Körper geschlottert hätte. Dass er mir im Rücken stand, machte es auch nicht gerade besser.

Nicht so der Kleine, der ignorierte den Braunhaarigen einfach und schenkte seine Aufmerksamkeit lieber mir. Mann, der war echt mutig. Oder eben einfach nur lebensmüde, das kam ganz auf den Sichtwinkel an. „Du bist Talita.“

„Ja.“ Aber schön, dass er mich noch mal daran erinnerte, man wusste schließlich nie, was man so alles vergessen konnte. Nein, ich korrigiere, ich wusste es schon, nur die anderen hatten keinen blassen Schimmer davon. „Und du bist Kovu.“

Er grinste frech.

Veith verschränkte die Arme vor der Brust. „Kovu, wenn du nicht …“ begann er, unterbrach sich dann aber selber und runzelte die Stirn. „Was ist das?“

„Was meinst du?“, fragte Pal, doch Veith antwortete nicht. Stattdessen machte er einen Schritt auf mich zu. Ich sah seine Hand kommen, wollte noch zur Seite rutschen, doch da schloss sie sich bereits mit eisernem Griff um meine Schulter.

„Nein!“, kreischte ich sofort. „Fass mich nicht an … lass das, lass mich los!“ Scheiße, was war denn jetzt los? Ich strampelte, griff hinter mich, versuchte ihn wegzuschubsen, versuchte wegzukommen, doch sein Griff wurde schmerzhaft fest und dann packte er mich im Nacken und drückte meinen Kopf nach vorn auf die Brust. Ich zerkratzte ihm die Hand, aber das interessierte ihn gar nicht. „Lass mich los! Geh weg, los mich los!“ Verdammt, was hatte er nur plötzlich, warum tat er das?

Auf dem Bett hatte Pal sich drohend aufgebaut und knurrte, was meinen bereits beschleunigten Herzschlag noch einmal verdoppelte. „Nimm deine Finger von ihr.“

„Erst wenn sie mir erklärt, was das hier zu bedeuten hat.“

Das Knurren verstummte, die drohende Haltung blieb auch wenn nun Neugierde noch dazu kam.

Kovu beugte sich vor, um auch etwas sehen zu können. „Das Zeichen der Hexen“, hauchte er, so dass ich es nur mit Mühe und Not verstand.

Der Griff in meinem Nacken wurde richtig schmerzhaft. Ich biss mir auf die Lippen, um mein Wimmern zu unterdrücken. Ich hatte keine Ahnung, was hier plötzlich los war, aber ich hielt still. Nicht nur, weil diese Haltung äußerst unangenehm war, ich hatte auch Angst davor, was er tun würde, wenn ich mich weiter wehrte. Hecktisch atmend hielt ich einfach seine Hand fest, damit er nicht noch fester zupacken konnte und versuchte das unangenehme Gefühl seiner Nähe zu ignorieren.  

„Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für das da.“ Er ließ meine Schulter los und dann spürte ich seinen Finger auf meinem linken Schulterblatt. Es kribbelte nicht sehr angenehm und ich musste mir gut zureden, um nicht völlig hysterisch zu werden.

Ich verstand nicht, warum er das tat. Was hatte er nur? „Ich weiß nicht wovon du sprichst“, presste ich zwischen meinen Lippen heraus.

„Von dem Zeichen der Hexen, das deinen Körper ziert, davon spreche ich!“

Scheiße, was war hier los? Ich kniff die Augen zusammen, atmete gegen den Schmerz und hielt die Tränen zurück, die sich aus meinen Augen schummeln wollten. „Ich weiß nichts von einem Zeichen der Hexen, ich weiß nicht mal, was das ist.“

„Und das soll ich dir glauben?“ Veiths Stimme war gefüllt mit Verachtung. „Es sitzt unter deiner Haut, ich kann es genau sehen und du bestreitest es trotzdem?“

„Bitte, lass mich los, ich weiß nicht was du meinst, ich hab keine Ahnung.“ Nun fand doch eine Träne ihren Weg ins Freie und rollte heiß über meine Wange.  Es tat einfach so weh. „Bitte, ich schwöre es.“

„Lass sie los“, sagte Pal. Gott sei Dank, er schien mir zu glauben.

Nicht so Veith. „Nicht bevor sie …“

„Lass. Sie. Los“, knurrte Pal mit deutlicher Drohung in der Stimme.

Veith knurrte zurück, aber es war Kovu, der letztendlich die Entscheidung brachte. „Mann, ihr macht ihr Angst, merkt ihr das gar nicht? Und du, Grobian, tust ihr weh, falls dir das entgangen sein sollte.“

„Sie ist …“, begann Veith, wurde aber gleich wieder von Kovu unterbrochen.

„Jemand, der seine komplette Erinnerung eingebüßt hat. Könnte es nicht sein, dass sie wirklich nichts über das Hexenmal weiß?“

Der Griff in meinem Nacken lockerte sich fast unmerklich, aber ich nutzte die Gelegenheit, riss mich von ihm los und flüchtete mit dem Rücken zur nächsten Wand, wo ich alle gut im Auge behalten konnte. Besonders Veith, der keine Anstalten machte, mich erneut zu attackieren.

Pal sprang sofort vom Bett und näherte sich mir, doch mein Wimmern ließ ihn inne halten. „Talita …“

Ich schüttelte meinen Kopf, wollte nichts hören. Meine vor Angst geweiteten Augen lagen auf Veith. Was war nur hier los? Warum hatte er mich angegriffen?

Die Maske in Veiths Gesicht war, wie immer, nicht zu deuten, doch war die Bedrohung darin offensichtlich. „Wenn du mir nicht sagst, was das zu bedeuten hat, dann …“

„Hast du ´nen Schatten?!“, schrie ich ihn an. Meine Angst schlug in Wut um, kaum dass er den Mund aufgemacht hatte. Im Moment war es mir egal, wen, oder besser gesagt, was ich hier vor mir hatte. Seine ganze Art machte mich einfach nur sauer! Der Kerl tickte doch nicht mehr ganz richtig im Kopf. „Erst tust du mir weh und jetzt bedrohst du mich auch noch? Schon mal daran gedacht, mich einfach mal zu fragen?!“

Kovu lachte auf. „Ja, Mädchen, gib´s ihm!“

Zwischen Veiths Augenbrauen erschien eine steile Falte. Es passte ihm wohl so gar nicht, wie ich ihn hier anging. „Ich wollte es mir ansehen. Du hast versucht wegzulaufen, du wolltest es vor mir verbergen, weil du Angst hast, dass ich dir auf die Schliche komme.“

„Ich hab versucht wegzukommen, weil du ein beschissener Werwolf bist! Du bist wie ein wütendes Rhinozeros auf mich zugekommen, da ist es doch ganz normal, dass ich versuche, mich in Sicherheit zu bringen!“ Würde ich hier nicht halb vor Furcht sterben wäre meine Wut wohl viel beeindruckender. So presste Veit einfach nur die Lippen aufeinander.

Pal legte den Kopf schräg. „Was ist ein Rhinozeros?“

„Und ein beschissener Werwolf“, fügte Kovu hinzu.

Ich sah die beiden ungläubig an. Die wollten mich doch verarschen, oder? Nein, die waren wirklich neugierig. Nun gut, das ließ sich ausbauen. Ich wischte mir mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht – natürlich nicht ohne Veith aus den Augen zu lassen – und erklärte dabei: „Ein Rhinozeros ist ein sturer, dummer Dickhäuter mit einem winzig kleinem Gehirn und dem IQ einer Ameise, dem im Leben nur drei Dinge wichtig sind. Fressen, Vögeln und wie man den anderen zeigen kann, dass man der Stärkste überhaupt ist, egal, ob der von vorn herein unterlegen ist.“ Die letzten Worte galten hauptsächlich Veith.

Kovu prustete los, ja, er kullerte sich vor Lachen beinahe auf dem Bett.

Mein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder, was wohl damit zusammenhing, dass Pal zwischen mir und dieser Bestie stand. „Und ein beschissener Werwolf, ist ein gehirnamputierter Lykaner.“

Veith knurrte tief aus der Brust.

Erst jetzt wurde mir langsam bewusst, was hier eigentlich gerade wirklich passiert war. Das Adrenalin ließ nach und ich spürte, wie ich zitterte. Nein, ich war bei weitem nicht so mutig, wie ich mich gab. Am liebsten würde ich mich einfach unter dem Bett verstecken und darauf warten, dass all die bösen Monster verschwanden. Nur leider war mir nur allzu klar, dass sie mir diesen Gefallen nicht tun würden, nicht solange ich nicht preisgab, wer ich war und das konnte ich aus erfindlichen Gründen nicht.

„Sag mir jetzt endlich, Katze, warum du das Zeichen der Hexen trägst“, verlangte Veith mit deutlich drohendem Unterton.

Ich fasste an meine Schulter, an die Stelle, die Veith eben berührt hatte. Das Kribbeln spürte ich immer noch, aber es war nicht sehr angenehm, eher so, als liefen da hundert ekliger Ameisen auf der Haut herum. Gruselfaktor. „Ich bin keine Katze, ich bin ein Mensch. Wie oft muss ich euch das eigentlich noch sagen?!“

Kovu neigte neugierig den Kopf. „Was ist ein Mensch?“

„Ein Mensch ist … na ein Mensch eben.“ Wie sollte ich das nur erklären und dann auch noch in einem Moment, in dem ich gedanklich bereits verspeist wurde. „Ein Mensch ist wie du“, sagte ich dann aus einer Eingebung heraus, „nur ohne den Wolf. Ein Wesen ohne Magie.“ Besser bekam ich es wirklich nicht hin.

Die drei sahen mich an wie … keine Ahnung, glupschäugige Frösche? Ja, das kam dem sehr nahe.

„Was?“, kam es von Kovu. „Keine Magie?“

Veith schnaubte. „Ich wusste, dass sie eine Lügnerin ist.“

Pal betrachtete mich nur nachdenklich.

„Ich bin keine Lügnerin!“, verteidigte ich mich sofort. Das ging langsam echt zu weit! Wenn er mit sich und seinem Leben nicht klar kam, okay, das war sein Problem, aber deswegen musste er es noch lange nicht an mir auslassen.

„Alles hat seine eigene Magie, Katze!“, zischte er. „Ohne die würdest du gar nicht leben und das Zeichen auf deiner Schulter erzählt Bände. Du brauchst nicht mehr so zu tun, als wüsstest du nicht, wer du bist, du hast dich selber verraten.“

Langsam wurde ich ernstlich sauer. „Also erstens, hör auf mich ständig Katze zu nennen und es dann auch noch wie eine ansteckende Krankheit klingen zu lassen. Mein Name ist Talita! T-A-L-I-T-A. Wenn du es dir nicht merken kannst, weil eine so kleine Information für dein Spatzenhirn zu schwierig ist, dann schreib es dir irgendwo auf! Und zweitens, so tun? Machst du dir eigentlich eine Vorstellung davon wie es ist sich selbst zu vergessen? In den Spiegel zu blicken und eine Fremde zu sehen? Von einem Haufen Unbekannter umgeben zu sein, die dich nicht nur verabscheuen, sondern sich hin und wieder auch noch einen Schwanz wachsen lassen? Verdammt, hör doch nur was ich hier sage! Einen Schwanz! Ihr könnt euch in Wölfe verwandeln! Das ist völlig absurd. Ich weiß nicht mal ob ich Familie habe, Freunde, was ich gerne mache, was ich mag oder hasse und du kleiner, arroganter Sack stehst hier vor mir und redest von oben auf mich herab? Was glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du dir das rausnehmen kannst? Du willst wissen, was das Zeichen der Hexen auf meiner Schulter zu suchen hat? Verdammt noch mal, ich weiß nicht mal was das sein soll! Also woher soll ich wissen, was es da zu suchen hat?“ Ich zitterte richtig vor Wut, so sehr regte der Kerl mich auf. Meine Angst war mit meinem Ausbruch auf ein Minimum geschrumpft, jetzt wollte ich nur noch aufspringen und ihn in die Eier treten. Nicht nur, weil er mir wehgetan hatte, nein, auch dafür, dass er die ganze Zeit so herablassend zu mir war.

Einen Moment war es ruhig, dann fing Kovu von neuem an zu prusten und Pal hatte ein fettes Wolfsgrinsen im Gesicht. Nur Veith wirkte verärgert, ja fast eingeschnappt.

„Gut, nehmen wir an du sagst die Wahrheit …“

„Ist sage die Wahrheit!“

Er drückte die Zähne aufeinander. Wenn der so weiter machte, würde sich sein Zahnarzt freuen.

„Wartet, ich habe eine Idee!“ Kovu sprang aus dem Bett und rannte aus dem Zimmer, nur um gleich darauf mit einem Zettel und einem Stift zurückzukommen. Er schubste Pal zur Seite, kniete sich vor mich und begann etwas auf das Papier zu zeichnen. Dabei hatte er seine Zunge zwischen die Lippen geschoben und einen hoch konzentrierten Ausdruck im Gesicht.

Das erste Mal sah ich ihn von nahem. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht, weiche Züge und für einen Kerl einen ziemlich vollen Mund. Am Kinn hatte er eine kleine Narbe, die gelben Augen standen leicht schief. Ein sehniger, durchtrainierter Körper – musste ein Markenzeichen von Werwölfen … äh Lykanern sein, ich hatte bisher noch keinen übergewichtigen, oder gar fetten gesehen – und er hatte ungefähr meine Größe, vielleicht ein zwei Zentimeter mehr. Sein langer Zopf war ihm über die Schulter gefallen und lag zu meinen Füßen auf dem Boden. Seidig, weich. Er musste jünger sein als ich, aber nur ganz unwesentlich.

„So, hier.“ Er schob mir den quadratischen Zettel zu. „Das hier ist das Zeichen der Hexen, naja, da fehlt noch ein Strich.“ Er zeigte auf die gemeinte Stelle. „Aber ich darf es nicht vervollständigen. Das dürfen nur Hexen.“ Er schüttelte sich, als hätte er eine Gänsehaut. „Ich will gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn ich es doch täte.“

„Wieso? Was passiert dann?“ Es konnte doch nicht so schlimm sein, ein Zeichen zu malen. Strafbar, aber nicht schlimm.

„Als wenn du das nicht weißt“, kam es von Veith. Vom wem sonst?

Ich reagierte nicht auf ihn, genauso wenig wie die anderen.

„Es würde die Aufmerksamkeit auf uns ziehen“, erklärte Pal. „Die Hexen wären verärgert. Du musst wissen, das Hexenmal birgt sehr viel Magie, Magie, die die Hexen eifersüchtig hüten und nicht teilen wollen. Die können ziemlich grantig werden und sich mit einem Hexenzirkel anzulegen kann dein baldiges Ableben besiegeln.“

O-kay. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich das finden sollte, besonders, da ich anscheinend dieses Mal auf dem Rücken trug. Von irgendwelchen Hexen, die nach meinem Leben trachteten, war ich nicht wirklich begeistert. Kein Wunder dass Veith mir nicht glaubte. Für ihn musste es so aussehen, als gehörte ich zu ihnen und nur hier war um … ach was weiß ich zu tun. Wie wäre es sonst zu erklären, dass ich dieses Mal trug und noch atmete.

Ich schüttelte diese Gedanken ab und zog das Papier näher. Wenn da noch ein Strich fehlte … aber das war doch … „Ein Pentagramm.“

Pal rückte ein wenig näher, den Blick auf das Papier gerichtet. Ich konnte sein Fell am Arm spüren, sagte aber nichts dagegen. „Das Zeichen der Hexen.“

Ich runzelte die Stirn. „Und das habe ich auf dem Rücken?“

„Ja.“ Wieder Veith, kurz und bündig.

Ein weiteres Mal nahm keiner von ihm Notiz.

Ich ließ das Blatt sinken und verdrehte mir halb den Hals, bei dem Versuch mir über die Schulter zu gucken, aber mehr als einen dunklen Schatten auf meiner Haut, war nichts auszumachen. Zwecklos, so wurde das nie was. „Hast du einen Spiegel?“

Pal schüttelte den Kopf.

„Im Bad ist einer.“ Kovu ergriff meine Hand und zog mich in Werwolfmanier auf die Beine – dass die immer an einem herumzerren mussten. „Da kannst du es dir ansehen.“

Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie ich aus dem Raum geschleppt wurde und er ein paar Türen weiter praktisch mit mir ins Bad stürzte. Erst hier ließ er mich wieder los, aber nur, um mich an den Schultern zu packen und um hundertachtzig Grad zu drehen.

Jede Bemerkung über sein Benehmen blieb mir im Hals stecken, als ich es sah. Es war ein verschnörkeltes Pentagramm, umrankt von einer Rose, die ihre Dornen blutig in mein Fleisch bohrte. Schön und makaber zugleich. Zwei Zacken nach oben, das Zeichen des Bösen. „Ein Tattoo des Satans“, entschlüpfte es mir. Es war eine Tätowierung, nichts weiter.

„Satan?“, fragte Pal. Er war mit Veith hinterher gekommen.

„Satan“, wiederholte ich, stieß aber nur auf verständnislose Kerle. „Der Teufel? Herrscher der Unterwelt und Befehliger aller Dämonen? Der gefallene Engel Luzifer, der Gott zu sehr liebte und deswegen aus dem Himmelsreich gestoßen wurde?“ Nach den Gesichtern zu urteilen, konnten sie nichts damit anfangen. „Mein Gott, wer von uns lebt den hier mit der Magie? Und ihr wisst nicht mal wer die Verkörperung allen Bösen ist?“

Zwischen Veiths Augen erschien wieder die steile Falte. „Soll das heißen, du trägst das Zeichen des Bösen?“

So, wie er das sagte, hörte sich das nicht sehr schmeichelhaft an. „Ja und nein. Das Pentagramm an sich ist nicht böse, früher wurde es sogar oft zum Schutz vor dem Bösen benutzt, aber mit der Zeit veränderte sich seine Bedeutung, wurde zweiteilig. Eine Zacke nach oben ist gleichbedeutend mit Gut. Das Böse findet an dieser Zacke keinen Halt und rutscht einfach ab. Zwei Zacken nach oben hingegen bedeutet böse. Zwischen diesen beiden Zacken kann sich das Böse sammeln, es wird praktisch aufgefangen, wie bei einer Schüssel. Auch steht es für den Teufel, wegen der Ziege.“

„Ziege?“, fragte Pal verwirrt.

„Ja, der Teufel wird auch gerne als Ziege dargestellt, oder auch als dreieckiger Kopf mit Ziegenhörnern und Bart.“ Ich zeichnete es in die Luft. „Bart, zwei Wangenknochen, zwei Hörner. Das ergibt fünf Zacken, mit zweien nach oben. Ein Pentagramm der Teufels, das Zeichen des Bösen.“

„Also trägst du das Zeichen des Bösen“, vermutete Veith.

Ich schüttelte den Kopf – wäre ja auch selten dämlich, wenn ich anders reagieren würde. „Nein, es ist ein Tattoo.“

Nun verstanden sie gar nichts mehr.

„Aber du hast doch gerade gesagt …“, begann Kovu.

„Was es bedeutet“, unterbrach ich ihn. „Das hier …“ Ich zeigte auf mein linkes Schulterblatt. „… ist nichts weiter als ein Bild auf der Haut, eine Tätowierung, die ich mir aus was weiß ich für Gründen habe stechen lassen.“

„Stechen?“ Kovu wirkte richtig entsetzt.

Das war voll niedlich. „Ja, mit einer Nadel. Das ist so eine Maschine, in die man Farbe einfüllt und … ja, stechen“, endete ich einfach. Es hätte eh keinen Zweck ihnen das zu erklären. Sie würden es nicht verstehen.

„Das heißt, du weißt nicht, warum du dir dieses Bild hast stechen lassen, weil du dich nicht mehr daran erinnern kannst“, fasste Veith zusammen.

Ich nickte und hoffte, dass wir das Thema damit jetzt endlich abgeschlossen hätten. Fehlanzeige.

„Woher weißt du dann, dass es nicht genau das ist, was du gesagt hast, ein Zeichen des Bösen? Oder ob du es nicht doch von einer Hexe erhalten hast, der du hörig bist? Deine Erklärungen haben zu große Lücken, ich glaube dir nicht.“

„Aber ich glaube ihr.“

Wir alle drehten uns gemeinsam zu der Stimme in der offenen Tür um. Prisca stand da – wie lange schon? – und sah durch den Spiegel auf das Bildchen auf meinem Rücken. Ich unterdrückte das plötzliche Bedürfnis, es mit meiner Hand zu verdecken. Ich hatte nichts Falsches gemacht, das war nur eine Tätowierung.

„Ob es nun ein Zeichen des Bösen ist, wie sie es gesagt hat, oder nur eine Hautverzierung, vielleicht sogar wirklich das Zeichen einer Hexe, derer sie hörig ist, es ist egal. Ich glaube ihr, dass sie ihre Erinnerung verloren hat. Es spricht sehr viel dafür. Nicht nur ihre Worte und Beteuerungen, auch ihr Verhalten.“ Sie sprach nicht zu mir, nur zu den drei Kerlen. Sie überging mich, als wäre ich Luft.

„Und wenn du dich täuschst?“, wollte Veith wissen.

„Das spielt keine Rolle. Es ist egal, weil sie gleich gehen wird.“

„Oh!“, kam es von Kovu. „Darf ich mit? Ich wollte schon immer mal nach Sternheim.“

„Nein“, sagte Prisca.

„Aber …“

„Nein.“

Das war jetzt von allen gekommen – mich ausgenommen.

Kovu zog beleidigt einen Flunsch.

„Und nun beeilt euch, wenn ihr noch etwas essen wollt. Ihr müsst los, wenn ihr vor der Nacht in Sternheim sein wollt. Die anderen warten bereits.“ Damit wandte sie sich ab und verschwand.

Veith warf mir noch einen ziemlich argwöhnischen Blick zu und folgte ihr dann. Wahrscheinlich wollte er sie noch davon überzeugen, mich doch einfach aufzufressen, dann hätte sich das Problem mit mir auch erledigt und keiner müsste wegen mir das Lager verlassen.

Idiot.

 

°°°

 

Endlich. Richtige Klamotten auf der Haut zu fühlen war wahnsinnig toll. Rundum bedeckt und sauber war ich für alles gewappnet, was der Tag noch für mich bereithalten würde.

Nach Priscas Abgang wurde es ernst. Halb gefangen in Träumen von einer normalen Welt hatte ich in der Küche im Rudelhaus ein kleines Frühstück zu mir genommen. Am Tisch war es ungewöhnlich ruhig gewesen, nicht so wie bei meiner einzigen Mahlzeit mit dem Rudel, oder auf dem gestrigen Fest. Ob es nun an der Aufgabe lag die wir vor uns hatten, oder auf der Tatsache beruhte, dass sie nur wegen mir den Wald verließen, wusste ich nicht zu sagen. Nur so viel, jede Beerdigung war aufregender als unser gemeinsames Frühstück.

Danach verschwanden alle und ich wurde solange in Pals Zimmer geschafft, was mir zum ersten Mal die Gelegenheit gab, mich ein wenig unbeobachtet umzusehen – natürlich nur in diesem Raum –, doch mich gleichzeitig auch die Einsamkeit fühlen ließ, die ich schon gestern Abend gespürt hatte. Wieder einmal wurde mir klar, dass ich noch weniger besaß, als ich glaubte. Es war weniger als nichts, genau wie ich.

Neben dem Fenster hing ein Bild an der Wand, das eine größere Gruppe von Wölfen und Menschen zeigte – vermutlich Werwölfe. Sie standen dicht beisammen und selbst durch das Bild verstand ich diese Vertrautheit, die sie füreinander fühlten.

Etwas klopfte gegen die Fensterscheibe und da wir das noch nicht so oft hatten, zuckte ich einmal mehr vor Schreck zusammen. Mann, ich kam mir langsam schon wie ein Schüttelshake vor. Draußen auf dem Fensterbrett saß ein … ich glaubte, es war ein Vogel, mit einem Federkleid aus so vielen Blautönen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Das Ding war riesig, der Schnabel gerundet und scharf wie eine Klinge. An den Enden der Flügel hatte es Stacheln, die sehr gefährlich aussahen und als es den Schnabel öffnete, sah ich eine Reihe rasiermesserscharfer Zähnchen, die jeden Piranha vor Neid hätten erblassen lassen. Und diese Augen. Sie waren so schwarz wie eine dunkle Grotte. Er richtete seinen Federkamm auf, in dem sich weitere Stacheln versteckten, stieß einen Schrei in meine Richtung aus und flog einfach davon.

Okay, das war mehr als seltsam gewesen. Ich stand einfach nur da und starrte aus dem Fenster. Hatte ich das wirklich gerade gesehen, oder waren meine Nerven nun völlig am Ende? Solche Vögel gab es nicht!

Es gibt auch keine Werwölfe, rief ich mir in Erinnerung. Oh Mann, ich war wirklich am Arsch.

Ich stand noch immer am Fenster, als Pal mich holen kam und nach draußen an den Waldrand brachte.

Fang und Veith waren da – na toll, musste ausgerechnet dieser Sack mitkommen? –, standen neben eine Art Schlitten und unterhielten sich. Ein Stück weiter lag eine Löwin auf dem Rücken und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Das konnte nur Domina sein. Na zum Glück war auch noch Pal dabei. Wenigstens einer, der sich nicht wünschte, dass ich einfach in Flammen aufging, damit nichts als ein Häufchen Asche von mir übrig blieb.

„Los Pferdchen, ab ins Geschirr mit dir“, sagte Pal im Näherkommen zu Veith. Der knurrte ihn an, ließ dann aber einfach den Schurz fallen, um sich zu verwandeln, so wie ich es schon ein paar Mal gesehen hatte. Da ich aber dieses Mal wusste, was mich erwartete, schaffte ich es noch rechtzeitig mich umzudrehen, obwohl es einem Verbrechen glich, einen solchen Körper den Rücken zu kehren. Ich hörte zwei Mal einen dumpfen Aufprall, mein Zeichen, dass ich mich wieder umdrehen konnte. Veith hatte ich ja schon mal in seiner Tiergestalt gesehen, der große schwarze Wolf mit dem rauchgrauen Bauch und Beinen neben ihm war mir neu. Da Fang nicht mehr zu sehen war ging ich davon aus, dass er es war. Zur Rute hin und an der Brust wurde er silbergrau. Eine Farbkombination, die mir echt gut gefiel.

Pal schlenderte an mir vorbei und nahm ein paar Lederriemen vom Schlitten, in die er Veith steckte, dann wandte er sich mir zu. „Alle einsteigen, die Kutsche ist vorbereitet.“

„In das Ding?“ Ich sah es mir etwas näher an. Wie schon von weitern erinnerte mich dieses Gefährt an einen Hundeschlitten, nur das hier die Seiten Ränder hatten und es leicht oval war. Eine halbe Nussschale. Innen dick gepolstert, eine Decke lag am Fußende, doch gab es weder Kufen noch Räder.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Fang ungeduldig. „Steig in den Kinderzug, damit wir loskönnen, ich werde auch nicht jünger.“

„Ich würde lieber laufen, wenn es möglich wäre“, sagte ich vorsichtig. Ich hatte nicht vor mir auf dem Weg durch den Wald sämtliche Knochen zu brechen, wenn ich mit dem Ding umfiel, einen Berg schlitterte und dabei jeden Baum traf, der meinen Weg kreuzte. Okay, ich gab zu, dass das ein wenig übertrieben war. Trotzdem glaubte ich nicht daran, dass die Fahrt bequem sein würde, auch nicht mit der dicken Polsterung.

Fang fletschte die Zähne. „Steig in den Kinderzug!“

Okay, wenn er glaubte, mich mit dieser Drohung dazu zu bewegen, schneller einzusteigen, hatte er genau das Gegenteil erreicht. Jetzt hatte ich nicht nur Angst vor dem Zug, sondern auch noch vor ihm und ging vorsichtshalber einen Schritt auf Abstand.

„Sachte Papá.“ Pal trat vor mich, wollte mich an der Schulter berühren, ließ es dann aber lieber, als er sah, wie ich mich anspannte. „Komm schon, Talita, steig ein.“

Okay, Knochenbrechen im Kinderzug, oder einen wütenden Fang, der aussieht, als wolle er mich gleich fressen. Tja, die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Mit Knochenbrüchen konnte man leben, in kleinen Stückchen im Magen eines Wolfes nicht. Also kletterte ich in die Nussschale mit Rückenlehne. Sie war groß genug, dass ich mich bequem ausstrecken konnte und zu den Seiten hin noch massig Platz hatte. Die Polsterung war ungewöhnlich. Sie erinnerte mich an Geleinlagen, wie man sie in Schuhe stecke. Sie sprang immer wieder in ihre ursprüngliche Form zurück.

Während ich noch versuchsweise einen Finger hineindrückte, gab es einen Ruck und plötzlich schwebte ich über dem Boden. Ich stieß einen Schreckenslaut aus und klammerte mich an die Seitenränder.

„Ruhig Blut, Veith hat das schon öfter gemacht.“

Das war gut zu wissen, aber das war es gar nicht. Ich schwebte. Diese verdammte Nussschale schwebte mit mir darin gut eine Handbreit über dem Boden in der Luft! „Aber wie … das … warum …“ Ich bekam einfach keine vernünftige Frage formuliert, von einem klaren Gedanken mal ganz abgesehen. Ich bekam nicht mal mit, wie Pal sich verwandelte. Ich war einfach nur … naja, geschockt war wohl nicht der richtige Ausdruck. Eher sprachlos, weil ich mir darauf keinen Reim machen konnte.

Pal trappte an meine Seite. „Sowas hast du wohl auch noch nie gesehen.“

Ich klappte den Mund zu und schüttelte den Kopf, dass die kurzen, weißblonden Haare nur so flogen.

„Keine Sorge. Bleib einfach ganz entspannt. Der Kinderzug ist völlig sicher.“

„Warum nennt ihr das Ding so?“ Na bitte, ich hatte es geschafft eine vernünftige Frage über die Lippen zu bringen.

„Weil wir damit normalerweise unsere Kinder ziehen, wenn wir längere Strecken vor uns haben. Ein Moob im Wald funktioniert einfach nicht. Zu groß.“

Ich musste einfach fragen. „Ein Moob?“

„Los jetzt“, befahl Fang. Domina rollte sich auf den Bauch, gähnte herzhaft – was ihre strahlend weißen Zähne sehr gut zur Geltung brachte – und trottete dann zu Fang an die Spitze. Auch Veith setzte sich in Bewegung, hinter den beiden anderen her. Das Geschirr spannte sich zwischen ihm und der Nussschale und dann glitt ich ganz sanft über den Waldboden. Es gab kein Ruckeln oder Schaukeln, es war ein Gleiten wie auf Wolken. Ganz Sanft.

Noch traute ich der ganzen Angelegenheit nicht recht über den Weg. Ich meine, wenn das Ding plötzlich auf den Boden knallte, lag ich mit der Nase im Dreck, aber als nach den ersten paar Metern nichts dergleichen geschah, entspannte ich mich ein wenig. Nur ein ganz kleines bisschen.

Pal blieb an meiner Seite. „Das ist ein Fortbewegungsmittel.“

„Was?“

„Ein Moob. Das ist ein … wie erkläre ich das am besten.“ Er überlegte kurz. „Im Grunde ist es ein Metallkonstrukt, in dem meist vier Sitze sind. Ein Steuermann lenkt und hinten gibt es eine große Klappe, in der …“

„Gepäck und andere Dinge untergebracht werden können“, vollendete ich.

Pal stellte die Ohren auf. „Du kennst es?“

„Ja, aber unter dem Namen Auto. Ich besitze sogar einen Führerschein.“

„Auto?“ Er legte den Kopf leicht zur Seite. Diese Bewegung verlieh ihm etwas Hündisches. „Klinkt schräg.“

„In deinen Ohren vielleicht. Für mich klinkt die Bezeichnung Moob seltsam. Was soll das nur für ein Name sein? Mooooob. Da bleibe ich lieber bei Auto.“

„Genau wie du uns immer Werwölfe nennst, statt Lykaner.“

„Nicht euch alle, Domina ist eine Werkatze. Das kommt aus dem althochdeutschen. Wer steht für Mensch. Es heißt also im Grunde Mensch-Wolf, oder eben auch Mensch-Katze. Obwohl auch die Bezeichnung Lupus für Werwolf durchgeht. Das ist Latein. Man könnte auch Wolf sagen, englisch ausgesprochen, aber das heißt eigentlich nichts anderes als Wolf.“

„Althochdeutsch? Latein? Englisch?“

„Das sind verschiedene Sprachen.“ Ich beäugte es argwöhnisch, als Veith den Trampelpfad verließ und hinter Fang und Domina direkt in den Wald eintauchte. Der Kinderzug glitt völlig ruhig hinterher. Kein Wackeln, kein Knarzen.

„Da wo du herkommst gibt es drei verschiedene Sprachen?“

„Natürlich, sogar noch mehr. Französisch, Hawaiianisch, Arabisch, Türkisch, Schwedisch, Walisisch, Bengali, Hausa, Russisch, Dari, Chinesisch und das ist nur ein Bruchteil von denen, die es gibt. Ich könnte wahrscheinlich nicht mal alle aufzählen, wenn ich müsste.“

„Und du sprichst sie alle?“, fragte er erstaunt.

„Um Gottes willen, nein.“ Ich lachte. Was dachte der den von mir? Ich war vielleicht nicht dumm, aber das konnte ich dann doch nicht. „Ich kann eigentlich nur meine Muttersprache und ein Paar Wörter und Sätze aus anderen Sprachen. Ich kann zum Beispiel Ja auf mindestens fünf Sprachen sagen, aber bei der Nachfrage nach deinem Namen wären es nur noch zwei.“ Beim Gespräch mit Pal entspannte ich mich immer mehr, ohne es wirklich zu merken. Von dem zu erzählen, was ich kannte, hatte seine ganz eigene Wirkung auf mich.

„Was heißt den Ja in diesen fünf Sprachen.“

„Na mal sehen.“ Ich hob die Hand und zählte an den Fingern ab. „Da haben wir Yes, Da, Oui, dann natürlich ganz normal Ja in Deutsch und Hai, das ist Chinesisch.“

Der Kinderzug glitt etwas höher, als Veith über einen umgekippten Baumstamm sprang.  Er tat vielleicht so, als wäre er voll auf den Weg konzentriert und würde sich für nichts anderes interessieren, aber ich wusste, dass er dem Gespräch folgte. Wahrscheinlich hoffte er immer noch darauf, dass ich etwas sagte, was ihm das Recht einräumte, sich sofort auf mich stürzen zu dürfen.

„Und wozu braucht ihr so viele Sprachen?“

 „Brauchen eigentlich nicht, die haben sich entwickelt.“ Ich sah nach links, sah zu, wie die Muskeln unter dem roten Fell arbeiteten. Wölfe so nahe bei sich zu haben, hatte schon etwas Beängstigendes, auch wenn sie wunderschön anzusehen waren. „Soll das heißen, hier gibt es nicht so viele Sprachen?“

„Nein. Es gibt zwei Sprachen. Jene die wir sprechen und die Steuersprache, oder auch magische Sprachen, mit der die Magie gesteuert werden kann.“

„Das ist ja mal einfach.“ Ich lehnte mich zurück. Hier kannte man nur zwei Sprachen. Dolmetscher hätten hier wohl keine guten Karrierechancen. Hier schien vieles einfach zu laufen. Da fiel mir noch etwas ein: „Warum habt ihr eigentlich alle den gleichen Nachnahmen? Ich meine, ihr seid doch nicht alle miteinander verwandt, oder?“

„Was?“

„Eure Nachnahmen. Ich habe noch nie einen Ort gesehen, in dem jeder den gleichen trug. Glaube ich jedenfalls.“

Pal runzelte die Stirn. „Nachnamen?“

„Ja, dieses unter den Wolfsbäumen. Ich hab bei mehreren mitbekommen, dass sie so heißen, aber ihr könnt doch nicht alle miteinander verwandt sein, das wäre …“ Widerwärtig, ekelhaft, Inzest, lag es mir auf der Zunge. Schlauer Weise entschied ich mich aber für: „Seltsam.“

„Ah.“ Pal nickte verstehend. „Unsere Nachnahmen werden nicht nach Familie vergeben, sondern nach dem Ort unserer Geburt.“

„Warum?“

„Warum nicht?“

Auch wieder wahr. Ich schwieg eine Weile. „Kann ich dir noch eine Frage stellen?“ Etwas das mich schon eine Weile beschäftigt. Genau genommen seit dem Hexenhirn auf dem Geburtstagsfest.

„Klar.“

„Was gibt es sonst noch für Wesen?“ Ich musste wieder an den Vogel denken. Der war wirklich gruselig gewesen. „Ich meine, bei euch gibt es Werwölfe und Drachen und Hexen und wir sind gerade auf dem Weg zu … äh …“

„Einem Magier“, half er mir aus.

„Zu einem Magier.“ Gab es zwischen Hexen und Magier einen Unterschied? „Da gibt es doch bestimmt auch noch andere Wesen.“

„Natürlich. Weit verbreitet sind natürlich die Lykaner und die Therianer. Außerdem das magieformende Volk und …“

„Moment, Moment. Therianer? Magieformende Volk? Was ist das.“

Pals Augen lächelten. „Therianer sind Katzen.“ Er grinste mich an. „Magieformer sind Magier und Hexen. Orakel.“

„Okay, verstanden.“ Therianer gleich Werkatzen. „Also weiter.“

So erzählte er mir von einer Reihe Wesen, die dieses Land bewohnten, während wir durch einen Wald zogen, der kein Ende zu nehmen schien. Von manchen hatte ich gehört, wie von Engeln – ja, sie haben richtig gelesen, Engel! Das muss man sich mal vorstellen – und auch andere, wie Feen, Elfen und Harpyien. Sogar Meerjungfrauen tummelten sich hier in den Gewässern, obwohl Pal sie als Nixen bezeichnete. Auch Zentaur, Zwerg und Gorgonen waren hier keine Fremdwörter.

Dann nannte er noch Namen wie Baobhan-Sith, Echidna, Rakshasa, Kitsune und Windin, mit denen ich überhaupt nichts anfangen konnte. Und die hier aufgezählten waren wohl nur ein Bruchteil derer, die er mir genannt hatte. Ich war in einem gottverdammten Fantasyroman gefangen! Wie hatte ich hier nur landen können?

Hm, wenn ich so darüber nachdachte, dann lag ich vielleicht doch im Koma und spinnte mir das alles nur zusammen. Mein Gott, ich musste eine blühende Fantasiebesitzen.

„… und natürlich Metamorpholus, die gibt es auch noch.“

Was auch immer das sein sollte. „Also da, wo ich herkomme, gibt es nur Menschen“, sagte ich irgendwann, als mein Kopf vor lauter Namen schon anfing zu rauchen.

„Ja, so wie dich. Ein Wesen ohne Magie.“ Er sagte das mit leichtem Spott.

Ich kniff die Augen zusammen. „Ich bin ein Mensch.“

„Ich werde dir nicht widersprechen.“

„Aber du glaubst mir auch nicht.“

„Lass uns doch einfach abwarten, was wir in Sternheim erfahren, die können dir da sicher weiterhelfen.“ Damit war das Thema für ihn erledigt. Für mich nicht. Ich wusste was ich war, ein Mensch. Wenn auch einer, der dem Wahnsinn allmählich ziemlich nahe kam.

„Okay, vergessen wir das“, lenkte ich ein. „Ich will noch mehr wissen.“

„Frag nur.“

„Eure Infrastruktur, wie funktioniert die.“

„Im Rudel oder im Land?“

„Äh … beides?“

Pal sprang auf einen schräg gewachsenen Baum um auf ihm zu balancieren. Sehr beeindruckend. „Okay, hier die Kurzversion. Im Rudel ist es ganz einfach, alle folgen dem Alpha.“

„Aber ihr habt doch auch verschiedene Stellungen.“

„Natürlich. Im Grunde ist das ranghöchste Tier immer der Älteste – vom Alpha natürlich abgesehen – also ist das in unserem Fall Fang. Wir folgen ihm, da Prisca nicht hier ist, er hat jetzt das Sagen. Die Frauen bilden den Kern des Rudels, den Zusammenhalt …“

„Wie in einem richtigen Wolfsrudel, nur das sich hier jeder paaren darf“, überlegte ich laut.

„Was?“

„Ach nichts.“ Meine Wangen fühlten sich plötzlich ganz heiß an. Gott, ich sah bestimmt wie eine Tomate aus. Wie kam ich nur auf solche Gedanken? Das war ja peinlich.

Pal warf mir einen komischen Blick zu, erzählte aber weiter. „Jedes Rudel steht für sich. Wir …“

„Es gibt noch mehr Rudel?“, fragte ich überrascht.

„Sicher, dutzende, oder glaubst du, Lykaner gäbe es nur in diesem Wald?“

Irgendwie war ich davon ausgegangen. „Okay, jedes Rudel steht für sich. Und weiter?“

Mit einem weiten Satz sprang Pal vom Baum. „Wir lösen unsere Probleme allein, ohne andere Rudel, ohne Fremde von außen. Wir wollen keine Unterstützung von Außerhalb. Solange wir uns haben ist alles in Ordnung. Aber die magische Gesellschaft hat da ein paar andere Regeln aufgestellt. Sie lassen uns schalten und walten wie wir wollen, solange wir ihren Gesetzen dabei nicht in die Quere kommen.“

So, wie ich das verstand, stellte ich mir eine ganz normale Wirtschaft und Politik vor, nur das die Rudel kleine Gruppen bildeten, die für sich blieben. Eine eigenständige Struktur in der Weltordnung. Wie eine Sekte, kam mir der Vergleich in den Sinn. Hatte ich das nicht schon mal gedacht?

Ich sah nach vorn zu Fang, der es gutmütig über sich ergehen ließ, dass Domina ihn spielerisch von der Seite anrempelte und ihm ins Ohr biss. Au, das musste wehtun. So viele verschiedene Wesen. Es war als wäre ich in einer ganz anderen Welt gelandet. „Und wie seid ihr entstanden? Evolution? Religion? Seid ihr einfach aus dem Boden gewachsen?“

Das ließ Pal schmunzeln und vorn hörte ich Veith verächtlich schnauben. Ich beachtete ihn gar nicht.

„Wir wurden durch Magie geformt.“

Ah-ja. „Und wer hat euch geformt?“

„Na wer schon, die Magie selber.“

Natürlich, die Magie selber. Was für eine blöde Frage meinerseits.

Vorne schnappte Fang knurrend nach Domina, weil die es in ihrem Spiel wohl ein wenig zu weit trieb. Sie kuschte sofort. Weil er der Ältere war, ging es mir durch den Kopf. Der Ältere hatte das Sagen. „Wie alt bist du eigentlich?“ Das hatte ich schon eine ganze Weile wissen wollen, nur irgendwie nie den richtigen Moment gefunden, um ihn danach zu fragen.

„Ich zähle mein zwanzigstes Jahr.“

Also so alt wie ich. Ich hätte ihn älter geschätzt. „Und die anderen? Wie alt sind die?“

„Veith hat sein vierundzwanzigstes Jahr gerade hinter sich gebracht. Mein Papá ist zweiundvierzig, Domina Fünfunddreißig.“

„Ich sehe aber noch aus wie dreißig“, kam es sofort von ihr.

Ich schmunzelte. Das war echt süß. Genau wie die typische Frau. „Und die anderen? Prisca, Kovu?“ Der Kleine interessierte mich besonders. Mit seiner Art wirkte er sehr kindlich, hatte dabei aber fast das Aussehen eines Erwachsenen.

„Prisca ist dreiundfünfzig und Kovu ist in seinem achtzehnten Jahr.“

Das hieße, er war siebzehn? Hatte ich das richtig verstanden? „Und …“

„Schluss jetzt mit der Fragestunde“, unterbrach Fang. „Wir haben genug Zeit vertrödelt. Ich möchte Sternheim heute noch erreichen, also ein wenig Beeilung.“

„Na dann mal los.“ Pal machte in dem Moment einen Satz, als auch Veith aus dem Trapp heraus zu rennen begann. Leicht ängstlich klammerte ich mich an den Kinderzug, während die Bäume zu meiner Linken und Rechten unaufhörlich an mir vorbeisausten. In halsbrecherischer Geschwindigkeit rasten wir durch den Wald und ich fürchtete um meinen Hals.

Gott, hoffentlich überlebe ich das.

 

°°°

 

Etwas Feuchtes an meiner Wange ließ mich blinzeln. Einmal, zweimal.

„Los aufstehen, Schlafmütze.“

Direkt vor meiner Nase befanden sich sehr weiße und sehr scharfe Zähne. Und davon eine ganze Menge. Ich schreckte zurück und knallte mit dem Kopf gegen etwas sehr Hartes.

„Au, das hat sicher wehgetan“, hörte ich eine weibliche Stimme.

Ja, hatte es, vielen Dank auch. „Verdammt, müsst ihr mich immer so erschrecken!“, entfuhr es mir. Ich fasste nach meinem Kopf, das würde sicher ein dickes Hörnchen geben. Pal und Domina grinsten zu mir in den Kinderzug. Ich muss während der Fahrt eingeschlafen sein – konnte man das überhaupt Fahrt nennen? Schließlich hatte dieses Gefährt ja keine Räder. „Sind wir schon da?“ Mein lieber Schollie, das tat wirklich weh. Das war ein Volltreffer auf die Zwölf gewesen.

Pal schüttelte den Wolfskopf. Das sah irgendwie seltsam aus. „Nein, aber wir wollen uns etwas Essbares besorgen, deswegen legen wir eine Pause ein.“

Wie um seinen Worten zuzustimmen, knurrte mein Magen laut und vernehmlich. „Ich bin dabei, was steht auf der Speisekarte?“

„Kommt darauf an was wir fangen“, ließ Domina verlauten und ging zu Fang, der versuchten Veith aus dem Geschirr zu bekommen, ohne sich dabei verwandeln zu müssen. Das wollte nicht so wirklich funktionieren.

„Fangen?“, fragte ich nicht sehr intelligent.

„Jagen“, verbesserte Pal.

Ich beobachtete das Zusammenspiel der Wölfe noch einen Moment und seufzte dann ergeben. So würde der da nie rauskommen. Erst als ich aus dem Kinderzug geklettert war und mich neben Veith hockte, der mich sehr misstrauisch im Auge behielt, wurde mir so richtig bewusst, was Pal da eben gesagt hatte und was es bedeutete. „Jagen? Du meinst ihr geht … jagen? So richtig? Mit Zähnen und viel Blut?“

„Gibt es denn noch eine andere Methode?“, wollte Domina wissen.

Klugscheißer. Ich griff nach dem Geschirr und öffnete die Schnalle, damit Veith herausschlüpfen konnte. Zeitgleich fragte ich mich, was ich essen sollte, denn rohes, blutiges und vielleicht auch noch warmes Fleisch wollte sich in meinen Ohren einfach nicht lecker anhören. „Ich glaube, da hungere ich lieber.“ Ich trat einen Schritt zurück, als Veith sich das Geschirr abschüttelte und dann ohne ein Dankeschön im Unterholz eintauchte.

Ich wusste, ich wiederholte mich, aber es ging einfach nicht anders: Idiot!

„Warum?“ Pal neigte den Kopf. „Wir bringen dir was mit.“

„Äh nein, ich glaube ich bleibe heute lieber vegetarisch und guck mal, ob ich Beeren oder so was finde.“ Die schrien wenigstens nicht um ihr Leben, wenn ich sie mir in den Mund steckte. Gut, das machte ein Stück Fleisch auch nicht, aber das hatte es vorher, als es noch lebendig gewesen war. Allein bei der Vorstellung schüttelte es mich schon am ganzen Körper. Nein, niemals. „Beeren sind schon in Ordnung.“

Fang war der Nächste, der ohne einen Abschiedsgruß verschwand, gleich gefolgt von Domina. Diese Werwölfe waren ein ganz schön unhöfliches Volk. Ein kurzer Gruß war doch wirklich nicht zu viel verlangt, oder?

„Na gut, aber bleib in der Nähe vom Kinderzug“, mahnte Pal. „Wir sind bald zurück.“ Und dann war auch er verschwunden. Einen Moment hörte ich ihn noch im Unterholz rascheln, dann war er weg. Zurück blieb ich allein und verlassen, in einem großen, fremden Wald, der plötzlich voll von Geräuschen war. Vögel im Geäst, etwas raschelte zwischen den Sträuchern, irgendwo stieß ein Tier einen Schrei aus, den ich noch nie gehört hatte. Es knackte und knirschte.

Schluck. Die konnten mich doch nicht einfach so im Nirgendwo zurücklassen. Was, wenn sie nicht wieder kamen, wenn sie mich ausgesetzt hatten?

Wie eine unliebsame Katze!

Ich verscheuchte den Gedanken und ermahnte mich mit diesem Unsinn aufzuhören: Pal hatte doch gesagt, dass sie bald zurück waren und ihm glaubte ich. Wäre das von Veith gekommen, wüsste ich jetzt schon, dass ich verloren war, aber auf Pals Wort konnte ich mich verlassen. Hoffte ich.

Mein Magen grummelte wieder sehr fordernd. Okay, anstatt hier rumzusitzen und mir Horrorszenarien auszumalen, die von einer spurlos verschwundenen Talita handelten, sollte ich mich lieber auf die Socken machen und zusehen, dass ich wirklich etwas Essbares fand. 

Die Geräusche des Waldes waren die einzigen Begleiter auf meinem Weg. Ein zwei Mal fühlte ich mich beobachtet und redete mir gut zu, dass es bloß die Tiere in diesem Wald waren. Um mich abzulenken, pfiff ich ein Liedchen, das mir wenigstens die Illusion gab, nicht ganz allein herumzuirren.

Ich war schon ein Stück gelaufen, als ich an einem Busch kam, der kleine, schwarze Früchte trug. Sie erinnerten entfernt an Himbeeren, doch ich hatte keine Ahnung, ob sie essbar waren. Kurz war ich versucht meinem knurrenden Magen Folge zu leisten und es einfach auszuprobieren, besann mich dann aber eines Besseren und schaute ob ich noch etwas anderes fand. Nachher vergiftete ich mich noch selber. Veith würde das vielleicht gefallen, aber ich hing an meinem Leben. Nein danke, da hungerte ich lieber ein wenig.

Als dann ein Strauch mit wohlbekannten, roten Säckchen vor mir auftauchte, konnte ich mein Glück kaum fassen: Rothoden. Pal hatte recht, sie sahen wirklich wie ihr männliches Gegenstück aus. Eine weiße Blüte, unter der immer zwei Säckchen hingen – obwohl ich hier und da auch ein, oder drei nebeneinander entdeckte. Die Dinger hatten ihren Namen verdient.

Ich wollte mir eines abzupfen, aber das gestaltete sich schwieriger, als gedacht. Schon beim kleinsten Druck zerplatzten sie zwischen meinen Fingern. Zehn Minuten später hatte ich nur das im Magen, was ich von meiner Hand abgelutscht hatte und war immer noch hungrig, Mist. Das musste doch irgendwie zu machen sein.

Kurzentschlossen brach ich einen Zweig mit zwei Früchten ab und zupfte sie mit dem Mund vom Ast. Das sah vielleicht albern aus, aber so bekam ich endlich etwas in den Magen.

Hmm … das Zeug war einfach der Hammer. Andere würden für sowas sicher einen Haufen Geld zum Fenster rauswerfen, aber ich konnte mich direkt an der Quelle gratis bedienen. Was war ich doch für ein Glückskind. Naja, zumindest in diesem Moment und auch nur, wenn ich die letzten beiden Tage außer Acht ließ. Seufz.

Irgendwo in den Bäumen schnatterte ein Eichhörnchen. Nach ein wenig suchen fand ich es auch. Es saß auf einem tiefhängenden Ast und knabberte an einer Eichel. Aber was war das denn? Es war nicht rötlich, oder gräulich, es war weiß mit einer braunen Zeichnung. Und sein buschiger Schwanz war ganz und gar nicht buschig. Er war lang, sehr lang und dünn. An seinem Ende hatte er einen schwarzen Haarpinsel, wie auch an den Ohren. Und dennoch, es war ein Eichhörnchen, oder zumindest ein Artverwandter. Da war ich mir sicher. Was sollte es auch sonst sein?

Dann hatte ich mich also auch mit dem seltsamen Vogel heute Morgen nicht getäuscht. Hier gab es Tiergattungen, die mir völlig unbekannt waren. Oder halt einfach nur anderes aussahen, als das was ich kannte. 

Ich machte zwei vorsichtige Schritte zur Seite, um es besser sehen zu können, umrundete den Strauch, vorbei an dem Baum, auf dem es saß, versuchte dabei ganz leise zu sein, damit ich es nicht verschreckte und … fiel mit der Nase voran in den Dreck. Zuvor entfuhr mir noch ein überraschter Schrei.

Soviel dazu, leise und vorsichtig zu sein. Ich sah nach oben, aber das Eichhörnchen war natürlich verschwunden. Seine Eichel hatte es verloren, sie lag am Fuß des Baumes. „Schöne Scheiße“, fluchte ich und rappelte mich zurück auf die Beine. Wald: 1, Talita: 0.

Fluchend wie ein Rohrspatz klopfte ich den Dreck von meinen Klamotten, schaute mich dabei danach um, worüber ich gestolpert war und, … gefror sofort zur Salzsäule, als ich es entdeckte.

Vor mir auf dem Waldboden, bedeckt mit einer Schicht Laub, lag ein Mann. Ein toter Mann.

Ich musste nicht näher rangehen, um mich von seinem Zustand zu überzeugen, der war eindeutig. Die gräuliche Hautfarbe, leblose Augen, eingefallene Wangen. Und wenn mich das nicht überzeugt hätte, dann doch wenigstens die Fleischwunden an Bauch und Kehle, die ich bei meinem Sturz über ihn von den Blättern befreit hatte.

Ich wimmerte, wich vor dem Anblick zurück, achtete nicht auf den Boden und übersah die Wurzel. Mit einem Aufprall, der mir die Zähne aufeinander schlug, landete ich auf dem Hosenboden. Aber es war gar keine Wurzel, über die ich gestürzt war, sondern ein Arm, der zu einem zweiten Mann gehörte. Auch tot. Zwei tote Männer, zwei Leichen, begraben unter einer Schicht Laub, die sie  nur notdürftig verdeckten. Ich war auf einem verdammten Friedhof gelandet!

Ein Wimmern entkam meinen Lippen. Der zweite Mann sah nicht viel besser aus als der erste und ich saß praktisch auf ihm drauf.

Von dem Anblick und dem Geruch wurde mir so schlecht, dass die Beeren in meinem Magen sich einen sehr unkonventionellen Weg nach draußen suchten. Ich schaffte es gerade noch so mich zur Seite zu beugen, da übergab ich mich auch schon, würgte und keuchte. Ich hatte zwei verdammte Leichen gefunden, war auf sie raufgefallen!

Plötzlich hörte ich ein Geräusch, ein Knacken im Unterholz. War da jemand? Ich schluckte die Galle herunter, versuchte meine Atmung zu beruhigen und suchte mit meinen Augen die Umgebung ab. „Pal?“ Alles blieb ruhig, aber ich hatte das Gefühl nicht länger allein zu sein. Da war jemand, oder etwas. Ich fühlte es, aber ich sah nichts. Es raschelte zu meiner Linken, ein brechender Zweig irgendwo vor mir. Mein Atem beschleunigte sich wieder, mein Herz spielte Marathon, jagte mir Adrenalin durch die Adern und meine Augen waren überall, aber ich konnte nichts entdecken. Da war niemand und doch war ich nicht allein, da war ich mir hundert prozentig sicher. Ich fühlte es einfach.

„Geh weg, oder komm raus!“, rief ich auf gut Glück. Das hier machte mir eine scheiß Angst. Aber da kam niemand, ich blieb allein. Wo waren nur die anderen, wo war Pal?

Und dann hörte ich es vor mir, ganz deutlich. Ein Knurren, wie ich es schon einmal gehört hatte, in dem Moment, als Fang über mich hergefallen war, als er mich töten wollte. Mich hielt nichts mehr. Hastig rutschte ich rückwärts, kam irgendwie auf die Beine und rannte tiefer in den Wald. Weg, ich wollte einfach nur weg.

Ein Regentropfen fiel wie eine Träne auf die Stelle, auf der ich eben noch gesessen hatte. Es folgte ein zweiter und eine dritter.

Die Vorboten der Nacht.

 

°°°

 

Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte den nachtschwarzen Wald für einen Moment in gleißendes Licht. Ich drückte mich näher an die nasse Rinde, obwohl das eigentlich gar nicht möglich war. Mein Herz schlug wie wild, ich zitterte am ganzen Körper und das lag nicht nur an der Kälte, die von außen bis auf meine Knochen drang. Schon seit Stunden kauerte ich hier in diesem ausgehöhlten Baumstumpf, allein und verlassen und zerging in meiner Angst. Ich wünschte mich weit weg, wünschte nicht länger allein zu sein.  

Donnergrollen, wie das tiefe Knurren eines Wolfes. Wieder ein Blitz, der den flutartigen Regen dort draußen wie tausende kleiner Diamanten für einen kurzen Moment glitzern ließ. Das Wasser sammelte sich um mich in der kleinen Höhle, in der ich nach meinem Sturz Schutz versteckt hatte. Ich saß in der handbreiten Pfütze, wagte es aber nicht mein Versteck zu verlassen. Da draußen war etwas und lauerte auf mich. Ich hatte es gespürt, es hatte mich beobachtet, den ganzen Weg durch den Wald hatte ich es immer wieder gehört, aber nie etwas gesehen.

Ich schlang die Arme fester um meine Beine, vergrub mein Kopf dazwischen und hoffte, dass dieses Etwas mich nicht finden würde. Es hatte zwei Männer getötet und ich wollte nicht die nächste sein. Ich war praktisch erst drei Tage alt und wollte nicht, dass die hier endeten.

Unter mir sammelte sich immer mehr Regenwasser, flutete die Kuhle, durchweichte mich, aber ich wollte da nicht raus. Warum half mir denn niemand? Wo waren alle? Wo war Pal?

Draußen knackte etwas. Irgendwo stieß ein Tier einen Schrei aus und ich wimmerte. Die Angst hatte sich in mir festgesetzt. Ich hatte keine Tränen, nur Angst, so fürchterliche Angst. Warum hatte ich hier landen müssen? Warum passierte mir das? Was hatte ich nur verbrochen, um das zu verdienen?

Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Welt nieder, überspülte alles und jeden, der seinen Weg kreuzte und schluckte alle Geräusche der Nacht. Nur zwei Wesen waren hier, ich und die Kreatur, die diese Männer zerfleischt hatte.

Oh Gott, ich wollte so nicht enden. Ich musste doch noch herausfinden wer ich war. Ich konnte jetzt nicht sterben, das würde ich mir nie verzeihen.

Irgendwo fern im Regen hörte ich eine Stimme. Kam Es jetzt um mich zu holen? Ich versuchte mit den Schatten in der kleinen Baumhöhle zu verschmelzen, hielt meinen Atem flach, aber allein mein Herzschlag war so laut, dass er in meinen Ohren dröhnte. Es musste ihn einfach hören, er war so laut.

Da draußen war jemand, ich fühlte es, ich war nicht länger allein. Mein Atem beschleunigte sich, ohne dass ich es wollte. Ich kauerte mich noch kleiner zusammen, vergrub den Kopf wiederzwischen den Beinen und betete darum, dass Es mich nicht finden würde.

Draußen waren Geräusche, so viel deutlicher als der Regen, der unaufhaltsam vom Himmel niederprasselte. Mein Atem wurde hektischer. Es war ganz nah, Es hatte mich gefunden. Ich wimmerte leise. Ich wusste es war ein Fehler, aber ich konnte es einfach nicht verhindern. Mein ganzer Körper zitterte vor Angst, machte es unmöglich leise zu sein.

Wieder war da diese Stimme, viel näher dieses Mal, zu nahe. „Talita?“

Es hatte mich! Es kam um mich zu holen, weil ich etwas gesehen hatte, was in den Tiefen des Waldes verborgen bleiben sollte.

„Talita, komm da raus.“

Nein. Nein, ich konnte da nicht raus. Dort draußen würde es mich finden.

„Komm raus. Du brauchst keine Angst haben, alles ist in Ordnung.“

Nein, nichts war in Ordnung.

„Talita?“

Nichts würde wieder in Ordnung kommen.

„Sieh mich an. Ich bin es, Veith. Sieh mich an. Talita, hörst du?“

Das war nicht Veith. Veith sprach niemals so sanft mit mir. Er hasste mich allein für meine Existenz, dafür dass ich in seinem Lager aufgetaucht war, dafür, dass ich dort bleiben wollte, weil ich mich dort trotz aller Gefahren wohl fühlte.

„Wenn du nicht allein rauskommst dann hole ich dich.“

Das klang schon mehr nach ihm. Aber vielleicht war das nur ein Trick. Es gab nur einen Weg, um mir sicher sein zu könne, ich musste nachsehen. Aber ich wollte nicht. Wer wusste schon, was da vor mir stand?

„Talita, sieh mich an.“

Ich wusste nicht woher ich die Kraft dazu nahm, doch ich schaffte es irgendwie meinen Kopf aus den Untiefen meiner Arme zu befreien. Alles war in Schatten getaucht. Nur undeutlich konnte ich einen Schemen ausmachen, obwohl er direkt vor mir war. Und dann explodierte am Himmel ein gleißender Blitz.

Gelbe Augen starten mich an. Eiskalte Augen.

Ich wimmerte und rutschte so weit wie möglich von diesen Augen weg. Es hatte mich. Es würde mich töten, weil ich die Toten gesehen hatte!

„Talita.“ Vor meinen Augen verformte sich die Silhouette, bekam menschliche Züge und dann wurde mir eine Hand entgegengestreckt. „Hab keine Angst.“

Direkt über uns grollte der Donner und einen Moment später wurde das Gesicht vor mir von einem Blitz erhellt. Veith, das war wirklich Veith.

„Komm jetzt.“

Ich sah an ihm vorbei nach draußen in die stürmische Finsternis. „Ich kann nicht“, flüsterte ich. „Es ist da draußen, es wartet auf mich.“

„Da draußen ist nichts.“ Er hielt mir die Hand nachdrücklicher hin. „Also komm da jetzt raus. Du wirst noch krank.“

Als wenn ihn das interessieren würde.

„Vertrau mir, es ist sicher.“

Ja klar doch, als wenn ich ausgerechnet Veith vertrauen würde. Der würde mich doch glatt rauslocken, um mich diesem Es auszuliefern, nur damit er mich los war.

„Bitte.“

Ich wusste nicht was es war, aber nach gefühlten Stunden löste ich sehr zögernd eine Hand von meinen Beinen und legte sie in seine. Im Gegensatz zu meiner fühlte seine sich warm, ja fast heiß an und doch so völlig fremd. Aber sie gab mir Halt. Ich war nicht länger allein.

„Komm jetzt.“ Er zog leicht, als ich mich nicht regte, holte mich aus der kleinen Baumhöhle heraus, in der ich kaum geduckt kriechen konnte. Das Wasser, das sich unter mir gesammelt hatte, plätscherte bei meiner Bewegung. Mein Atem wurde hektischer und mein Herz schlug noch wilder, je weiter Veith mich zog.

Ich spürte den flutartigen Regen als erstes in meinem Gesicht, ließ meinen Blick panisch über den Wald schweifen, in die Schatten der Bäume, aber es war zu dunkel, ich konnte nichts sehen. Hinter jedem Baum konnte Es lauern und ich würde es nicht merken, bevor Es sich auf mich gestürzt hatte.

„Sieh mich an, Talita, es ist …“

„Talita!“ Pal.

Irgendwo links von mir kam etwas herangestürmt und einen Moment später wurde ich in eine vertraute, warme Umarmung gezogen. Ich war so glücklich ihn zu sehen, seinen Geruch einzuatmen, dass ich die Tatsache, dass Pal nichts am Leib trug, völlig außer Acht ließ, oder das seine Nähe in mir Beklemmungen auslöste. Ich war nicht mehr allein, er hatte mich gefunden, er war endlich hier! „Geh nicht wieder weg, bitte, bleib bei mir, lass mich nicht allein, nicht wieder.“ Ich krallte meine Finger in seine Arme, würde es zu verhindern wissen, dass er mich ein zweites Mal einsam zurückließ.

„Schhh, ganz ruhig.“ Seine Hand strich beruhigend über meinen Rücken, fuhr in meinen Nacken und drücke mich an sich, aber mein Zittern wollte nicht nachlassen. Ich war so froh ihn zu sehen, so froh. „Ich bin jetzt da, alles wird gut.“ Er drückte mich etwas fester an seinen Körper. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, ist dir das eigentlich klar?“

„Da waren zwei Männer, sie waren tot.“ Meine Zähne klapperten, aber das hatte nichts mit der Kälte um mich herum zu tun. Ich hatte einen Schock, wurde mir klar.

„Ich weiß. Wir haben sie gefunden, als wir dich gesucht haben, aber der starke Regen hat deine Fährte verwischt.“

„Ich bin weggerannt. Da war was, bei den Männern, ich war da nicht allein.“ Ich vergrub mein Gesicht fest an seiner Brust. „Es hat mich beobachtet, ich habe es gefühlt.“

Pal spannte sich leicht an, aber seine Stimme blieb weich. „Wahrscheinlich war es nur ein Tier.“

Überzeugend hörte er sich nicht gerade an.

„Ich bin gerannt und einen Abhang heruntergefallen. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich hatte Angst, ich musste mich verstecken.“

„Jetzt sind wir ja hier.“ Er drückte mich noch etwas fester an sich. „Du brauchst keine Angst mehr haben, alles kommt in Ordnung.“

Oh wie gern ich ihm glauben wollte, aber irgendwie haben mir die letzten drei Tage gezeigt, dass es keine Wunder gab. Ich drehte mein Gesicht ein wenig und sah Veith, der ungerührt im Regen stand und mich mit einem Ausdruck bedachte, den ich nicht deuten konnte. Nur einen Moment kreuzten sich unsere Blicke, dann legte er den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf zum Mond.

Unter diesem Geräusch zuckte ich zusammen und klammerte mich noch fester an Pal.

„Schhh“, machte der. „Veith hat nur den anderen Bescheid gesagt, dass wir dich gefunden haben.“ Er strich mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht, streichelte kurz über meine Wange. Rudelprivilegien, ging es mir durch den Kopf. Er versuchte durch Berührungen zu trösten.

„Kommt jetzt“, kam es unfreundlich von Veith. „Ich hab keinen Bock mehr mich aufweichen zu lassen.“ Und schon stapfte er los.

Pal warf ihm einen bösen Blick hinterher und strich mir dann noch ein letztes Mal über die Wange. „Er hat recht, wir müssen raus aus dem Regen.“

Das hieß dann wohl so viel wie, dass wir heute nicht mehr nach Sternheim gehen würden. War heute überhaupt noch heute, oder schon morgen? Ich wusste es nicht.

„Komm“, sagte er und führte mich durch den dunklen Wald.

Meine Augen sondierten die Bäume, lauerten darauf, etwas Verdächtiges zu finden, aber alles blieb ruhig. Ich klammerte mich fester an Pals Arm, damit ich nicht noch mal verloren gehen konnte, verschollen in diesen Untiefen, auf nimmer Wiedersehen verschwunden. Kurz glitten meine Gedanken zu der vermissten Isla. Hatte sie vielleicht auch zu viel gesehen?

 

°°°°°

Tag 4

Eng an Pal gekuschelt, zitterte ich eng in einer Decke eingewickelt vor dem Lagerfeuer, das dank Veith die kleine Felsenhöhle erwärmte. Wir hatten hier Schutz vor dem sintflutartigem Regen gesucht und ich war gezwungen worden, meine nassen Klamotten auszuziehen. Okay, das hörte sich jetzt schlimmer an, als es gewesen war. Pal hatte mir die Decke aus dem Kinderzug gegeben – der was-weiß-ich-wie hier gelandet war – und hatte dann mit Veith kurz im Regen vor der Höhle gewartet, bis ich so weit war.

Nur diese wenigen Meter Trennung hatten mir eine solche scheiß Angst gemacht, dass ich mich nicht nur schnell aus den Klamotten geschält hatte, sondern mich praktisch raus beamte. Ich hatte die Decke noch nicht fertig um mich geschlungen gehabt, als ich schon lautstark nach ihm rief. Ich wollte nicht mehr allein sein. Die vergangenen Stunden hatten sich so stark in mir festgesetzt, dass allein der Gedanke daran mein Herz schneller schlagen ließ.

Pal hatte sich sitzend mit dem Rücken an die Wand gelehnt und zog mich ein wenig fester an sich. Das Zittern wollte einfach nicht aufhören und ich wusste nicht, ob das an der tiefsitzenden Kälte lag, oder an dem, was geschehen war.

Draußen tobte das Gewitter in der Dunkelheit, doch lange konnte es bis zum Sonnenaufgang nicht mehr sein. Ich war müde und erschöpft, wollte einfach nur schlafen, aber das ging nicht. Sobald ich die Augen schloss war ich zurück bei den toten Männern, sah ihre zerstörten Körper, hörte die Geräusche, das Knurren. Es war egal was Pal sagte, ich war mir sicher, dass dort draußen etwas lauerte. Ich war nicht allein gewesen, das konnte ich mir einfach nicht eingebildet haben. Dafür war es zu real gewesen.

Sanft fuhren seine Hände über meinen Rücken, immer hoch und runter und ich fühlte mich unglaublich geborgen. Bei wem hatte ich mir früher diesen Schutz gesucht? Eigentlich war es egal, jetzt war Pal hier und nur das zählte.

Veith saß auf der anderen Seite des Feuers und hatte den Blick in die knisternden Flammen gesenkt. Hinter ihm lag der Zugang zur Höhle, der durch die dunkeln Schlieren des Regens nichts von dort draußen preisgab. Wir waren hier in unserer eigenen kleinen Welt. Zwischen seinen Augen stand wieder diese kleine Falte, so, als dachte er angestrengt über etwas nach, dessen Lösung einfach nicht in greifbarer Nähe war. „Wir müssen Prisca von den toten Einzelläufern berichten“, sagte er irgendwann ich die Stille hinein.

Pal nickte. Ich sah es nicht, spürte nur, wie er sich an meinem Körper bewegte. „Aber das geht erst in Sternheim, wir haben kein Vox dabei.“

Die Reibung auf meinem Rücken machte mich schläfrig, aber wenn ich nur daran dachte die Augen zu schließen, malte sich meine FantasieUngeheuer aus, die in der Dunkelheit auf ich lauerten. Ich wollte nicht schlafen, noch nicht, denn dass ich es irgendwann tun musste, war klar.

„Sie wird sich wundern, warum wir uns heute nicht mehr gemeldet haben“, überlegte Pal laut.

Veith gab nur unbestimmtes Brummen von sich, das sowohl „Ja“ als auch „Nein“ bedeuten konnte. Vielleicht war es aber auch „nerv mich nicht“, denn so hätte er wohl bei mir reagiert.

„Anwar von Sternheim können wir auch gleich informieren“, fügte Pal noch hinzu.

„Der wird begeistert sein.“

Der Rotschopf zuckte nur mit den Schultern. „Er ist Wesensmeister, er muss sich darum kümmern.“

„Verfluchte Magier.“

„Ja, halten sich für etwas Besseres, dabei stehen sie ganz unten in der Nahrungskette.“

„Überhebliches Volk.“ Aus Veiths Stimme sprach die Verachtung, die er für diese Rasse empfand. Was da jetzt schon wieder los war, wusste ich nicht, aber es interessierte mich auch nicht. Mir war nur wichtig, dass ich nicht mehr allein war.

„Und trotzdem sollten wir ihm den Tod der beiden Einzelläufer mitteilen.“

„Kennt ihr die beiden Männer?“, fragte ich leise und wunderte mich selber darüber. Wahrscheinlich war das von meinem Unterbewusstsein einfach nur eine Taktik, mich am Einschlafen zu hindern.

Langsam hob Veit den Kopf und sah mir direkt in die Augen und zum ersten Mal seit ich ihn kannte, lag dort keine Verachtung für mich, nur etwas Nachdenkliches. „Einen der Männer kannte ich, Drain. Er war ein Einzelgänger, der manchmal am Rand unseres Territoriums streunerte, aber der Andere ist mir fremd.“

„Er wird auch ein Einzelgänger gewesen sein.“ Pal legte sein Kinn auf meinen Kopf. Ich konnte sein Atem in meinem Haar spüren und bekam davon eine Gänsehaut.

„Einzelgänger?“ Was war das nun wieder?

„Das sind Lykaner, die im Rudel nicht zurechtkommen“, erklärte mir zu meiner Überraschung Veith. „Sie bleiben lieber für sich allein.“

Allein. Ein Unbekannter, tot, irgendwo dort draußen. Kein Namen, keine Familie, niemand da der sich für ihn interessiert. Das hätte ich sein können, schoss es mir durch den Kopf und das Zittern begann von neuem. Ich schob mich dichter an Pal. Am liebsten wäre ich unter seine Haut gekrochen, um mich da zu verstecken. „Wer hat das den beiden nur angetan?“

Veith zuckte die Schultern. „Sie selbst.“

Ich runzelte die Stirn. „Ich versteh nicht.“

„Einzelläufer können selten mit andern“, erzählte Pal. „Deswegen nennen wir sie ja Einzelläufer. Die beiden werden aufeinandergestoßen sein und sind wegen irgendwas in Streit geraten. Sie haben sich das gegenseitig angetan.“

Wollte er mir damit etwa verklickern, das dort draußen kein großes, böses Ungeheuer lauerte und ich mich voll zum Affen gemacht hatte? „Nein“, entschied ich. „Da draußen war etwas, ich weiß es.“ Ich konnte es spüren, die Blicke fühlen. Ich hatte es gehört. Auch wenn ich es nicht gesehen hatte, ich war nicht allein gewesen. „Ihr wart nicht dabei, aber ich. Da war noch jemand.“

Für den Augenblick kehrte Ruhe ein und nur das Knistern und Knacken des Lagerfeuers war zu hören.

„Du musst dich irren“, sagte Pal nach einer Weile leise. Er wollte es nicht glauben, konnte nicht glauben, dass schon wieder jemand unbemerkt in ihr Territorium eingedrungen war.

„Ich irre mich nicht“, sagte ich und hielt auch Veits Blick stand, den er mir über dem Lagerfeuer zuwarf. „Da hat jemand gelauert. Er hat mich angeknurrt. Deswegen bin ich ja weggelaufen.“

Die Falte zwischen seinen Augen vertiefte sich. „Noch ein Einzelgänger?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich, obwohl ich mir sicher war, dass die Frage nicht mir galt. „Ich weiß nur, dass da noch jemand war.“

Ein Seufzen kam von Pal. „Wir müssen das dem Wesensmeister sagen.“

Veith nickte. „Er wir nicht begeistert sein.“

„Hat uns das je gestört?“

„Was ist ein Wesensmeister?“, wollte ich wissen. Das hatte für mich irgendwie ein Klang nach Sklaventreiber.

„Der oberste Magier in Sternheim“, erklärte Pal. „Er regiert die Stadt sozusagen.“

„Wie ein Bürgermeister?“, fragte ich.

„Das Wort kenne ich nicht.“

Natürlich nicht. Diese Verständigungsschwierigkeiten gingen mir allmählich auf den Keks. Obwohl sie sich ja noch in Grenzen hielten. Zumindest sprachen sie die gleiche Sprache wie ich. Irgendwie war das nur ein kleiner Trost für mich.

Veith schob das Feuer mit einem breiten Ast ein wenig zusammen. Es loderte noch mal auf und gab eine herrliche Wärme ab, die es aber leider nicht schaffte, die tiefsitzende Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Es war ganz klar warum. Einfach weil es nicht am Wetter lag. Das hier hatte ganz andere Ursachen und ich konnte nur hoffen, dass sie mich nicht in meine Träume verfolgten.  

„Anwar von Sternheim“, sagte er. „Der Wesensmeister von Sternheim. Dort bringen wir dich hin.“

„Zum Bürgermeister?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wer könnte dir besser helfen? Vorausgesetzt deine Geschichte stimmt. Andernfalls …“ Er ließ den Satz offen und sah mich herausfordernd an.

Ich öffnete den Mund, um ihm eine scharfe Erwiderung an den Kopf zu werfen, á la er konnte sich seine Meinung sonst wo hinstecken, aber heraus kam nur ein Wimmern. Hinter ihm, in den Schatten des regenverschleierten Ausgangs, hatte ich eine Bewegung wahrgenommen. Da war jemand! Draußen vor der Höhle war jemand und kam auf uns zu. Es hatte uns gefunden! Ich hatte mich also nicht getäuscht, da war noch jemand gewesen!

Mein Herz begann wie wild in der Brust zu donnern und mein Atem kam unkontrolliert schnell. Es war hier, Es hatte mich gefunden und Es würde mich holen!

„Ganz ruhig“, raunte Pal, als ich noch näher an ihn kroch, nicht fähig auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen. Meine Angst war mit einem Schlag zurück und ich konnte nichts tun, als zu zittern und mit vor Furcht geweiteten Augen die Bewegung verfolgen, die unaufhaltsam auf uns zukam. Sahen sie das nicht? Ich bildete mir das doch nicht ein!

„Das sind nur …“ begann Veith.

Mit einem Kreischen unterbrach ich ihn. Da waren glühende Augen. Ich wollte aufspringen, wollte mich verstecken, aber Pal hielt mich fest.

„Hey, keine Angst, das sind nur … uff.“

Ich hatte ihn mit dem Elenbogen im Magen erwischt, konnte mich so endlich frei machen und fuhr in die Höhe.

„Talita“, versuchte er mich zu beruhigen und griff nach mir, aber ich wollte nicht. Wie konnten die nur so ruhig sein, wenn wir kurz davor standen, den Friedhof im Wald zu ergänzen. Ich versteckte mich halb hinter Pal, sah mit großen, ängstlichen Augen, wie aus dem einen Schemen zwei wurden und dann zwei klitschnasse Tiere die Höhle betraten. Ein Wolf und eine Löwin.

„Alles ist in Ordnung“, redete Pal auf  mich ein, während ich meine Finger in seinen Arm bohrte.

Mein Hirn brauchte ein paar Sekunden, um das zu verarbeiten, was es da sah. Zwei Tiere, ich kannte sie, ich hatte sie gesehen, sie gehörten zu uns.

„Das sind nur Fang und Domina, du brauchst keine Angst haben.“

Fang und Domina. Sie gehörten zum Rudel. Das waren keine Ungeheuer, sie wollten mir nichts tun – zumindest nicht im Moment, hoffte ich.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

Ich nickte ganz leicht, zu mehr war ich einfach nicht fähig.

Domina schüttelte ihr Fell aus, machte Veith damit ganz nass und bekam dafür einen bösen Blick. „Ich hasse Wasser, viel zu nass und …“

„Was ist denn hier los?“, fragte Fang, den Blick auf mich gerichtet. Das ließ mich gleich noch tiefer hinter Pal in Deckung gehen.

„Ihr habt sie erschreckt“, kam es von dem Rothaarigen. „Der Tag war ein wenig zu viel für sie.“

„Weichei“, murmelte Domina in meine Richtung.

„Ich bin kein Weichei!“, schoss ich sofort zurück. Keine Ahnung woher ich den Mut nahm, ihr die Stirn zu bieten. Vielleicht war es das Adrenalin in meinem Blut, vielleicht war ich aber auch einfach so müde, dass ich nicht mehr klar denken konnte, denn mal ehrlich, einen Löwen herauszufordern war nicht gerade das beste Rezept für eine lange und gesunde Zukunft. „Wenigstens heule ich nicht herum, nur weil ich ein wenig Wasser abbekomme!“

„Ich heule auch nicht rum! Davon mal abgesehen, dass ich nur wegen dir draußen in diesem Sauwetter rumrennen musste!“, fauchte sie zurück.

„Ich hab dich nicht darum gebeten!“

„Hört auf damit“, unterbrach Fang, als Domina die Schnauze ein weiteres Mal aufmachen wollte und legte sich neben Veith an das wärmende Feuer.

„Sie hat angefangen!“ Okay, das klang selbst in meinen Ohren wie ein kleines, trotziges Kind. Aber das musste an dieser Stelle einfach mal klargestellt werden.

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“

„Mädchen“, fuhr Fang dazwischen, wurde aber rigoros ignoriert.

„Ach ja? Ich würde dich mal gerne sehen, wenn du auf eine Leiche fällst und im Gebüsch etwas lauert, dass dich auffressen will.“

„Ich würde jedenfalls nicht wie ein Weichei davonlaufen.“

„Ja, du hast ja auch Zähne und Krallen, mit denen du dich verteidigen kannst. Ich hab eben nur meine Beine und die weiß ich zu benutzen!“ Damit drehte ich mich um und wollte einen lässigen Abgang hinlegen, schade nur, dass hinter mir die Höhlenwand war und auf einen Regenspaziergang hatte ich auch nicht wirklich große Lust. Na ganz große Klasse. Jetzt war ich nicht nur ein Hasenfuß, nein, jetzt machte ich mich auch noch selber lächerlich.

„Komm“, sagte Pal und erhob sich auch von Boden, „Lass uns schlafen gehen.“

Ja, das war wohl das Beste, was ich tun konnte. Wenigstens das sollte ich heute noch zustande bringen.

Er dirigierte mich zum Kinderzug und ich ließ es kraftlos zu. Wir betten uns beide auf dieser Gelmatratze und ich genoss es, dass er von hinten die Arme um mich schlang und mich an sich zog. Wollte ich gestern noch – oder vorgestern? – dass er mich nicht anfasste, so wollte ich jetzt nicht, dass er verschwand. Ich fühlte mich in seiner Wärme sicher und geborgen. Pal würde auf mich aufpassen, da war ich mir sicher und sei es nur, weil Prisca es von ihm verlangt hatte. Bei ihm konnte mir nichts passieren.

Kurz bevor ich einschlief kreuzte sich mein Blick noch einmal mit dem von Veith. Er erzählte den anderen leise was geschehen war und sah mich dabei so seltsam an. Dieser Blick gefiel mir nicht, weckte Argwohn in mir. Ich konnte ihn nicht lesen, wusste nie, was er gerade dachte und das ärgerte mich. Um mich nicht mehr damit befassen zu müssen, drehte ich ihm den Rücken zu und kuschelte mein Gesicht mit der kalten Nase an Pal Brust. So glitt ich in die Welt der Träume.

Entgegen meiner Erwartung, im Schlaf von blutrünstigen Monstern heimgesucht zu werden, träumte ich von einem lachenden Kerl mit schwarzen Haaren und grünen Augen. Sein Gesicht wurde von unzähligen Sommersprossen geziert und er nannte mich immer Tal.

„Tal!“, rief er, „Tal.“ Er stand auf einem Steg, nur in einer grünen Badebermudas, was mich an einen Frosch denken ließ und grinste verschmitzt. Gestern war er siebzehn geworden. Er hatte jetzt auch eine Freundin, aber die mochte ich nicht, weil er jetzt viel weniger Zeit hatte, um mit mir zu spielen. „Komm schon, Tal, oder bist du neuerdings etwa wasserscheu?“

Es war ein wunderschöner warmer Tag. Die Sonne glitzerte auf dem ruhigen See. Lange konnten wir nicht mehr hier bleiben und spielen. Bald schon würde Mama kommen und uns zum Essen ins Haus holen. Es gab Zucchiniauflauf. Den mochte ich nicht, aber Papa sagte immer, dass Gemüse wichtig sei, um groß und stark zu werden. Und ich wollte groß und stark werden, damit Lucas in der Schule mich nicht mehr ärgern konnte. Die Großen ärgerte er nie, nur mir zog er ständig an den Haaren, wenn Frau Fabian nicht hinguckte. Das würde er nicht mehr tun, wenn ich immer artig mein Gemüse aß.

„Worüber denkst du schon wieder nach, Tal? Zieh deinen Kopf aus den Wolken und komm endlich.“

Mein Herz ging mir auf, als er lachend in den See sprang. Tausend kleiner Tropfen flogen in die Luft und glitzerten so schön.

Ich wartete, dass er wieder hochkam und mich anlächelte, aber er tauchte nicht mehr auf.

„Taylor?“, rief ich leicht nervös. Wollte er mich ärgern? Manchmal machte er das, aber das mochte ich nicht, das war gemein. „Lass das, das ist nicht witzig.“

Die Wasseroberfläche blieb ruhig. Ein Stück weiter schwamm eine Entenfamilie und irgendwo im Schliff quakten Frösche, aber von Taylor sah ich nichts.

„Hör auf damit, oder ich sage es Mama!“ Ängstlich klang meine Stimme, kindlich. „Taylor?“

Ich schlug die Augen auf, mit einem Namen auf den Lippen. „Taylor“, flüsterte ich und wusste nicht, was er zu bedeuten hatte. Was hatte ich nur geträumt? Und warum tat mein Herz so weh, als wollte es in der Brust in tausend Scherben zerspringen?

Ich lag leicht auf Pal drauf, der noch immer selig schlief. Kopf und Hand auf seiner Brust gebettet, konnte ich durch den Höhleneingang nach draußen sehen. Der Regen war verschwunden, die Sonne stand bereits hell am Himmel und wurde nur von den dichten Kronen der Bäume daran gehindert, ihre ganze Kraft bis auf den Boden zu senden.

Taylor. Warum nur kam mir dieser Name so bekannt vor? Leise wiederholte ich ihn, sprach ihn immer und immer wieder aus, aber er blieb ein Geheimnis, das ich nicht ergründen konnte. Trotzdem, er bedeutete mir etwas, da war ich mir sicher. Ich fühlte es einfach. Jetzt war nur die Frage was. Gehörte er vielleicht zu meinem Leben vor dem Dachboden? Wenn ja, warum erinnerte ich mich ausgerechnet an ihn, aber nicht daran, was er für mich für einen Wert hatte?

Ein Bild blitze vor meinem inneren Auge auf, ein ruhiger See mit einem Steg. Aber genauso schnell wie es gekommen war, verschwand es auch wieder und ich bekam es nicht mehr richtig zu fassen. Was hatte das zu bedeuten?

Ich spürte, wie ich beobachtet wurde und wandte meinen Blick hastig nach draußen. Doch da war alles ruhig, niemand zu sehen, kein Es. Dort kam es auch nicht, sondern von dem Haufen aus Fellen und Leibern, die sich zu einem dichten Knäuel auf der anderen Seite der Höhle zusammengerollt hatten. Veith war auch schon wach und hatte diese unergründlichen Augen auf mich gerichtet, die mich gestern in diesen hohlen Baum gefunden hatten.

„Danke“, sagte ich und auf seinen verwirrten Ausdruck hin fügte ich hinzu: „Dafür das du  mich gestern gefunden hast.“

Da ging ihm ein Licht auf. Ich konnte geradezu sehen, wie die Glühbirne über seinen Kopf aufleuchtete und ihr Licht die ganze Höhle erhellte. „Vergiss es einfach“, brummte er.

„Nein, ich will nichts mehr vergessen.“ Ich hatte nur wenige Erinnerungen und die würde ich so schnell nicht wieder hergeben. „Nie mehr.“ Das hatte ich für ein Leben schon zur Genüge getan.

 

°°°

 

Lange dauerte es nicht mehr bis zum Aufbruch. Pal wurde von meinen Worten wach und weckte mit seinem lautstarken Gähnen, die anderen beiden Schnarchnasen – also eigentlich schnarchte ja nur Domina. Pal verwandelte sich wieder in einen Wolf, Veith wurde erneut vor den Kinderzug gespannt und nachdem ich meine dreckigen, aber trockenen Klamotten – dem Lagerfeuer sei Dank – wieder angezogen hatte, machten wir uns auf, das letzte Stück bis nach Sternheim hinter uns zu bringen.

Den ganzen Weg über war ich leicht nervös und schaute mich immer wieder um, auch wenn Pal mir versicherte, dass dort draußen nichts lauerte. Der Schreck von gestern saß mir einfach noch zu tief in den Knochen.

Wir wurden allein von den Klängen des Waldes begleitet. Bäume, Sträucher und Büsche soweit das Auge reichte. Moosige Lichtungen, kleine Grasflächen, Natur pur. Eigentlich war es hier draußen sehr friedvoll und wunderschön, doch ich konnte die beiden Männer im Wald einfach nicht vergessen. Dieser Anblick hatte sich auf ewig in meine Netzhaut gebrannt. Wie sehr eine so friedliche Idylle doch über die Grausamkeiten hinwegtäuschen konnte, die sie verbarg.

„Wie lange dauert es denn noch?“, fragte ich irgendwann, als wir bereits seit Wochen unterwegs sein mussten. Okay, es konnten nicht mehr wie zwei Stunden gewesen sein, aber sich die ganze Zeit den Hintern platt zu sitzen und sich die Gegend anzuschauen, um gewappnet zu sein, falls das Ungeheuer aus einem der Büsche sprang, konnte die Zeit ganz schön lang werden lassen. Besonders wenn da kein Ungeheuer kam – nicht dass ich es mir herbeisehnte.

„Nicht mehr weit“, sagte Pal, der unweit neben mir trottet. „Wir müssen nur noch an den Seidenbändern vorbei, dann sind wir fast da.“

„Seidenbänder?“

„Kennst du die auch nicht?“

Wie er das sagte, als wäre ich völlig gehirnamputiert. „Ich weiß, was ein Seidenband ist, aber ich verstehe nicht, warum wir daran vorbei müssen. Das ergibt keinen Sinn“, kam es etwas zu schnippisch von mir.

Pal verzog das Gesicht. Sollte wohl ein Stirnrunzeln sein, nur klappte das als Wolf nicht ganz so gut. „Ich glaube, wir reden mal wieder aneinander vorbei.“

„Nur, wenn du etwas anderes meinst als ich.“

„Genau dort wird das Problem liegen.“

Und das war es dann auch, wie ich nur Minuten später feststellte. Der Wald vor uns wurde lichter, was aber nicht bedeutete, dass es mehr zu sehen gab. Anstelle der Bäume wuchsen riesige Gräser. Erst nur vereinzelt, dann büschelweise und dann standen wir im Wald – also schon wieder. Ein Wald aus Gras, der sich weit über unsere Köpfe dem Himmel entgegenstreckte. Aber es war anders als das, welches ich kannte – von der Größe von bestimmt drei Metern mal abgesehen. Es schimmerte leicht und wogte wie Wellen, ohne das ein Lüftchen es berührte. Hin und her, hin und her. Huh, dabei konnte man richtig schläfrig werden, besser als Schäfchen zählen.

Ich beugte mich zur Seite, um sie anzufassen. Weich wie Seide, hauchdünn und ganz zart. „Das sind die Seidenbänder?“ Bei meiner Berührung, wickelte sich eines dieser Gräser um meinen Arm. Ganz vorsichtig, wie eine Streicheleinheit.

„Ja, lästige Dinger.“ Auch Pal wurde von ihnen umschlungen. Nicht grob, ganz vorsichtig und sobald er weiter ging, ließen sie einfach von ihm ab. „Kein Respekt vor Privatsphäre.“

„Also ich finde sie lustig.“ Einer streckte sich nach meinem Gesicht und strich darüber. Okay, das Pflanzen sich bewegen konnten, war schon reichlich abnormal, aber es gefiel mir. Es war witzig und kitzelte.

Pal zog ungläubig eine Augenbraue nach oben – ja, Werwölfe konnten sowas – und schnappte dann nach einem Seidenband, das ihn gerade an der Schulter liebkoste.

„Hey, sei nicht so gemein zu den Kleinen, die sind doch ganz lieb.“

So ging das den ganzen Weg durch diesen Urwald aus lebenden Gräsern weiter. Veith ging einfach unbeirrt durch den dichten Wuchs hindurch. Er schien sich nicht daran zu stören, von den Seidenbändern befummelt zu werden und Fang und Domina war schon eine ganze Weile in diesem Grünzeug untergegangen. Die beiden sah ich erst wieder, als wir die Seidenbänder hinter uns gelassen hatten. Mit Bedauern entließ ich das letzte aus meiner Hand und überlegte, ob die auch in einem Topf überlebten. Dann könnte ich mir ein paar mit nach … hier brachen meine Gedanken bedauernd ab. Um die Seidenbänder irgendwo hin mitzunehmen, müsste man erst mal einen Ort haben, an den ich sie stellen könnte. Aber da gab es nichts. Ich war praktisch obdachlos, auf die Hilfe anderer angewiesen.

„Was ist los?“, fragte Pal.

„Bis auf die Tatsache, dass ich ein heimatloser Vagabund bin? Nichts“, murmelte ich mit schwerem Herzen.

Etwas wie Mitleid trat in seine Augen. Ich wollte es nicht sehen und wandte mich von ihm ab, nur um im nächsten Moment die Augen weit aufzureißen. Das … was … wieso … das war unmöglich! Ich rieb mir die Augen, nur um das gleiche Bild vor mir zu sehen.

Zum ersten Mal hatte ich einen ungehinderten Blick auf das Firmament. Weit in der Ferne am Horizont, konnte ich kleine Gebäude ausmachen. Das musste Sternheim sein, aber das war es nicht, was mich so aus der Fassung brachte, sondern der Himmel. Er war nicht blau, er war lavendel. Aber noch viel unfassbarer … „Was ist das?“

Pal folgte meinem Blick. „Was meinst du?“

„Na das da.“ Ich streckte den Finger aus. „Das da neben der Sonne, das das aussieht wie … wie …“ Wie eine zweite Sonne.

„Ich weiß nicht was du meinst. Ich sehe bloß den Himmel und die Sonnen. Und das da hinten ist Sternheim.“

Sonnen. Er hatte Sonnen gesagt. Mehrzahl. Zwei Sonnen am selben Horizont. „Aber das … wie ist das möglich?“

„Ich weiß ehrlich gesagt immer noch nicht, was du meinst.“

„Die Sonnen. Da stehen zwei verfluchte Sonnen am Himmel, aber da gehört nur eine hin! Wo kommt die andere her?“

Pal sah mich an, als befürchtete er, dass ich gleich durchdrehen würde – womit er wahrscheinlich nicht mal ganz unrecht hätte. „Heißt das, da wo du herkommst, gibt es nur eine Sonne?“

„Ja! Eine Sonne und einen Mond.“ Ich stockte kurz. „Habt ihr auch mehr als einen Mond?“

„Natürlich nicht, das wäre doch merkwürdig.“

Ganz meiner Meinung. „Aber wie … ach vergiss es einfach.“ Ich rieb mir mit der Hand durch Gesicht und mahnte mich, daraus nicht so ein Drama zu machen. Ich hatte mich mit den Gedanken an Werwölfe, Magier, Hexen und seltsamen Tiergattungen abgefunden. Konnte damit leben, dass überall um mich herum Magie herrschte. Ja, ich hatte gerade sogar mit einer Pflanze gekuschelt und überlegte, sie als Haustier zu adoptieren, da würde ich doch wohl auch mit dem Gedanken klar kommen, dass es hier zwei Sonnen gab. Das war doch wirklich ein Klacks gegen das Wissen, dass hier Hexenhirn verspeist wurde, obwohl ich ja noch immer nicht dahinter gekommen war, ob Pal mich da nur aufgezogen hatte, oder nicht. Hm …

Hieß das jetzt, dass ich doppelt Sonnencreme auflegen musste?

Bei meiner Grübelei bemerkte ich irgendwann, dass wir uns gar nicht auf Sternheim zubewegten, sondern parallel dazu. Weit genug entfernt von den Seidenbändern, das diese nicht mehr auf Tuchfühlung gehen konnten. „Äh, müssen wir nicht da lang?“ Um meine Aussage zu verdeutlichen, zeigte ich in die entsprechende Richtung.

„Das letzte Stück legen wir im Moob zurück.“

Was dann wohl so wie ja aber hieß. „Und wo ist dieses Moob?“

„Da vorn, in dem Schuppen.“ Pal machte mit der Schnauze eine Bewegung in die Richtung.

Ich sah genau in dem Moment nach da vorn, als Fang sich zurück in einen Mann verwandelte und sich in seiner vollen, nackten Pracht präsentierte. Na super. Hastig senkte ich den Blick, studierte meine Finger wie eine eigene Wissenschaft und hoffte, dass sie in dem Schuppen irgendwo Klamotten finden würden. Wenigstens diese kleinen dreieckigen Lendenschurz, sonst bräuchte ich eine Augenbinde, um nicht in Verlegenheit zu geraten. Obwohl es ja eigentlich an ihnen war, vor Scham im Boden zu versinken, denn die liefen hier ja splitterfasernackt durch die Gegend.

Der Schuppen entpuppte sich als kleiner Holzverschlag mit einem großen Tor. Ich kletterte aus dem Kinderzug, sobald dieser den Boden berührte. Veith wurde aus dem Geschirr gespannt und dann war ich plötzlich umringt von vier Nackten in Menschengestalt. Okay, so ging das wirklich nicht. „Könntet ihr euch bitte etwas anziehen, bevor ich wegen Kreislaufversagen umkippe, weil mir das ganze Blut in den Kopf gestiegen ist?“

Pal und Domina lachten – also ich fand daran nicht wirklich etwas Witziges – und die anderen beiden ignorierten mich einfach. Netterweise erbarmten die vier sich aber doch, holten aus dem Kinderzug Stofffetzen die sie geschickt um ihre Hüften wickelten und waren damit salonfähig. Naja, außer Domina. Die musste ich erst noch davon überzeugen, ihren Vorbau zu verhüllen, dann war alles okay. Leider war hier schon Hopfen und Malz verloren.

Ich stand noch mit Pal vor dem Schuppen, als die Luft plötzlich mit einem leisen Summen erfüllt war und dann schwebte ein riesiger Regentropfen nach draußen. Nein, ich war nicht plötzlich geisteskrank – auch wenn das vieles erklären würde – aus dem Schuppen schwebte wirklich ein Regentropen und in dem saß Veith drinnen.

Okay, jetzt mal ganz langsam und zum mitschreiben. Dieser längliche Regentropfen war aus Metall – jedenfalls glaubte ich das – und lag, oder besser, schwebte auf der Seite. Er besaß, wie es den Anschein hatte, vier Türen und eine Heckklappe. Räder waren keine vorhanden, nur eine abgeflachte Unterseite. Wenn ich davon ausging, dass wir damit gleich fliegender Teppich spielten, würde ich wohl recht behalten. Die Spitze war vorn und sah so aus, als konnte sie jemanden aufspießen – bei dem Gedanken wurde einem doch gleich ganz anders.

Pal schob mich zur Hintertür und ich hätte sie auch wirklich gerne aufgemacht um einzusteigen, aber da war kein Griff. „Äh, wie macht man die auf?“

„Ich dachte du kennst das, nur unter dem Begriff … äh …“

„Auto“, half ich ihm aus.

„Ja, genau, Auto.“

„Ich weiß wie ein Auto aussieht und auch wie man es öffnet. Dieses Ding …“ Ich tätschelte es leicht. Glatte Oberfläche. „… hat auch sehr, sehr entfernt Ähnlichkeit mit einem Aber Autos haben einen Griff, an dem man es öffnen kann. Dieser Regentropfen nicht.“

„Moob, nicht Regentropfen.“ Pal schob mich ein Stück zur Seite, legte dann die Hand auf den Punkt, wo eigentlich der Griff hätte sein müssen und drückte leicht. Wie Gummi gab die Stelle nach, vertiefte sich ein wenig und dann schwang die Tür nach außen auf. „Und es hat einen Griff, man muss nur wissen wo er zu finden ist.“ Er grinste breit. „Und außer dir weiß das wohl auch jeder.“

Oh, das war jetzt echt fies. „Vielleicht weiß ich nicht, wo der Öffner ist, dafür habe ich eine Ahnung von Kleiderordnung“, erwiderte ich ein wenig schnippisch und drängte mich an Pal vorbei.

Im Inneren sah es nicht viel anders aus, als in einem normalen Wagen. Zwei Sitze vorn, eine Rückbank, ein Kofferraum. Obwohl es hier statt einem Lenkrad eine Art Steuerknüppel gab, wie ein Joystick. Richtig stylisch. Und die Sitze hatten etwas von halben Schalen, genauso weiß wie der Rest des Regentropfens.

Als ich nicht schnell genug einstieg, bekam ich von Pal einen Schubs gegen meine Kehrseite. „Hey!“, protestierte ich.

„Was denn?“

„Da haben deine Hände nichts zu suchen, also Pfoten weg, sonst klatscht es!“ Ich setzte mich in die Mitte, Pal rechts, Domina links. Fang nahm den Beifahrersitz. Mit den Händen fuhr ich über alles, was ich erreichen konnte, Sitze, Decke. Alles glatt und ohne sichtbare Grenze. Es war, als sei dieses Moob aus einem Stück gefertigt. Wie war das möglich?

Magie.

Ach ja, wie konnte ich das nur vergessen?

Veith startete das Moob – den Moob? – und mit einem leichten Summen hob es eine Handbreit vom Boden ab. Dann sausten wir mit einer Geschwindigkeit los, die mich in den Sitz drückte. Oh wow, dieses Teil war wirklich verflucht schnell. Ich brauchte einen Moment, um mich daran zu gewöhnen und dann galt mein Blick nur noch der Landschaft, obwohl es da nicht sonderlich viel zu sehen gab. Wiesen und Felder, so wie an jedem X-beliebigen Ort. Naja, was hatte ich denn auch erwartet? Rotes Gras mit Blumen die Wolken produzierten? Oder Einhörner, die über Regegenbogen galoppierten? Hallo, wir waren hier doch nicht in einem Märchen!

Domina und Pal quatschten quer über mich hinweg, aber ich war viel zu sehr mit dem Horizont beschäftigt, an dem sich das Haupt Sternheims immer weiter erhob. Doch es dauerte noch fast eine Stunde – trotz der Düsenjetgeschwindigkeit – bis die ersten Gebäude deutlich wurden und ich auch kleine Details ausmachen konnte.

Hoch über der Stadt flogen riesige … waren das Vögel? Nein, Vögel hatten selten zwei Arme. „Was ist das?“

Pal beugte sich zum Seitenfenster, um meinem Blick zu folgen. „Incuben. Arrogante, kleine Penner.“

„Und das?“ Ich zeigte auf eine Kutsche, die uns entgegenkam. Davor waren zwei seltsame Wesen gespannt. Ein Leopardenkörper ging über in einen lagen Schlangenhals mit passendem Kopf. Zwei Korkenzieherhörner prangten darauf. Es hatte lange Beine mit Hufen. Elegant und anmutig, wunderschön. Das waren die Worte, die mit bei dem Anblick der beiden Tiere einfielen.

„Das sind Glatisante. Und die Frau die die Kutsche führt, ist eine Gorgonin.“

Die schwebende Kutsche fuhr – flog? – an uns vorbei. Der Kutschbock war besetzt von einer Frau, die mich mit ihren Haaren an Medusa erinnerte. Die Schlangen auf ihrem Haupt wandten sich lang um ihren Körper. Ich konnte ihr Zischen bis ins Moob hören. Schluck. Zum Glück war da eine Scheibe zwischen uns. Dann waren sie auch schon vorbei.

Langsam wurde die Straße voller und ich bekam Kreaturen zu sehen, die ich nur aus Film und Fernsehen kannte. Oder überhaupt noch nie davon gehört hatte. Ich sah berittene Greife, ein paar Zentauren und sogar ein Pegasus lief an uns vorbei. Warum es wohl nicht flog? Dann war da ein sehr langes Tier, mit sechs Beinen, das mich sehr entfernt an eine Kuh erinnerte. Und Moobs. Überall um uns herum waren Moobs.

Die Stadt rückte näher und ich konnte die Bauten in den Sonnen glänzen sehen. Sie waren genauso glatt wie unser Gefährt, aber ich glaubte nicht, dass sie aus Metall waren. „Aus was sind die gemacht?“

„Glas“, sagte Pal.

„Glas?“ War das sein ernst? „Ihr baut hier ganze Gebäude aus Glas?“

Sein Mund zuckte zu diesem halben Lächeln. „Ganz Sternheim ist aus Glas.“

Eine gläserne Stadt. Das war dann doch ein wenig phantastisch. Wer kam nur auf so eine Idee? Milchglas, strukturiert, geriffelt, durchsichtig, alles war dabei. Ich saß in der Zwischenzeit halb auf Pal drauf, um auch ja nichts zu verpassen. Er saß eben zwischen mir und dem Fenster. Geschäfte säumten die Straßen. Bezaubernd, hieß einer der Läden und im Schaufenster konnte ich seltsame Dinge sehen. Eine Kröte im Glas, ein Sortiment Athamen und dann waren wir auch schon vorbei. Bäcker, Klamottenläden. War das ein Handyladen, aus dem gerade ein – ja was war das eigentlich? – kam? Es gab hier wirklich alles, was das Herz begehrte, wie in einer richtigen Stadt. Okay, das war eine richtige Stadt, nur eben … anders. Und viel sauberer. Nirgends war Müll, oder andere Verschandlungen zu sehen. Alles blühte, es gab kein Zeichen von Alter, alles glänzte wie ein neuer Penny. Selbst die Straßen und Wege schienen hier aus Glas gefertigt zu sein. 

Ich entdeckte einen kleinen Markt, auf dem Händler ihre Waren feil boten und wollte so gerne aussteigen, um mir das anzusehen, aber von Veith kam nur ein gegrummeltes „Nein“ und dann war der Markt auch schon vorbei.

Überall liefen Kreaturen herum, wie aus Legenden und Mythen. Ein blauer Mann mit Schwimmhäuten Zwischen den Fingern, eine Frau, so wunderschön das man davon fast blind wurde. Ihr Lachen klang wie das einer Sirene. Eine Dame, die sich auf ihrem Schlangenschwanz fortbewegte – und eindeutig ein Schuppenproblem hatte –, schob einen Kinderwagen durch die Gegend. Ich sah zwei ältere Jungs, die eine perfekte Verschmelzung von Mensch und Panther waren. Rakshasa nannte Pal sie. Sie lümmelten auf einem Springbrunnen herum, zu ihren Füßen lag ein Hund mit drei Köpfen. Einer Frau mit Hexenhut fiel die Tasche herunter. Ein Mann mit drei Augen blieb abrupt stehen und wurde ganz starr, so dass von hinten ein Geist durch ihn durchlief, weil er nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte. Seine Klamotten blieben dabei leider auf der Strecke, weil die nicht durchscheinen waren. Er lief rosa an – was für einen Geist wohl knallrot war – und machte sich daran, seine Kleidung schnell wieder anzulegen. 

Ich lachte. Dieser Anblick war einfach nur genial.

Eine Gruppe von Kids in langen Roben stand auf einem Parkplatz und schossen aus den Händen bunte Lichter in die Luft. Um ein sehr hohes Gebäude kreisten Harpyien, setzten zur Landung an und verschwanden darin. Sogar einen Engel sah ich die Straße entlang schlendern.

Eine Frau, die mich entfernt an die Schneekönigin erinnerte, machte einen Schaufensterbummel. Hinter ihr rutschten die Leute auf der Eisschicht aus, die sie hinterlassen hatte. Es wurde lautstark geflucht. Eine ältere Frau, der Blumenranken aus dem Kopf zu wachsen schienen, strich über die Rinde eines Baumes, der daraufhin sofort anfing zu blühen. Eine Waldnymphe?

Und das Beste an allem? Die Leute besaßen Kleidung! Okay, die war schon ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber immerhin wussten die, was sich gehörte.

Es gab so viel zu sehen, ich wusste gar nicht, wo ich meine Augen zuerst hinwenden sollte. Doch die Fahrt näherte sich abrupt dem Ende und als Veith vor einem großen Anwesen einparkte und den Motor abstellte – die Magie ausschaltete? – sackte mir mein Magen irgendwo zwischen die Kniekehlen. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, was es beutete, an unserem Ziel angelangt zu sein. Sie wollten mich hier lassen. Ich wurde hier abgeliefert, damit sie sich nicht länger mit mir befassen mussten. Wie ein Ding, schoss es mir durch den Kopf, als die vier Türen praktisch gleichzeitig geöffnet wurden und meine Begleiter ausstiegen. Aber ich wollte nicht hier bleiben. Ich kannte hier doch niemanden und so toll und faszinierend diese Stadt auch war, ich wollte bei den Lykanern bleiben, wollte wieder in ihren Wald zurück. Die konnten mich hier doch nicht einfach abliefern! Das ging doch nicht.

„Talita?“ Pal hielt mir die Hand hin, um mir rauszuhelfen, aber ich schüttelte nur den Kopf.

„Ich will nicht“, flüsterte ich ganz leise und war ehrlich überrascht, dass er es gehört hatte. Lykaner mussten außergewöhnlich gute Ohren haben.

Er hockte sich vor die offene Tür und lächelte aufmunternd. „Hey, es wird sicher halb so schlimm. Du wirst schon sehen, alles kommt in Ordnung, hier wird man dir helfen können, damit du deine Erinnerung zurück bekommst. Außerdem ist da auch noch der Sohn des Hauses, der für einen Magier ganz in Ordnung ist. Du brauchst also keine Angst haben, die werden sich hier schon gut um dich kümmern.“

Ja, meine Erinnerung. Die wollte ich wiederhaben, unbedingt sogar, aber ich wollte nicht hier bleiben. Und was interessierte mich der Sohn des Hauses? „Kann ich nicht wieder mit euch ins Lager kommen?“ Ich sah zu dem großen Anwesen, das von einer hohen Mauer umschlossen war. Es war hübsch, wie in einem Märchen, aber in denen gab es immer böse Stiefmütter und Hexen. Daran wollte ich gar nicht denken. Erst recht nicht mit dem Tattoo auf meiner Schulter. „Ich will nicht hier bleiben.“

Tröstend legte Pal mir die Hand an die Wange und strich darüber. „Das geht nicht, du gehörst nicht zum Rudel.“

Nein, gehörte ich nicht. Die Lykaner würden mich in ihrer Mitte niemals akzeptieren. Ich kniff die Lippen zusammen. Das war eine echt bittere Pille.

„Nun komm schon.“

Ich ließ es zu, dass er mich an die Hand nahm und stieg widerwillig aus dem Wagen.

Domina lachte über etwas, das Fang gesagt hatte, von den beiden schien keiner mitbekommen zu haben, was in mir vorging, oder es interessierte sie einfach nicht – was viel wahrscheinlicher war. Veith dagegen hatte wieder diese nachdenkliche Falte zwischen den Augenbrauen. Er beobachtete genau, wie ich mich von Pal beruhigend in den Arm nehmen ließ und seine Hand in meiner behielt, als wir das große, offene Tor des Anwesens vom Wesensmeister durchschritten.

Mein Herz schlug mir bis zur Kehle. Das Haus war noch größer, als es einem auf den ersten Blick glauben ließ, so groß wie ein altes Herrenhaus, aber nicht annähernd so düster. Es war in L-Form, mehrere Etagen, Balkons mit grüner Bepflanzung, aber Seidenbänder entdeckte ich keine.

Eine weiße Treppe führte hinauf zur Eingangstür. Auch die war aus Glas, milchig mit funkelnden Einschlüssen. Die Fassade war gelb und mit Zeichen versehen, die mir nichts sagten.

Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf. Ein kleines Häuschen am Waldrand, ein  roter Wagen vor der Garage, ein älterer Teenager mit schwarzem Haar und grünen Augen, der sich lautstark mit einer blonden Frau stritt, die die gleichen Augen hatte.

Wie ein Blitz schlug der Kopfschmerz zu. „Ah!“ Ich sackte auf der Stelle zusammen und hielt meine Schädel. Ich hatte das Gefühl, er würde einfach zerspringen, wenn ich ihn nicht festhielt. Meine Augen tränten und mein Blick war verschwommen und unfokussiert.

„Talita!“ Pal war sofort an meiner Seite. „Was ist los, was hast du?“

„Mein Kopf“, wimmerte ich. „Er tut weh.“ Das war wie in dem Moment, in dem ich in Fangs Arbeitszimmer aufgewacht war. Als würde meine Schädeldecke mit Presslufthämmern bearbeitet.

„Ganz ruhig“, hörte ich eine vertraute Stimme.

„…was du sagst!“

„Nein, Taylor, ich verbiete es!“

Was waren das für Stimmen? Ich kannte sie nicht.

„Nimm die Hände runter.“ Jemand zog vorsichtig an meinem Arm.

„Ich bin zu alt, um mir von dir etwas verbieten zu lassen!“

„Du bist siebzehn!“

„Nicht mehr lange.“

„Komm schon, Talita, nimm die Hände da weg.“

„Taylor?“

„Ach, Tal, nicht weinen, ich komme doch wieder. Und dann gehen wir schwimmen, okay? Ich verspreche es dir.“

„Okay.“

Scheiße, was war das? Eine Erinnerung?

Meine Hände wurden ohne mein Zutun entfernt.

„Wir sehen uns morgen.“

„Okay, Taylor.“

Eine wunderbare Wärme breitete sich von meinen Schläfen aus und verdrängte die Schmerzen und auch die Erinnerung. Wer war Taylor?

„Besser?“

Ich saß da und blinzelte die Tränen vor meinen Augen weg, sah direkt in Veiths Gesicht. Er hockte vor mir, die warmen Hände umrahmten noch mein Gesicht, ließen meine Haut kribbeln. Das war irgendwie viel zu nahe und doch … angenehm. Vorsichtig drückte ich gegen seinen Brustkorb, spürte das kräftige Herz schlagen und schob ihn weg. Ich stand auf und fragte mich, wie jemand in dem einen Moment völlig kalt und verachtend sein konnte und es im nächsten fertig brachte, mich so sanft zu berühren. Das war verwirrend und in meinem Leben gab es schon genug Dinge die ich klären musste, als dass ich mich damit auch noch befassen konnte.

„Alles wieder okay“, sagte ich, weil Veith offensichtlich noch auf eine Antwort wartete und griff nach Pals Hand, der sie leicht drückte. „Danke.“

„Was war das eben?“, wollte Fang wissen. Er stand neben mir, die Augen leicht verengt, als wollte er mir drohen ja nicht auf die Idee zu kommen ihn anzuschwindeln.

Und nur um das mal klarzustellen, das hatte ich nicht vor. „Ich glaube, ich habe mich an etwas erinnert.“

„Taylor“, kam es von Pal.

Überrascht sah ich zu dem Riesen auf. „Ja, aber woher …“

„Du hast den Namen eben laut gesagt.“

„Wer ist Taylor?“, fragte Domina. Die und ihre Neugierde.

„Ich … ich weiß es nicht.“ ob sie mir nun glaubten oder nicht, war mir egal. Es war die Wahrheit. Ach, Tal, nicht weinen. Wem gehörte nur diese Stimme?

Veith war wie immer undurchschaubar. „An was erinnerst du dich denn?“

„Ich weiß nicht. Da war ein Haus und davor standen ein Junge und ein …“ Im Moment der Erkenntnis riss ich die Augen auf, machte mich von Pal frei und zerrte mein Portemonnaie aus der Jackentasche. Ich brauchte genau zwei Sekunden, um das gesuchte Foto zu finden. Ein lächelndes Gesicht mit grünen Augen und jeder Menge Sommersprossen. Jung. Er war vielleicht … siebzehn? Das hatte die Frau doch gesagt.

Pal schaute mir über die Schulter. „Das ist Taylor?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube ja.“

Fang schüttelte den Kopf. „Ist auch egal. Kommt jetzt, ich will heute Abend noch das Lager erreichen. Und wir wollen unseren Jagdliebhaber doch nicht unnötig warten lassen. “ Damit wandte er sich ab und schritt auf das Haus zu.

„Der wartet nicht auf uns“, sagte Domina in einem sehr zufriedenen Ton. „Der weiß nicht mal, dass wir auf ein Schwätzchen vorbeischauen wollen.“

„Es ist nicht egal“, flüsterte ich. Wie konnte er die Bruchstücke meiner Erinnerung einfach so abtun? Jedes bisschen davon war wichtig für mich, die letzten Tage wie ein Brandzeichen in meinem Hirn eingebrannt, damit ich es nicht wieder vergessen konnte.

Wie konnte Fang es nur wagen, so über die einzige Erinnerung zu reden, die ich zurückbekommen hatte? Oh, am liebsten würde ich … würde ich … ach, keine Ahnung was ich würde, aber auf jeden Fall etwas sehr Schmerzhaftes.

Und dann überraschte Veith mich mit den Worten: „Du hast recht. Es ist nicht egal, es ist wichtig“, bevor er sich abwandte und dem Älteren folgte.

 

°°°

 

Nach einem Klingeln, das wie ein Glockenschlag durch das ganze Haus hallte, wurde der Eingang von einem kleinen gebeugten Mann, in einem Frack  geöffnet. Nicht weiter ungewöhnlich. Was nicht so ganz ins Bild passen wollte, waren die Ziegenhörner auf seinem Kopf, oder die passenden Beine mit Hufe dazu.

Er musterte uns einmal der Reihe nach, blieb an mir ein wenig länger hängen und rümpfte die Nase – ich hoffte das lag an meinen dreckigen Klamotten und nicht an meinem Gesicht – und schwenkte zum Schluss wieder zu Fang zurück. „Sie wünschen?“

„Wir müssen zu Anwar von Sternheim.“

Das schien er wohl öfter zu hören, denn so einfach wollte er uns keinen Zugang gewähren. „Haben Sie einen Termin?“

„Nein.“

„Anwar von Sternheim ist ein viel beschäftigter Mann, lassen Sie sich ein Termin geben, dann können Sie mit ihm sprechen.“ Er wollte die Tür zu machen, aber Fang war schneller und stellte seinen Fuß in den Weg. Der Ziegentyp funkelte den Lykaner böse an.

„Richten Sie Anwar doch bitte aus, dass Fang von unter den Wolfsbäumen in einer dringenden Angelegenheit mit ihm sprechen muss. Prisca von unter den Wolfsbäumen hat uns geschickt. Es ist wichtig, er wird uns sicher empfangen.“

„Wie Sie wünschen. Wenn Sie sich einen Moment gedulden würden.“ Sehr nachdrücklich sah er auf Fangs Fuß, den der nur widerwillig zurückzog. Er mochte es offensichtlich nicht, vor der Tür stehen gelassen zu werden, was hier eindeutig der Fall war.

Die Tür ging zu und wir waren immer noch draußen.

„Was war das?“, fragte ich Pal.

„Ein Satyr.“

Aha, hatte ich irgendwo schon mal gehört.

Nur Minuten später ging die Tür wieder auf und der Satyr bat uns ihm in die Eingeweide des Hauses zu folgen. Dunkel war es hier, irgendwie bedrückend, so ganz anders, als von außen. Wieder kamen mir die Märchen von gemeinen Stiefmüttern, bösen Hexen und gefräßigen Wölfen in den Sinn. Nun gut, den letzten Punkt hatte ich bereits an meiner Seite.

Der Satyr führte uns durch einen mehr oder weniger leeren Korridor. Nur hin und wieder hing da ein Bild, das bei den Lichtverhältnissen nur schwer zu erkennen war, oder eine Kommode, auf der eine hübsche Kristallvase drapiert war.

Zur Linken tauchten zwei große Flügeltüren auf, die mit kaum erkenntlichen Schnitzereien verziert waren. Ich bekam auch gar nicht die Zeit sie mir näher anzusehen, denn der Frackträger drückte gegen die Flügeltüren, die sogleich nach innen aufschwangen und sich zu einer großen Empfangshalle öffneten. Zumindest ging ich davon aus, dass es etwas in der Richtung  war, nicht dass ich so was schon mal gesehen hätte, zumindest nicht dass ich wüsste. Unmöbliert wäre der Raum als Tanzsaal durchgegangen. Riesig, kreisrund, Bodenfenster und jedes Fleckchen Wand mit Bildern bedeckt. Gemalte Bilder. Ich würde auf Ölfarbe tippen. Haufenweise Menschen, oder was auch immer an den Wänden. Doch die  Jagdtrophäen, die die freien Flächen zwischen den Bildern einnahmen, waren ziemlich befremdlich, ja schon beinahe beunruhigend. Vertraute wie fremde Wesen hingen ausgestopft an den Wänden und starrten mich durch ihre Knopfaugen vorwurfsvoll an. Felle lagen auf den Boden, oder drapiert über Möbel. Ich sah Großkatzen, Elefanten und etwas, dass wie eine riesige Schlange aussah. Die Augen leblos, ragte ihr Kopf mit dem offenen Maul in den Raum hinein, als wollte sie sich den nächsten der vorbeikam als Zwischenmahlzeit gönnen. Unwillkürlich machte ich einen großen Bogen darum. Ich war kein Snack, auch wenn einige das so sahen.

Dickhäuter, Säugetiere, Reptilien. Verflucht noch mal, ich war auf dem Friedhof der Kuscheltiere gelandet! Jetzt wusste ich, was Fang damit meinte, dass der Herr des Hauses ein Jagdliebhaber war. Der Kerl war ein verfluchter Mörder. All die armen Seelen mussten leiden, nur damit er dem abartigen Hobby föhnen konnte, das er so liebte.

Unter den Fellen war der Boden mit weißem Teppich ausgelegt. An der Stirnseite, gegenüber der Tür war eine Wohnlandschaft aufgebaut. Eine weiße Couch, auf der locker das ganze Rudel Platz gefunden hätte. Naja, nicht ganz so groß.

Die Couch bestand aus zwei Halbkreisen, die um einen runden Glastisch standen. Die Platte war schwarz, wie das Glas der Flimmerwand. Der gleiche Schimmer lag auf ihm. Von der Tür führte ein gerader Gang dorthin. Links und rechts waren weitere von diesen Wohnlandschaften. Bilder römischer Feste kamen mir in den Sinn. Zwar fehlten hier die Säulen, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass sich hier Orgien feiern ließen.

Oh mein Gott, wohin schweiften meine Gedanken nur wieder?

„Was ist?“, raunte Pal.

Fang gab ihm mit einem Blick zu verstehen ruhig zu sein. Dann folgten wir ihm, an den Sitzgelegenheiten vorbei,  den Gang entlang. Unsere Schritte wurden von dem flauschigen Teppich gedämpft, trotzdem wurde unsere Ankunft bemerkt. Was aber eher an unserem Führer lag, der uns laut ankündigte, als daran, dass wir uns wie Elefanten im Porzellanladen bewegten. Die lautlose Art und Weise, wie sich die Wölfe bewegten, hatte schon etwas Unheimliches an sich.

Ein Mann in einer purpurnen Robe erhob sich von seinem Platz. Obwohl ich auf der Straße schon ein paar Menschen/Leute/Wesen in dieser Kleidung gesehen hatte, war der Anblick dennoch fremdartig. Wie ein Ausflug in die Vergangenheit. Auch nicht viel unglaubwürdiger, als die Reise in eine Welt voller Fabelwesen, wie ich sie gemacht hatte.

Der Mann musste um die Fünfzig sein. Einmal musste er ein gutaussehender Mistkerl gewesen sein, doch das Alter hatte ihm ein paar Pfunde auf die Hüften gebracht, die nicht so leicht weichen würden. Das braune Haar war mit grauen Strähnen durchzogen und begann bereits einen strategischen Rückzug. Falten hatten sich um seinen Mund gesammelt, die ihm einen verkniffenen Ausdruck gaben und die seltsamen, farblosen Augen waren kalt. Anders konnte ich es nicht ausdrücken. In ihnen lag eine Herzlosigkeit, mit der ich die ganzen Kadaver an den Wänden nachvollziehen konnte. Wer so kalt war, konnte keine Wärme für andere Wesen aufbringen. Und zu diesem Kerl wollte Prisca mich schicken? Hatte sie ihren Verstand verloren, oder glaubte sie wirklich, dass er  mir helfen würde, herauszufinden wer ich war und woher ich kam?

Ich glaubte, dass es ihr ziemlich egal war, Hauptsache sie wurde mich schnellstens wieder los. Ich war ihr nur ein Ärgernis, mit dem sie nichts anfangen konnte. Ob man mir meine Nervosität nun ansah, oder Pal sie riechen konnte, wusste ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall nahm er meine Hand. Dankbar drückte ich seine, so fühlte ich mich wenigstens nicht ganz so allein.

„Anwar von Sternheim“, stellte der Satyr uns den Hausherren vor. „Fang unter den Wolfsbäumen.“

Ganz schön formell. Darauf dass dieser Magier eine große Nummer in dieser Welt war, bildete der sich scheinbar ganz schön was ein. Fehlten nur noch eine Krone und ein Hofknicks, um mir das Gefühl von Adel zu vermitteln. Die arrogante Haltung jedenfalls hatte der Kerl gepachtet.

„Fang“, begrüßte Anwar nur den Dominantesten von uns. War das so Sitte, oder einfach nur Unhöflichkeit von Seiten des Magiers? Wie auch immer, wir anderen wurden vollkommen ignoriert. „Wie überaus … überraschend.“

Sonderlich erfreut über den spontanen Besuch schien Anwar nicht zu sein. Irgendwas war zwischen den beiden, es lag in der Luft, knisterte zwischen ihnen, aber ich würde mich hüten und fragen. Naja, vielleicht später mal.

„Was führt dich zu mir?“ Anwar verschränkte die Arme vor der Brust.

Fang tat es ihm gleich. Uh, gleich würden wir im Testosteron schwimmen. „Ein Überraschungsgast.“

„Ja, so was kann unangenehm sein.“

Fang ignorierte den Seitenhieb. „Vor ein paar Tagen entdeckten ein paar unserer Welpen auf meinem Dachboden ein Mädchen.“

Anwars Augen wanderten zu mir. Also hatte er mich doch bemerkt. Bei diesem eisigen Blick richteten sich mir die Nackenhaare auf.

„Sie war bewusstlos.“

„Nun, dieser Umstand scheint sich gegeben zu haben“, kommentierte der Magier kalt lächelnd.

„Das schon, nur leider hat sie keine Erinnerung. Sie weiß weder, wer sie ist, noch wie sie auf meinen Dachboden kam.“ Ich verkniff mir den Einwand, dass ich meinen Namen in der Zwischenzeit durchaus wusste. „Das Einzige was Prisca bisher ermitteln konnte, ist die Tatsache, dass sie nicht von hier stammt.“

„Nicht von hier stammt?“ Diese Ausdrucksweise schien Anwar zu irritieren.

Fang erzählte ihm, was er genau damit meinte. Während ich wartete, bemerkte ich, dass Anwar nicht allein im Raum war. Ein junger Mann, Anwar wie aus dem Gesicht geschnitten, räkelte sich auf der Wohnlandschaft und verfolgte das Gespräch neugierig. Pal hatte doch was von einem Sohn erzählt. Das musste er sein. Der einzige Unterschied, den ich zwischen den beiden Männern feststellen konnte, war, dass in den farblosen Augen des Sohns Wärme stand. Und natürlich hatte er noch keine weißen Haare. Mit der Kleidung aber kam er ganz nach dem lieben Vati.

Neben ihm saß eine Frau. Schlank, straßenköterblondes Haar und gelbe Augen. Sie war nicht schön im eigentlichen Sinne, dafür war ihr Gesicht zu lang. Ich hatte genug gelernt um zu wissen, wann ich einem Werwolf in die Augen sah. Aber was machte die Frau hier? Wenn ich es richtig verstanden hatte, war es unter der Würde eines Wolfs sich in die Dienste eines Magiers zu stellen, weil sie – wie hatten sie das noch mal ausgedrückt? – ein verflucht überhebliches Volk waren. Vielleicht hatte ich da was missverstanden, oder sie war nur eine Freundin, die auf Besuch war.

Sie legte dem Sohn besitzergreifend eine Hand aufs Knie. O-kay, vielleicht war sie auch was ganz anderes, obwohl ich sie ein bisschen zu alt für den Typen fand. Aber Jedem das Seine.

Mit dem Blick folgte ich ihrer Hand und dann wieder zurück zu ihrem Gesicht, doch im Gegensatz zu den Magiern hatte sie kein Interesse an mir. Ihr vor Hass lodernder Blick ruhte auf Fang. Meine Neugierde war geweckt, aber ich fand es unpassend zu fragen, warum alle in diesem Haushalt scheinbar einen Hass auf meinen Retter/Gefängniswärter hatten.

„Welch eine interessante Geschichte. Und was nun erwartest du von mir?“, fragte Anwar irgendwann. Hätte er noch gegähnt, wäre nicht deutlicher geworden, dass ihm das Ganze völlig am Arsch vorbei ging.  

„Prisca ist der Meinung, dass sie bei euch besser aufgehoben sei“, erklärte Fang. „Unsere Möglichkeiten ihr zu helfen sind begrenzt. Hier hat sie eine größere Chance zu erfahren, was mit ihr los ist.“

Anwar lehnte sich an die Couch, eine Augenbraue herausfordernd hochgezogen. Okay, so einen Blick würde ich Fang erst dann zuwerfen, wenn ich mein Testament gemacht hatte und mit dem Leben abschloss. „Und warum kommst du damit zu mir? Das ist Aufgabe der Wächter.“

„Prisca sagte mir, dass du das sagen würdest.“

Die Überheblichkeit rutschte ein wenig aus Anwars Gesicht. „Ach ja? Was hat sie denn noch gesagt?“

„Das ich dich an deine Schuld erinnern sollte.“

Nun fiel das kalte Lächeln gänzlich in sich zusammen. Nachdenklich starrte er vor sich hin, dann sagte er: „Ich glaube, das sollten wir besser unter vier Augen Besprechen. Erion, kümmere dich bitte um unsere Gäste.“ Damit stolzierte er an uns vorbei, aus dem Saal hinaus und achtete nicht weiter darauf, ob Fang ihm folgte. Veith wurde in seinem Kielsog mitgenommen. Unser gehufter Führer war irgendwann verschwunden und so waren Pal, Domina und ich jetzt mit dem Sohn – Erion – und der fremden Wölfin allein, was irgendwie die Spannungen steigerte.

„So“, sagte Erion, den Blick neugierig auf mich gerichtet, „stimmt es dass du dich an nichts mehr erinnern kannst? Nicht mal an deinen Namen?“

„Nein, kann sie nicht“, antwortete Pal für mich.

„Okay, dieses Bevormunden hört auf der Stelle auf.“ Ich drückte ihm die Hand, um deutlich zu machen, dass ich nicht böse war, es aber ernst meinte. Dann wandte ich mich Erion zu. „Meinen Namen weiß ich inzwischen.“

„Dann kannst du dich also doch an etwas erinnern?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Er stand in meinem Ausweis. Ich habe ihn gelesen, nur deswegen weiß ich wie ich heiße.“

„Und wie heißt du?“

„Wen interessiert das?“, fuhr die blonde Wölfin an seiner Seite dazwischen. „Das Wolfsbaumrudel will seine Probleme nur auf euch abwälzen. Schick sie weg, sie alle, oder noch besser, knallt sie gleich ab. Ein paar Trophäen hätten im Speisezimmer noch Platz.“

Oh Scheiße, wie war die denn drauf? Und hier wollten die mich lassen? Denen ging es wohl zu gut!

Domina legte den Kopf schräg. „Kaj, wie schön dass du dich beteiligen willst. Wurden dir schon die Krallen gezogen, oder bist du immer ein braves Haustier gewesen?“

„Ein Schoßhund“, flüsterte ich und wurde mir erst klar darüber, dass mich alle bis auf Erion verstanden, als Kajs Kopf vor Wut hochrot wurde, Dominas Lächeln einen belustigten Ausdruck annahm und Pal anfing zu lachen. Dieses verdammte Gehör von diesen verdammten Wölfen!

Die Blonde – Kaj? – sprang über die Couch, so schnell, dass ich erst verstand was geschehen war, als Pal mich hinter sich gezogen hatte und Kaj warnend anknurrte. Kaj Blick wechselte zwischen Pal und mir. „Pass auf was du sagst, es wird nicht immer jemand da sein, der dich beschützt!“

„Ach, hast du dein Repertoire erweitert?“, frage Domina. „Jetzt sind es nicht mehr nur Welpen, die du frisst, sondern auch junge Frauen?“ Zuerst glaubte ich, dass sie Löwin einen schlechten Scherz machte, aber die Spannung im Raum belehrte mich eines Besseren. Wie die beiden Frauen sich anstarrten, als wartete jede darauf, dass die andere den ersten Schritt machte, verdeutlichte mir, dass es hier um etwas Ernstes ging. Kaj hatte Kinder gefressen? Okay, meine Fantasiespielte mir vermutlich einen Streich. Ich musste etwas missverstanden haben. Wölfe, die Kinder fraßen, waren doch ein wenig zu märchenhaft. Die Geschichten vom großen, bösen Wolf, waren nichts weiter als das, Geschichten. Hoffte ich zumindest.

„Kaj“, sagte Erion in ruhigem Ton. „Ich glaube, es ist bereits an der Zeit, dass du deiner Arbeit nachkommst, meinst du nicht?“

Auch eine nette Art ihr zu erklären, dass sie sich verziehen sollte, bevor es hier zu einer Eskalation kam. Sie knurrte mich an und wehte dann mit fliegenden Haaren an mir vorbei.

„Also das finde ich echt gruselig“, murmelte ich.

„Was?“, fragte Erion ehrlich neugierig.

„Naja, wenn sie knurren. Ich meine wenn sie auf vier Beinen laufen, okay, das gehört dazu, aber ein menschlicher Kehlkopf sollte nicht in der Lage sein einen solchen Ton zustande zu bringen.“

Erion sah mich an und dann fing er aus tiefster Seele an zu lachen.

 

°°°

 

„Wow!“ Diese Blumenpracht war einfach genial. Noch nie hatte ich solche Blüten gesehen und solche lieblichen Gerüche gerochen. Gut, noch nie war bei mir relativ. Aber ich glaubte nicht daran. Einige Blumen kamen mir bekannt vor, manche konnte ich sogar mit Namen benennen, wie die Orchideen in dem Beet vor dem Haus, aber diese hier waren mir völlig neu.

„Gefallen sie dir?“, fragte Erion.

„Ja, sie sind wunderschön.“ Ich hockte mich vor die schwarzen Blüten mit dem blauen Kern und atmete tief ein.

Pal und Domina waren zu Fang gerufen worden, um über den toten Einzelläufer zu berichten, über dem ich im Wald praktisch gestolpert war. Ich war bei diesem Gespräch nicht erwünscht, was mir einen kleinen Stich gab. Nicht, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, oder so, ich … na gut, ich fühlte mich ausgeschlossen. Alles was ich in dieser Welt kannte war das Rudel und die wenigen Dinge, die sie mir bisher gezeigt hatten. Sie waren mein einziger Bezugspunkt. Ich hatte in den letzten Tagen eine Art Beziehung zu ihnen aufgebaut und war für sie immer noch eine Außenseiterin. Klar, sie waren nett zu mir, manche zumindest, okay, eigentlich nur Pal, aber immerhin. Und sie ließen mich einfach stehen. Das kann selbst dem stärksten Gemüt einen Tiefschlag versetzen.

„Sie werden Nachtstern genannt.“

Lächelnd sah ich zu Erion nach oben. Als mich Gott und die Welt hatte einfach stehen gelassen, nahm er meine Hand und brachte mich nach draußen in den Garten. Wenigstens einer der sich um mich kümmerte. Auch wenn es nur was mit höflichen Manieren zu tun hatte. Die Wölfe konnten sich ruhig eine Scheibe davon abschneiden. Es war ja nicht so, dass ich nicht auch was zu dem Vorfall beizutragen hätte.

Erion hockte sich neben mich. „Wenn nachts die ersten Sterne am Himmel stehen, fangen auch die Blüten an zu funkeln.“

„Das muss toll aussehen.“ Ich fuhr über die wachsartigen Blätter. Ein leichtes Glitzern blieb an meinen Fingern haften.

„Es ist, als wenn die Blüten den Himmel spiegeln“, raunte er.

Das Bild einer blauen Rose stieg in mir auf. Ihre Knospe glitzerte, aber etwas in mir sagte künstlich. Eine Erinnerung? Wenigstens ohne Kopfschmerzen. „Da, wo ich herkomme, gibt es solche Blumen nicht.“ Keine Ahnung woher ich das wusste, aber an der Aussage war nicht zu rütteln. Das spürte ich ganz tief in mir.

„Du kannst dich also doch an manche Dinge erinnern.“

Ich ließ die Blumen Blumen sein und richtete mich auf. Meine Hände wischte ich an meiner Hose ab, die war eh völlig verdreckt. „Es ist weniger eine Erinnerung als Wissen. Du könntest mich jetzt fragen wer Elvis Presley ist, oder wie der erste Mann hieß, der auf den Mond geschickt wurde und ich könnte es dir ausführlich beantworten. Aber wenn du mich auch nur nach meiner Schuhgröße fragst, bin ich völlig überfordert. Ich musste in meinen Ausweis sehen, um zu wissen, wie ich heiße und wie alt ich bin, brauchte einen Spiegel um in Erfahrung zu bringen, wie ich aussehe. Nicht mal meine Haarfarbe kannte ich, nachdem ich auf diesem Dachboden aufgewacht bin. Ich weiß viele Dinge, aber ich selbst bin mir fremd.“

Erion stand stumm neben mir und musterte mich, als befürchtete er, dass ich jeden Moment verrückt werden könnte. „Ihr habt jemanden auf den Mond geschickt?“, fragte er verwirrt. „Warum?“

Ganz langsam verzog sich mein Mund zu einem Lächeln. „Neil Armstrong“, sagte ich und fing an zu erklären, von Wissenschaft und Raketen und vieles andere. Ich war selber überrascht, wie viel Wissen sich in meinem Kopf versteckt hatte.

Immer wieder wenn ich ihm ein Stichpunkt gab, fragte er nach Gegebenheiten, aus einer Welt die er nicht kannte und an die ich mich nicht erinnerte. So kamen wir auf Themen wie Strom, Shakespeare und Sandwiches. Ich erzählte ihm von Toastern, Geräte, mit denen man sein Brot rösten konnte und Handys, schnurlose Telefone, mit den man mit Leuten sprechen konnte, die weit entfernt waren.

„Sowas gibt es hier auch, wir nennen es Vox“, warf er ein.

Autos, die mechanische Version zum hiesigen Moob, faszinierten ihn, Untergrundbahnen, Rolltreppen, Bewegungsmelder, all sowas.  

Wir saßen auf einer Bank, merkten kaum, wie die erste Sonne langsam am Horizont verschwand, als mir aufging, wie lange wir bereits hier draußen sein mussten.

„Dann habt ihr also in jedem Raum diese metallenen Rohransammlungen mit heißem Wasser an der Wand zu hängen? Das muss doch furchtbar hässlich aussehen.“

Unser aktuelles Thema waren Heizungen. „Nicht in jedem. Manche Räume werden auch noch mit Öfen beheizt. Nicht viele, aber genug. Und ja du hast recht, Heizungen sind hässliche Gebilde, außer sie werden verkleidet und verschwinden so aus dem Sichtfeld.“ Während er darüber nachdachte, huschte mein Blick mal wieder zum Haus, wie schon oft in den letzten Minuten.

„Möchtest du reingehen? Ist dir kalt?“

„Nein, das nicht. Ich frag mich nur, was die anderen so lange machen. Ich meine, das mit den toten Einzelläufern war zwar schrecklich und so, aber es kann doch nicht Stunden dauern darüber zu berichten. So viel gab es auch nicht zu sehen.“

„Möchtest du nachsehen gehen?“

„Ich will mich nicht aufdrängeln.“ Eigentlich wollte ich das schon, aber ich würde niemand hinterherrennen, bei dem ich unerwünscht war.

„Na komm.“ Er stand auf und reichte mir seinen Arm. Ich kicherte, hakte mich aber trotzdem bei ihm ein. „Was ist so komisch?“

„Du, diese Geste. Das ist so … extravagant, so nobel. Ich wusste gar nicht, dass es heutzutage noch Gentlemens gibt.“

„Gentlemens?“

„Vornehme Herren mit außerordentlich guten Manieren. Und manchmal ein bisschen arrogant.“

„Und, ist das schlimm?“ Er führte mich den verschlungenen Pfad durch den Garten, den wir gekommen waren. Ein kleiner Springbrunnen plätscherte munter vor sich hin. Ein Swimmingpool mit Sonnendeck war nur ein Stück weiter. Das hier musste alles echt teuer gewesen sein. So viel Luxus kostete Geld.

„Nein, ganz im Gegenteil, nur … ungewohnt. Ich glaube nicht, dass ich jemals einem Gentleman begegnet bin.“

„Na dann wurde es ja Zeit.“ Er schien äußerst zufrieden mit sich. Das „vornehme Herren mit guten Manieren“ schien seinem Ego gutgetan zu haben, nur das mit der Arroganz hatte er schlicht überhört.

„Um noch mal auf das Thema von eben zurück zu kommen. Du hast gesagt ihr verkleidet eure Heizungen. Meinst du damit kostümieren?“

Ich lachte auf. „Nein, um Gottes Willen. Ich meine, sicher, Verrückte gibt es überall, würde mich nicht wundern wenn jemand seine Heizung auf diese Art verkleidet, aber eigentlich meinte ich damit eher verstecken. Sie wird kaschiert, damit es aussieht, als wäre sie ein Teil der Wand.“

„Wer ist eigentlich dieser Gott? Du hast ihn schon ein paar Mal erwähnt.“ Wir hatten das Haus erreicht. Er öffnete die Terrassentür und ließ mir den Vortritt. Nicht so wie die Wolfskerle, die immer zuerst durchgingen, um nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten. Was leicht paranoid wirkte.

„Wie galant.“ Ich ging hindurch und wartete auf ihn, um mich wieder einzuhaken. Dann fragte ich. „Kennt ihr hier Religion?“

„Das Wort ist mir nicht geläufig.“

„Hm.“ Er führte mich weiter durchs Gebäude, während ich überlegte, wie ich ihm das am besten erklärte. „Also in meiner Welt glauben die Menschen daran, dass alles auf der Erde, inklusive sie selber, von einer höheren Macht erschaffen wurde.“

„Gott.“

„Genau. Die Bibel erzählt uns diese Geschichte.“

„Die Bibel?“

„Unser Glaubensbuch. Naja, zumindest aus dem Teil der Welt, aus dem ich komme. Es gibt auch andere Glaubensrichtungen. Manche davon haben nur einen Gott, andere eine ganze Armee davon. Außer China, China hat keine Götter, nur Wesen mit gottähnlicher Kraft.“

„Du redest davon, als würdest du selber nicht daran glauben.“

„Tue ich auch nicht.“ Wir waren in der Zwischenzeit wieder auf dem langen Korridor, über den ich das Haus das erste Mal betreten hatte, nur dass ich dieses Mal nach rechts geführt wurde. „Ich glaube an die Wissenschaft, an die Evolutionstheorie.“

„Ich würde ja nur zu gerne wissen, was das nun wieder ist, aber wir sind am Ziel.“ Er hatte vor einer hohen Eichentür mit sehr lebhaften Schnitzereien angehalten. Sie zeigten das bevorzugte Motiv in diesem Haus: die Jagd. Nur leider wurde hier mit Pfeilen auf Wölfe geschossen, sehr großen Wölfe. Einer der Jäger streckte triumphierend den Arm in die Luft, den Stiefel auf einen großen, haarigen Leib gestellt. Die Augen des toten Wolfs auf mich gerichtet. Es war eindeutig, welche Art von Wolf hier stumm auf dem Holz gejagt wurde.

„Wie makaber.“

„Mein Vater lebt für die Jagd. Er darf Werwölfe nicht töten, aber kein Gesetzt verbietet ihm, sie nicht in seine Tür zu ritzen.“

„Und ich hab mich schon gewundert, was Fang gegen ihn hat“, überlegte ich laut.

„Werwölfe sind von Natur aus gegen jeden misstrauisch, der nicht ins Rudel hineingeboren wurde …“

Da sagte mal jemand ein wahres Wort.

„… und mit Magiern haben sie im Besonderen ihre Probleme.“ Er klopfte an die Tür.

„Warum?“

„Vor Jahrhunderten, als die Magier mächtiger wurden, breiteten sie sich aus, drangen auch in die Territorien der Werwölfe ein. Das haben die nicht besonders gut verkraftet.“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen.“

Von drinnen ertönte ein gedämpftes „Herein“.

Erion machte die Tür auf und führte mich hindurch. Wir betraten ein Arbeitszimmer, mit dunkler Vertäfelung an den Wänden und Kirschparkett. Die Fenster waren mit weinroten Vorhängen gesäumt und an den Wänden sammelten sich deckenhohe Bücherregale, alle voller Aktenordner. Nur wenige Bücher drückten sich dazwischen herum. In der Mitte des Raums stand ein protziger Schreibtisch, aus dem gleichen Holz wie der Boden. Ungefähr in der Mitte des Tischs war eine runde, schwarze Glasplatte eingelassen. Alles in diesem Raum wirkte dunkel und bedrückend, einschließlich des Mannes, der sich hinter seinem Schreibtisch in den lederbezogenen Stuhl zurückgelehnt hatte. Ich glaubte zumindest, dass es Leder war, es sah so aus, aber ganz sicher konnte man sich hier ja nicht sein.

„Ja?“, fragte er unfreundlich.

„Talita wollte wissen, ob du noch mit den Wölfen vom Wolfsbaumrudel beschäftigt bist“, sagte Erion.

„Wie man sieht, nein.“

Ja, das sah ich und bereitete mir ein ganz mulmiges Gefühl. „Und wo … wo sind sie?“

„Ich gehe mal davon aus, dass sie sich auf halbem Wege zurück in ihren Wald befinden.“

„Sie sind gegangen?“ Ich schloss schnell den Mund, bevor noch ein „ohne sich von mir zu verabschieden?“ oder noch besser „ohne mich?“ hinterher rutschen konnte. Das hatte ich nicht erwartet. Na gut, von Fang schon, obwohl … nein, selbst von ihm nicht. Aber was mich am schlimmsten traf war die Tatsache, dass nicht mal Pal nach mir gesucht hatte, bevor er mich zurückgelassen hatte.

„Ja sie sind weg. Und sobald ich herausgefunden habe, was mit deinem Kopf los ist, wirst du es auch sein. Hoffentlich.“

„Papá“, mahnte Erion. Vielleicht wollte er etwas rücksichtsvoll sein. Wenn ich so verloren aussah, wie ich mich fühlte, konnte ich ihm das nicht verübeln.

„Nein, dein Vater hat recht. Je schneller ich herausfinde, was mit mir passiert ist, desto schneller kehrt für uns alle wieder Normalität ein.“

„Genau“, stimmte Anwar mir zu. „Morgen werde ich Gaare damit beauftragen, sich mit dir zu befassen. Wenn einer herausfinden kann, woher du kommst und was mit dir geschehen ist, dann ist er es.“

„Das klingt gut“, sagte ich tonlos. „Danke.“ Ich drehte mich um und verließ das Büro. Es tat mehr weh zurückgelassen zu werden, als ich geglaubt hatte. Ich meine, ich wusste doch die ganze Zeit, dass sie mich hierher brachten, weil sie mich loswerden wollten. Doch irgendwie hatte tief in mir drinnen etwas damit gerechnet, das … was? Dass sie es sich anders überlegen würden und mich wie mit sich zurück in den Wald nahmen? Okay, Schluss mit Tagträumen. Die Realität sah folgendermaßen aus: Sie hatten sich um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich gut untergebracht war. Sogar an einem Ort, wo man mir helfen konnte.

Irgendwie schmeckte dieses kleine Trostpflaster trotzdem bitter. Sie hätten sich ja wenigsten verabschieden können.

 

°°°

 

Porentiefrein erhob ich mich aus der Badewanne, die wie ein großes, gewölbtes Ahornblatt aussah – ein Herbstblatt, in schönen Gelb und Rottönen – und wickelte mich in einem flauschigen Handtuch ein. Diese unglaubliche und einmalige Badewanne, der große Spiegel und die rötlichen Fliesen unter mir gehörten zu meinem persönlichen Badezimmer. Zumindest solange ich hier wohnte.

Vor einer knappen Stunde hatte Erion mir mein Zimmer für meinen Aufenthalt in diesem Haus gezeigt und dieses unfassbare Badezimmer – äh Feuchtraum – gehörte dazu. Ich hatte es mir nicht nehmen lassen,  mir den Dreck von gestern vom Körper zu schrubben und war entsetzt darüber gewesen, wie verschmutzt ich wirklich aussah. Wie der letzte Penner. Jetzt strahlte ich wieder Reinheit aus. Mein weißblondes Haar war wieder genau das, weißblond und meine Haut war sauber.

Barfuß tappte ich zu der Spiegelwand und sah einmal mehr dieses fremde Gesicht. Langsam wurde es mir vertrauter, aber noch immer war das nicht ich. Diese Person im Spiegel war wie eine Bekannte, der ich mich nur langsam annähern konnte. Würde dieses Gefühl der Befremdlichkeit irgendwann verschwinden, oder würde ich fortan damit leben müssen? Nein, spätestens, wenn ich meine Erinnerung zurückgewonnen hatte, würde alles wieder in normalen Bahnen laufen. Hoffentlich.

Ich rubbelte mir mein kurzes Haar trocken und verließ dann im Handtuch das Badezimmer. Das Licht, das von den Magieadern in der Wand ausging – und auch für eine angenehme Raumtemperatur sorgte –, verlosch von allein. Erion hatte mir erklärt, wie das funktionierte. Lampen suchte man in diesem Haus – wie auch in allen anderen Magierhäusern – vergeblich. Sie arbeiteten mit der Magie, formten sie und machten sie sich auch auf diese Art zu Nutze. So hatten sie die Magie auch in ihren Wänden eingearbeitet, um sie jederzeit nutzen zu können. Eine Verlängerung der Magieadern aus der Erde, wie Erion mir erklärt hatte – was auch immer das bedeutete.

Es sah aus wie leuchtende Längsstreifen in der Wand. Wunderschön und auch sehr angenehm für die Augen.

Mein Schlafzimmer war sehr unpersönlich. Schwarz und weiß waren hier die dominierenden Farben. Ein flaches, offenes Bett im Style eines Futons, mit einem seidenen Überhang, der mit Trodeln versehen war. An der Wand hinter dem Bett hing ein großer, rahmenloser Spiegel, der den eigentlich großen Raum noch größer erscheinen ließ. Auch hier waren in den Wände die Magieadern eingelassen, die bei meinem Eintritt anfingen, sanftes Licht abzugeben. Es war noch nicht gänzlich dunkel, aber die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten und ohne Licht würde ich wahrscheinlich über meine eigenen Füße stolpern.

Außer dem Bett mit den Nachtschränkchen gab es hier noch einen Frisiertisch, eine kleine Couch mit Tisch, eine große Kommode und einen Kleiderschrank, der jetzt mein Ziel war.

Laut Erion war er mit Klamotten gefüllt und da ich nicht sagen konnte, ob meine Kleidung sich noch retten ließ, musste ich mir das Zeug erst mal antun. Hauptsache, es beinhaltete mehr Stoff, als die Werwölfe für nötig hielten.

Bei den Gedanken an sie, kniff ich die Lippen zusammen. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich einfach so aus den Staub machten. Warum auch sollten sie sich weiter mit mir abgeben? Ich war nicht mehr länger ihr Problem. Sie hatten ihre Pflicht erfüllt, also bye bye, Talita. Doch von Pal hätte ich das nicht erwartet. Er war mein … was? Vertrauter? Freund? Guter Bekannter? Ich musste mir diesen Käse aus dem Kopf schlagen. Pal war nichts anderes als ein besser Gefangenenwärter. Zwar ein netter, aber trotzdem nur ein Aufpasser. Er hatte keinerlei anderes Interesse an mir, tat es auch noch so weh, das einzusehen.

Entschlossen schob ich die Gedanken beiseite und machte mich an das Innere des Kleiderschranks. Auf einer Stange hingen mehrere Stücke, die für Frauen gedacht waren. Kleidung, die eine Mischung aus langen Gewändern und Kleidern aus Samt war. Es gab verschiedene Farben, manche mit Mustern an den Säumen, ein paar mit Glitzersteinchen verziert – die funkelten so schön. Auch eines mit eingearbeiteten Goldfäden entdeckte ich. Die Teile waren echt hübsch und bedecken alles, was nötig war – juhu!

Letztendlich entschied ich mich für ein reinweißes Stück aus Samt, das an der Taille eng geschnitten war. Links hatte es einen Schlitz bis zum Knie und der viereckige Ausschnitt zeigte nicht zu viel Dekolleté. Es war mit einem unauffälligen Kirschblütenmuster versehen, das aber nur ins Auge fiel, wenn das Licht im richtigen Winkel drauf schien. Trotz der großen Kapuze war es mehr ein Kleid als eine Robe. Das gefiel mir ausgesprochen gut. Nur unterwäschetechnisch mussten die sich hier noch was einfallen lassen. Die Schlüpfer sahen aus, als stammten sie aus dem letzten Jahrhundert und die Bezeichnung BH war an den Leutchen hier wohl komplett vorbeigegangen.

Ich machte mich daran, meine Haare vor dem gutausgestatteten Frisiertisch in Ordnung zu bringen – brachte nicht viel, es blieb kraftlos und hing schlapp an meinem Kopf herab –, als es an der Tür klopfte. Ich ließ die Bürste einfach auf den Tisch fallen und riss die Tür auf. Keine Ahnung, wen ich erwartet hatte, aber den alten Satyr von der Eingangstür nicht.

Er ignorierte meine Enttäuschung, ob nun aus Höflichkeit, oder weil es ihn nicht interssierte, war dabei nicht von Bedeutung. „Das Abendessen ist serviert.“

„Oh.“ Abendessen. Nicht sehr aufregend. Und ob ich mit diesem unfreundlichen Kerl von Anwar an ein und demselben Tisch sitzen wollte, wusste ich nicht so ganz. „Ähm …“

„Soll ich Ihnen den Weg zeigen?“, fragte er freundlich.

Wäre wahrscheinlich nicht so verkehrt, sonst landete ich bei meiner Suche nachher nur noch im Kerker. Gab es hier sowas? Okay, das war definitiv ein verkehrter Gedankengang. „Ja klar, das wäre vermutlich … äh, ja.“

„Wie Sie wünschen.“ Er verbeugte sich ein kleines Stück und wartete dann, bis ich meine Schuhe angezogen hatte.

Den Korridor ging es entlang, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Hier hielt der Satyr sich rechts. Ich war die ganze Zeit am überlegen, was ich sagen könnte, weil ich die Stille als ziemlich drückend empfand, aber er schien sich daran nicht zu stören. Gut, wenn er das nicht tat, dann sollte auch ich es nicht tun. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Man hatte ja gesehen, wozu das führte – blöde Lykaner.

„Das Esszimmer ist gleich hier vorn“, sagte er, nachdem er mich gefühlte hundert Flure entlang geführt hatte. Schon seltsam, so groß kam mir das Haus gar nicht vor. „Wenn ich sonst nichts weiter für Sie tun kann?“

War das eine Frage? „Ähm, nein?“

Er beugte sein Haupt und ließ mich stehen. Ich überbrückte die letzten beiden Meter und betrat ein Essezimmer, von dessen Anblick allein mir schon schlecht wurde. Die Wände hingen voll mit den Köpfen ausgestopfter Kadaver und gaben einem das Gefühl, bei jeder Bewegung beobachtet zu werden. Und hier sollte ich essen? Da waren die Magenkrämpfe doch schon vorprogrammiert. Warum nur hatten die Werwölfe mich ausgerechnet hier gelassen? War Anwar von Sternheim wirklich der Beste, der mir helfen konnten, oder war ich ihnen so zuwider, dass sie mich aus reiner Bosheit hier abgeliefert hatten?

„Talita.“ Erion saß schon an der großen Tafel. Sein Gedeck stand auf der linken Stirnseite des Tisches, das seines Vaters auf der rechten. Auch der war bereits anwesend. Die beiden schienen nur noch auf mich zu warten. Für mich war genau in der Mitte gedeckt worden. Drei freie Stühle zur linken, drei zur rechten. Hm, ganz schön unpersönlich. Hatten die Angst, dass ich beim Essen spuckte, oder was?

„Komm, setzt dich zu uns“, sagte Erion, während er sich von seinem Platz erhob, um mir meinen Stuhl zurechtzurücken.

„Danke.“ Ich lächelte ihn an, ließ mir von ihm helfen und  sah dann zu, wie Erion seinen eigenen Platz wieder einnahm.

Als die anderen beiden die Speise unter ihrer Essensglocke lüfteten, tat ich ihnen das gleich. Braten mit  einem roten, undefinierbaren Gemüse und etwas, das aussah wie Kartoffelbrei, lächelten mir verführerisch entgegen. Mein Magen grummelte erwartungsvoll. Ich wusste nicht genau, was ich da auf dem Teller hatte, aber hmm … der Geruch der mir entgegen schlug, ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Okay, vielleicht brachte ich es ja doch fertig, unter den vielen toten Blicken in diesem Raum etwas zu mir zu nehmen. Auf jeden Fall wäre es eine Schande, dieses Essen verkommen zu lassen.

Zögernd schnitt ich mir ein Stück von dem Fleisch ab und probierte es. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was das war – Hexenhirn? –, aber es schmeckte köstlich. Das Gemüse, das Ähnlichkeit mit roten Erbsen hatte, war hervorragend gewürzt und der Brei war definitiv nicht aus Kartoffeln, aber, was das war, konnte ich auch nicht sagen und irgendwie traute ich mich nicht zu fragen. Nicht, dass ich Angst hatte, hier auf der Speisekarte zu landen – den ich ging nicht davon aus, dass Magier Kannibalen waren –, aber ich kam mir irgendwie dumm vor zu fragen. Das hier war so edel, so … gehoben. Ich wollte nicht wie ein dummes Landei wirken.

Eine ganze Weile war nichts außer dem Klappern unseres Besteckst zu hören. Keiner der beiden Männer sprach ein Wort. Das schien hier zum guten Ton zu gehören. Wenn ich da an die wenigen Essen mit den Werwölfen dachte, das war eine ganz andere Atmosphäre und wenn ich ehrlich war, fühlte ich mich dort wohler. Hier war es so … drückend, beherrscht. Es schien als hätten die beiden sich nicht viel zu sagen.

So sollte eine Familie nicht sein

„Nun erzähl mal, Talita“, durchbrach Anwar irgendwann dieses Vakuum. „Wir haben deine Geschichte ja schon aus den Mäulern dieser Unwürdigen gehört, aber mich würde jetzt interessieren, wie du es für dich erlebt hast.“

Unwürdigen? Mein Gott, da hatte aber jemand ein aufgeblasenes Ego. Als wenn er in der Lage wäre zu entscheiden, wer würdig war und wer nicht. Überhaupt, wofür eigentlich unwürdig?

„Papá, nicht jetzt. Das Ganze muss für sie schon schwer genug sein, auch ohne neugierige Ohren, die es immer wieder von neuem hören wollen. Ich kann mir auch nicht vorstellten, dass Talita schon wieder darüber sprechen möchte.“

„Ach, papperlapapp“, wischte er den Einwand seines Sohnes einfach beiseite. „Talita ist hier, damit ich ihr helfe, dann muss sie auch sprechen. Ich kann schließlich auch keine Wunder bewirken. Je mehr Informationen ich habe, umso besser kann ich arbeiten.“

Hatte er vorhin nicht noch gesagt, dass sich ein gewisser Gaare um mein Anliegen kümmern würde, oder hatte ich da etwas falsch verstanden?

Anwar wandte sich mir zu. „Also, sprich.“

Wie sich das anhörte, gehorche oder stirb! Ich warf einen kurzen, unsicheren Blick zu Erion. „Ähm, was wollen Sie denn wissen?“, fragte ich vorsichtig.

„Erzähl einfach. Es interessiert mich, wie du deine Zeit unter diesen ungehobelten Wilden erlebt hast.“

„Papá, ich glaube nicht …“

Mit einer unwirschen Handbewegung, schnitt Anwar seinem Sohn das Wort ab und richtete seinen erwartenden Blick dann auf mich.

Was war denn jetzt los? Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es um etwas ganz anderes ging. Ich sah zwischen den Beiden hin und her und öffnete dann den Mund, einfach weil es unhöflich war zu schweigen. „Ähm, naja, ich bin kurz auf dem Dachboden zu mir gekommen, nur ganz kurz und mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Und dann bin ich wieder ohnmächtig geworden.“

„Einfach so?“, fragte Erion.

Aha! Da war wohl noch jemand von der Neugierde gepackt. „Ja. Keine Ahnung warum. Das nächste Mal bin ich im Arbeitszimmer zu mir gekommen. Es war seltsam, anfangs habe ich alles nur wir durch Watte wahrgenommen. Und die ganzen Halbnackten haben mich echt verunsichert. Sowas kenne ich nicht.“

„Du kannst dich also doch an Gegebenheiten aus deiner Vergangenheit erinnern“, stellte Anwar fest.

Wie oft hatte ich das in den letzten Tagen bereits erklärt? Ich konnte es gar nicht mehr zählen. „Nur an Dinge, die mich selber nicht betreffen, nichts Persönliches.“

Er nickte, was wohl so viel hieß, wie, dass er verstanden hatte und ich fortfahren sollte. Ein höfliches bitte war wohl zu viel verlangt.

„Naja, ich war dann in diesem Arbeitszimmer und Prisca wollte wissen, wer ich bin und wie ich in ihr Lager gekommen war und da wurde mir klar, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Alles war einfach irgendwie … weg. Ich wusste nicht mehr wie ich heiße, wo ich wohne und wie ich dahin gekommen bin. Aus dem Spiegel sieht mich eine unbekannte Frau an. Das ist ein wirklich komisches Gefühl.“

„Das können wir uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen“, meinte Erion mitfühlend.

„Nein“, bestätigte ich. „Das lässt sich auch schwer erklären, man muss es erleben, um es zu verstehen und das wünsche ich ehrlich keinem.“ Sich selbst zu verlieren war eines der schrecklichsten Dinge, die einem widerfahren konnte.

„Und was geschah dann?“, fragte Anwar, von Mitgefühl keine Spur.

Ich hatte das Gefühl, dass es ihm im Grunde gar nicht interessierte, was mit mir geschehen war. Ihn würde es auch nicht stören, wenn ich morgen einfach auf nimmer wiedersehen verschwand, nur, warum wollte er dann wissen, was im Lager passiert war? Das ergab keinen Sinn. „Danach hat Prisca nach der Heilerin schicken lassen. Ich hatte immer noch diese schrecklichen Kopfschmerzen. Dann bin ich auf mein Portemonnaie gestoßen und da habe ich wenigstens ein paar Kleinigkeiten über mich erfahren, wie meinen Namen zum Beispiel. Und auch eine Karte von einem Tierarzt. Deswegen glaube ich auch, dass ich da, wo ich herkomme, eine Katze habe.“

„Was ist ein Tierarzt?“ Erion hatte sein Besteck in der Zwischenzeit zur Seite gelegt und lauschte angeregt meiner Erzählung.

„Das ist ein Heiler für Tiere.“

„Ah.“ Er nickte verstehend.

„Deswegen glaube ich auch, dass ich eine Katze besitze. Die Werwölfe … äh, Lykaner nennen mich immer Katze, weil ich nach einer rieche und irgendwie muss der Geruch ja an mich gekommen sein.“

Erion lehnte sich leicht zurück. „Die Lykaner haben gesagt, dass du eine Therianer bist.“

„Ich weiß, bin ich aber nicht, ich bin ein Mensch.“

„Mensch?“, fragte er neugierig. „Was soll das sein?“

„Na ich.“ Ich zeigte auf mich. „Ihr.“ Ich zeigte auf die beiden. Irgendwie waren sie ja auch Menschen, wenn auch welche, die Magie wirken konnten. „Die Lykaner. Einfach jeder der zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf hat. Naja, also eigentlich alle, die so aussehen wie wir drei.“ Denn ich hatte auch schon Wesen gesehen, die zwar jeweils ein Paar Arme und Beine besaßen, aber definitiv nicht menschlich waren.

„Ah“, machte Erion. „Du meinst die Mortaliagestalt, oder auch einfach Mortatia.“

Das stand dann wohl als Synonym für Mensch. Mortatia notiert. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass ich das bis nach dem Abendessen nicht schon wieder vergessen hatte.

Anwar schien das zu langweilen. Er kaute sein Fleisch, lauschte dann einem Moment dem Gespräch zwischen seinem Sohn und mir und warf dann ein: „Was geschah dann weiter, nachdem du deinen Namen herausgefunden hast?“

Ob ich ihm mal sagen sollte, wie unhöflich er war? Ich verkniff es mir, ich war schließlich auf seine Gastfreundschaft und Hilfe angewiesen und hatte keine Lust, bereits am ersten Abend bei ihm auf die Straße gesetzt zu werden. „Naja, danach haben sich die anderen meine Sachen angesehen. Sie konnten sich auch nicht wirklich einen Reim darauf mache. Das meiste von dem Zeug war ihnen völlig unbekannt und dann … naja …“ Sollte ich erzählen, dass Wulf versucht hatte, mich zu fressen?

„Was, dann?“ Ein begieriger Ausdruck trat in Anwars Gesicht. Irgendwie war der unheimlicher, als die Zähne von Wulf, die sich fast in meine Kehle gebohrt hatten.

„Ähm … vor einiger Zeit ist ein Mädchen aus dem Rudel verschwunden und wird seitdem vermisst.“

„Wahrscheinlich ist sie bloß abgehauen“, sagte Anwar abwertend. „Von diesen Wilden kann man auch nichts anders erwarten. Die sind sich selbst so zuwider, dass sie sich gegenseitig im Stich lassen.“

Irgendwie wollte es mir so gar nicht passen, wie abwertend der Kerl über die Werwölfe sprach. Es war ja fast so, als wäre es ihm ein persönliches Anliegen, die Wölfe in so schlechtem Licht wie möglich dastehen zu lassen. „Nein“, fühlte ich mich daher verpflichtet zu sagen, auch wenn die Mistkerle mich so schändlich zurückgelassen hatten. „Ihnen liegt sehr viel aneinander, sie passen aufeinander auf, deswegen hat das Verschwinden sie auch so getroffen.“

„Na wie es scheint, passen sie aber nicht genug aufeinander auf“, sagte Anwar mit einem seltsamen Unterton und in dem Moment überkam mich das Gefühl, dass er mehr über diese Sache wusste, als er hier verlauten ließ.

Das ist Blödsinn, sagte ich mir. Anwar von Sternheim hatte nichts mit den Lykanern zu tun. Trotzdem blieb dieses drückende Gefühl.

„Und was hat das verschwundenen Mädchen mit den weiteren Vorgängen zu tun“, fragte Erion dann. „Du hast es so klingen lassen, als sei es wichtig.“

War es ja auch und trotzdem wusste ich noch nicht so recht, ob ich es wirklich erzählen sollte. Pal hatte mir doch erklärt, dass Lykaner ihre Probleme allein regelten und sie keinen von außen etwas angingen. Missbrauchte ich nicht das Vertrauen, wenn ich erzählte, was da so los war? Andererseits hatten sie mir nie Vertrauen entgegengebracht. Deswegen war ich ja jetzt hier, weil sie mich nicht haben wollten. Nein, entschied ich, ich war ihnen nichts schuldig. Sie hatten mich einfach zurückgelassen, ohne noch mal einen Blick über die Schulter zu werfen und auch wenn ich es nicht wollte, dass gab mir einen Stich mitten ins Herz. „Naja, da wo dieses Mädchen verschwunden war, roch es überall nach Katze und weil ich auch nach Katze rieche, hat einer von ihnen geglaubt, dass ich etwas damit zu tun habe und mich angegriffen.“

„Was?!“, fuhr Anwar auf und ich zuckte mal wieder – Achtung, Achtung! – vor Schreck zusammen. Hatten wir heute ja noch nicht all zu oft. „Diese Wilden, wie können sie es wagen?!“ Er sprang tatsächlich vom Stuhl auf und lief aufgebracht im Raum auf und ab. „Ein unschuldiges, verwirrtes Mädchen einfach so anzugreifen, das ist eine Schande! Dafür sollten sie vor den Rat gestellt werden. Bestrafen sollte man sie!“

Verwirrt? Also eigentlich sah ich in der Zwischenzeit doch ziemlich klar.

„Diese Köter sind eine Schande für die ganze magische Gesellschaft! Sie sind nicht mehr als eine bessere Jagdbeute!“

„Papá …“

„Sie sind nichts als unzivilisierte Tiere. Dass sie mit in den Codex aufgenommen wurden kann ich bis heute nicht verstehen. Aber eines Tages, das schwöre ich dir mein Sohn, eines schönen Tages werden sie nichts weiter als meine Beute sein, die ich jagen kann, wann immer es mir beliebt. Diesen Tag sehne ich herbei und wenn er kommt, werde ich ihn feiern und sie alle jagen!“ Mit diesen Worten drehte er sich herum und rauschte aus dem Raum.

Ich saß einfach nur mit offenem Mund da und glaubte, mich im falschen Film zu befinden. Ja, er hatte schon recht, die Lykaner waren ziemlich wild, aber die waren doch mehr als Tiere. Sie waren auch Menschen, oder Mortatia wie Erion sie genannt hatte. Aber egal, welche Schwächen oder Fehler sie hatten, sie hatten es nicht verdient, dass man sie abknallte, weil einem ihr Fell so gut gefiel.

Erion sah wohl meine Betroffenheit. „Du musst meinen Papá entschuldigen, er ist auf die Lykaner nicht sehr gut zu sprechen.“

Sag an! „Das habe ich bemerkt“, sagte ich sehr trocken.

Erions Mundwinkel zuckten. „Du darfst ihn nicht so ernst nehmen, so was tut er hin und wieder, um seinen Frust freien Lauf zu lassen, aber er kriegt sich auch immer wieder schnell ein.“

Gut zu wissen.

Der Rest des Essens verlief eher schweigend und schon kurz danach verabschiedete ich mich mit den Worten, dass ich müde sei. Das war natürlich eine faustdicke Lüge. Ich wollte allein sein, brauchte Zeit zum Nachdenken. Es gab nämlich eine Sache, die mir trotz der Geschehnisse des Tages nicht aus dem Kopf ging und immer wieder durch meine Gedanken spukte.

Taylor.

So fand ich mich nicht viel später sitzend auf meinem Bett wieder, das Foto von dem schwarzhaarigen Jungen in der Hand und fragte mich wieder und wieder, ob das sein Name war und in welcher Beziehung er zu mir stand. Tal, hatte er mich genannt. Das war ein Spitzname. Gab man sowas nicht nur jemanden, dem man nahe stand?

Solange ich auch darüber nachdachte, ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen und das war frustrierend. Angestrengt versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, etwas aus den schwarzen Tiefen ins Licht zu befördern, aber alles, was ich erreichte, waren angehende Kopfschmerzen.

Gott, war das belastend.

Ich ließ mich rückwärts aufs Bett fallen, die Arme von mir gestreckt, aber das Foto fest in der Hand. So würde ich nicht weiter kommen und das ärgerte mich. Ich konnte wirklich nur hoffen, dass dieser Gaare etwas von seinem Handwerk verstand und meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen konnte. Diese Unwissenheit konnte einen mit der Zeit echt fertig machen, aber Erinnerungen waren wichtig, sogar Veith hatte das gesagt.

„Veith“, kam es leise über meine Lippen. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie seine Hand auf meiner Wange gelegen hatte. Was hatte der Kerl nur an sich, dass meine Gedanken, nach meinem Geschmack, viel zu oft zu ihm abschweiften? Er war so widersprüchlich. In dem einen Moment war er kalt und abweisend und im nächsten tat er dann sowas wie vorhin.

Die Berührung seiner Hand war so sanft gewesen, als befürchtete er, ich würde sonst zerbrechen. Doch was interessierte es ihn? Sonst war ich ihm doch auch ein Dorn im Auge. Verdammt, so viele Widersprüche in einer Person waren einfach nur verwirrend und ich sollte endlich aufhören, mir den Kopf über sein Verhalten zu zerbrechen. Er war gemein, arrogant und ein Idiot. Er hatte es gar nicht verdient in meinen Gedanken herum zu spuken.

Aber gestern war er so anders gewesen. Als er mich in diesem hohlen Baum gefunden hatte, als er meine Angst gesehen hatte.

Gott, so kam ich nicht weiter. Mochte jemand den Kerl verstehen, ich tat es nicht.

 

°°°°°

Tag 5

Erion stieß die Tür auf und … Bücher! Das war alles was ich wahrnehmen konnte. Die große Bibliothek im Keller beherbergte hunderte und aberhunderte von Büchern. Reihe um Reihe ordentlich in deckenhohe Regale einsortiert. Und das waren hier richtig hohe Decken, da hätte locker ein Einfamilienhaus Platz gehabt. Sogar eine Galerie war von hier unten auszumachen. Von meinem Platz konnte ich nur in einen kleinen Teil des Gewölbes hineinblicken.

Vor den Regalen waren lange Tische aufgebaut, die mit Büchern – was auch sonst – und Papieren überhäuft waren. Keine Menschenseele – Wesensseele? – weit und breit. Das Ganze wurde beleuchtet von den offenen Magieadern in den Wänden, die auch gleichzeitig für eine angenehme Raumtemperatur sorgten.

Es roch nach altem Pergament und Papier, Staub und Tinte. Ein wirklich angenehmer Geruch.

Erion hatte mich heute Morgen zum Frühstück von meinem Quartier abgeholt und mit mir allein an dem großen Tisch gesessen. Anwar war wohl in die Stadt zu irgendwelchen wichtigen Terminen gefahren, die Erion nicht näher erläutern wollte und die Einzige andere Bewohnerin dieses Haues hatte ich seit gestern Mittag nicht mehr gesehen. Es interessiert mich auch gar nicht, was mit Kaj war. Die war so schräg drauf, dass sie mir ruhig fern bleiben konnte. Wenn ich Lust darauf bekam, verspeist zu werden, würde ich mich an die Lykaner unter den Wolfsbäumen wenden – diese elenden Verräter.

„Gaare?“, rief Erion nach einigen Schritten und ließ seinen Blick durch das weitläufige Gewölbe wandern, in der Hoffnung, irgendwo ein Lebenszeichen zu entdecken.

Von der Galerie war ein Klirren zu hören, als hätte jemand vor Schreck etwas umgeworfen. Kurz darauf erschien eine gebeugte, knochige Gestalt mit grauen Haaren und dicker Brille, in einer schäbigen blauen Robe, die ihm locker um den Körper schlackerte.

Ach du, nee, der sah ja aus, als könnte der kleinste Windhauch ihn einfach umpusten.

„Ah, da bist du ja.“ Erion zog mich weiter in den Raum hinein, doch bevor wir die schwebende Treppe erreichen konnten, befand sich Gaare schon auf halbem Weg zu uns nach unten. Er bewegte sich so schwerfällig, dass ich schon Angst bekam, er würde stürzen, sich alle zittrigen Knochen brechen und als Pflegefall enden.

Mein Gott, ich hatte wirklich eine blühende Phantasie. Konnte man die eigentlich abstellen? Das würde so manches grauenhaftes Szenario aus meinem Kopf vertreiben.

„Keine Sorge“, flüsterte Erion mir zu, „er tut nur so gebrechlich. Gaare ist fitter als man glauben mag.“

„Und besser hören als ihr glaubt, kann er auch.“ Gaare erreichte die unterste Stufe, musterte mich neugierig und wandte sich dann Erion zu. „Möchtest du uns vielleicht bekannt machen?“, fragt er mit rauer Reibeisenstimme.

„Oh, natürlich, wie unhöflich von mir. Talita, das ist Gaare von Sternheim, unser allseits geschätzter Bibliothekar und hoffentlich die Antwort auf deine Fragen. Gaare, darf ich dich mit unserem Gast Talita bekannt machen? Sie ist hier, um dich um deine Hilfe zu bitten.“

Gaare musterte mich mit neuem Interesse. Durch seine dicke Brille wirkten seine weißen Augen doppelt so groß. Die pergamentartige Haut war mit Altersflecken überseht. Der Kerl musste steinalt sein.

„Vielleicht sollten wir uns erst mal setzen?“, fragte Erion.

„Natürlich, natürlich. Wie unaufmerksam von mir. Ich koche uns Tee und dann könnt ihr mir erzählen, wobei ihr meine Hilfe braucht.“ Gaare führte uns in eine gemütliche Wohnecke unter der schwebenden Treppe. Daneben war eine kleine Kochnische, in der er sofort herumhantierte, während Erion mich zu einem Zweisitzer aus rotem Leder führte. Keiner sprach ein Wort, bevor nicht der Tee ausgeschenkt war. Dann eilte Gaare ein weiteres Mal in die Nische und servierte auch noch einen Teller mit altbackenen Keksen, die sicher schon mehr Jahre auf dem Buckel hatten, als Gaare. Erst dann ließ er sich im Sessel uns gegenüber nieder und ergriff das Wort. „So, was kann ich für euch tun?“

„Erzähl ihm, was du mir und Vater erzählt hast“, forderte Erion mich auf.

Also tat ich es. Erzählte ihm davon, wie ich aufgewacht war und beinahe sofort wieder ohnmächtig wurde. Die ersten Stunden meiner Erinnerung zu konstruieren war gar nicht einfach, weil alles leicht im Nebel lag. Es war eigentlich mehr eine Wiedergabe von den Dingen, die Fang gestern erzählt hatte. Im Grunde aber bekam ich es ganz gut hin.

Meine Geschichte beinhaltete vermutlich viel zu viele Einzelheiten, aber ich konnte mich einfach nicht stoppen, als ich ihnen erklärte, was ich alles im Lager des Wolfbaumrudels erlebt hatte. Vielleicht lag es daran, dass die Dinge hier so anderes waren, als alles, was ich kannte. Auf jeden Fall redete ich ewig.

Gaare lauschte meiner Erzählung geduldig, unterbrach mich kein einziges Mal und selbst, als ich geendet hatte, blieb er still. Keine Fragen, keine Kommentare. Er war tief in Gedanken versunken. Dann endlich blickt er auf. All meine Hoffnungen lagen in diesem Blick, doch er sagte lediglich: „Komm mal mit, ich möchte etwas versuchen.“ Stand, ohne sich weiter um mich zu kümmern, auf und verschwand aus der Wohnnische. Ich folgte ihm über die Treppe auf die Galerie hinauf und Erion ließ es sich natürlich nicht nehmen uns zu begleiten.

Hier oben hatte sich Gaare eine Art Arbeitszimmer eingerichtet, dass von einem großen Schreibtisch aus Mahagoni dominiert wurde. Bücher und Papierstapel türmten sie hier gefährlich hoch. Auch der Boden war übersät mit wackligen Wolkenkratzern aus Büchern, die den Eindruck machten, bei der kleinsten Erschütterung sofort zusammenzubrechen. Zwischen den Stapeln waren Gänge, gerade breit genug, dass sich ein schmaler Körper problemlos durchschieben konnte. Und genau wie unten drängte sich hier ein Regal voller Bücher an das nächste. Nur an der Wand gegenüber der Treppe war ein Stück für eine Tür freigelassen worden. Durch die führte Gaare uns nun.

Ein Geruch aus Kräutern und Schwefel schlug mir entgegen. Der Raum war extrem warm und über dem Boden hing bläulicher Dunst, der bei jedem Schritt um meine Beine waberte. Auch hier war eine Wand mit Regalen zugestellt, doch im Gegensatz zu dem großen Gewölbe unten, beinhalteten diese nur wenige und sehr alte Bücher. Sie waren angefüllt mit getrockneten und frischen Kräutern. Auch Gläser voller farbiger Wässerchen und Pulvern und noch anderen Dingen, von denen ich nicht mal die Hälfte benennen könnte, wenn mein Leben davon abhinge. Am Boden stand eine Pflanze, die mich entfernt an eine Venusfliegenfalle erinnerte, nur das diese hier ihren Kopf immer danach ausrichtete, wo sich eine Bewegung im Raum befand – von diesem Ding würde ich mich tunlichst fernhalten.

In der Ecke stand ein großer, offener Sack mit schwarzem Sand, der im Dunst glitzerte. Lange Tische voll von Reagenzgläsern säumten die gegenüberliegende Wand. Es brodelte und blubberte. Kleine Feuer standen auf dem Tisch, gefangen in einem Glas – o-kay, das war sehr seltsam. Daneben, fein säuberlich aufgereiht, Messer, eine ganze Sammlung aus Silber, Eisen, Gold und noch ein schwarzes Metall, das ich nicht kannte. Mit und ohne Edelsteinen, von denen manche milchig schimmerten. Athamen?

Die ganze Aufmachung erinnerte mich entfernt an ein Labor. Sehr entfernt.

„Das ist mein privates Refugium“, erklärte Gaare. Er trat vorbei an den Tischen an die hintere Wand und zog ein Laken von etwas, das sich als großer, schmuckloser Spiegel entpuppte. „Und das hier ist mein Inventio.“

Ich rückte ein Stück näher zu Gaare, um einen besseren Blick auf den Spiegel zu bekommen. Unter der Oberfläche wehte bunter Nebel, formte sich, zerriss in einer nicht spürbaren Wehe und formte sich erneut. Dabei entstanden die unglaublichsten Farben. „Und was kann das Ding? Ich meine, außer ein faszinierendes Wanddekor abzugeben?“

Gaare gluckste.

Erion, der sich an den Tisch gelehnt hatte, antwortete für den alten Bibliothekar: „Ein Inventio kann dir zeigen, in welcher Weise und wie stark deine Magie beschaffen ist. Wächter und Heiler greifen gerne auf ihn zurück, um Verbrechen aufzuklären, oder Krankheiten zu finden. Auch für magische Wettkämpfe wird er eingesetzt.“

„Aha.“ Mann, das war doch mal eine geistreiche Erwiderung. „Und den zeigt ihr mir weil?“

„Weil wir damit deine Magie bestimmen können.“ Als ich den Mund öffnen wollte, gab mir Gaare mit einer Geste zu verstehen, ihn geschlossen zu halten. „Ich weiß, dass du gesagt hast, ein Wesen ohne Magie zu sein, meine Liebe …“

„Ein Mensch.“

„… aber Fakt ist nun einmal, das ein Wesen ohne Magie nicht lebensfähig ist und da du bei bester Gesundheit zu sein scheinst, musst du auch magisch sein.“

„Denn die Magie durchtränkt alles, besonders das Leben“, gab Erion auch noch seinen Senf dazu. Es hörte sich beinahe wie eine Zenweisheit an. Gab es hier überhaupt Zen? Egal. Ich verkniff es mir einfach, ihnen zu erklären, wie ein Körper funktionierte. Das dazu Blut, ein schlagendes Herz und ausreichend Sauerstoff vorhanden sein musste und das Leben nichts mit Magie zu tun hatte. Außerdem war ich viel zu neugierig, was als nächstes geschah. „Gut, kapiert. Und wie geht es jetzt weiter?“

„Ganz einfach, du stellst dich hier vor den Spiegel und wir sehen, was er uns zeigt.“

Ich zögerte einen Moment.

„Nur keine Sorge, es tut nicht weh“, beruhigte Gaare mich und positionierte mich auf meinem Platz. Zuerst passierte gar nichts. Ich starrte in den Nebel, mehr nicht. Das war zwar sehr hübsch anzusehen, aber auch langweilig. Doch genau, als ich mich umdrehen wollte, formte sich aus dem Nebel eine Gestalt, die Silhouette meines Körpers.

Bunte Farben wirbelten in rasender Geschwindigkeit innerhalb der Konturen. Die Rottöne verschwanden als erstes, Blau und Gelb brauchten etwas länger, aber auch sie verblassten und ließen nichts als Schwärze zurück.

Gaare runzelte verwirrt die Stirn und auch Erion, der nähergetreten war, sah ungläubig auf mein Abbild im Inventio. „Das ist nicht möglich.“

„Was?“, fragte ich und sah zwischen den beiden Männern hin und her. Was hatten die bloß? „Was ist nicht möglich?“

„Schwarz bedeutet keine Magie, lebloses Objekt. Schwarz ist die Farbe des Todes.“

Ich wollte triumphieren, weil ich recht hatte, aber der zweite Teil von Gaares Antwort behagte mir überhaupt nicht. Farbe des Todes. Gruuuselig. Ich war nicht tot. Vielleicht ein bisschen verrückt, aber nicht tot. Da war ich mir ganz sicher. „Und was bedeutet das jetzt für mich? Denn, wie ihr seht, bin ich von Leben erfüllt, trotz dessen, was dieses Ding“, ich tippte gegen das Glas, „über mich aussagt.“

Gaare verzog nachdenklich den Mund. „Ich bin mir nicht sicher was es bedeutet. Selbst Vampire zeigen einen gewissen Grad von Magie an …“

Vampire? Na die hatte Pal aber vergessen zu erwähnen.

„… ich kann nur … Moment.“ Gaare kniff die Augen leicht zusammen. „Habt ihr das gesehen?“

Die beiden Männer fixierten den Inventio, also tat ich es ihnen gleich. Ich starrte und starrte und wollte Gaare schon fragen, was er glaubte gesehen zu haben, da sprang es mir förmlich ins Auge. Ein hellblauer Blitz, fast wie Eis, der meine Silhouette durchzuckte. Das war dasselbe Licht, das mir schon im Lager des Rudels durch den Kopf gegangen war.

Ich hielt den Atem an und da! – ein weiterer Blitz. „Was ist das?“

„Deine Magie“, sagte Gaare und wandte sich abrupt ab. „Aber sie ist …“ plötzlich fieberte er geradezu vor Aufregung. Er eilte aus dem Refugium und murmelte dabei unverständliches Zeug vor sich hin. Ich hörte ihn nebenan murmeln und das Rascheln von Papier. Dann, ein paar Mal lautes Poltern, gefolgt von Geräuschen, die mich glauben ließen, dass er auf sehr unkonventionelle Art umdekorierte. Und dann hörte ich nichts mehr.

Ich wartete noch einen Moment, bevor ich fragte: „Sollten wir vielleicht mal nach ihm sehen?“

Erion lächelte und zeigte seine strahlend weißen Beißerchen. „Keine Sorge, das ist völlig normal für Gaare. Würde er sich anderes verhalten, dann würde ich mir Sorgen machen. Aber wir können trotzdem hinaus auf die Galerie gehen. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt.“ Erion verhing noch den Inventio mit dem Lacken, während ich schon die Galerie betrat.

Ein paar der hohen Bücherstapel waren in sich zusammengebrochen, als hätte Gaare welche von den unteren Werken einfach aus dem Stapel gezogen, ohne sich für die Folgen zu interessieren. Außerdem hatte er seinen Schreibtisch von einem Teil seiner Last erlöst, einfach, indem er alles vom Tisch gefegt hatte, was ihm im Weg lag. An dessen Stelle hatte er ein paar dicke Wälzer gelegt, die er nun eifrig studierte.

Erion kam auf die Galerie, besah sich kurz die Unordnung und wandte sich dann an Gaare. „Was hast du gefunden?“

„Noch gar nichts, aber ich weiß, das …“ Er verstummte.

Erion wartete einen Moment und wagte dann einen weiteren Versuch. „Möchtest du uns an deinen Gedanken teilhaben lassen?“

„Was? Nein. Nein, das wäre nicht …“ Und wieder verfiel er in Schweigen.

Das war ja echt zum Haare raufen. „Gaare?“

„Nein, nicht jetzt, ich arbeite. Ich werde euch dann …“ Er besah sich eine Textstelle genauer, runzelte die faltige Stirn und sah fragend zu uns auf, als wunderte er sich, dass sich außer ihm noch jemand auf der Galerie befand. „Ihr seid ja immer noch hier. Hab ich euch nicht gesagt, das ihr gehen sollt?“

Ich war schon dabei den Mund zu öffnen, um ihm zu versichern, dass er das nicht getan hatte, da fiel er mir auch schon ins Wort. „Nun geht schon. Kommt nach dem Abendessen wieder, ich werde euch dann …“ Und da war er wieder weg, verschollen in den Texten seiner Bücher. Fragend wandte ich mich Erion zu. Der zuckte nur entschuldigend die Schultern und führte mich von der Galerie.

 

°°°

 

„Er ist seltsam.“ Und das war noch nett ausgedrückt. Der Begriff verrückter Wissenschaftler kam mir in den Sinn. War nur zu hoffen, dass er nicht irgendwo ein grünes Monster aus Leichenteilen versteckt hatte, bei dem er nach einem Blitzschlag „Es lebt!“, voller Euphorie rufen konnte.

Erion lächelte neben mir und führte mich den Korridor entlang in einen Teil des Hauses, den ich noch nicht kannte. „Gaare ist ein wenig exzentrisch, aber er ist sehr gut bei dem was er tut. Wenn er sich um dein Problem bemüht, dann wird es schon bald der Vergangenheit angehören.“

Das wäre fantastisch, doch glauben konnte ich es erst, wenn es so weit war. Die letzten Tage hatten mir deutlich gezeigt, dass es Wunder nur im Märchen gab und auch wenn ich hier von Fabelwesen umgeben war, von Märchen war kein Hauch zu erspähen. „Wo gehen wir eigentlich hin?“, fragte ich, nachdem wir schon das dritte Mal abgebogen waren.

„Ich möchte dir etwas zeigen.“ Er lächelte geheimnisvoll. „Meine Schätze.“

„Schätze? Meinst du Gold, Silber und Edelsteine? Denn, hey, ich bin eine Frau und auf Glitzerzeug fahre ich voll ab.“

Er lachte leise. „Auch auf die Gefahr hin, dass ich dich enttäusche, nein, von solchen Schätzen habe ich nicht gesprochen. Aber sie werden dir trotzdem sicher gefallen, davon bin ich überzeugt. “ Zielstrebig führte er mich zu einer Tür ganz am Ende des Flurs. Eine schlichte Tür ohne Klinke. Direkt in ihrer Mitte war eine kleine, verzierte Vertiefung, von der Größe eines Cent-Stückes. „Die Dinge, die ich dir jetzt zeige, haben zwar einen gewissen Wert, aber das liegt vor allen Dingen an ihrer Geschichte und ihrem Alter.“

Das hörte sich für mich ganz stark nach Museum an.

Erion schloss die rechte Hand zur Faust und steckte den leicht erhobenen Stein seines Ringes in die Vertiefung. Er passte genau – war wohl sicherer als ein normales Schloss, oder eine Alarmanlage, oder ein geifernder Wachhund. Mein Gott, wo kamen nur immer diese Gedanken her?

Mit einem Lächeln drückte Erion die Tür auf und deutete mir dann vorzugehen.

Der Raum, der mich empfing, war durch große Fenster hell erleuchtet, nein, die Wände waren die Fenster! Drei der Wände waren komplett aus Glas. Das war das erste Zimmer, das ich sah, das von innen genauso aussah wie von außen, aber … „Stört es dich nicht, wenn hier jeder reingucken kann?“ Okay, das Zimmer ging zum Garten raus, aber trotzdem.

„Das Glas ist mit einem Zauber belegt“, erklärte Erion. „Wir können hinaussehen, aber von außen ist es wie ein Spiegel.“

„Einwegglas“, murmelte ich verstehend. Warum auch nicht.

Dieser Begriff war ihm offensichtlich mal wieder fremd, aber er beließ es einfach dabei und machte mit dem Arm eine ausschweifende Geste. „Das ist meine Sammlung, mein ganzer Stolz und ein Schatz, der so manchen Neider hervorbringt.“

Sollte mich das jetzt beeindrucken? Ich sah nur einen Haufen Glasvitrinen, mit undefinierbarem Zeug, mit dem ich nichts anfangen konnte. Reihe um Reihe war der ganze Raum damit vollgestellt.

„Komm, ich zeige es dir.“ Erion bot mir seinen Arm und führte mich zu dem ersten Kasten an der Wand, in dem eine Handvoll Dinge ausgestellt waren. Das erste Teil war ein Bronzering, gebettet auf einem Seidenkissen, in dem unverständliche Schriftzeichen eingraviert waren. Er erinnerte mich stark an den Ring aus Herr der Ringe.

„Das ist der Ring der Pandora. Er wurde einst von der Hexe Pandora verzaubert, um ihren fremdgehenden Gatten zu bestrafen. Als der Mann das Geschenk seiner Gemahlin annahm und ihn über den Finger streifte, war er fortan seiner Manneskraft beraubt.“

„Die Frau hat ihren eigenen Mann impotent gemacht?“, fragte ich entsetzt. Na das fand ich dann doch ganz schön krass. Ein kräftiger Tritt in die Eier hätte es doch auch getan.

Erion schmunzelte. „So könnte man es auch nennen. Der Ring ist deswegen so wertvoll, weil keiner anderen Hexe jemals ein ähnlicher Fluch gelungen ist. Natürlich wurde es in der Geschichte das eine oder andere Mal versucht, aber diese Flüche hatten sich immer brechen lassen. Dieser hier nicht.“ Fast liebevoll strich er über den Glaskasten. „Noch heute würde er seinen Zauber wirken, sollte ein Mann es wagen, ihn sich über den Finger zu ziehen.“

„Und sowas hast du freiwillig in deiner Nähe?“ Ich musterte ihn einmal von oben bis unten, den athletischen Körper, das weiche, braune Haar, das ihm leicht in die seltsam weißen Augen fiel. Das alles in eine weinrote Magier-Robe gehüllt. „Ganz schön mutig von dir.“

Jetzt bekam ich ein wirkliches Lächeln. „Ich werde ihn mir sicher nicht anstecken und der Kasten ist mit einem Zauber versiegelt, da kommt keiner so leicht heran. Keine Sorge, für mich besteht keine Gefahr.“

Nicht das mich das interessieren würde, aber schön für ihn.

Er zeigte auf das nächste Objekt, einen Edelstein auf einem roten Samtkissen. „Das ist der Amethyst von Bonifatius vom Zuchtdiwan, dem weisesten Engel, der jemals auf Erden gewandelt ist. Man sagt, dass er seine Weisheit in diesen Stein eingeschlossen hat und ein kluger Geist sich ihm dienlich machen könnte.“ Fast geistesabwesend lag Erions Blick auf diesem unscheinbaren, kleinen Ding. „Nur leider ist es bis heute niemanden gelungen.“

Also ganz nach dem Motto, Wissen ist Macht, nur das der Stein sich selber aussucht, wenn er dieses Wissen zur Verfügung stellt. Wie die Kriterien dafür wohl aussahen?

„Es hat mich viel Zeit und Aufwand gekostet, ihn in meinen Besitz zu bringen.“

Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Sowas gab man bestimmt nicht freiwillig her. „Und was kann das da?“ Ich zeigte auf die zierliche Krone daneben, die aus versilberten Blättern und Ranken zu bestehen schien.

„Ah, das Diadem von Prinzessin Semina, die Tochter des großen Elfenkönigs und Tyrannen Erodin.“

Gut, also keine Krone, sondern ein Diadem. Ich sah da keinen großen Unterschied. Beides setzte man sich auf den Kopf, um erhaben zu wirken.

„Prinzessin Semina trug dieses Objekt ihrer Herkunft stolz auf ihrem Kopf, als ihr Vater sie wegen Verrats vor dem Volk hinrichten ließ. Damit machte er seine Tochter zu einer Märtyrerin und sorgte für seinen eigenen Untergang.“

Der brachte seine eigene Tochter um? Das war ganz schön makaber. „Was hat seine Tochter denn angestellt, um das zu verdienen?“

„Sie hat versucht ihn zu vergiften, weil sie das Leid des Volkes nicht mehr ertragen konnte.“

„Nette Familie“, kommentierte ich.

Erion schmunzelte und zeigte auf die Kristallkugel daneben, die auf einem goldenen Ständerwerk hockte. „Das Auge der Hexe Inoella.“

„Was?“, entfuhr es mir etwas zu kicksig. Das Ding hieß doch nur so und war nicht wirklich ein Auge, oder? ODER? Ansonsten musste die Hexe dazu ja riesig sein.

„Die berühmteste Hexe neben Pandora. Es heißt, dass Inoella durch diese Kugel das erste Mal das Zeichen der Hexen gesehen hat und es damit zu dem Ihrigen wurde.“

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl, dass das Pentagramm auf meiner Schulter bei diesen Worten anfing zu kribbeln. Zum Glück war es unter der schwarzen Kleidrobe mit den goldenen Säumen versteckt, das ich mir heute aus dem Schrank gefischt hatte.

„Damit begann für die Hexen ein Zeitalter der Macht, welches noch bis heute anhält. Niemand, nicht einmal die Magier wagen es, sich ihnen in den Weg zu stellen.“

Ob es seinem Ego wehtat, das zuzugeben? „Bei was den in den Weg stellen?“

„Das kommt ganz auf die Situation an. Es kann etwas Simples sein, wie ein Nahrungsmittel im Supermarkt, oder ein Job. Egal was eine Hexe will, sie bekommt es.“

O-kay. „Und das alles nur wegen einem Zeichen?“

„Wegen eines machtvollen Zeichens. Ich muss leider gestehen, dass auch ich ein Neider dieses Mals bin. Die Magie in ihrer Gänze zu kontrollieren, ist mir leider nicht gegeben, auch wenn sie mir dient.“

Schluck. Also je mehr ich über Hexen hörte, umso weniger wollte ich etwas mit ihnen zu tun haben. „Und was ist das letzte Teil in der Vitrine?“ Ja, ich gab’s zu, ich fand diesen Museumsbesuch doch ganz interessant. Wie auch nicht?

„Ah, der heilende Skarabäus. Keiner weiß woher er stammt, doch wer ihm am Körper trägt, wird niemals krank.“

„Warum verwahrst du ihn dann in einer Vitrine? Wäre er nicht nützlicher, wenn du ihn dir in die Hosentasche steckst?“

„Damit er kaputt geht?“, fragte er beinahe entsetzt über meinen Gedanken. „Dafür ist er viel zu wertvoll. Ich riskiere lieber eine Grippe und weiß ihn dafür sicher in diesem Raum.“

Naja, jedem das Seine. Bei mir wäre es eher umgekehrt. Warum einen Schnupfen riskieren, wenn man ein Allheilmittel am Körper tragen könnte? „Und was ist das?“, fragte ich und zeigte auf das durchscheinende Ding, das neben der Vitrine auf dem Boden hockte. Seltsamer Platz dafür, da konnte man doch jederzeit drüber stolpern.

„Ah!“, machte Erion verärgert und im gleichen Moment drehte das Teil seinen Kopf. Ich zuckte überrascht zurück, als sich zwei Bernsteinaugen auf mich richteten. Es lebte! – wie war das noch gleich mit Gaare und Frankenstein?

„Verdammt, du schon wieder, mach das du weg kommst!“ Erion wedelte mit den Händen, nur leider ließ sich das milchige, durchsichtige Ding davon nicht beeindrucken, entrollte nur langsam einen durchscheinenden Schwanz und erhob sich in aller Ruhe.

Jetzt erst erkannte ich, was das war. Eine Katze. Genau genommen eine ziemlich große Geisterkatze, die sich einmal an mein Bein schmiegte – es prickelte, wie wenn die Haut eingeschlafen war – und dann mit erhobenem Schwanz an mir vorbei durch die Wand marschierte. Sprachlos sah ich der kleinen Gestalt hinterher. Drei Anläufe brauchte ich, bis ich ein Wort hervorbrachte. „Hab ich was an den Glotzerchen, oder war das wirklich ein Geist?“

„Leider ja. Sie taucht hier seit ein paar Wochen immer wieder auf und verschwindet einfach nicht.“ Das schien ihn wirklich zu ärgern.

„Warum soll sie den verschwinden?“ Die war doch eigentlich ganz niedlich. Naja, zumindest, wenn man sich an den Gedanken gewöhnen konnte, dass sie tot war.

„Geister lieben es Streiche zu spielen, auch Tiere. Sie verschieben Dinge, tauchen überraschen irgendwo auf, oder stören deine Nachtruhe, nur um ein paar Dinge aufzuzählen. Sie sind einfach lästig und lassen sich leider nicht mehr so einfach verscheuchen, wenn sie sich irgendwo häuslich niedergelassen haben.“

„Also ich fand die Katze süß.“

Erion sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, beließ es dann aber einfach dabei. Danach zeigte er mir noch andere skurrile Dinge, wie den Wanderstab des Tyron, den Giftzahn einer Hydra, die Elfenkette des Friedens, einen Totenschädel aus Bernstein – bei dessen Anblick es mich schauderte –, das silberne Horn eines Einhorns, das Schwert des Meerkriegers Riaik und den Grimoire einer weiteren, berühmten Hexe, von dem ich mich tunlichst fern hielt, weil ich schon wieder so ein komisches Kribbeln an der Schulter spürte – das konnte ich mir einfach nicht einbilden. Sollte ich mir jetzt Sorgen mache, oder einfach die Augen davor verschließen? Beides hatte seine Vor- und Nachteile.

Erion, der von meinem Dilemma nichts mitbekam, präsentierte mir ein Stück nach dem Anderen aus seiner Sammlung und erzählte mir deren Geschichten. Er zeigte mir Dinge wie einen Zauberstab – der mich an ein chinesisches Essstäbchen erinnerte –, der riesigen Kralle eines Drachen, einer wunderschönen Engelsfeder, den heulenden Talisman – der Feinde verschrecken sollte –, der Krone des Zentaurenkönigs Adrolan – wer immer das auch gewesen war – den Feuerring, der angeblich von einem Dämon besessen war, den Stachel eines Mantikor, das Amulett der Succubus Berina, die dort drin angeblich all die Seelen ihrer Lover eingesperrt hatte, eine Schuppe eines Leviatan und das berühmte Tagebuch des Lykaners Timbre.

In der letzten Vitrine hatte die Feder eines Phönixes ihren Platz gefunden – die loderte dort fröhlich vor sich hin, sah richtig hübsch aus. Daneben stand ein versiegeltes Kristallglas mit einer milchigen Substanz. Erion sagte, dass dort ein toter Geist eingeschlossen war – war das nicht ein Widerspruch in sich? Geister waren doch schon tot, oder hatte ich da irgendwas falsch verstanden?

Das Medaillon der Wassernymphe Zorya, das Stück eines Sterns – angeblich hatte ein Lykaner das vom Himmel gepflückt – und der Sonnenkristall hatten dort auch ein Zuhause auf ewig gefunden.

Als absoluten Höhepunkt zeigte Erion mir einen mit Samt ausgeschlagenen Marmorsockel an der Stirnseite, der jeden Blick sofort auf sich zog. Problem bei der Sache? Er war leer.

„Sehr hübsch“, kommentierte ich. „Wenn du eine Blume raufstellst, sieht es gleich noch netter aus.“

„Der ist nicht für irgendwelches Grünzeug gedacht, sondern für etwas so wertvolles, dass es kaum zu kriegen ist. Für das Herz eines Drachen.“ In seine Augen trat ein feuriges Glühen – Wortwörtlich, sie glühten einen Moment. War das normal, oder sollte ich mir jetzt Sorgen machen? „Das ist mein größter Traum, der stolze Besitzer eines Drachenherzens zu sein.“

Ich schluckte bei der Erinnerung an den einzigen Moment, wo ich mit sowas in Kontakt gekommen war. Obwohl Kontakt hier ja das falsche Wort war, schließlich hatte ich ihn nur aus der Ferne gehört, aber das hatte mir schon gereicht. Näher wollte ich diesen Viechern auf keinen Fall kommen.

„In ihnen schlummert eine Macht, die selbst das Zeichen der Hexen in den Schatten stellt.“ Seine Stimme hatte einen träumerischen Klang angenommen. „Ein Drache, musst du wissen, absorbiert sein ganzes Leben Magie wie ein Schwamm und speichert die in seinem Herz. Wenn sie sterben kristallisieren ihre Herzchen zu einem Sugilith. Er beherbergt eine Macht, die kaum vorzustellen ist.“

Sehsüchtig strich Erion über den leeren Platz. „Ein Drachenherz wird auch als Stein der Macht bezeichnet, nur leider kommt man sehr schwer an einen heran. Mir ist niemand bekannt, dem das in der Geschichte gelungen ist, niemand.“ Er ließ die Hand wieder sinken und sah mich an. „Du musst wissen, wenn ein Drache stirbt, wird er von den Anderen bewacht, bis sein Körper zu Staub wird. Dann nehmen sie sein Herz und verstecken es. Bis heute hat keiner herausgefunden wo.“ Leise seufzend wandte er seinen Blick wieder auf den leeren Sockel. „Die Drachen hüten ihre Herzen eifersüchtig vor jedem anderen Wesen und sind immer zur Stelle, wenn einer der ihren geht, so dass es keine Möglichkeit gibt, an sie heranzukommen. Es hat schon Verrückte gegeben, die versucht haben, einen Drachen zu töten, in der Hoffnung, so an diese Macht zu gelangen, aber selbst wenn sie in großen Gruppen auftauchten, waren zum Schluss immer sie es, die untergingen. Um an ein Herz zu gelangen, muss man den Drachen schnell töten, denn wenn er weiß, dass er stirbt, ruft er die seinen, damit das Herz nicht verloren geht. Es gibt nur einen Weg einen Drachen schnell zu töten, ein Rudel …“

„Lykaner“, endete ich mich daran erinnernd, was Pal mir erzählt hatte.

Erion sah mich überrascht an.

Ha, damit, dass ich auch mal etwas wusste, hatte er wohl nicht  gerechnet. Na dann sollte er jetzt mal aufpassen. „Sie sind die einzigen Wesen, die von den Drachen gefürchtet werden, weil sie schnell und effizient handeln und in der Gruppe so stark sind, dass der schuppige Feuerspucki keine Zeit mehr hat, sich für sein bevorstehendes Ende zu wappnen.“ Zwar hatte Pal das ein wenig anders ausgedrückt, aber sinngemäß kam es wohl hin.

Erion  nickte. „Nur das Lykaner kein Interesse an dieser Macht haben, weil sie sie nicht nutzen könnten. Auch würden sie niemals einem Magier helfen, weil sie uns verachten. Sie glauben, dass wie ihnen ihre Territorien streitig machen wollen.“ Er schnaubte abwertend. „Als wenn wir daran irgendein Interesse hätten.“

Da konnte ich beim besten Willen nicht mitreden, aber wenn da wirklich so viel Macht in den Steinen war, war ich ganz froh, dass die Wölfchen sich da schön von fernhielten. So viel magische Kraft in einer Hand, konnte doch nur nach hinten losgehen. „Und du glaubst wirklich, dass du der erste sein wirst, der ein solches Herz besitzt?“, fragte ich skeptisch. „Nicht das ich an deinen Fähigkeiten zweifle, es ist nur so unrealistisch, nach allem was du mir erzählt hast.“

Er sah nicht auf, als er ein weiteres Mal sehnsuchtsvoll über den leeren Platz strich, so als könnte er das Herz des Drachens bereits darauf sehen. „Ich kann doch hoffen, oder?“

„Weil Hoffnung manchmal das Einzige ist, was wir noch haben“, entschlüpfte es mir, ohne dass ich näher darüber nachdachte.

Erion neigte den Kopf und musterte mich „Jetzt reden wir aber nicht mehr über mich, oder?“

Wahrscheinlich nicht. „Tut mir leid, ich wollte die Stimmung nicht ruinieren. Es ist nur alles so …“ Ich kniff die Lippen zusammen, weil mir das passende Synonym einfach nicht einfallen wollte. Ich glaubte nicht mal, dass es ein Wort für das gab, was in mir vorging.

„Mach dir nicht zu viele Gedanken, Talita. Gaare ist sehr gut in dem, was er tut, er wird schon eine Lösung für dein Problem finden.“

„Und wenn nicht?“, sprach ich meine Angst aus. „Was ist, wenn ich in dieser Welt gefangen bleibe, ohne zu wissen, wer ich bin und woher ich komme? Was soll ich dann machen?“

Erion seufzte und strich mir eine verirrte Strähne aus dem Gesicht – wann war der so nahe gekommen? „Sollte Gaare entgegen meiner Erwartungen wirklich nichts finden, kannst du nur eines tun, weiterleben.“

Na, das waren doch mal phantastische Aussichten. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, ohne Vergangenheit zu sein?“

„Nein. Das können wahrscheinlich nur die wenigsten. Aber eines verspreche ich dir. Sollten wirklich alle Stricke reißen, stehst du nicht allein da. Ich verspreche dir zu helfen, wo ich nur kann.“

Misstrauisch sah ich zu ihm auf. Das klang zwar ganz nett, aber … „Warum? Du kennst mich doch gar nicht.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Das vielleicht nicht, aber …“

Die angelehnte Tür wurde mit einem Quietschen geöffnet und dann stand eine blonde Kaj im Raum, die sofort versuchte, mich mit Blicken aufzuspießen. Da bekam man ja glatt Angst. Hatte ich ihr irgendwas getan? Na gut, ich hätte sie vielleicht nicht als Schoßhündchen bezeichnen sollen, aber das hatte in dem Moment so gepasst. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie mir deswegen gleich an die Gurgel wollte. Sie hätte ja auch einen blöden Spruch in meine Richtung ablassen können, dann hätten wir herzlichst gelacht und wären beste Freundinnen der Welt geworden. Okay, das war dann vielleicht doch ein klein wenig übertrieben, aber so schlimm, dass sie gleich einen Hass auf mich entwickeln muss, war mein Spruch nun wirklich nicht gewesen.

„Ja?“, fragte Erion, als Kaj keine Anstalten machte, mit dem gedanklichen Morden bei mir aufzuhören.

Schluck, ich sollte meiner Fantasiewirklich mal einen Riegel vorschieben.

Kaj maß mit den Augen einen Moment den Abstand zwischen mir und dem Magier, bevor sie sich Erion zuwandte. Passte ihr wohl nicht, dass er sich mit mir abgab. Sie schien richtig eifersüchtig zu sein. „Dein Vater ist eben zurückgekommen. Er sucht dich.“

„Danke.“ Als sie einfach an Ort und Stelle stehen blieb, als erwartete sie noch, dass man ihr für diese Information den Kopf tätschelte – wie bei einem Schoßhündchen – fühlte Erion sich dazu genötigt hinzuzufügen: „Danke, du kannst dann gehen. Wir reden später.“

Kaj war wohl etwas überrascht darüber, dass er sie einfach wegschickte, trollte sich dann aber mit einem letzten wütenden Blick in meine Richtung.

„Was hat sie nur gegen mich?“, fragte ich.

„Mach dir keine Sorgen. Kaj wird sich schon an dich gewöhnen.“

Das was nicht wirklich eine Antwort gewesen, aber bevor ich ein zweites Mal nachfragen konnte, fuhr er schon fort.

„Ich muss jetzt zu meinem Papá, er mag es nicht, wenn ich ihn lange warten lasse.“ Mit einer Handgeste deutete er vorzugehen. Aha! Ich durfte seine Sammlung also sehen, aber allein lassen wollte er mich nicht mit ihr.

„Deinen Papá finde ich gruselig“, sagte ich, ohne näher darüber nachzudenken. Innerlich schlug ich mir gegen den Kopf – sowas sagte man nun wirklich nicht.

Erion dagegen gluckste nur vergnügt und hielt mir die Tür auf.

 

°°°

 

Das ganze Abendessen lang saß ich wie auf heißen Kohlen und das hatte nichts mit Kaj zu tun, die mir die ganze Zeit böse Blicke zuwarf – was hatte ich der Tussi nur getan? Nein, es lag an dem, was Gaare gesagt hatte. Kommt nach dem Abendessen wieder, ich werde euch dann … ja was dann? Diese Unwissenheit macht mich ganz kirre. Deswegen sprang ich auch vom Tisch auf, kaum dass mein Teller leer war und beachtete den pikierten Blick von Hausherren Anwar einfach nicht.

Ich wollte endlich ans Ziel und da waren mir auch gute Manieren egal.

Kaum eine Minute später stand ich wieder in dieser riesigen, verstaubten Bibliothek und lief hinter der Tür fast in Gaare rein. Der Mann stand so plötzlich vor mir, dass ich erschrocken einen Satz zurück machte. Ohne gemein klingen zu wollen, der Kerl sah nicht nur zum Gruseln aus, der konnte auch so gucken. Und die dunkle Robe hatte etwas zombiemäßiges. Ich konnte nur hoffen, dass der rote Fleck am Ärmel Erdbeermarmelade war und kein Blut. Na toll, das waren genau die Gedanken, die ich jetzt brauchte. Warum nur sah ich überall Mord und Totschlag?

„Was haben Sie hier zu suchen?“, fuhr er mich mit Reibeisenstimme an und kniff die Augen zusammen.

Ich … äh … hatte ich mich in der Tür geirrt und war jetzt bei dem bösen Zwilling gelandet? „Sie haben gesagt, dass ich nach dem Abendessen wieder herkommen soll.“

Gaare runzelte angestrengt die Stirn, musterte mich einmal, zweimal, dreimal und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Talita, natürlich. Tut mir leid, meine Augen sind nicht mehr die besten und ich habe dich nicht gleich erkannt.“ Fahrig wandte er sich ab und verschwand zwischen den Regalen.

Äh …okay. Hatte er mich schon wieder vergessen? Sollte ich ihm folgen? Die Fragen erübrigten sich, als er keine Minute später mit einem Säckchen und einer kleinen Bronzeschale in den Händen wieder auftauchte.

„Ich bin so weit, wir können gehen“, ließ er verlauten, stopfte die Utensilien in die Taschen seiner Robe und schubste mich fast zur Seite, um die Tür öffnen zu können.

„Gehen?“ Hatte ich etwas nicht mitbekommen?

„Na, du möchtest doch deine Erinnerungen wieder haben.“

„Jaaa.“

„Dann auf, auf, ich habe noch andere Dinge zu tun.“ Er riss die Tür auf und ich folgte ihm einfach mal. Irgendwo würden wir schon landen.

Trotzdem brannte mir eine Frage unter den Fingernägeln. „Wo gehen wir denn hin?“

„Ich denke, dass dein Zimmer am geeignetsten ist.“

„Geeignet wofür?“ Mann, für so ´nen alten Knacker hatte der aber ein ganz schönes Tempo drauf. Ich kam kaum hinterher, als er die Korridore entlang rannte.

„Na für die Hypnose, hast du das schon wieder vergessen?“

Wie konnte ich etwas vergessen, was er vorher noch nicht erwähnt hatte? Er hatte es doch nicht erwähnt, oder? Verschwanden meine Erinnerungen schon wieder? Ich schluckte hart, als mein Herz anfing, panisch in der Brust zu flattern. „Ähm … ich glaube nicht, dass Sie das bereits erwähnt haben.“

„Nicht?“

„Nein, Sie haben uns nur …“

„Hör auf mich zu Siezen, da komme ich mir nur noch älter vor, als ich sowieso schon bin.“

Ich schmunzelte. Der Kerl war vielleicht ein wenig daneben, aber er gefiel mir. Gaare war cool. „Hast du schon irgendwas gefunden? Wegen mir, meine ich?“, traute ich mich zu fragen, als wir die Treppe erreichten. Hier ging es nicht mehr ganz so schnell vorwärts. Gaare war halt doch schon ein etwas älteres Eisen.

„Bis jetzt nichts was erklärt, woher du gekommen bist. Ich werde einen Aufspürzauber benutzen, um deine Lebenslinie zu finden und nachzufahren.“

Was auch immer das bedeuten sollte.

„Das müsste uns Auskunft über deine Herkunft geben. Aber im Moment interessiert mich vor allem deine Magie. Sie ist so ungewöhnlich, wirklich einmalig. Sie fasziniert mich.“

Das freute mich für ihn, obwohl meine Magie – oder deren strittiges Vorhandensein – mich gerade nicht wirklich interessierte.

„Ich weiß noch nicht genau wie, ich muss noch ein wenig weiter forschen, aber ich werde einen Weg finden, sie zu wecken.“

„Wecken?“

Er nickte und schaffte es schwerfällig, die letzte Stufe zu erklimmen. „Ich glaube, dass sie, aus welchen Gründen auch immer, schläft. Deswegen glaubst du auch nur ein Mortatia zu sein.“ Er schüttelte den Kopf, als wäre allein der Gedanke daran völlig abwegig. „Nicht das ich davon schon mal etwas gehört habe und glaub mir, in meinem Leben sind mir schon eine Menge Dinge zu Ohren gekommen.“

Das war ja alles soweit schön und gut, aber … „Ich will nur wissen wer ich bin, alles andere ist mir egal. Ich will meine Erinnerungen wieder haben.“

„Und genau aus diesem Grund werde ich dich gleich hypnotisieren. Das Unterbewusstsein ist eine Welt für sich, mit ungeahnten Tiefen. Wir werden in sie hinab tauchen und deine Erinnerungen zurück an die Oberfläche holen.“

Ich hoffte, dass es wirklich so einfach war, wie er es klingen ließ.

 

°°°

 

„Leg dich hin und entspann dich“, gab der steinalte Magier den Befehl, kaum dass wir in meinem Zimmer angekommen waren.

Da ich aber keine Zuschauer wollte, weil ich keine Ahnung hatte, was dabei rauskommen würde, war ich allein mit ihm hier. Er war gerade dabei die flache Bronzeschale mit wohlriechenden Kräutern zu füllen und auf mein Nachtschränkchen zu stellen. Ohne ein Feuerzeug oder Streichhölzer schaffte er es, diese zu entzünden, so dass ein angenehmer Geruch durch mein Zimmer schwebte.

Hmm, das duftete echt gut. „Was ist das?“ 

„Kräuter, die entspannen sollen und mir helfen, dich in eine tiefere Schicht deines Unterbewusstseins zu schicken, damit wir an deine Erinnerungen herankommen.“

Irgendwie hörte sich das ziemlich … intim an. Plötzlich war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich das machen wollte.

„Leg dich jetzt bitte in dein Bett.“

Etwas zögernd folgte ich seiner Anweisung, machte es mir auf meiner Matratze bequem und beobachtete, wie Gaare sich etwas träge einen Stuhl von der Wand heranzog und sich direkt neben mich setzte. Seine bebrillten weißen Augen richteten sich eindringlich auf mich. Warum fand ich das eigentlich nicht gruselig? Ich meine, alle Magier die ich bisher kennen gelernt hatte – also genau drei – sahen die Welt praktisch durch blinde Augen. So vieles hier erschreckte mich, aber diese Aufmachung nicht. Hm …

„Bereit?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich ganz ehrlich. „Was, wenn es nicht klappt?“ Oder noch schlimmer, mir nicht gefiel, was wir zu Tage fördern würden? Vielleicht hatte es ja einen Grund, dass ich meine Erinnerungen verloren hatte, vielleicht hatte ich mir das ja selbst angetan, um irgendwas zu vergessen. Aber dann wäre ich doch sicher intelligent genug gewesen, mir irgendwo eine Notiz zu machen, damit mein unwissendes Ich Bescheid bekam. Außerdem hätte ich mir zum Aufwachen dann sicher einen besseren Platz gesucht, als den Dachboden eines Lykaners. Nein, was auch immer hier los war, ich hatte meine Erinnerungen nicht mit Absicht verloren. „Wenn wir nichts finden, weil wirklich alles weg ist?“

„Dann werden wir einen anderen Weg suchen, um an deiner Erinnerungen heranzukommen“, meinte er gutmütig, ganz das nette Großväterchen. „Du wirst schon sehen, alles wird gut werden.

Na da war ich mir aber nicht so sicher.

„Du wirst dich nach dem Aufwachen wahrscheinlich ein wenig erschlagen fühlen, aber das ist normal.“

Wenn er das sagte, würde es wohl stimmen, schließlich war er hier der Wissende. Ich war nur das Versuchskaninchen, das hoffte und zugleich auch bangte. 

„Hast du es bequem?“

Ich nickte.

„Gut, dann lass uns anfangen.“

Entgegen meiner Erwartung, dass er jetzt anfing mit einer Taschenuhr vor meiner Nase herumzuwedeln, streckte er seine Hand der Wand entgegen und ich konnte zugucken, wie die Magieadern leicht in Schwingung gerieten. Sie zitterten und dann lösten sich einzelne, hauchdünne Fäden, die strebsam auf Gaare zusteuerten. Es war wie eine leuchtende Schnur, die in Gaares Hand floss und erst abriss, als er den Faden mit einem kräftigen Ruck durchtrennte. Danach sahen die Adern in der Wand wieder so harmlos und nichtssagend wie zuvor aus und erhellten mit ihrem milchigen Licht den Raum.

Die Magie in der Hand dagegen hatte sich zu einem kleinen Ball geformt, kaum größer als ein Flummi.

Gaare quetschte ihn zwischen seinen Händen, bis es eine gleichmäßige, platte Scheibe war, die in einem silbernen Schein strahlte. Er flüsterte ihr ein paar Worte zu, die ich beim besten Willen nicht verstand, streckte dann den Arm aus und hängte sie vor mein Gesicht in die Luft. Ohne Scheiß, das Ding schwebte vor meiner Nase.

Ein pulsierendes Licht schien mir sanft entgegen. Bub … bub bub … bub … bub bub. Immer im gleichen Rhythmus.

„Sie genau auf sie Scheibe, konzentriere dich auf ihren Tackt und lass dich mit ihr mitziehen.“ Er fächerte mir der Hand den Kräuterrauch in meine Richtung. Süßlich roch er, angenehm. „Leere dein Kopf von deinen Gedanken. Lass dich darauf ein.“

Die monotone Stimme und das pulsierende Licht machten mich ganz schön schläfrig. Ob Gaare beleidig wäre, wenn ich einfach anfing zu schnarchen?

„Schließ deine Augen.“

Aber gerne doch. Meine Augen waren eh so schwer, dass ich kaum noch in der Lage war sie offen zu halten. Diese Kräuterdüfte machten mich ganz nebelig im Kopf. Noch ein schwerfälliges Blinzeln, dann war es dunkel. Es war schön, angenehm, so friedlich. Keiner stellte mir hier dumme Fragen.

„Sag mir, Talita, was siehst du?“

Wie war das mit den dummen Fragen gewesen? Außerdem, sehen? Ich schlief doch. Wie konnte man beim Schlafen etwas sehen?

„Öffne dein inneres Auge und sag mir, was du siehst.“

Ach so tat man das. Inneres Auge, gecheckt. Na dann wollten wir mal. Ich schlug die Augen auf und … sah nichts. Alles schwarz. Hatte ich sie doch nicht geöffnet?

„Talita, was siehst du?“

„Nichts“, sagte ich mit seltsam ferner Stimme. Es war, als sei ich hier und gleichzeitig gar nicht anwesend. War das überhaupt möglich? „Alles ist dunkel, schwarz, ganz ruhig.“ So angenehm und friedlich. Hier fühlte ich mich geborgen und sicher.

„Gut“, sagte Gaare. Seine Stimme kam von irgendwo neben mir, aber ich konnte ihn nicht sehen. War er unsichtbar? Naja, ich hatte in den letzten Tagen schon weitaus seltsamere Dinge erlebt. „Irgendwo in dieser Dunkelheit ist ein Licht. Dreht dich herum, finde es und folge ihm, es wird dich in einen Raum mit einer einzigen Tür bringen. Wir müssen dort hin, das ist wichtig. Und keine Angst, du bist nicht allein, ich werde dir folgen.“

Ein Licht also. Ich drehte mich nach links und da war es auch schon. Nur ganz klein, wie ein Stecknadelkopf, dabei so hell wie ein Stern. „Ich hab´s gefunden.“

„Dann folge ihm. Er wird dich in den Raum mit der Tür bringen. Hinter dieser Tür liegen deine Erinnerungen, das ist unser Ziel.“

Ja, da wollte ich hin, unbedingt sogar. Alles in mir strebte auf diesem Raum mit der Tür zu. Ich spürte weniger, als dass ich wusste, dass ich mich bewegte. Vielleicht bewegte das Licht sich auch auf mich zu. Das war schwer zu sagen. Auf jeden Fall wurde der Lichtpunkt schnell größer, wuchs an, bis ich erkannte, dass er sich dabei um einen offenen Türbogen handelte, der in einen leeren Raum führte. Ein einfaches Zimmer, weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke. Kein Bild, keine Möbel oder andere Dekoration. Es war einfach nur ein kahler, leerer Raum. „Ich habe ihn gefunden.“

„Dann tritt ein und suche nach der Tür.“

Ich trat ein Schritt nach vorn, sah mich um. „Also hier drinnen wird ganz eindeutig ein Innenarchitekt gebraucht“, murmelte ich.

„Bist du in dem Raum, Talita?“

„Ja.“

„Dann such jetzt die Tür.“

Ach ja, da war ja noch etwas. Ich wandte den Kopf nach rechts und da war sie auch schon. Na, das lief doch wie am Schnürchen, der reinste Spaziergang. „Da ist die Tür.“

„Gut, das hast du sehr gut gemacht, Talita.“

War ich ein Hund, oder warum lobte er mich so?

„Jetzt sag mir, wie sieht die Tür aus.“

„Kannst du sie denn nicht sehen?“ Ich dachte, er wäre genau hinter mir, das hatte er doch gesagt, oder?

„Ich sehe nur, was du mir erzählst.“

Da suche doch einer mal die Logik hinter diesen Worten, ich verstand es nämlich nicht. Aber bitte, wenn er es so wollte, konnte er es haben. „Die Tür ist aus Metall. Eine glatte Fläche, die fast lückenlos mit der Wand verschmilzt. Kein Griff, kein Schlüsselloch.“

„Versuch, sie zu öffnen.“

Wie denn? Ich hatte ihm doch gerade gesagt, dass da nichts zum Öffnen war. „Da ist aber keine Klinke“, wiederholte ich. Vielleicht kam es ja jetzt bei ihm an.

„Es gibt Türen, die lassen sich allein durch unsere Gedanken öffnen. Versuche es einmal.“

Allein durch meine Gedanken. Okay, das hatte ich geschnallt.

Sesam öffne dich!

Nichts geschah.

Abra Kadabra Simsalabim!

Noch ein Schuss in den Ofen. Seufz.

Nun gut, dann eben anders. Ich wünschte mir die Tür offen, dachte ganz fest daran, wie sie aufschwang und mich einließ. Ich dachte und dachte und dachte und irgendwann dachte ich, dass es ganz schön dämlich aussehen musste, wie ich hier rumstand und dachte, dass die Tür allein durchs Denken aufgeht. Oh Mann, bei mir im Kopf war definitiv etwas nicht mehr ganz in Ordnung.

„Hast du sie geöffnet?“

„Nein.“ Wie denn auch. Türen öffneten sich nicht so einfach, nur weil man das so wollte. „Sie geht nicht auf, nur weil ich mir das wünsche.“

„Dann berühre sie, drücke dagegen. So wird sie aufgehen“, sagte er sehr eindringlich. „Du musst nur darauf vertrauen.“

So ganz glaubte ich das zwar nicht, trotzdem tat ich, was er von mir wollte. Ich wollte meine Erinnerungen und diese Tür lag zwischen ihnen und mir. Sie war nichts weiter als ein Hindernis, das aus dem Weg geräumt werden musste und als sie auf leichten Druck nicht reagierte, drückte ich fester. Zum Schluss gab ich ihr sogar einen heftigen Tritt, aber mehr als einen schmerzenden Zeh erhielt ich von dieser Aktion auch nicht. „Sie geht nicht auf!“

„Versuch es weiter. Sie wird aufgehen, du musst es nur wollen.“

Was war das denn jetzt wieder für eine kryptische Weisheit. Du musst es nur wollen. Natürlich wollte ich es, oder glaubte der, dass ich gegen die Tür getreten hatte, weil ich nichts Besseres zu tun hatte? Gaare war doch echt ein Scherzkeks – nur an seinen Witzen sollte er noch einmal arbeiten und zwar ganz dringend.

Okay, ich sollte das Ganze logisch angehen. Ich stand hier vor einer Tür, die keine Klinke und kein Schlüsselloch hatte. Sie ließ sich nicht öffnen, indem ich sie malträtierte, oder es mir wünschte. Auch Zaubersprüche und liebes bitten versagte. Vielleicht sollte ich es mit einer Brechstange versuchen. Nur, wo sollte ich die jetzt herbekommen?

So viel zum Thema Logik. Das musste auch anders gehen. Ich beugte mich vor und tastete die Fugen rund um die Tür ab. Nichts. Aber irgendwie musste sie doch zu öffnen sein, schließlich war eine Tür dafür da.

Plötzlich erinnerte ich mich an eine ähnliche Situation – Erinnerungen waren doch etwas sehr Schönes –, an den Moment mit Pal, als ich vor dem verschlossenen Moob gestanden hatte. Da war nur leichter Druck auf die richtige Stelle nötig gewesen. Ein Versuch konnte nicht schaden. Ich legte die Hand dorthin, wo eigentlich die Klinke sitzen müsste, atmete noch einmal aus und drückte leicht. Ja! Die Oberfläche gab unter meiner Hand nach. „Ich glaub, ich hab´s.“

„Das hast du gut gemacht. Durchschreite die Tür und sag mir was du siehst.“

Okay, jetzt wurde es ernst. Ich drückte etwas fester. Es klickte und dann schwang die Tür leise in eine gähnende Dunkelheit auf. Und da sollte ich reingehen? Es war so finster, dass ich nicht mal erkennen konnte, ob es einen Boden gab, oder nur einen Abgrund, in den ich stürzen würde, sollte ich es wagen, auch nur einen Fuß über die Schwelle zu setzten. Es war so düster, das jegliches Licht direkt an der Tür eingesogen wurde, die Finsternis drängte mir regelrecht entgegen.

Ich schluckte, natürlich konnte ich mich einfach weigern, hineinzugehen, aber dann wäre ich keinen Schritt vorangekommen und ich wollte meine Erinnerungen wieder haben. Das war mein größtes Sehnen. Ich wollte endlich wissen, wer ich war und wie ich in diese unwirkliche Welt geraten konnte – die Koma-Theorie hatte ich schon so gut wie aufgegeben.

Na dann tu es doch einfach!

Okay, jetzt oder nie. Mit einem tiefen Atemzug bereitete ich mich darauf vor, in diese unergründeten Tiefen vorzudringen. Natürlich war ich nicht so blöd und latschte einfach drauf los, nein. Ich hielt mich am Türrahmen fest und tastete mich mit dem rechten Fuß vorsichtig vor. Mein Zeh stieß gegen etwas Weiches, das bei der Berührung leicht einsank. Teppich, eindeutig. Zögernd verlagerte ich mein Gewicht, stellte meinen zweiten Fuß dazu, klammerte mich aber gleichzeitig noch am Türrahmen fest. Zum Glück konnte mich niemand sehen, wie ich hier halb verrenkt stand. Die hätten mich doch für völlig bekloppt gehalten.

Der Boden unter mir war fest und so wagte ich es, nach gutem Zureden meine verkeilten Hände vom Rahmen zu lösen und mich gerade aufzurichten. Im gleichen Moment zuckte ich auch zusammen, weil über mir ein Sternensee aufleuchtete und einen langen Korridor ohne erkennbares Ende in schummriges Licht tauchte.

„Was machst du, Talita? Erzähl es mir.“

„Ich stehe in einem langen Korridor ohne Türen.“ Ich sah mich um, versuchte mich jeder Kleinigkeit an diesem unwirklichen Ort zu erkennen. „Schwarzer Teppich, dunkle Wände. An ihnen hängen Bilder.“ Sehr viele sogar. Alles war voll mit Bildern, von der Decke bis zum Boden. Es gab keinen freien Platz mehr.

„Was siehst du auf den Bildern?“

Von hier aus? Gar nichts. Um etwas erkenne zu können, müsste ich schon weiter reingehen, aber irgendwie widerstrebte es mir, mich allzu weit von der Tür zu entfernen.

„Talita?“

Ich sah noch einmal zurück zu dem hell erleuchteten Raum hinter mir, zögerte kurz und ging einen vorsichtigen Schritt weiter. Und noch einen. Ganz langsam entfernte ich mich von der Tür, bis ich das erste Bild erreichte. Ein hölzerner Bilderrahmen, mit feinen Schnitzereien verziert. Er war fast so groß wie ich, nur … er war leer. Nichts da, nur eine geschwärzte Leinwand. Dem Bild daneben ging es nicht anders und dem darüber und dem schräg darunter und zwei weiter. Leer, sie waren alle leer! „Da ist nichts“, flüsterte ich.

„Wo ist nichts?“

„In den Rahmen, da ist nichts. Sie sind alle schwarz.“

„Das müssen deine verlorenen Erinnerungen sein“, überlegte er. „Versuch sie zu säubern und wenn das nicht funktioniert, dann such weiter.“

Ich drehte mich einmal um mich selbst, aber auch die Bilder auf der anderen Seite waren schwarz. „Und wenn ich nichts finde? Wenn alles umsonst war?“ Wenn meine Erinnerungen wirklich auf ewig verschollen waren?

„Gib nicht so schnell auf, wir haben mit unserer Suche gerade erst begonnen.“

Der hatte leicht reden, hier ging es ja nicht um seinen Kopf, obwohl mit dem auch etwas nicht stimmen konnte. Gaare war leicht … nennen wir es schräg.

„Hast du was gefunden?“

Ich hatte noch gar nicht angefangen. „Nein.“ Aber das würde ich jetzt. Säubern hatte Gaare gesagt, damit konnte er nur eines gemeint haben. Ich beugte mich zu dem großen Bild vor und wischte mit der Hand über die raue Oberfläche. Sie vibrierte bei meiner Berührung, aber sonst geschah nichts. War das jetzt ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen?

Ich ging lieber auf Nummer sicher und wandte mich dem nächsten Bild zu. Von dem kam keine Reaktion, es blieb einfach still und schwarz. „Sie lassen sich nicht säubern“, sagte ich enttäuscht und merkte erst jetzt, wie viel Hoffnung ich in die Aktion gelegt hatte.

„Dann geh den Korridor entlang. Versuch es immer wieder und halt die Augen offen.“

War wahrscheinlich das Beste, was ich tun konnte.

Noch einmal strich ich über das erste Bild, das wie zur Antwort wieder vibrierte. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte, wandte mich dann aber ab und ging tiefer in den Korridor hinein.

Überall sah ich das gleiche. Unzählige Bilder, mit den verschiedensten Rahmen, aber sie alle waren schwarz und blieben es auch, wenn ich versuchte, die Schwärze mit den Händen wegzuwischen. Keines reagierte mehr wie das erste. Es waren leblose Objekte.

Immer mutloser schritt ich voran, drehte und wendete meinen Kopf unablässig hin und her, in der Hoffnung, irgendwo etwas zu entdecken, aber alles blieb gleich. Rechts leer, links leer, alles … unter meinen Fuß knirschte es. Überrascht machte ich einen Satz rückwärts und wäre dabei fast auf dem Hintern gelandet. Mann, war ich schon immer so schreckhaft gewesen, oder lag das an diesem Ort?

Vor mir auf dem Boden lagen bunte Scherben. Nein, es waren Teile eines Bildes. Mit klopfendem Herzchen hockte ich mich hin. Wenn es sein müsste, dann würde ich sogar anfangen zu puzzeln, um meiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen, doch als ich die Scherben berührte, zerfielen sie unter meinen Fingern zu Staub. „Nein!“, kam es noch von mir, doch ich hatte eine Kettenreaktion ausgelöst und vor meinen Augen verschwanden diese Bruchstücke. Das konnte doch nicht wahr sein. Endlich hatte ich etwas gefunden und dann löste es sich einfach in Luft auf!

„Talita? Ist etwas passiert?“

„Nein“, sagte ich tonlos. Es war nichts passiert, außer, dass ich gerade wahrscheinlich die letzten Reste meiner Erinnerung vernichtet hatte. Sollte das alles sein, was ich hier bekam? Nur ein paar Scherben die mich verhöhnten? Langsam aber sicher verließ mich meine letzte Hoffnung doch noch etwas zu finden. Ich sollte aufstehen und zurückgehen, einfach aufgeben und mein neues Leben akzeptieren, denn so etwas vor Augen geführt zu bekommen, tat einfach weh. Es war zum Greifen nahe gewesen und dann war es einfach verschwunden und ich stand genauso dumm wie vorher da.

Entmutigt richtete ich mich wieder auf und nur durch Zufall ließ ich meinen Blick noch einmal über die Wand schweifen, vor der die Scherben gelegen hatten. Ich verharrte mitten in der Bewegung und meine Augen wurden weit. Mein Herz klopfte mir plötzlich bis zum Hals. Da war ein Bild, oder wenigstens der Teil der nicht in Scherben auf dem Boden gelegen hatte. Es war gesplittert und mehr als die Hälfte fehlte. Trotzdem konnte ich noch genug erkennen.

Ein junger Kerl, nur etwas älter als ich. Blonde Haare, ein blaues Auge war zu sehen und eine leicht gebräunte Wange. Ein Teil des Ohrläppchens war noch vorhanden und darin steckte ein silberner Ring, genauso wie in der Augenbraue. Doch es war dieses blaue Auge, diese Gier darin, die mich zittern ließ.

„Hör auf damit, Sven, ich meine es ernst, ich will das nicht!“

„Mann, dass ihr Mädchen immer so rumzicken müsst.“

Die Stimmen schienen von überall und nirgends zu kommen. Ich schluckte. Sven? Warum raste mein Herz plötzlich so? War es Angst? Freude? Trauer? Es war, als erinnerte sich mein Körper an etwas, was mein Kopf vergessen hatte. Was hatte das nur zu bedeuten?

Ich streckte die Hand aus, wollte das Bild berühren, entsann mich dann aber eines Besseren. Ich wollte nicht, dass damit das Gleiche passierte, was schon den Scherben widerfahren war. Und dann schöpfte ich neue Hoffnung. Wenn es ein Bild gab, das nicht ganz zerstört war – zumindest nicht gänzlich –, dann musste es auch noch andere geben. Ich musste nur weitersuchen.

Mit einem letzten Blick auf das gesplitterte Bild dieses Svens wandte ich mich ab und suchte weiter, schritt den seltsamen Flur hinunter und schon nach ein paar Metern fand ich ein kleines Bild, kaum größer als eine Toastscheibe – wie kam ich denn jetzt auf diesen Vergleich? –, dass mir zwei Mädchen auf einer roten Couch in Pyjamas zeigte. Die eine erkannte ich als die von den beiden Fotos in meinem Portemonnaie, die andere war mir völlig fremd.

„Lass bloß dein Finger von dem, Tal, der ist nicht ganz koscher.“

„Jenn hat recht, halt dich von Sven fern, der spielt nur mit dir und dann lässt er dich fallen wie einen alten Sack Kartoffeln.“

Jenn, war das das Mädchen von den Fotos?

„Ich mach, was ich will, also lasst mich mit euren ungebetenen Ratschlägen in Ruhe.“

War das meine Stimme, die da so patzig klang? Hatte auf jeden Fall große Ähnlichkeit damit. Ich starrte noch eine Weile auf das Bild, prägte mir jede Kleinigkeit ein und tief in meinem Inneren erkannte ich diesen Moment, erkannte die beiden Mädels. Es war mir vertraut und doch konnte ich ihn nicht einnorden. Das war echt frustrierend.

„Talita, wo bist du? Sprich mit mir.“

Na wo sollte ich schon sein. „Im Korridor mit dem Sternenhimmel. Ich habe zwei Bilder gefunden.“

„Sag mir, was du auf ihnen siehst.“

Wenn er so nett fragte konnte ich ja schlecht nein sagen. Ich beschrieb die beiden Bilder und auch die Stimmen, die daraus zu kommen schienen.

„Hm“, machte er. „Das ist ein Anfang. Such weiter.“

Ein „Nichts anderes hatte ich vor“, konnte ich mir nicht verkneifen und hörte ihn glucksen. Ich ließ das Bild mit den beiden Mädchen in Ruhe und schon ein paar Meter weiter fand ich gleich eine kleine Ansammlung von Abbildungen, doch sie waren nicht zu erkennen. Es war, als sei von oben etwas Flüssiges die Wand heruntergelaufen und hätte die Farbe dabei vermischt. Nur Oberflächlichkeit konnte ich erkennen. Grün für Bäume, Blau für den Himmel, zwei verschwommene Personen im Vordergrund. Das runde Bild daneben war noch schlimmer betroffen. Es war, als hätte dieser Teil der Wand einen Wasserschaden erlitten und nichts konnte gerettet werden.

Da fand ich nun schon mal etwas und dann sowas. Das Glück folgte mir wirklich überall hin, aber nur um mit dem Finger auf mich zu deuten und mich lautstark zu verhöhnen.

Eines der Bilder hing ein wenig schief und geistesabwesend richtete ich den Rahmen, nur um anschließend erschrocken einen Satz zurückzumachen. Die Farbe lief aus dem Rahmen raus, sammelte sich zu einer bunten Pfütze, nur um an der Oberfläche eine Art Film laufen zu lassen.

„Er vermisst sie einfach nur, er ist verzweifelt. Seit Isla verschwunden ist, ist er einfach nicht mehr derselbe.“

Das war Domina! Gleich am ersten Tag im Arbeitszimmer.

Immer wieder lief diese eine Szene vor meinen Augen ab, bis die Farbe im Teppich versickert war. Einen Moment stand ich nur da und starrte auf den Fleck, ging im Kopf nochmal durch, was gerade passiert war. Dann ging ein Ruck durch mich. Wenn das bei einem Bild funktioniert hat, dann konnte es doch auch bei den anderen klappen, oder? Ein Versuch war es allemal wert.

Ich griff nach dem nächsten Bild, verschob es ein wenig, doch es passierte nicht, die Farbe lief nicht einfach aus dem Rahmen. Wäre ja auch wirklich zu einfach gewesen. Vier Bilder standen mir noch für meine Versuche zur Verfügung, aber keines davon wollte so wie ich. Zum Schluss wischte ich sogar mit beiden Händen über die verflossenen Farben, doch das Einzige, was ich damit erreichte war, dass sie noch verschwommener wirkten. Nichts zu machen.

Mist.

Enttäuscht gab ich auf und machte mich daran, den Korridor weiter zu erkunden und tatsächlich: nach ungefähr hundert geschwärzten Bildern fand ich eines das mir die Erinnerung klar vor Augen führte. Pal, wie er mit mir auf dem Jahresfest der Drillinge gefeiert hatte. So offen und voller Lebensfreude. Das wollte ich nicht sehen, das hatte ich schon oft genug vor Augen, wenn ich in der Realität war. Es tat immer noch weh, dass er  mich einfach so zurückgelassen hatte und gleichzeitig vermisste ich ihn furchtbar. Nach welchem System waren diese Bilder hier eigentlich sortiert? Müssten die letzten Erinnerungen nicht ganz vorn und die ersten weit hinten sein? War doch auch egal.

Ich wandte mich ab, nur um ein ganz kleinen, runden Rahmen zu entdecken, der halb verdeckt von einer großen, schwarzen Leinwand an der Wand hing. Er war so klein, dass ich mich nahe hinbeugen musste, um das Bild darauf erkenn zu können.

Veith.

„Du hast recht. Es ist nicht egal, es ist wichtig.“

Diese Worte bedeuteten mir so viel, dass ich nicht verstand, warum diese kleine Erinnerung sich hier versteckte. Das sollte nicht so sein.

Ob es schlau war oder nicht, ich nahm einen von den anderen Rahmen ab, stellte ihn auf den Boden und hing das kleine Veithfoto dort auf. Kaum baumelte es am Haken, fing es an zu wachsen. Es wurde breiter und höher und hörte nicht damit auf, ehe es die freie Fläche vereinnahmt hatte. Jetzt hatte ich einen klaren Blick auf diese wunderschöne und so verbissene Gesicht. Ohne diese nachdenkliche Falte zwischen den Augenbrauen sah er so viel jünger aus, attraktiv. Ich konnte nicht wiederstehen und strich mit dem Finger seine Kinnlinie nach. Im Wirklichen Leben würde ich es nie tun können und hier sah mich ja keiner.

„Es ist nicht egal, es ist wichtig.“

Ja, es war wichtig, jede Erinnerung war es, auch diese kleine und für seine Worte war ich ihm dankbar.

Ich drehte mich zu dem abgestellten Bild um, überlegte dabei, was ich damit jetzt anfangen sollte und bekam beinahe ein Herzinfarkt, weil es einfach verschwunden war. Drei Mal drehte ich mich um mich selber, in der Hoffnung es wiederzufinden, aber es blieb verschwunden. Auch an den Wänden war es nicht zu entdecken, es war einfach weg!

Schluck. Ich konnte nur hoffen, dass ich damit nichts in meinem Kopf kaputt gemacht hatte.

„Talita?“

„Ja, ich suche noch“, sagte ich geistesabwesend. Wandte mich um und stand vor einem lebensgroßen Bild von Taylor. Das war da aber eben noch nicht gewesen, oder?

Er stand auf einem Steg, nur eine grüne Badebermudas, die ihm etwas von einem Frosch gab. Die grünen Augen blitzten verschmitzt und zum ersten Mal fiel mir auf, wie ähnlich sie meinen eigenen waren. Nicht nur die Form, auch die Augenfarbe. Der Zug um den Mund und der Schwung der kleinen Stupsnase. Konnte es sein, dass ich mit Taylor verwand war? Auch unsere Namen waren sich ähnlich. Taylor, Talita.

„Schwesterchen, Tal! Tal.“

Aber warum tat es nur so weh, wenn ich an ihn dachte?

„Komm schon, Tal, oder bist du neuerdings etwa wasserscheu?“

Warum splitterte mein Herz, wenn ich ihn sah?

„Hör auf damit, oder ich sage es Mama. Taylor?“

Er war tot. Ich wusste nicht warum, oder wie ich mir da so sicher sein konnte, aber ich spürte es einfach. Ich hatte einmal einen Bruder gehabt und er war aus mir unbekannten Gründen gestorben.

„Talita, alles in Ordnung?“

Nein, gar nichts war in Ordnung. Es tat weh. Ich wusste gar nichts über ihn, außer der Tatsache, dass er nicht mehr da war.

„Ich glaube, wir beenden die Sitzung für heute. Ich zähle jetzt bis drei und dann wachst du auf.“

Was? Nein! Ich wollte noch nicht, ich hatte mir doch noch nicht alles angesehen.

„Eins …“

„Nein, Gaare, ich will noch nicht!“

„… zwei …“

„Bitte, ich bin noch nicht fertig.“ Hastig sah ich mich nach anderen Bildern um, aber in unmittelbarer Umgebung war nichts zu finden. Ich musste tiefer …

„… drei.“

Ein kräftiger Sog riss mich rückwärts den Korridor entlang, zurück in den hellen Raum, hinaus in die Schwärze. Dann schlug ich die Augen auf und fand mich leicht desorientiert in der Realität wieder. Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, dass ich in meinem Bett lag und dass der süßliche Geruch in der Luft aus der kleinen Kräuterschale stammte, die noch immer träge vor sich hin qualmte.

„Talita?“

Noch völlig neben mir, wandte ich mein Gesicht der Stimme zu.

Gaare hatte sich nicht von dem Stuhl bewegt, doch das Taschentuch das er mir hinhielt, war neu.

Warum gab er mir ein … ich fasste nach meinem Gesicht und war verblüfft über die feuchten Spuren. Was war denn jetzt los?

Ich ließ die Hand wieder sinken, sah ihn an, sah das Taschentuch an und verstand rein gar nichts.

„Möchtest du darüber reden?“

„Worüber?“

„Über das was du gesehen hast.“

Was ich gesehen hatte. Auf einmal strömten die Bilder nur so auf mich ein. Sven, die beiden Mädchen, Pal, Veith und … Taylor. Mein großer Bruder Taylor. „Er ist tot“, sagte ich und mein Schluchzen tönte im Raum. Ich hatte einen Bruder gehabt, aber der war jetzt tot. Warum? Was war geschehen? Warum musste ich nun diesen Schmerz ertragen?

„Talita, ich würde gerne …“

„Lass mich bitte allein.“ Ich wollte jetzt nicht reden, wollte ihn nicht sehen. Sie sollten mich einfach nur in Ruhe lassen, sie alle.

Gaare zögerte einen Moment, hievte sich dann aber schwerfällig von seinem Stuhl und legte das Taschentuch neben mich. Bevor er den Raum verließ sagte er noch: „Du musst mit jemanden darüber reden, das macht es einfacher.“ Dann war ich allein.

Einfacher?

Ich hatte gerade herausbekommen, dass mein Bruder tot war und er redete von einfach? Er hatte doch keine Ahnung, niemand hatte die! Ich war allein, es gab keinen, den ich mich anvertrauen konnte, niemanden mit dem ich über diese Dinge sprechen konnte, der mich verstehen würde.

An dieser Geschichte war nichts einfach.

 

°°°°°

Tag 8

Ich wandte mein Gesicht mit geschlossenen Augen den Sonnen zu und genoss die vormittägliche Wärme auf der Haut. Irgendwo über mir in den Bäumen gaben ein paar Vögel ein kleines, privates Konzert, ganz für mich allein. Hier draußen im Garten war es so friedlich, so ruhig. Ich mochte den Platz zwischen den Bäumen, an der hinteren Mauer. Er gab mir wenigstens ein bisschen das Gefühl, zurück im Wald bei den Lykanern zu sein – auch wenn es nur ein Wunschtraum war.

Trotz allem war mir irgendwie die Hoffnung geblieben, dass Pal und die anderen noch einmal hier auftauchen würden und … keine Ahnung, mich zurückholen vielleicht, aber jetzt war es vier Tage her, dass sie mich einfach hier abgegeben hatten. Vor vier Tagen hatten sie sich klammheimlich aus dem Staub gemacht, ohne noch mal einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, einfach, weil es ihnen egal war, was aus mir wurde.

Ich seufzte und strich mit dem nackten Fuß über das weiche Gras. Ich verstand nicht, warum ihre Ablehnung mich so verletzte, warum ich mich so an sie hängte, ich kannte sie schließlich kaum. Nur ein paar Tage, mehr nicht. Vielleicht war es ja wie bei den Vögeln. Die erkannten auch das erste Wesen, das ihnen vor die Augen trat, als das ihrer Mutter.

Ich verzog das Gesicht. Nicht, das ich Fang als meine Mutter ansah, ich konnte nicht mal sagen, ob ich ihm Sympathie entgegenbrachte. Gott, wie kam ich nur darauf, mich mit einem Vogel zu vergleichen? Das war doch lächerlich. Aber so sehr ich mich auch bemühte – und das war nicht wirklich dolle – ich bekam die Lykaner nicht aus meinem Kopf. Genauso wenig wie Taylor.

Drei Tage war es nun her, das Gaare mich das erste Mal hypnotisiert hatte. Ich hatte in dieser Nacht nicht schlafen können und noch immer machte mir der Gedanke an meinen großen Bruder zu schaffen. Gestern Mittag hatte Gaare mich ein zweites Mal in den Korridor meiner Erinnerungen gebracht. Alles war gleich gewesen und doch ganz anders.

Bei diesem Gang war auch nicht viel mehr als vorher rausgekommen. Ich wusste jetzt, dass diese Jenn meine beste Freundin war und dass ich eine Nachbarin namens Katrin hatte, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Ein paar von den alten Erinnerungen waren aus dem Korridor verschwunden – zumindest hingen die Bilder nicht mehr an ihren angestammten Plätzen – und ein paar neue dafür hinzugekommen, aber ich glaubte, dass sie einfach nur die Plätze an den Wänden tauschten. Dieses Mal hatte Veith ganz vorn gehangen. Das Bild von Sven dagegen hatte ich nicht finden können. Dafür aber eine kleine Erinnerung an einen Rummelplatz, den ich als kleines Kind besucht hatte. Ich hatte Plastikenten geangelt und dafür einen kleinen, roten Kamm gewonnen, der schon wenige Minuten später kaputt war, weil ich die Zinken auseinandergedrückt hatte.

Es war nur eine kleine Erinnerung, aber sie bedeutete mir mehr, als Geld es je könnte. Das konnte wohl nur jemand verstehen, der in der gleichen Situation wie ich war.

Als mein Arm von einem Hauch gestreift wurde, der meine Haut kribbeln ließ, öffnete ich die Augen. Im Licht der Sonnen kaum zu erkenne, stand Ghost und schmiegte sich an mich. Das war die Geisterkatze. Sie lief mir immer wieder über den Weg und ja, ich wusste, dass der Name nicht sehr einfallsreich war, aber ich war der festen Überzeugung, dass er zu ihr passte. Außerdem wusste an diesem Ort niemand, dass ich ihn praktisch nur Geist in einer anderen Sprache nannte. Davon mal abgesehen, dass mich die Bewohner dieses Hauses sowieso schief ansahen, weil ich der hauseigenen Geisterkatze einen Namen gegeben hatte. Für sie war Ghost weiterhin nur ein Ärgernis, welches sie zu verscheuchen versuchte. Doch Pech für sie, dass der kleine Geisterkater sich hier pudelwohl zu fühlen schien. Der würde hier nicht so schnell verschwinden.

„Na du, hast du wieder die Hunde geärgert?“

Genießerisch schloss der die Augen und hätte wohl geschnurrt, wenn er könnte, doch er gab nie einen Ton von sich, bewegte sich immer völlig lautlos, wie ein … Geist eben. Gerne hätte ich ihn gestreichelt, sein weiches Fell unter den Fingern gespürt, doch er war eben nur eine durchscheinende Erscheinung, ohne Substanz. Wenn ich ihn berühren wollte, dann fuhr meine Hand nur in ihn hinein – das war wirklich unheimlich – und mehr als ein kühles Kribbeln auf der Haut war dann nicht zu spüren.

Wie er es schaffte, sich an mich zu schmiegen, war mir ein Rätsel, aber er fuhr nie in mich hinein. Seine Schwanzspitze kitzelte mein Kinn, dann blinzelte er mich noch einmal an und verschwand in den seitlichen Teil des Gartens Richtung Zwinger. Ich hatte schnell festgestellt, dass der kleine Kerl sich gerne da hinten herumtrieb. Er machte sich einen Spaß daraus, die vier Zerberus´ von Anwar zu ärgern. Das waren seine Jagdhunde und im Gegensatz zu mir, hatte der Geistkater keine Scheu davor, zu ihnen zu gehen. Ganz im Gegenteil, er setzte sich mitten in den Zwinger und machte sich einen Spaß daraus, dass die Hunde nur bellend und geifernd um ihn rumknurren konnten.

Kaum hatte ich wieder die Augen geschlossen und mich der Sonne zugewandt, da hörte ich sie schon bellen. Ich schmunzelte. Dieser Kater war doch ein ganz schönes Biest.

Noch lange saß ich an diesem einsamen Ort, hing meinen Gedanken nach und döste leicht vor mich hin. Ich hatte keine Lust ins Haus zu gehen und mich vielleicht noch von Kaj anknurren zu lassen. Sie war von meinem Besuch auf unbestimmte Dauer immer noch nicht sehr angetan und zeigte das bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nein danke, da blieb ich doch lieber hier draußen und genoss den Frieden der Natur. Doch jede schöne Zeit endete einmal und bei mir war es am späten Vormittag soweit, als ich eher spürte als hörte, wie sich mir jemand näherte.

Äußerst widerwillig , öffnete ich die Augen einen Spalt und linste dem Störenfried entgegen. Kaj. Na toll, ausgerechnet die hatte ich jetzt sehen wollen. „Was gibt’s?“

Mit einem verächtlichen Blick stand sie neben mir. Nicht mal hier in der Stadt hielt sie es für nötig, den Kleidungsstyle der Umgebung anzupassen. So hatte ich aus meiner Position einen sehr guten Ausblick auf alles, was der Lendenschurz nicht verdeckte und das war sehr viel mehr, als mir lieb war, obwohl ich mich in der Zwischenzeit schon irgendwie daran gewöhnt hatte.

„Gaare ist auf der Suche nach dir, er erwartet dich draußen vor der Tür“, teilte sie mir mit.

„Warum?“

„Geh ihn selber fragen!“, ranzte sie mich an, drehte sich um und rauschte davon. „Ich bin doch kein Dienstmädchen!“, ließ sie noch ziemlich laut verlauten.

„War ja nur ´ne Frage gewesen“, murmelte ich und arbeitete mich auf meine Beine. Adieu Frieden und Einsamkeit, das Leben wollte mich zurück.

Mit einem Seufzen machte ich mich auf den Weg zurück ins Haus. Was Gaare wohl nun schon wieder wollte? Eine Hypnosesitzung konnte es nicht sein, dann würde er mich nicht vor dem Haus erwarten. Eigentlich gab es keinen logischen Grund, warum ich dort erscheinen sollte. Mit meinen Erinnerungen war er noch nicht weiter und, wo ich herkam konnte er sich bis jetzt auch noch nicht erklären.

Ich trat ins Haus und dachte an das, was Erion immer sagte. Ich sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Aber mit jedem weiteren Tag, den der Schlaukopf Gaare genauso unwissend verbrachte wie ich, schrumpfte sie mehr und mehr zusammen. Gegen dieses Gefühl kam ich einfach nicht an. Das war wie ein dicker Luftballon mit Hoffnung, der irgendwo ein kleines Loch hatte. Es ließ sich einfach nicht stopfen und so schrumpelte er jeden Tag ein wenig mehr zusammen. Seufz, wie kam ich nur immer auf solche Vergleiche? Hatte ich das früher auch schon gehabt, oder war das eine neue Macke von mir?

Irgendwann während meiner Überlegungen, bemerkte ich, dass ich mich … naja, nicht direkt verlaufen hatte, sondern vom Garten aus in den falschen Korridor abgebogen war. Sei es drum, dann würde ich halt zwei Minuten länger bis zur Haustür brauchen.

Ich hielt mich links, lief an der großen Treppe vorbei, die hinunter zu Gaares Reich führte, vorbei am Salon und an der halb offenen Tür zu Anwars Büro. Hm, komisch, normalerweise achtete er peinlichst genau darauf, dass sie verschlossen war.  Mir konnte das egal sein. Ich ging daran vorbei, um …

„… nicht zu fassen! Was bilden diese Wilden sich eigentlich ein?“, schallte es mir in einer Lautstärke entgegen, die ich gar nicht überhören konnte. Ich blieb stehen und auch wenn es sich nicht gehörte … naja, ich lauschte nicht, ich hörte einfach nur zu. Ich konnte schließlich nichts dafür, wenn er so laut sprach. „Das sind nichts weiter als bessere Tiere, aber warte nur, Erion, ich bin so kurz davor sie aus dem Codex zu bekommen und dann werde ich sie alle jagen und mit ihnen meine Wände schmücken.“

Hatte ich das gerade richtig verstanden? Er redete doch nicht schon wieder über die Lykaner, oder?

„Sag mir doch einfach was passiert ist, Papá.“

Ja, das würde mich auch interessieren.

„Die Landsitzer sind passiert! Sie wollen sich nicht an unsere Gesetze halten, aber bestehen darauf, dass die Wächter sie schützen. Nun sind sie schon zum zweiten Mal hier aufgetaucht, doch was sollen wir machen, wenn sie ihre Kinder nicht unter Kontrolle haben? Das ist nicht unser Problem!“ Seine Worte wurden von wütenden Schritten untermalt, als liefe er im aufgebracht im Raum auf und ab, um nicht zu explodieren. „Aber das eine sage ich dir, mein Sohn, das geht so nicht mehr weiter. Früher oder später werde ich den Hohen Rat davon überzeugen können, dass Lykaner nichts weiter als bessere Tiere sind, dann werden sie aus dem Codex ausgeschlossen!“

Die Schritte bewegten sich auf mich zu und ich machte schnell, dass ich davon kam, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass Anwar allzu begeistert von Lauschaktion wäre. Naja, er musste es ja auch nicht erfahren. Aber was mich interessierte, was hatte er nur gegen die Werwölfe und was war der Codex? Gut, mit dem Wort an sich konnte ich schon etwas anfangen, nur irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er hier nicht für das Gleiche stand, wie ich es kannte. Codex bedeutete so viel wie Regeln, aber die Werwölfe von den Regeln auszuschließen, ergab in meinen Ohren nicht wirklich Sinn.

Noch während sich meine Gedanken damit beschäftigten, erreichte ich die Haustür und trat hinaus unter den strahlenden Himmel. Wie ein Magnet wurde mein Gesicht sofort von den beiden Sonnen angezogen. Es war nicht nur ihre Wärme, die ich der Düsternis des Hauses vorzog, einfach ihr Anblick lockte mich. Auch wenn ich es mittlerweile akzeptierte, fand ich ihre Erscheinung immer noch ungewöhnlich. Sie faszinierte mich.

„Ah, Talita, da bist du ja endlich. Komm, steige ein.“ Der knochige Gaare stand in einer weiteren, zerschlissenen Robe – heute in Gelb – vor etwas, dass einem riesigen Popel ähnelte. Nein wirklich. Okay, es war ein uraltes Moob, das seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Es war zerbeult und grün und erinnerte damit an etwas, dass andere Leute in ihrer Nase aufbewahrten. Außerdem wirkte es nicht sonderlich vertrauenerweckend.

„Wo fahren wir denn hin?“, fragte ich, immer noch mit den Pro und Kontras beschäftig, dieses Ding wirklich zu besteigen.

„Zur Caput Vena außerhalb von Sternheim.“ Er hielt mir die Beifahrertür auf und deutete mir sehr nachdrücklich, meinen Hintern endlich in Bewegung zu setzen.

„Und was machen wir da?“ Ich hatte zwar keine Ahnung, was das war, stieg aber trotzdem argwöhnisch in das Moob. Sollte das Teil über mir zusammenbrechen, wüsste ich wenigstens, dass ich das nächste Mal auf mein Gefühl vertrauen sollte. Meine Beine musste ich zwischen einem Dutzend Büchern im Fußraum unterbringen und Gaare warf mir gleich noch eines in den Schoß. Sehr freundlich. Es war dick, schwer und sehr alt.

„Na was schon, wir werden deine Magie wecken.“ Damit schlug er die Tür zu.

 

°°°

 

„Kann ich dich mal was fragen?“

„Natürlich.“ Gaare blinzelte angestrengt durch seine dicke Brille, um das Moob auf der Straße zu halten.

Beim Einsteigen vor einer knappen Stunde hatte ich gar nicht mehr an seine Sehschwäche gedacht. Das fiel mir erst in dem Moment ein, als ich ihm laut schreien erklärte, dass das Eingangstor geschlossen war. Seit dem Moment hatte ich meine Augen auf die Straße geklebt, um zu verhindern, demnächst ins Gras zu beißen. „Was ist der Codex?“

„Ein Vertrag, den alle intelligenten Rassen dieser Welt unterschrieben haben, um ein Bündnis zu schließen.“

„Ein Bündnis?“

„Frieden, Gleichstand, Einigkeit. Der Codex macht uns zu Mortatia.“

„Das heißt, er sagt euch, dass ihr keine Tiere seid, richtig?“

Um seine Mundwinkel zuckte es leicht. „So ungefähr.“

„Und was passiert, wenn jemand vom Codex ausgeschlossen wird?“

„Dann gehört er nicht mehr zur Gesellschaft, wird als minderbemittelt angesehen und ausgestoßen. Damit steht er nicht mehr unter dem Gesetz, bekommt keine Hilfe, keinen Schutz. Er wäre dann … hm … ich glaube Tier war schon eine gute Bezeichnung dafür. Ja, er wäre dann nicht mehr als ein Tier, ohne Rechte, aber auch ohne Pflichten.“

Jagdbeute, schoss es mir durch den Kopf. Das war es, war Anwar wollte. Was hatte er nur gegen die Lykaner?

„Das weiß niemand so genau“, antwortete Gaare und erst da wurde mir klar, dass ich die Frage laut gestellt hatte.

Den Rest der Fahrt schwiegen wir und ich war glücklich, dass uns auf dem Weg kaum andere Seelen entgegen kamen. Das erhöhte meine Überlebenschance.

Irgendwann erblickte ich die Seidenbänder, die den Wolfsbaumwald umschlossen und in mir kam Freude auf, doch Gaare fuhr nicht hinein, sondern seitlich daran entlang. Eine halbe Stunde lang. Dann fuhr er von der Straße ab, was mir schon einen halben Herzinfarkt bescherte, nur um mitten auf einer großen Weide anzuhalten.

„So, aussteigen, wir haben nicht viel Zeit.“

„Warum?“, fragte ich, während ich schon die Tür aufstieß.

„Vergiss das Buch nicht“, erinnerte er mich unnötigerweise – lag die dicke Schwarte doch die ganze Zeit in meinem Schoß. Dass er meine Frage nicht beantwortete, bemerkte ich sehr wohl, doch bevor ich sie ein zweites Mal stellen konnte, war er schon aus dem Wagen gestiegen. Seufz. Also, für einen so alten Knacker konnte er sich ganz schön schnell bewegen.

Ich folgte ihm schnell, konnte aber trotzdem kaum mithalten.

Gaare schien zu wissen, wo er hin wollte, obwohl es hier ein Gras dem anderen glich. Er rannte beinahe vor mir weg, nur um dann aus heiterem Himmel stehen zu bleiben, so plötzlich, dass ich fast in ihn hineinlief. „So, hier ist es.“

„Was ist hier?“ Für mich sah das genauso aus, wie jede andere Stelle auf dieser endlosen Wiese. Nicht ein Baum unterbrach das Bild, keine Blume. Nur die Seidenbänder, die die Grenze zum Territorium der der Lykaner beschrieben, waren in einiger Entfernung zu erkennen. Die Sehnsucht packte mich. Ob sie sich wohl freuen würden, wenn ich ihnen einen Überraschungsbesuch abstatten würde? Wohl eher nicht. Außerdem sollte ich mir das sowieso endlich aus dem Kopf schlagen, schließlich hatten sie mich einfach sitzen gelassen.

„Die Caput Vena.“ Gaare nahm mir das Buch aus der Hand und ließ sich mit ihm schwerfällig in den Schneidersitz gleiten.

„Was?“ Irgendwie hatte ich den Faden verloren.

Er schlug das Buch auf und suchte konzentriert nach einer Seite.

„Gaare?“

„Wir sind hier an der …“ Er kniff die Augen zusammen und verschwand mir der Nase fast um Buch.

Oh nein, nicht schon wieder. Okay, was hatte er gesagt? Caput Vena. Wir sind an der … „Wir sind an der Caput Vena?“

„Ja, wir …“ Und wieder verstummte er.

Na toll. Ich liebte es, auf diese Art mit ihm zu sprechen. „Und was ist die Caput Vena? Mit diesen Worten kann ich nämlich nichts anfangen.“

„Das ist die Hauptmagieader, die …“ Und wieder war es still.

Seufz. So würde das nichts werden. Ich musste meine Neugierde wohl zügeln und das Gespräch auf später vertagen. Dann blieb mir im Augenblick wohl nichts anders übrig, als dumm in der Gegend rumzustehen und darauf zu warten, was jetzt passieren würde.

Er wollte meine Magie wecken, was auch immer das bedeutete. Ich hatte ihn während der Fahrt nicht gefragt, weil ich ihn nicht zu sehr ablenken wollte, doch langsam interessierte es mich doch. Was bedeutete es für mich, wenn ich plötzlich magisch war und viel wichtiger, wollte ich das überhaupt?

Die Frage war gar nicht so leicht zu beantworten. Ich war gerade mal acht Tage alt, woher sollte ich sowas auch wissen?

Gaare überflog noch ein paar Seiten und dann schien er gefunden zu haben, was er suchte. Er blinzelte zu der Stelle vor sich, runzelte dann die Stirn und sah mich anklagend an. „Warum stehst du da immer noch rum, ich habe dir doch gesagt, dass du dich setzen sollst.“

Nur um das mal festzuhalten, das hatte er nicht gesagt, aber mit ihm darüber zu diskutieren war den Atem nicht wert, den man brauchte. Ich ging zu der Stelle, auf die er gezeigt hatte und ließ mich auch in den Schneidersitz fallen.

„Nein, doch nicht so, du musst die Schuhe ausziehen.“

Okay, dann eben ohne Schuhe. Heute trug ich wieder meine eigene Kleidung und das fühlte sich viel besser an, als diese Klamotten von Erion. Ich sollte dringend einmal Shoppen gehen und meine Sachen aufstocken. Doch dazu hätte ich Geld gebraucht und um Geld zu bekommen, bräuchte ich einen Job und an den war im Moment gar nicht zu denken, nicht solange ich noch so in der Schwebe hing.

Ich beugte mich vor und streifte mir die ausgelatschte Tretter von den Füßen. Meine Socken folgten.

„Und jetzt setzt dich genau hier auf die Erde … nein, nicht so. Deine Füße müssen fest auf der Erde stehen und auch deine Hände, leg sie neben deine Füße, auch sie müssen den Boden berühren … ja genauso. So ist gut und jetzt nicht mehr bewegen.“

O-kay. Ich musste mich dabei zwar ein bisschen verrenken und  kam mir außerdem ziemlich blöd vor, blieb aber  in dieser Stellung. „Erklärst du mir jetzt …“

„Pssst. Ich muss mich konzentrieren.“

„Das ist ja schön und gut, aber …“ Ich brach ab, als ich es merkte. Zuerst begann es nur ganz leicht, ein leichtes Kribbeln unter meiner Fußsohle. Doch schnell wurde daraus Wärme, sehr schnell. Kurz darauf hatte ich das Gefühl, in einem warmen Pudding zu sitzen. Der Boden unter mir veränderte irgendwie seine Konsistenz und als Gaare einen fremdsprachiges Gedicht rezitierte – so jedenfalls hörten sich seine Worte in meinen Ohren an – fing die Erde unter mir an zu leuchten. „Ähm Gaare?“

Der ließ sich von meiner Unsicherheit nicht stören und machte einfach weiter. Es hörte sich beinahe wie ein Lied an, was er da von sich gab.

Ganz langsam schwappte der Boden an Händen und Füßen hinauf. Okay, das wurde jetzt doch unheimlich. Ich versuchte meine Hände rauszuziehen, aber sie steckten fest. Das war der Moment, in dem mich die Panik heimsuchte. Nur einen kurzen Moment, dann wurde alles gleißend hell, so dass ich geblendet die Augen zukneifen musste. Ich badete geradezu in Licht und Wärme und nahm nichts anders um mich herum mehr wahr. Nicht meinen Körper, nicht meine Gedanken, ja nicht mal mein Sein. Es war, als existierte ich einfach nicht mehr.

Und dann war ich einfach weg vom Fenster.

 

°°°

 

Als ich wieder zu mir kam, summte mein ganzer Körper. Mein Herz schlug freudig in meiner Brust und meine Hormone tanzten in ihrer Euphorie. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war, aber es fühlte sich verdammt gut an.

Ich lag auf weicher Erde, Gras kitzelte mich im Gesicht und von oben wurde ich auf herrliche weise gewärmt. Ach ja, ich war ja mit Gaare ins Grüne gefahren. Warum eigentlich?

„Bist du wach?“

Hatte ich mich bewegt, oder woran merkte er das? „Hmm“, machte ich und blinzelte vorsichtig ins Dämmerlicht. Wie lange hatte ich denn geschlafen? Oder noch besser, warum war ich überhaupt eingeschlafen?

„Gut, dann steh auf, wir müssen zurück.“

„Warum?“ Hier war es doch so schön. Seine ständige Eile konnte ich einfach nicht verstehen.

„Weil ich noch arbeiten muss.“

Ach so, er wollte nur zurück zu seinen geliebten Büchern und ich hatte schon gedacht, dass es sich um etwas Wichtiges handelte.

„Ich habe die letzten Stunden darauf gewartet, dass du zu dir kommst. Hätte ich gewusst, dass du so lange brauchen würdest, dann hätte ich mir etwas Arbeit mitgebracht.“

Unter halb geschlossenen Augenliedern beobachtete ich, wie der knochige Gaare sich schwerfällig aufrichtete und versuchte, Dreck von seiner Robe zu klopfen. Zwecklos, wie ich feststellen musste, da half nur noch eine Waschmaschine – oder was die hier halt zum Waschen von Wäsche nutzten. „So lange?“ Irgendwie war mein Hirn wie Watte, in der meine Gedanken zäh und sehr langsam schwammen. Warum war das eigentlich so?

„Na deine Erweckung.“

„Erweckung?“ Irgendwie schaffte ich es immer noch nicht, meine Gedanken ganz beisammen zu halten.

Gaare schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Deswegen sind wir hergefahren, um deine Magie zu wecken und dich mit ihr zu verbünden. Das haben wir geschafft, also können jetzt fahren.“ Damit drehte er sich um und stiefelte auf sein Moob zu.

Diese Worte schafften es irgendwie in mein nebelumwobenes Hirn. Gaare war mit mir zur Caput Vena gefahren, einer Hauptmagieader – was auch immer das war – um meine Magie zu wecken. „Wir haben es geschafft“, flüsterte ich, um die Worte auch wirklich in meinem Kopf sickern zu lassen. Fühlte ich mich deswegen euphorisch? Eigentlich interessierte mich das gerade weniger als die Frage, was das jetzt für mich bedeutete. Das Ganze war irgendwie so schnell gekommen, dass ich mich innerlich gar nicht hatte darauf einstellen können.

Vorsichtig setzte ich mich auf. Ich hatte das Gefühl auf Eiern zu schweben – ging das eigentlich? Irgendwie fühlte ich mich seltsam, als gehörte mein Körper nicht mir, so als wäre er … anders. Oh Mann, ich war wohl noch nicht richtig wach. Musste eine Nebenwirkung des Rituals sein.

Ich rieb mir mit den Händen über das Gesicht, in der Hoffnung, dadurch ein wenig wacher zu werden und bekam den Schreck meines Lebens. Das waren nicht meine Hände! Genaugenommen waren das nicht mal Hände, das waren Pfoten!

Das war … ich wusste nicht genau wie das war. Irgendwie skurril, aber gleichzeitig auch faszinierend. Erstaunt drehte und wendete ich meine Hände … äh, Pfoten von einer Seite auf die andere. Meine Finger waren jetzt etwas kürzer und ich hatte Krallen, die ich mit einiger Konzentration ausfahren konnte. Wie bei einer … Katze. Dazu würde ich jetzt mal nichts weiter sagen.

Ich konnte sie bewegen wie eine ganz normale Hand. Dunkle, dicke Ballen zeigten sich in der Innenfläche und alles war überzogen mit schneeweißem Fell. Kleine Punkte und Flecken bildeten ein Muster darauf, das meinen ganzen Arm überzog. Weißes Fell mit schwarzen Flecken. Nein, das waren keine Flecken, das waren Rosetten, wie bei einem Leopard.

Neugierig zog ich mein Shirt am Bauch hoch, auch Fell, doch hier war es reinweiß. Diese Untersuchung führte ich an meinem ganzen Körper durch. Überall weißes Fell mit schwarzen Rosetten, nur nicht im Bauch-Brust-Bereich. Auch meine Füße hatten sich verändert. Sie hatten sich leicht gebogen, so dass ich jetzt auf den Fußballen laufen musste. Auch dort waren ziemlich scharfe Krallen, doch die ließen sich nicht einziehen. Aber der Hammer war wohl der Schwanz. Ja, ich hatte einen Schwanz. Lang und weiß mir weiteren schwarzen Rosetten. Es drückte unangenehm, weil die Hose im Weg war, aber ich würde den Teufel tun und die deswegen ausziehen.

Zu guter Letzt kam mein Gesicht an die Reihe. Schnurrhaare. Ich konnte eindeutig Schnurrhaare über meiner Oberlippe fühlen. War das überhaupt noch eine Lippe? Auch meine Ohren fühlten sich anders an. Sie saßen höher, waren rundlich und pelzig und ich hatte das Gefühl, jetzt eine Art Schnauze zu besitzen. Ziemlich kurz, aber sie war eindeutig da.

Irgendwann ließ ich leicht frustriert meine Arme sinken. So würde ich nie herausfinden, wie genau ich jetzt aussah, ich brauchte einen Spiegel. Das Moob! Das hatte doch einen Rückspiegel. Der war zwar nicht groß, aber der würde fürs Erste reichen müssen.

Hastig rappelte ich mich auf die Beine und landete gleich darauf erst mal wieder im Dreck. Scheiße, was war das denn? Ich hatte das Gefühl besoffen zu sein.

„Deine Körpermitte hat sich verändert, du musst dich neu ausbalancieren“, rief mir Gaare vom Moob aus zu. Er wirkte leicht ungeduldig.

Körpermitte, aha. „Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, mit das mitzuteilen, bevor ich mich auf die Schnauze lege?“

Wäre Gaare der Typ dafür, würde er wohl jetzt die Augen verdrehen. So stand er einfach weiter ungeduldig neben seiner Schrottkiste und wartete darauf, dass ich meinen haarigen Hintern in Bewegung setzte.

Das tat ich auch. Diesmal nur langsamer und darauf bedacht, mein Gleichgewicht zu halten. Es war ein seltsames Gefühl, auf zwei Beinen zu stehen. Die ersten Schritte glaubte ich auf Seegang zu sein. Auch danach wurde es nicht wirklich besser, doch ich hatte ein Ziel vor Augen und dass würde ich auch erreichen. Es war, als müsste ich ganz neu Laufen lernen und mehr als einmal ging ich in die Knie, um nicht nochmal auf der Nase zu landen.

Gaare half mir nicht, er wollte, dass ich es allein schaffe und das tat ich letzten Endes auch. Mit viel Mühe und Not stolperte ich die letzten zwei Schritte vorwärts und ließ mich dann einfach gegen das Moob fallen, um mich abzustützen. Gott, so schwer war mir das nicht mal gefallen, nachdem ich auf Fangs Dachboden erwacht war. Die Tür aufzubekommen war gar nicht weiter schwer, doch als ich mich in den Sitz plumpsen ließ, zischte ich. Ich hatte meinen Schwanz geknickt und, Mann ey, das tat echt mehr als nur weh. Ich rutschte nach vorn, versuchte, zwischen den Büchern im Fußraum Platz zu finden und dann sah ich in den Rückspiegel.

Kein Zweifel, ich war eine Katze, genauer eine Großkatze, ein … „Schneeleopard.“

„Sehr selten“, kommentierte Gaare, „und sehr seltsam.“

„Warum?“, fragte ich geistesabwesend und musterte meine Augen, die so gar nichts menschliches mehr an sich hatten. Die Iris war bläulich und auch die Pupille hatte sich verändert.

„Rakshasa, oder in deinem Fall Rakshasi sind immer Tiger oder Panther, aber du bist ein Schneeleopard und die gibt es nur als Therianer. Doch du bist weder das eine, noch das andere, damit stellt sich die Frage, was bist du?“

„Ich bin ich“, sagte ich, ohne wirklich zu verstehen, was ich da von mir gab. Viel zu gefangen war ich gerade von meinem eigenen Spiegelbild. Ich sah aus wie die perfekte Verschmelzung von Mensch und Tier. Wohlproportioniert. Nirgends war zu viel und nirgends zu wenig. Meine Augen und meine Stirn sagten mir, ich sei ein Mensch, meine Schnauze und meine Kiefer, nein, ich war ein Schneeleopard. Das eine ging nahtlos in das andere über.

Seltsam, dachte ich, als ich von den Werwölfen erfahren hatte, war ich praktisch vor Panik gestorben, aber dass ich nun selbst ein Fell besaß, beunruhigte mich nicht im Geringsten. War ich wirklich schon so abgebrüht, oder würde mich später die Hysterie packen? Ich verstand nicht, wie ich so ruhig bleiben konnte, war ja nicht gerade so, als hätte ich mir nur einen neuen Haarschnitt zugelegt.

„Du bist auf jeden Fall weiterhin ein interessantes Forschungsobjekt“, sagte Gaare und schlug meine Wagentür zu.

Ich konnte ihm nur etwas sprachlos hinterher sehen, als er das Moob umkreiste, um seinen Platz hinter dem Joystick einzunehmen. „Wenn du sowas sagst, dann komme ich mir vor, als würdest du mich am liebsten sezieren“, teilte ich ihm mit, als er sich setzte und den Motor – die Magie? – anließ.

„Aber nein, meine Liebe, ich finde dein Wesen nur überaus interessant. So etwas wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen und in meinem Leben …“

„Sind dir schon viele Dinge untergekommen“, endete ich in Erinnerung daran, dass er etwas Ähnliches mit Regelmäßigkeit in meiner Gegenwart erwähnte.

„Ja, genau, sehr viele sogar und trotzdem bereitete es mir immer wieder Freude, neue Dinge zu entdecken.“

„Und dein aktuelles, neues Ding bin ich.“ Wieder verirrte sich mein Blick in den Spiegel. Es war aber auch schwer da nicht hinzusehen. Im Grunde war die Form meines Körpers noch vorhanden und auch meine Stimme hatte sich nicht verändert. Die wenigen Erinnerungen, die mir geblieben waren, trug ich weiterhin in meinem Herz und doch war ich jemand ganz anderes. Warum erschreckte mich das eigentlich nicht? Die Euphorie hatte mittlerweile nachgelassen und unter den Klamotten juckte mein Fell. Es war ein wenig unangenehm. Vielleicht lag es wirklich daran, dass ich langsam begann, mich in diese seltsame Welt einzufügen. Nicht nur innerlich, auch äußerlich.

Was wohl Pal dazu sagen würde, wenn er mich so sehen könnte? Oder Veith? Gott, ich sollte mir langsam wirklich einen Hirnklempner suchen. Es ging ja mal gar nicht an, dass ich bei allem, was mein Leben betraf, die beiden mit ins Spiel brachte. Sie waren weg und so wenig mir das auch gefiel, ich sollte endlich damit abhaken. Außerdem gab es im Moment viel wichtigere Dinge zu klären. „Geht das Fell eigentlich wieder weg?“

„Das werden wir noch herausfinden müssen.“

Das war nicht wirklich die Antwort, die ich hatte haben wollen.

 

°°°

 

Das Fell ging wieder weg. Noch bevor ich mit Gaare zurück auf Anwars Anwesen war, sah ich wieder aus wie ich eben aussah. Leider hielt dieser Zustand nicht sonderlich lange vor. Den Rest des Tages verwandelte ich mich ohne ersichtlichen Grund immer wieder hin und her. Das erste Mal kurz nach meiner Ankunft, als ich Anwar und Erion gegenüber stand und Gaare ihnen berichtete, was wir getan hatten – nun ja, so bekamen sie wenigsten gleich den bildlichen Beweis.

Beim Abendessen fiel mir das Besteck aus der Hand und verteilte die Soße auf meinem Teller damit quer über den Tisch, weil ich plötzlich Pfoten hatte. Kaj knurrte mich wütend an. Sie saß mir gegenüber und irgendein Schicksalsgott hatte meine Soße so gelenkt, dass die Hälfte davon auf Kajs Oberkörper landete.

Als ich am Abend dann die Treppe nach oben ging, wurde ich auf der vorletzten Stufe zur Katze. Ich verlor mein Gleichgewicht und wäre beinahe herunter gesegelt, hätte ich mich nicht geistesgegenwärtig an das Treppengeländer geklammert. Die Verwandlung hielt aber nur bis vor meine Zimmertür, dann war ich wieder normal. Naja, so normal wie ich eben war.

Aber der Hammer an dem Tag geschah, als ich in der Badewanne saß. Eben noch seifte ich meine Beine ein und summte dabei ein kleines Liedchen und im nächsten Moment spürte ich dieses Kribbeln unter der Haut, das mir andeutet, was gleich geschehen würde. Das Fell brach so schnell aus meiner Haut heraus, dass ich gar keine Zeit hatte zu reagieren. Anschließend stand ich mit pitschnassem Fell in meinem Feuchtraum – das war ein wirklich ekliges Gefühl, Gänsehaut vorprogrammiert. Doch es kam noch schlimmer. Die Verwandlung wollte sich einfach nicht rückgängig machen lassen. Ich stand da und war vor Anstrengung unter dem weißen, nassen Fell sicher schon krebsrot, doch letztendlich musste ich trotzdem versuchen, mein Fell irgendwie trocken zu rubbeln. Völlig erschöpft nach diesem Tag, ließ ich mich befellt in mein Bett fallen.

Die nächsten Tage wurde es noch schlimmer. Zu den ständigen Metamorphosen kamen unkontrollierte Gemütsschwankungen. In dem einen Moment war ich komplett deprimiert, im nächsten lachte ich aus voller Kehle, ohne überhaupt zu wissen warum und dann war ich plötzlich so wütend auf Gott und die Welt – und vor allen Dingen die Lykaner –, dass ich am liebsten alles kurz und klein geschlagen hätte. Gaare sagte dann immer: „Das liegt daran, dass sich deine Magie erst einpendeln muss, das wird sich mit der Zeit geben.“ Nur, wie viel Zeit? Sprach er hier von Stunden? Wochen? Jahren? Ich kam mir vor, als wäre ich in den Wechseljahren. Die ständigen Hitzewallungen passten da wohl auch ganz gut ins Bild.

Durch meinen unkontrollierbaren Zustand konnte ich mit Gaare vorerst auch keine weiteren Hypnosesitzungen abhalten. Es war nicht vorherzusehen, was geschehen könnte. Erst wenn ich mich und meinen Körper wieder unter Kontrolle hatte, würde ich zurück in den Korridor meiner Erinnerungen dürfen und das zog meine Laune echt runter.

Doch eines fand Gaare zumindest heraus, oder besser gesagt, er hatte eine Theorie. Ich war ein Mischling, ein Hybrid. Eine Hälfte von mir war Therianer, eine Werkatze. Das erklärte, warum ich zwei Gestalten besaß und auch den Schneeleoparden in mir. Die waren unter den Therianern zwar selten, aber vorhanden. Auf den zweiten Teil wollte er sich nicht festlegen, weil er einfach nicht verstand, warum ich – auch als halber Therianer – in aufrechter Haltung auf zwei Beinen lief. Ein Rakshasa, oder auch weiblich Rakshasi, schloss er aus, auch wenn ich eigentlich einer war. Zumindest, wenn ich mal wieder im Fell herumlief. Das war ein Wesen, das halb Mensch … ähm, halb Mortatia und halb Tiger oder Panther war und sich nicht verwandeln konnte. Es hatte nur eine Gestalt.

Ich beschloss für mich selber, dass ich immer noch ein Mensch war und vielleicht – aus welchen Gründen auch immer – einen kleinen Teil eines Therianers in mir trug. Wer weiß, vielleicht stimmte das ja sogar und dann blieb nur noch die Frage, wie das möglich war.

An Tag elf ging es mit mir dann komplett bergab und ich verfluchte Gaare dafür, dass er die Magie in mir geweckt hatte. Anfangen tat es schon am Morgen, als ich plötzlich jedes Geräusch überlaut hören konnte. Beim Frühstück ging es weiter. Meine Geschmacksnerven waren plötzlich so empfindlich, dass alles, was nur ein wenig gewürzt war, ungenießbar für mich wurde. Ich fühlte plötzlich anders, alle Sinne waren geschärft und die ewige Verwandlerei wollte einfach kein Ende nehmen. Aber der Knüller kam am Abend, als Kaj mich mit einem blöden Spruch so sauer machte, dass ich vor Wut eine Kommode beschädigte. Ich haute einfach mit der Faust drauf und das Holz brach unter meiner Kraft.

Als ich am Abend in mein Zimmer verschwand, war ich völlig fertig mit meinen Nerven. Weder Erions geduldige und ruhige Worte an mich, noch Anwars Ärger halfen mir. Ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen. Dass ich so widerstandslos und unwissend zugelassen hatte, dass Gaare die Magie in mir weckte, war der größte Fehler, den ich in meinem Leben gemacht hatte. Zumindest an den ich mich erinnern konnte. War ich kurz nach meiner ersten Verwandlung noch begeistert gewesen und hätte dem Rudel unter den Wolfsbäumen am liebsten gezeigt, was in diesen wenigen Tagen aus mir geworden war, so verfluchte ich mich jetzt dafür, dass ich einfach alles so hinnahm.

 

°°°°°

Tag 12

Lustlos stocherte ich mit der Gabel in meinem morgendlichen Rührei herum. Ich hatte nicht wirklich Hunger, aber da der Satyr, das Mädchen für alles hier – ich sollte mir wirklich langsam mal seinen Namen sagen lassen – für mich mitgedeckt hatte, wäre es unhöflich, nicht wenigstens so zu tun, als würde hin und wieder etwas von dem Essen in meinem Mund landen.

Das war auch so eine Nebenwirkung von der Magie. In dem einen Moment war ich so hungrig, dass ich einen Elefanten verschlingen könnte und im nächsten war Essen für mich das Widerlichste auf der Welt. Einmal hatte ich mich allein wegen dem Geruch fast übergeben. Das war einfach nur ätzend.

„Schmeckt es dir nicht?“, wollte Erion wissen. Wie immer war er der einzige in diesem Haus, der überhaupt bemerkte, dass es mich auch noch gab. Von Kaj wurde ich schon aus Prinzip ignoriert und Anwar konnte nicht viel mit mir anfangen. Außerdem war er heute Morgen gar nicht zugegen. Wieder irgendein wichtiger Termin in der Stadt – interessierte mich nicht wirklich.

Ich war schon froh, dass er mir meinen Pelz nicht auch durchlöchern wollte, aber gegen Werkatzen hatte er nichts einzuwenden, weil sie im Gegensatz zu den Lykanern, in der Gemeinschaft der anderen Wesen lebten und sich auch an ihr beteiligten. Doch am wichtigsten, sie hielten sich an die Gesetze und ordneten sich ihnen – wie jedes andere anständige Mitglied – der magischen Gesellschaft, unter.

„Talita?“

Seufz. „Nein, ist schon okay, ich habe einfach keinen Appetit.“ Genaugenommen protestierte mein Magen schon allein von dem Anblick. Rührei war heute Morgen für mich genauso lecker wie etwas, das schon einmal gegessen wurde. Igitt.

Erion warf mir einen mitfühlenden Blick zu, für den ich ihn am liebsten geschlagen hätte. Na super, da waren sie wieder, meine Gefühlsschwankungen. Konnte mich mal bitte jemand erschießen? Vielleich würde das ja Abhilfe schaffen.

„Das wird schon werden.“

Ich schnaubte nur. Diesen Satz hatte ich in den letzten Tagen so oft gehört, dass er mir einfach nur noch zum Halse raushing.

„Und wenn nicht“, fügte Kaj hinzu, „dann kann Anwar sich aus ihrem Pelz immer noch einen Überwurf machen.“

Diesen Satz auch. Seufz.

„Nein“, sagte Erion, „das habe ich so gemeint, wie ich es gesagt habe.“ Er wandte sich mir mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zu, als hätte er eine ganz tolle Überraschung für mich. „Ich habe noch gestern Abend mit einem alten Bekannten telefoniert, einem Therianer um genau zu sein. Ich habe ihm dein Problem dargelegt, in der Hoffnung, einige nützliche Hinweise zu bekommen, die dir helfen können.“

Okay, das war wirklich eine Überraschung. Als er eine Kunstpause einlegte, spitzte ich die Ohren und sah ihm erwartungsvoll entgegen. Oh, wie ich sowas hasste. „Und?“, fragte ich dann ungeduldig, weil er das wohl hören wollte.

Das Lächeln auf seinen Lippen wurde tiefer. „Er hat mich aufgefordert, dich zu ihm zu bringen. Er möchte dir bei deinen Problemen behilflich sein, persönlich.“

Kaj schnaubte. „Das wäre dann wohl eine Lebensaufgabe.“

Ich überhörte sie einfach. „Und was heißt das genau?“ Ich war leicht misstrauisch, denn so war ich ja überhaupt erst in diese missliche Lage gekommen. Gaare hatte mir bei meinen Problemen helfen wollen und nun fuhr ich plötzlich voll auf Katzenminze ab. Na gut, so schlimm war es auch nicht – Gott sei Dank – aber meine Klamotten waren ständig voll mit Katzenhaaren und das nervte.

„Djenan hat sich erboten dich zu unterrichten. Er wird versuchen dir zu helfen, deine Verwandlungen zu kontrollieren und dich lehren, deine neuen Fähigkeiten und Sinne zu erproben. Kurz, er möchte dir zeigen, was es bedeutet, ein Therianer zu sein.“

„Ich bin aber kein Therianer“, gab ich zu bedenken. Ich war immer noch ein Mensch. Und wenn mir tausend Mal ein Fell wachsen sollte, von dieser Meinung würde mich so schnell keiner abbringen.

„Laut Gaare bist du zumindest zur Hälfte ein Therianer“, erwiderte Erion. „Und das ist das Einzige, worauf es im Augenblick ankommt.“

So ganz war ich zwar nicht seiner Meinung, aber im Augenblick hatte ich auch nicht das Bedürfnis, mit ihm darüber zu diskutieren. Außerdem brauchte ich wirklich Hilfe, sonst würde ich demnächst einfach mal durchdrehen. Nicht nur das ständige Verwandeln und meine neuen Fähigkeiten – wie Erion es so nett umschrieben hatte – machten mir zu schaffen, auch dass ich mit meiner Selbst nicht weiter kam. Gaare forschte und tat und machte und wusste trotzdem noch nicht, woher ich stammte, oder wie ich in das Lager der Lykaner unter den Wolfsbäumen gekommen war. Und jetzt weigerte er sich auch noch, weiter mit mir an meinen Erinnerungen zu arbeiten, solange ich mich nicht unter Kontrolle hatte.

Okay, ich konnte verstehen warum er so handelte. Ich wollte auch nicht plötzlich in meinem Kopf gefangen sein, weil meine Magie verrücktspielte und weiß-ich-was mit mir tat, aber es störte mich, sehr sogar. Die Leute definierten sich über das was sie dachten, über das was sie erlebt hatten, aber bei mir war da so gut wie nichts, eine weiße Leinwand, mit ein paar Flecken und kein fertiges Gemälde. Solange meine Erinnerungen hinter einem schwarzen Schleier verborgen waren, würde ich mir nie ein Bild von mir machen können. Doch um daran zu kommen, musste ich erst lernen, meine Magie in ihre Schranken zu verweisen. Konnte mir dieser Djenan wirklich helfen?

„Und wenn es nicht klappt?“, sprach ich dann den Gedanken aus, der mich am meisten zögern ließ. Ich wollte wirklich keine Enttäuschungen mehr erleben, davon hatte ich schon genug hinter mir.

„Was hast du schon zu verlieren?“

Das wollte ich mir nun wirklich nicht ausmalen, nicht bei meiner blühenden Phantasie.

 

°°°

 

Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg in die Stadt – ohne Kaj, die hatte andere Dinge zu tun, wie sie sagte. Ich wollte gar nicht wissen, was sie in ihrer Freizeit so trieb, wahrscheinlich kleine Kinder verspeisen. Das hatte Domina doch gesagt, sie fraß Welpen, oder hatte es zumindest mal getan. Ich verstand nicht, wie Erion sich mit so jemandem abgeben konnte. Vielleicht sollte ich ihn das bei Gelegenheit einmal fragen. Aber nicht jetzt, jetzt beschäftigten mich ganz andere Dinge.

Es war das erste Mal, dass ich hier zu Fuß in der Stadt unterwegs war. Die letzten Tage hatte ich mich in Anwars Haus mehr oder weniger verkrochen. Nicht nur wegen dem Käse mit meinen Metamorphosen, nein, auch das Unbekannte, diese Unsicherheit, die ich immer wieder verspürte, seit die Wölfe mich hier zurückgelassen hatten, hielt mich davon ab, mal etwas auf eigene Faust zu unternehmen.

Erion hatte zwar angeboten, mich einmal herumzuführen, doch bisher hatte er dafür noch keine Zeit gefunden. Immer hatte er etwas zu tun.

Aber heute, hier und jetzt war er mit mir unterwegs, damit ich endlich die Hilfe bekam, die ich brauchte. Irgendwie war es schon interessant, dieses ganze Neue ins sich aufzunehmen und mein Blick schweifte auch immer wieder zu Wesen, oder Dingen, die so fantastisch waren, dass man sie sich kaum vorstellen konnte, doch in meinen Erwartungen war ich viel zu aufgeregt, um wirkliches Interesse daran zu entwickeln. Vielleicht beim nächsten Mal, aber nicht heute.

Was würde mich am Ziel erwarten? Was würde passieren? Konnte dieser Therianer mir wirklich helfen, oder versuchte er nur, sich aufzuspielen? Würde ich es schaffen meine Magie zu bändigen, oder war ich auf ewig zu diesem Hin und Her verdammt?

Je länger wir liefen, desto nervöser wurde ich, doch mit dem, was mich am Ziel erwartete, hätte ich niemals gerechnet.

 

°°°

 

„Ein Friseursalon?“ Das sollte wohl ein Witz sein. In einem Friseursalon sollte ich meinen zukünftigen Mentor finden? Was tat der hier, sich eine neue Frisur zulegen? Aber kein Zweifel, wir standen hier vor einem Hair Studio. Eine gläserne Fassade, so wie bei jedem anderen Gebäude in dieser Stadt. Ich konnte das Innere von außen betrachten. Mehrere Kunden waren in verschiedenen Stadien der Haarpflege, ein paar saßen auf den Wartestühlen und dazwischen wuselte eine Frau mit grüner Haut hin und her.

„Er arbeitet hier.“

Das wurde ja immer besser. Würde der mir jetzt zeigen wie man Haare schneidet, oder was? „Er ist Friseur?“

„Der Beste in ganz Sternheim und der Einzige, den ich an meine Haare ranlasse“, schmunzelte er.

Naja, Erions Haare sahen schon gut aus, aber ein Friseur sollte mir helfen, mein Problem in den Griff zu bekommen? Ich blieb skeptisch. „Du hast wohl zu viel Klebstoff geschnüffelt.“ Auf Erions verwirrten Blick hin, sagte ich nur: „Vergiss es.“

Für einen Moment sah es so aus, als wollte er doch noch nachfragen, beließ es dann aber einfach dabei. „Komm, lass uns hineingehen.“ Er trat einen Schritt vor, um mir, galant wie er war, die Tür zu öffnen. Ein Glöckchen kündigte fröhlich unser Kommen an.

„Danke.“ Als ich den Laden betrat, schlug die schwere, weinrote Samtrobe um meine Beine. Erion trug heute etwas sehr ähnliches, nur das seine Robe für einen Mann geschnitten war und noch eine Hose beinhaltete. Ich konnte keine Hosen mehr tragen. Nicht das ich von Erion keine bekommen hätte, ich konnte sie nicht mehr tragen. Meine Jeans hatte ich seit dem ersten Tag meiner Verwandlung nicht mehr angezogen, einfach weil mein Schwanz darin verdreht und zerdrückt wurde und das war ziemlich unangenehm.

Erion trat an mir vorbei und ließ den Blick durch den Laden schweifen, der – abgesehen von den Kunden – sich von keinem Salon unterschied, den ich kannte. Waschbecken, Spiegel, Drehstühle, ein Tresen. Sogar dieser typische Friseursalongeruch hing in der Luft, nur dass er mir heute leicht unangenehm in der Nase brannte. Stärkere Sinne waren nicht unbedingt etwas Gutes, besonders nicht, wenn man es nicht gewohnt war.

Scheinbar fand Erion nicht, was er suchte, denn er trat zu der grünen Frisöse, die gerade damit beschäftigt war, tentakelartige, blaue Haare zu einem ziemlich komplizierten Zopf zu binden. Das waren doch Haare, oder? Oh Mann, ich glaubte nicht, dass sich andere Leute mit den gleichen seltsamen Dingen wie ich rumplagen mussten. Warum hatte das Schicksal es eigentlich auf mich abgesehen? War ich wirklich ein so schlechter Mensch gewesen?

Die grüne Frisöse mit den pinken Haaren wechselte ein paar Worte mit Erion und zeigte dann auf einen Vorhang im hinteren Bereich. Er nickte, winkte mir zu und machte sich auf den Weg dorthin. Neben dem Vorhang klopfte er an die Wand und als ich ihn erreichte, kam ein Riese nach vorn in den Laden.

Oh. Mein. Gott! Mir fiel die Kinnlade herunter – wortwörtlich, ich stand mit offenem Mund da. Ich war ja nun nicht wirklich klein, aber bei dem musste ich den Kopf in den Nacken legen, um ihn – irgendwann in unendlichen Höhen – ins Gesicht sehen zu können. Das mussten mehr als zwei Meter Mann sein! Dabei wirkte er aber nicht lang oder so, er war einfach nur … naja, riesig eben. Die Beine waren ewig lang. Das konnte ich sehr gut sehen, weil er trug – wie konnte es auch anders sein – nur einen Lendenschurz. Aber der hier war anders, als der von den Lykanern. Er war saphirblau – also die Klamotte, nicht der Mann – vorn und hinten quadratisch geschnitten, mit goldener Stickerei an den Säumen, die sehr gut zu seiner gebräunten Hautfarbe und den sandfarbenen Haaren passte. Der Haarschnitt war etwas länger, so dass ihm einige Strähnen in die stechenden, gelben Augen fielen. Er war athletisch, mit gut definieren Muskeln. Wenn ich mich nicht täuschte, musste er so um die dreißig sein und an den Ohren … waren das Haarpinsel?

Oh Mann, im Moment sah ich wirklich überall Haare. „Was bist du?“, rutschte es mir heraus. War es eigentlich unhöflich, sowas direkt zu fragen, oder mussten dabei irgendwelche Regeln beachtet werden? Naja, bisher hatte sich auf jeden Fall noch keiner daran gestört.

Eine sandfarbene Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. „Ein Kuder.“

Hä?

Er musste wohl die Fragezeichen in meinem Gesicht sehen. „Ein männlicher Luchs“, erklärte er mir genauer, mit seiner weichen Samtstimme. In der richtigen Tonlage, konnte die einem sicher eine Gänsehaut über die Haut jagen. Mann, die war echt gut für Bettgeflüster.

Oh Gott, Talita, reiß dich mal zusammen! Jetzt war wirklich nicht die richtige Zeit für solche Gedankengänge. Ein „Ja, dass du männlich bist, sieht man allerdings“, konnte ich mir dann leider doch nicht verkneifen. Innerlich schlug ich mir gegen die Stirn. Das hatte ich doch nicht wirklich gerade gesagt, oder? Da sich die zweite Augenbraue zu der ersten in höhere Regionen erhob, musste ich genau das wohl doch getan haben.

„Talita, darf ich dir vorstellen, das ist Djenan“, sagte Erion irgendwann. Ich glaubte, er fühlte sich leicht übergangen. Mir war schon ein paar Mal aufgefallen, dass Erion es gar nicht mochte außenvorgelassen zu werden. Nicht das er zickig wurde, oder etwas in der Art, nein, er verstand es einfach nur sehr gut wieder auf sich aufmerksam zu machen. „Djenan, das ist Talita.“

Djenan legte den Kopf leicht schief und erinnerte mich damit so unglaublich an Pal, dass es mir einen Stich versetzte. „Das Problemkind.“

„Hey!“, protestierte ich. „Was heißt hier Problemkind? So viel jünger als du bin ich auch nicht!“

„Mag sein.“ Er wandte sich Erion zu. „Ich werde mir ihr einen kleinen Ausflug machen und bringe sie dann später nach Hause.“

Das hieß dann wohl so viel wie, schön, dass du sie hergebracht hast, jetzt kannst du aber wieder verschwinden.

„Natürlich, ich habe sowieso noch einiges zu erledigen.“ Er drückte mir die Schulter. „Djenan wird sich gut um dich kümmern. Wir sehen uns dann heute Abend.“ Und damit drehte er sich einfach um und ließ mich stehen. Wirklich, er ließ mich einfach zurück. Das gab es doch wohl nicht, war das eine neue Mode? Wir lassen Talita einfach bei wildfremden Leuten, damit die sich mir ihr herumärgern konnten. Erst die Werwölfe und jetzt auch noch Erion. Okay, wahrscheinlich übertrieb ich gerade ein wenig, ich würde Erion nachher ja wiedersehen, aber so langsam bekam ich doch das Gefühl, dass ich allen Leuten nur ein Klotz am Bein war, dem man sich schnellstmöglich entledigen konnte. Das war … niederschmetternd. Vielleicht roch ich auch unangenehm und es hatte mir nur keiner gesagt.

Unsicher drehte ich mich zu Djenan herum, aber der hatte sich bereits von mir abgewandt und ging zu der grünen Frisöse rüber. „Ich bin dann erst mal weg. Feriin müsste aber bald hier auftauchen, schaffst du es bis dahin allein?“

„Nicht wenn du mir in der Sonne stehst, also kusch.“ Sie wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum. Langsam fragte ich mich, was sie wohl war. Sie sah aus wie ein Mensch – von der grünen Haut und den pinken Haaren einmal abgesehen – und hatte auch sonst keine weiteren Merkmale, die sie von einem Mortatia unterschieden.

Djenan lächelte nur und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann winkte er mich zu sich, aber im Gegensatz zu Erion hielt er mir die Tür nicht auf, sondern ging einfach hindurch. Na super. Ich beeilte mich hinterher zu kommen, erreichte ihn aber trotzdem erst, als er schon fast an der Straßenecke war.

„Spürst du deine Magie?“, fragte er aus heiterem Himmel und hastete dann einfach über die Straße, ohne auf den Gong der Moobs zu achten. Nein ehrlich, hier wurde nicht gehupt, hier wurde gegongt.

Da mir an diesem Morgen nicht danach war, mir alle Knochen durch einen Unfall brechen zu lassen, wartete ich, bis sich mir eine Lücke in dem Verkehr auftat, die ich nutzen konnte. Leider war Djenan nicht stehen geblieben und so musste ich mich wieder beeilen, um ihn einzuholen. Was war das denn für ´ne Type? Vielleicht sollte ich ihm mal erklären, dass sein Benehmen ziemlich unhöflich war.

Ich sah ihn gerade noch um die Hausecke verschwinden, rammte beim Hinterherkommen dann auch einen Engel – oh, wow – bei dem ich mich dreitausend Mal entschuldigte und verfluchte innerlich die ganze Welt. Womit hatte ich Djenan nun schon wieder verdient?

Zwei Minuten später hatte ich ihn wieder eingeholt und schwor mir, ihn so schnell nicht wieder aus den Augen zu lassen. Nachher ging ich noch verloren und das war im Augenblick das letzte, was ich wollte.

„Und?“, fragte er, sobald ich zu ihm aufgeschlossen hatte.

„Was und?“

„Ich habe dir eine Frage gestellt.“

„Ja und ich dir daraufhin auch eine, weil ich mit einem einfachen Und nichts anfangen kann. Also entweder drückst du dich genauer aus, oder hörst auf, mich zu nerven.“

Er musterte mich einen Moment aus dem Augenwinkel, stellte aber weder Schritt noch Geschwindigkeit ein. „Ich habe dich gefragt, ob du deine Magie spürst.“

Ach die Frage meinte er. Die hatte er ja schon vor ewigen Zeiten gestellt. „Nur wenn sie der Meinung ist, mich wieder ärgern zu müssen.“

Eine Augenbraue wanderte eine Etage nach oben.

„Damit meine ich, wenn sie wieder hervorbricht. Dann spüre ich  so ´n Kribbeln unter der ganzen Haut und meine Hormone spielen verrückt, als wenn sie da drin“, ich schlug mir auf den Körper, „eine riesen Fete veranstalten. Und das eine kann ich dir sagen, diese Fete ist echt gut. Ich bin dann immer geradezu berauscht davon.“

Er bog wieder ab und ging einfach mal davon aus, dass ich ihm auf den Fersen bleiben würde. Gar nicht so einfach bei den langen Beinen. „Eigentlich hatte ich ja gemeint, im Moment. Spürst du deine Magie wenn sie ruht?“

Im Moment? Ich horchte in mich hinein. „Nein, nicht wirklich. Jetzt gerade bin ich nur Talita, der Mensch, ich meine Mortatia. Nur meine Sinne sind stärker als ich es gewohnt bin. Ich höre besser, meine Augen sind schärfer und was ich so alles rieche willst du gar nicht wissen.“ Ich wedelte mit der Hand vor der Nase herum. „Die Tussi dahinten riecht extrem nach Fisch.“ Der würde ´ne Dusche nicht unbedingt schaden.

„Sie ist eine Selkie und die riechen so.“

„Selkie?“

Wieder diese erhobene Augenbraue, etwas wie Erstaunen im Blick, bevor er sich wieder nach vorn wandte. „Erion hat mir bereits berichtet, dass vieles bei uns dir fremd ist.“

„Hm, das war jetzt nicht wirklich eine Antwort auf meine Frage“, bemerkte ich. „Wo gehen wir eigentlich hin? Nicht das unser kleiner, gemütlicher Spaziergang mich stören würde.“

„In den Park. Erst hatte ich mit dir in den Wald gehen wollen, aber du schaffst es ja kaum so mit mir mitzuhalten.“

Ja klar, weil er hier ja auch durch die Gegend rannte, als sei ihm die Mafia auf den Fersen. „Sollte ein Lehrer den Schüler nicht eigentlich motivieren und nicht schon fertig machen, bevor die erste Unterrichtsstunde begonnen hat? Nur mal so nebenbei.“

„Wir befinden uns bereits im Unterricht“, erläuterte er, ohne auf meinen Wink mit dem Zaunpfahl einzugehen. „Schon seit dem Zeitpunkt, als wir meinen Laden verlassen haben.“

„Das ist dein Laden?“ Okay, ich hatte mich in der Zwischenzeit mit dem Gedanken abgefunden, dass mir ein Friseur beibringen wollte, eine Katze zu sein, aber er war nicht nur Angestellter, er war der Besitzer.

„Er ist mein Baby.“ Und dass war der Moment, in dem er das erste Mal so richtig lächelte. Dafür bekam er von mir ein dickes, fettes Wow! Nicht, dass ich es laut aussprach, das wäre dann vielleicht ein wenig peinlich geworden – für mich, versteht sich –, aber er sollte das eindeutig öfter machen, dann wirkte er nicht so … naja, groß war er trotzdem, aber es gab ihm etwas Weiches. Er war nicht im klassischen Sinne hübsch, dafür war die Nase zu groß und die Lippen zu schmal, aber er hatte eindeutig das, was die anderen Charisma nannten.

„Aber hier geht es gerade nicht um mich, sondern um dich“, fuhr er fort. „Erion hat mir erzählt, dass hauptsächlich Gefühlsschwankungen für deine unkontrollierbaren Metamorphosen verantwortlich sind.“

Nun, um das mal an dieser Stelle festzuhalten, ich hatte definitiv keine Gefühlsschwankungen, das lag einzig und allein an der Magie!

„Daran werden wir arbeiten. Ich werde dir zeigen wie du dich Kontrollieren kannst und dich deiner Magie näher bringen. Du wirst lernen deine Sinne sinnvoll und in ihrem ganzen Umfang zu nutzen und was es bedeutet, ein Therianer zu sein.“

Eine Frage brannte mir unter den Fingernägeln und wollte unbedingt entlassen werden, weswegen ich einfach nachgab. „Hast du sowas schon einmal gemacht?“

„Ich habe meine Nichte unterrichtet. Sie hatte genau wie du ihre Probleme mit der unkontrollierten Verwandlung. Obaja, ist sehr temperamentvoll und hat sehr oft Schwierigkeiten damit gehabt ihre Gefühlsschwankungen unter Kontrolle zu bekommen. Heute ist sie anderen in ihrem Alter durch meinen Unterricht weit voraus.“

Ich sah von der Seite zu ihm auf. Und auf. Und auf. Mann, wie konnte jemand nur so groß sein? „Dann bist du also ein sehr guter Dozent.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nur so gut sein, wie meine Schüler. Natürlich liegt es zum Teil auch an mir, welche Fortschritte sie machen, aber wenn bei ihnen kein Wille vorhanden ist, kann auch der beste Mentor nichts ausrichten. Nur wenn der Schüler gewillt ist, kann der Lehrer glänzen.“

„Na dann hast du bei mir ja Glück. Ich bin sehr gewillt. Wenn ich das nicht gepackt kriege, dann werde ich demnächst mit einer Glatze rumlaufen, weil ich mir vor lauter Frust alle Haare einzeln ausreißen werde.“

„Das können wir ja nicht zulassen, bei so schönem Haar.“

Verarschte er mich jetzt, oder meinte er das als Kompliment? Zur Lösung dieses Rätsels kam ich nicht mehr. Djenan bog um eine weitere Ecke, ließ sich dabei fast von einer Kusche mitreißen und dann standen wir vor einem Urwald. Nein wirklich, das war ein Dschungel mit allem Drum und Dran. Exotische Pflanzen, Mangroven, Lianen, ja sogar die typischen Urwaldgeräusche drangen mir an die Ohren und als Djenan gerade darauf zuhielt, schnappte ich lautstark nach Luft.

„Da willst du rein?“ Das war doch wohl nicht sein ernst! Wer wusste schon, was mich da erwartete. Treibsand und große, hungrige Großkatzen, die nichts Besseres zu tun haben, als mich … nun gut, das mit den Großkatzen hatte sich wohl eh erledigt.

„Ich habe dir doch gesagt, wir gehen in den Park.“

Ja, nur hatte ich da an ein angelegtes Stück Natur gedacht, sauber und gepflegt, in dem jedes Stück grünes Gemüse sofort auf seinen Platz gestutzt wurde, wenn es aus der Reihe tanzte. Aber das hier war ein verwilderter Dschungel. Das Buschwerk war so dicht, dass ich nicht mal einen Weg ausmachen konnte und Djenan lief einfach hinein, als handelte es sich um den nächsten Supermarkt. Warum Supermarkt? Ganz einfach, das Gefährlichste, was einem dort begegnen konnte, waren die Preise. Oder vielleicht ein Räuber, aber im Moment glaubte ich, dass der wesentlich ungefährlicher sein würde, als ein Spaziergang da drin. „Können wir nicht irgendwo auf eine Wiese gehen?“, rief ich ihm hinterher. Da er nicht antworte, sondern einfach nur zwischen Farnen und Bäumen verschwand, nahm ich das als nein. Seufz.

Ich konnte nur hoffen, dass es da keine giftigen Spinnen oder Würgeschlangen gab, das würde mir meinen Tag nämlich so richtig vermiesen.

Ein letztes Mal atmete ich tief ein, straffte dann die Schultern und ging in den Park der besonderen Art. Ganz ehrlich? Wer kam nur auf die Idee, einen Dschungel mitten in die Stadt zu setzten? Und dann auch noch so einen verwilderten.

Ich kämpfte mich durch das dichte Unterholz. Einen Weg gab es hier wirklich nicht und Djenan hatte ich auch aus den Augen verloren. Kurz war ich versucht einfach umzudrehen, er würde schon zurückkommen, wenn ich ihm nicht folgte, aber dann sah ich ein Stück blauen Stoff zwischen den Pflanzen. Das war er. Entschlossen kämpfte ich mich weiter. Ich war hier um etwas zu lernen und ich würde nicht zulassen, dass sich ein paar Pflanzen zwischen mich und meine Erinnerungen stellten.

Keine Ahnung wie lange ich brauchte. Schon nach kurzer Zeit hatte ich jedes Gefühl für Zeit und Entfernung verloren. Bis auf die Geräusche der Tierwelt war es um mich herum still. Einmal glaubte ich einen Affen im Geäst hüpfen zu sehen, aber er war so schnell weg, dass ich mir nicht sicher war. Außerdem hatte er eine seltsame türkise Färbung gehabt. Keine der mir bekannten Affenarten war türkis, doch das hatte hier ja nicht wirklich eine Bedeutung, wie ich schon einige Male festgestellt hatte.

Das Einzige, was mich durch diese Wildnis führte, war das Stück blauen Stoffes, das immer wieder zwischen dem ganzen Grünzeug hervorstach. Sehr schnell brach mir der Schweiß aus und auch mein Atem ging immer schwerer. Gott, meine Kondition war wirklich das Letzte. Über dieses ganze verwilderte Grünzeug zu klettern war aber auch anstrengend. Doch irgendwann hatte ich es dann geschafft.

Vor mir tat sich eine kleine Lichtung mit einem kristallklaren Teich auf. Djenan saß im Schneidersitz am Wasser, kehrte mir somit den Rücken zu und hielt seinen Blick auf die spiegelglatte Oberfläche, auf der gemächlich etwas schwamm, das wohl ein Vogel sein sollte. Es war rostrot und erinnerte an ein Frettchen mit Schnabel und Flügeln. Auch der ewig lange Schwanz wollte nicht so recht ins Bild passen.

Ich ignorierte das Tier einfach und ließ mich neben Djenan ins Moos sinken.

„Du bist sehr langsam.“

„Und du sehr unhöflich“, teilte ich ihm ungerührt von seiner Beleidigung mit. „Du hättest ruhig auf mich warten können.“

Seine Mundwinkel zuckten, aber seine Stimme blieb ernst. „Ich bin nicht hier, um dir das Köpfchen zu tätscheln, oder dir dein Leben so angenehm wie möglich zu machen, sondern um dich zu lehren, was es heißt, einer von uns zu sein.“

„Na toll und ich hatte mich schon auf eine entspannende Massage gefreut.“

Das überging er einfach. „Ich möchte jetzt, dass du versuchst, deine Magie zu finden und dich zu verwandeln.“

„Und wie bitte soll ich das machen?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite, als dächte er über eine besonders schwierige Formel nach, die dringender Klärung bedurfte. Dann stieß er blitzschnell den Arm vor und im nächsten Moment klatschte ich in einer Fontäne mit einem lauten Schrei ins eiskalte Wasser.

Es war tief, tiefer als es auf den ersten Blick den Anschein hatte, ging hinter dem Rand steil abwärts und meine schwere Samtrobe sog sich augenblicklich voll, so dass ich einige Mühe hatte, wieder an die Oberfläche zu kommen. Ich brach nach oben durch, klammerte mich, nach Luft schnappend, an den Moosrand und konnte kaum glauben, dass er das gerade getan hatte. „Scheiße, hast du sie noch alle?!“

„Ich weiß zwar nicht, was du damit meinst, aber du brauchst dich nicht so aufregen, es hat schließlich geklappt“, sagte Djenan völlig ungerührt.

Fluchend kletterte ich zurück ans trockene Ufer und konnte einfach nicht glauben, dass er mich wirklich ins Wasser gestoßen hatte, einfach so, aus heiterem Himmel! Toll, einfach klasse, durch den Schreck hatte ich mich zwar verwandelt, war aber klitschnass und nicht nur das feuchte Fell klebte mir am Körper, sondern auch meine Kleidung. Das war ein echt ekliges Gefühl.

Aus Rache klatschte ich ihm auch einen Schwall Wasser ins Gesicht – was er nur mit einem Lächeln kommentierte – und ließ mich dann wieder auf meinen Hintern fallen. Natürlich dieses Mal mit einigem Abstand zu ihm und dem Wasser. „Über deine Berufung als Lehrer solltest du echt noch mal nachdenken“, schnappte ich, als ich versuchte, mein Kleid notdürftig auszuwringen.

Auch das wurde mal wieder einfach übergangen. „Stört dich der viele Stoff nicht? Mich würde er jucken.“

Tat er auch, aber das würde ich ihm, ihm gerade, sowas von nicht unter die Nase reiben. „Im Moment stört mich vor allen Dingen, dass ich nass bis auf die Haut bin!“, zischte ich. Was dachte der Kerl sich eigentlich. Der war heute Morgen wohl aus dem Bett direkt auf den Kopf gefallen. „Ich fass es einfach nicht.“

„Das du dich so aufregst, ist völlig unnötig. Ich habe erreicht, dass du dich verwandelst und nur darauf kommt es an.“

„Ich kann mich aufregen so viel ich will!“, fauchte ich ihn an. „Besonders nach so einer Aktion.“

Djenan stand von seinem Platz auf und setzte sich mir gegenüber.

Vorsichtshalber rückte ich ein Stück von ihm weg. Wer wusste schon, was er als nächstes plante. Ich jedenfalls war jetzt auf der Hut.

„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet.“

„Warum sollte ich? Du beantwortest mir meine ja auch nie.“

Und wieder wanderte seine Augenbraue ein Stück Himmelwärts. „Um es dir klar zu sagen, für mich besteht kein Grund bei dir zu bleiben und dir zu helfen. Ich kenne dich nicht einmal und wenn du dich querstellst, dann sollten wir die ganze Sache wohl einfach vergessen und wieder getrennte Wege gehen.“

Das hatte er jetzt nicht gesagt. Erst machte er so eine Scheiße und dann wunderte er sich, dass ich sauer wurde? Der war doch wirklich nicht mehr zu retten. „Ich habe dich nicht darum gebeten, mir zu helfen.“ Und auch nicht darum, mich ins Wasser zu werfen.

„Du nicht, aber Erion.“ Er sah mir direkt in die Augen, ein Blick, unter dem ich zu schrumpfen schien. „Er hat mich gebeten dir beizustehen, weil er gesehen hat, wie sehr du unter der momentanen Situation leidest und du dankst sowohl ihm als auch mir diesen Dienst an dir, indem du beleidigt bist, dass ich dich ins Wasser geschubst habe. Das ich durch den Schreck deine Verwandlung ausgelöst habe, damit wir damit beginnen können, deine Magie zu kontrollieren, das siehst du nicht.“

„Früher oder später wäre es von allein passiert, dann müsste ich jetzt nicht klitschnass hier sitzen und mir eine Blasenentzündung holen!“

Einen Moment sah er mich nur an. Dann seufzte er und erhob sich.

Misstrauisch beobachtete ich, wie er dabei war, die Lichtung zu verlassen. Das war doch jetzt nicht sein Ernst, oder? „Wo gehst du hin?“

„Ich mache das, was ich gesagt habe.“ Er blieb nicht stehen, während die Worte seinen Mund verließen. „So hat es keinen Sinn. Wenn du lernen willst, kannst du gerne wieder zu mir kommen, aber im Augenblick ist es wohl das Klügste, wenn du wieder nach Hause gehst.“ Und damit wurde er vom Dschungel verschluckt.

Ich saß einfach nur da und konnte nicht fassen, dass er sich wirklich aus dem Staub machte. Erst schleppte er mich in diesen Urwald, dann stieß er mich ins Wasser und jetzt verpisste er sich einfach, weil ich über seine Aktion keine freudigen Luftsprünge machte. Und jetzt war er auch noch so dreist, mich hier sitzen zu lassen und mir zu empfehlen, die ganze Sache einfach zu vergessen und nach Hause zu gehen? „Ich habe gar kein Zuhause!“, schrie ich ihm hinterher. Bei Erion und Anwar war ich schließlich nur ein Gast und noch dazu kein sonderlich beliebter, wenn ich da nur an Kaj dachte. Sollte der Hausherr irgendwann die Nase voll von mir haben, dann würde ich auf der Straße sitzen. „Ich habe kein Zuhause“, wiederholte ich flüsternd und zog die Beine ganz nah an den Körper.

Es war ja nicht so, dass ich nicht lernen wollte, doch ich konnte doch nicht einfach alles mit mir machen lassen. Ich hatte es so satt, dass ich von allen herumgeschubst wurde und jeder glaubte, mit mir verfahren zu können, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Hallo, es waren nicht meine Gefühle, die verschwunden waren, sondern meine Erinnerungen, nur irgendwie schien das hier allen egal zu sein. Erst schob mich das Rudel ab, dann Erion und jetzt wurde ich auch noch von Djenan – einem eigentlich Fremden – sitzen gelassen.

Das tat echt weh.

Was hatte ich in meinem Leben eigentlich verbrochen, um das zu verdienen? Nicht nur, dass ich von Gott und der Welt verlassen wurde, ich wusste nicht einmal, wer ich war und saß jetzt in irgendeinen Urwald mitten in der Stadt herum und bemitleidete mich selber.

War ich eigentlich noch zu retten? Warum saß ich eigentlich hier rum und badete im Selbstmitleid? Ich war hier um etwas zu erreichen und nicht um der Welt mein Leid zu klagen. Das war schließlich meines und das ging niemanden etwas an. Ich sollte nicht hier rumsitzen und mich selber bemitleiden, ich sollte aufstehen, diesem verrückten Djenan hinterherlaufen und ihm für seine Aktion einen kräftigen Tritt in den Hintern geben. Ich sollte ihm klar machen, dass er so nicht mit mir umspringen konnte und ihm gleichzeitig verklickern, dass ich sehr wohl gewillt war zu lernen, dass ich es sogar musste um weiter zu kommen und dass ich, sollte er es noch einmal wagen, mich einfach so irgendwo im Nirgendwo sitzen zu lassen, ich ihm die Hammelbeine langziehen würde.

Beschlossen.

Ich rappelte mich auf die Beine, jetzt würden Nägel mit Köpfen gemacht werden. Der Moment war gekommen, ich würde mich nicht mehr rumschubsen lassen und Djenan würde er Erste sein, der es merken würde.

Ab heute würde Sternenheim eine neue Talita zu sehen bekommen. Entschlossen machte ich mich auf den Weg durch den Urwald der Stadt.

 

°°°

 

Alle starrten mich an. Es war mehr ein Gefühl, als dass ich es wirklich sah, weil ich ganz drauf konzentriert war, mein Ziel, den Friseursalon von Djenan, zu erreichen. Vielleicht lag es daran, dass ich trotz meines anstrengenden und langwierigen Marsch durch den Dschungelpark noch bis auf die Haut durchweicht war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie sowas wie mich noch nie gesehen hatte, oder daran, wie ich jeden finster anstarrte, der blöd in meine Richtung schaute. Wie auch immer, sie starrten mich an und ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich es bemerkte.

Nur noch über die Straße, dann hatte ich mein Ziel erreicht und weder Kutschen noch Moobs konnten mich von meinem Weg abbringen. Noch zwei Meter, einer. Ich stürmte durch die Tür des Hair Studios, so heftig, dass sie gegen die Wand – das Glas? – schlug. Das war zwar nicht beabsichtig gewesen, aber ich würde mich sicher nicht dafür entschuldigen. Genug der Höflichkeiten, jetzt würden die Leute eine andere Talita kennenlernen, eine, die sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen würde.

Ein paar erschreckende Gesichter wandten sich zu mir um, darunter auch die grüne Frisöse und ein sehr blasser Kerl, der gerade dabei war, einer Medusa – ich hatte den richtigen Namen in der Aufregung vergessen – die Schlangen auf Lockenwicklern zu drehen. Nur ein Gesicht war ziemlich gelassen, Djenans. Er stand hinter dem Tresen und blickte mir ziemlich gleichgültig entgegen.

„Du!“, fauchte ich und hatte damit sofort die allgemeine Aufmerksamkeit, aber das war mir egal. „Du kannst mich doch nicht mitten um Dschungel aussetzen und dich dann einfach aus dem Staub machen, schon gar nicht, nachdem du mich in den Teich geschubst hast!“

Er wirkte nicht im Mindesten beschämt, ganz im Gegenteil, es schien ihn zu amüsieren. „Wie du siehst, konnte ich sehr wohl.“

Okay, ruhig Blut. „Eins wollen wir mal klarstellen, ich lasse mit mir nicht alles machen. Ich bin sehr wohl gewillt mir helfen zu lassen, weil ich einfach nicht mehr weiter weiß, aber wenn du sowas noch einmal abziehst, dann kannst du dir aus deinen Zähnen einen Halsschmuck machen, nachdem du sie einzeln vom Boden eingesammelt hast!“

Hinter mir begann die grüne Frisöse zu lachen. Erst leiser und dann immer lauter und auch ein paar der Kunden mussten schmunzeln.

„Wenn du mit dem theatralischen Teil jetzt fertig bist, dann können wir ja endlich weiter machen“, erwiderte Djenan schlicht.

Ich glaubte mich verhört zu haben. „Weiter?“

„Na glaubst du, dass ich so schnell aufgeben würde, nur weil du einen kleinen Wutanfall hattest?“ Er schüttelte den Kopf, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Nun komm, wir gehen ins Hinterzimmer, da haben wir unsere Ruhe.“ Und schon war er hinter dem Vorhang verschwunden.

Ob er wohl hören konnte, wie ich mit den Zähnen knirschte? Und wenn schon, es würde ihn wahrscheinlich gar nicht interessieren.

„Nun geh schon, Mädchen“, sagte die grüne Frisöse.

Ich sah sie an und konnte nicht anders, ich musste einfach fragen. „Was bist du eigentlich? Auf die grüne Hautfarbe konnte ich mir einfach keinen Reim machen. Die hatten normalerweise nur Zombies – gab es die hier auch? – aber für einen Zombie sah sie definitiv zu frisch aus. Keine Verwesung, sie erinnerte mich eher an den Morgentau.

„Was ich bin?“ Sie lachte hell auf und das hörte sich an wie Vogelgezwitscher. „Ich bin eine Waldnymphe.“

„Mit pinken Haaren?“

Und wieder kam dieser Laut über ihre Lippen. Das war ein richtig hübscher Klang. „Die sind gefärbt. Kennst du sowas auch nicht, von da, wo du herkommst?“

Aha, da hatte wohl jemand aus dem Nähkästchen geplaudert. Wer wohl alles noch von meinem tragischen Schicksal wusste? „Doch, aber pink ist eine Farbe, der man dort nicht allzu oft begegnet.“

„Auch hier steche ich damit ganz schön heraus.“ Sie machte einen Schritt auf mich zu und reichte mir die Hand. „Ich bin Catlin.“

„Talita“, entgegnete ich und schüttelte ihre Hand. Ein Geruch nach Wald und Wiese ging von ihr aus, sehr angenehm für eine empfindliche Nase.

„Freut mich dich kennen zu lernen. Das da ist Feriin, ein Vampir“, fügte sie hinzu, bevor ich nachhaken konnte und zeigte auf den Typ bei der Medusa. Das erklärte natürlich die blasse Hautfarbe. Sollte ich mir jetzt eine Knoblauchkette zulegen? „Aber jetzt mach dass du nach hinten kommst.“ Sie scheuchte mich davon und machte sich wieder daran, der Kundin die Haare zu waschen, dabei plauderte sie fröhlich belangloses Zeug vor sich hin.

Okay, die war schon irgendwie … schräg. Ich schüttelte den Kopf und machte mich daran, meinem Mentor hinterherzukommen – mal wieder, weil wir das ja noch nicht so oft hatten. Kaum hatte ich den Vorhang zur Seite gezogen, da landete auch schon ein Stück Stoff in meinem Gesicht. Reflexartig griff ich danach, bevor es auf dem Boden fallen konnte.

„Zieh das an. Da drüben ist das Bad, da findest du auch ein Handtuch.“

„Mit Freundlichkeit kommt manch einer im Leben auch weiter“, murmelte ich geistesabwesend, während ich den Stoff in meiner Hand auseinander faltete. Meine Augen wurden groß. Das war ein hellblauer Lendenschurz, der ähnlich wie der von Djenan geschnitten war. „Das soll ich anziehen? Hast du sie nicht mehr alle? Ich mach mich hier doch nicht nackig, nur weil alle anderen der Meinung sind so rumlaufen zu müssen.“ Der war wohl nicht mehr ganz dicht.

„Da ist auch ein Oberteil dabei“, teilte er mir ungerührt mit und kramte konzentriert in einer Kiste hinten im Regal.

„Aber es zeigt trotzdem viel zu viel Haut!“, protestierte ich.

Djenan seufzte, als sei er meine Wiederworte leid. „Ich sehe, wie du dich unter deiner Robe kratzt und ich weiß, dass es nicht angenehm ist, über seinem Fell Kleidung zu tragen, also hast du jetzt die Wahl. Entweder, du diskutierst noch stundenlang mit mir und ziehst dich dann um, oder wir ersparen uns diesen Teil und du tust es gleich. So oder so, wir machen erst weiter, wenn du dich umgezogen hast.“

Das gab es doch nicht, jetzt wollte der mich auch noch erpressen! „Was heißt hier weiter? Du hast mir bisher noch gar nichts beigebracht!“

„Ich hab dich mitten im Park ausgesetzt und du hast allein herausgefunden. Wie hast du das gemacht?“

Wie ich das gemacht habe? Das war eine wirklich gute Frage, über die ich mir bisher noch nicht wirklich Gedanken gemacht hatte. Aber er hatte schon Recht. Ich war zielstrebig durch den Urwald gelaufen, ohne darin verloren zu gehen, oder auch nur einmal die falsche Richtung zu nehmen. „Keine Ahnung“, sagte ich ganz ehrlich.

„Du hast gejagt, du bist deiner Beute gefolgt. Rein instinktiv hast du das Richtige getan.“

„Soll das heißen, du hattest von Anfang an vor, mich in diesem Dschungel sitzen zu lassen, um mich zu testen?“

„Ja.“ Ohne Ausflüchte, grade heraus.

Mir klappte der Mund auf, aber es wollte kein Ton herauskommen. Das war doch einfach nicht zu fassen! Er hatte das mit voller Absicht getan! „Und was hättest du gemacht, wenn ich mit ein Bein gebrochen hätte? Hä? Mir hätte in diesem Dschungel sonst etwas passieren können!“

„Das ist nur ein Park“, gab er völlig gelassen zurück. „Selbst Welpen finden sich da zurecht.“

„Das ist doch … ahgrrr!“ Ich drehte mich auf dem Absatz um und marschierte ins Bad. Mit einem lauten Knall schlug die Tür hinter mir ins Schloss – dieses Mal war es beabsichtigt. Ich konnte es kaum glauben! Diese ganze Aktion war sein Unterricht gewesen. Er hatte mich in den Teich gestoßen, mich einfach sitzen gelassen und das alles nur, um mich … zu unterrichten. Er hatte mich versenkt, um mein Wesen ans Licht zu locken und mich anschließend allein gelassen, um meine Sinne zu prüfen und das alles mit voller Absicht!

Und es hatte funktioniert.

Zähneknirschend musste ich zugeben, dass seine Methoden zwar unkonventionell waren, aber mich in die richtige Richtung führten. Irgendwas musste er also doch richtig machen. Mist.

Okay, ich würde der Sache eine Chance geben, was hieß, dass ich mich als erstes aus diesen Klamotten rausschälen musste. Gut, das würde mir nicht weiter schwer fallen, nur mit den Ersatzsachen hatte ich so meine Probleme. Wo hatte er die überhaupt her? Das würde ich ihn gleich mal fragen müssen.

Die Klamotten auszubekommen war noch mein geringstes Problem. Viel schwieriger war es mein Fell mit dem Handtuch halbwegs trocken zu rubbeln. Als ich der Meinung war, dass ich es nicht besser hinbekommen würde, hatte ich eine Gänsehaut und mein Pelz stand zu allen Seiten ab. Ich sah wie gerupft aus.

Kopfschüttelnd machte ich mich daran die hellblaue Kleidung zu entfalten und vor mich auszubreiten. Irgendwie wollte es mir immer noch nicht gefallen, das anzuziehen, aber er hatte schon recht, unter den Roben juckte das Fell fürchterlich und Hosen waren gerade überhaupt nicht drin, nicht bis ich meine Magie endlich kontrollieren konnte. Und bis es endlich soweit war, würde ich mich wohl mit diesen Fetzen abgeben müssen. Seufz.

Ich stieg in den Lendenschurz und zog ihn hoch, fand sogar ein Loch unter dem Tuch, durch den ich meinen Schwanz stecken konnte. Dann kam das Oberteil. Das hatte ich mir bisher noch nicht angesehen und als ich es dann doch tat, fiel mir dazu gar nichts mehr ein. Das war kein Oberteil, das war ein Schal! „Was soll ich bitte mit einem Schal?!“, fauchte ich durch die Tür.

„Ihn dir über den Oberkörper binden“, kam es geduldig zurück.

Ich sollte mir das Teil umbinden? „Wie denn?“

„Leg ihn dir um den Rücken, überkreuze ihn vorn und bind ihn dir dann im Nacken zusammen.“

„Hä?“ Schon klar, das war nicht sonderlich redegewandt, aber das war genau das, was gerade in meinem Kopf vorging, da waren nämlich nur Fragezeichen.

„Soll ich reinkommen und es dir zeigen?“

„Nein!“ Auf keinen Fall. Soweit würde es noch kommen. Lieber verrottete ich hier drin. „Ich schaffe das schon allein.“ Notgedrungen musste ich das schließlich.

Okay, noch mal von vorn im Text. Ich sollte ihn mir um den Rücken legen und vorn überkreuzten. Das war gar nicht so schwer und verdeckte zum Glück auch alles wichtige, aber ihn im Nacken zusammen zu binden, war dann wieder eine ganz andere Sache. Vier Mal versuchte ich es ohne Erfolg. Beim fünften Mal hielt er endlich. Naja, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, in dem ich meine Arme runternahm. Dann stand ich wieder mit blankem Oberkörper da. „Scheiße!“, fluchte ich ziemlich lautstark.

„Soll ich dir vielleicht doch helfen?“

Ich zögerte nur einen Moment, sah dann aber ein, dass ich es allein nicht packen würde. Vorsorglich wickelte ich mir den Schal so, wie er sitzen sollte und hielt ihn mit dem einen Arm oben, während ich die die Tür aufschloss.

Djenan stand direkt davor, als hätte er mit nichts anderem gerechnet.

„Ich kriege es im Nacken nicht zusammen.“

„Dreh dich um.“

Ich tat es, wenn auch nur widerwillig. Irgendwie war es mir unangenehm, einen praktisch fremden Kerl im Rücken zu haben, wenn ich kaum etwas an hatte – und er auch nicht. Noch dazu kam, dass ich Berührungen immer noch nicht wirklich schätze und mich innerlich darauf vorbereiten musste. Ihn schien nichts davon weiter zu stören. Er griff sich einfach die losen Enden, zog sie in meinem Nacken und verknotete sie dort. Dabei berührte er mich nicht mal, wie ich dankbar feststellen musste.

„Ist es so gut? Nicht zu fest?“, wollte er wissen.

„Ja, danke.“ Ich ließ vorsichtig den Arm sinken, um ihm im Notfall wieder hochzureißen, aber alles blieb da wo es hingehörte, also kein Grund zur Panik. „Danke, wirklich.“

„Schon gut.“ Eigentlich hätte die Sache damit erledigt sein müssen, aber er trat nicht zurück, oder tat sonst was, er stand weiter hinter mir. Nicht zu nahe, aber nach meinem Geschmack auch nicht weit genug entfernt.

Ich verbot mir von ihm wegzutreten, würde ihm nicht zeigen, wie unwohl ich mich so fühlte, wenn er so nahe war. Durch den Spiegel konnte ich verfolgen, wie er auf einen Punkt auf meinen Rücken starrte, genauer gesagt auf meine linke Schulter. Das Pentagramm! Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, das hatte ich ja ganz vergessen.

Den Impuls es hastig mit der Hand zu verdecken, ignorierte ich. Ich hatte nichts falsches gemacht. „Ich weiß was du jetzt denkst“, zumindest vermutete ich das, denn er hatte einen ähnlich Blick darauf wie die Werwölfe, „aber so ist das nicht. Ich gehöre zu keiner Hexe, ich bin mein eigener Herr. Und was du da siehst, ist nichts weiter als eine Tätowierung.“

Sein Blick begegnete in Spiegel meinem. „Es ist deine Sache.“ Ob er es so meinte oder nicht, er drehte sich auf jeden Fall um und verließ das kleine Bad. „Komm jetzt, es gibt noch einiges zu tun.“

Ich riskierte noch einen letzten Blick in den Spiegel und musste feststellen, dass ich in diesem Outfit gar nicht so übel aussah. Der hellblaue Ton passte zu meinem Fell und es wurde wirklich nicht zu viel gezeigt. Es war eine reine Kopfsache, wurde mir klar. Doch ich würde mir etwas einfallen lassen müssen, um das Pentagramm zu verbergen. Wenn es sogar durch das Fell zu sehen war, war das nicht gut.

Als ich mich so im Spiegel sah, musste ich an das denken, was Pal an meinem ersten Tag gesagt hatte, als wir die Kisten mit den Kostümen durchwühlt hatten. Wir zeigen uns, wie wir sind, zeigen, wer wir sind, ganz natürlich. Wir haben keinen Grund, etwas zu verbergen. Wenn man sich versteckt und sei es nur hinter Kleidung, trägt man ein Geheimnis mit sich. Und Geheimnisse gilt es immer zu ergründen. Nun, damit war ich wohl kein Geheimnis mehr.

„Talita?“

„Ich komme.“ Noch ein letzter Blick, dann war ich wieder im Hinterzimmer und setzte mich zu Djenan an den kleinen Tisch in der Ecke. „Wo hast du eigentlich diesen Fetzen her? Du scheinst mir nicht der Typ, der in seinem Hinterzimmer Kleidung für in Not geratene Frauen aufbewahrt.“

„Nein, es gehört Obaja, meiner Nichte. Sie deponiert hier immer mal wieder Kleidung, wenn sie sich mal wieder mit ihrem Wächter gestritten hat und nicht will, dass er sie findet.“

„Ihrem Wächter?“

„Ihrem Gefährten.“

Na, das nannte ich mal kindisch.

„Ist deine Neugierde damit befriedigt?“

„Vorläufig.“

Er lehnte sich vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Na, dann können wir ja anfangen.“

Auch ich beugte mich nach vorn. „Okay, ich bin ganz Ohr. Was willst du mich lehren, oh großer Meister. Forme mich, ich bin Wachs in deinen Händen.“

Ganz langsam kletterten seine Mundwinkel nach oben. „Du hast wirklich extreme Gefühlsschwankungen.“

Dieser Spruch wurde mit einem bösen Blick quittiert.

„Als erstes möchte ich damit beginnen, die Metamorphose rückgängig zu machen. Dazu musst du die Magie in dir finden, deine eigene Magie, die es so kein zweites Mal gibt. Kannst du sie spüren?“

„Klar, es ist wie ein Summen direkt unter der Haut.“

Noch bevor ich geendet hatte, schüttelte er schon den Kopf. „Das ist nicht deine Magie, sondern die um dich herum. Du verwendest sie zwar zum Teil, um deine eigenen Reserven wieder aufzuladen, aber nicht sie ist es, die du nutzt, um deine Verwandlung herbeizuführen.“

Ich verkniff es mir, ihm zu sagen, dass ich überhaupt nichts nutzte, um irgendwas herbeizuführen. Es passierte einfach ganz ohne mein Zutun.

„Was du finden und nutzen musst, ist ein kleiner Punkt, tief in deiner Brust. Er beherbergt deine persönliche Magie. Ihn musst du finden. Wenn du ihn hast, kannst du von dort aus die Magie in jede Zelle deines Körpers entlassen, beziehungsweise, sie wieder zurückziehen, um in deine Mortatiagestalt zurückzukehren. Und das wird es jetzt auch sein, was du tun wirst. Schließ die Augen, entspanne dich und versuch, deinen Magiepunkt zu finden.“

Dass mir die Skepsis im Gesicht stand, wusste ich auch ohne Spiegel. „Ich soll einen Punkt aus Magie in meinem Körper finden?“

„Ja.“ Mehr nicht.

Na das konnte ja heiter werden. „Und wie soll ich das anstellen?“

„Schließ die Augen und versuche, ein Gefühl für dich selber zu entwickeln. Nimm alles in dich auf, jeden Körperteil von dir, spüre jede Zelle. Du kannst deine Magie gar nicht übersehen. Sie ist da, sie ist allgegenwärtig, auch in dir, du musst sie nur finden.“

So ganz überzeugt war ich zwar nicht, aber ich schloss dennoch brav die Augen und versuchte ein Gefühl für mich zu entwickeln, so wie Djenan es verlangte. Okay, was hatten wir denn da? Pfoten, gecheckt. Arme, vorhanden. Schultern, da, wo sie hingehören, auch mein Hals war an seinem Platz. Ich schlug die Augen wieder auf. „Das ist doch albern.“

„Wenn du das glaubst, warum sitzt du dann noch hier?“

Das war mal wieder eine ausgezeichnete Frage.

„Versuch es einfach, Talita. Gib dir etwas Zeit, es wird schon funktionieren.“

„Und wenn nicht?“

„Dann müssen wir dem Teich wohl noch einen Besuch abstatten.“

Okay, darauf konnte ich definitiv verzichten. Ich schloss wieder die Augen und konzentrierte mich dieses Mal mit mehr Enthusiasmus. Ich versuchte mich zu fühlen, versuchte alles von mir zu erreichen. Meine Zehen unter dem Tisch, meine Pfoten mit den Krallen, mein Schwanz, der halb auf den Boden hing. Ich glaubte, dass ich meine Aufgabe recht gut machte, aber dieser magische Punkt wollte sich einfach nicht finden lassen. „Bist du sicher, dass ich diesen Fleck überhaupt habe? Ich bin schließlich nur ein halber Therianer.“

„Deine Magie mag schwach sein, aber sie ist vorhanden. Du musst Geduld haben, früher oder später wirst du sie entdecken.“

Na, da konnte ich ja denn nur hoffen, dass es eher früher als später sein würde, weil mir die Beine nämlich jetzt schon langsam einschliefen.

Konzentration, mahnte ich mich selber und tauchte wieder ein in mein Innerstes. Es war anders als die Hypnosereisen mit Gaare, eine ganz andere Welt und doch war es nichts Alltägliches, seinen Körper auf diese Weise wahrzunehmen. Ich zumindest konnte mich nicht daran erinnern, dass ich etwas Ähnliches schon einmal getan hätte. Okay, das war ja auch keine große Leistung.

Okay, zurück zum eigentlichen Thema, finde den Punkt.

Das war der Beginn einer langen Stille, in der mir jede Minute wie eine Stunde vorkam. Mehr als einmal war ich in Versuchung, die Augen einfach wieder zu öffnen und den ganzen Käse hinzuschmeißen. Es war frustrierend. Immer wieder fing ich von vorn an, in der Hoffnung, auf etwas Neues zu stoßen, aber da war nichts, kein Punkt, nichts magisches, nur dieses leichte Pulsieren in meiner Brust, aber das war mein … Herz? War das wirklich mein Herz, oder könnte das … „Ich glaub ich hab´s“, sagte ich irgendwann und konzentrierte mich verstärkt auf die Stelle in meiner Mitte.

„Sag mir, was du fühlst.“

„Wärme, ein leichtes Pulsieren, rhythmisch, aber ich glaube nicht, dass es mein Herz ist.“

„Ein Herz schlägt, es würde nicht pulsieren.“

Klugscheißer. „Was soll ich jetzt machen?“ Das Finden allein würde mich sicher nicht weiterbringen, es war bloß der Anfang.

„Stell dir vor, dass es eine kleine pulsierende Kugel ist. Sie ist wach und gibt ihre Magie ab, weswegen du in der Gestalt eines Schneeleoparden läufst. Aber das möchtest du im Augenblick nicht. Du möchtest, dass sie schlafen geht und die Magie in sich verschließt, bis du sie wieder brauchst.“

„Und wie soll ich das machen? Soll ich ihr ein Schlaflied vorsingen?“ Ich konnte es zwar nicht sehen, da ich meine Augen immer noch geschlossen hielt, aber ich konnte mir gut vorstellen, wie Djenan mich in diesem Moment ansah.

„Wenn es hilft.“

Oder auch nicht. „Könntest du mir bitte eine richtige Antwort geben?“

„Versuche, die Magie zurück in die Kugel zu drängen. Wenn sie aufhört zu pulsieren, dann hast du es geschafft.“

Na das hörte sich doch ganz leicht an. Nur leider war es das nicht. Ich versuchte, genau das zu tun, was Djenan von mir wollte, hatte aber nur das Gefühl, auf dem Klo bei besonders schwerem Stuhlgang zu sitzen. Ich konnte fühlen, wie mir der Schweiß ausbrach. Meine Zähne schmerzten schon, so stark drückte ich sie aufeinander und meine Pfoten hatten sich zu Fäusten geballt, aber es passierte rein gar nichts.

„Nicht so verbissen, so kann das nichts werden.“

Genervt und frustriet schlug ich die Augen auf und in dem Moment in dem die Anspannung von mir abfiel, verwandelte ich mich zurück in mich. Für einen Augenblich saß ich ziemlich betröppelt da, dann breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. „Ich hab´s geschafft.“

„Nein, hast du nicht“, versetzte Djenan meiner Freude sofort einen Dämpfer. „Deine Magie hat sich von allein wieder zurückgezogen, dafür warst nicht du verantwortlich.“

Mann, der Kerl hatte es aber auch raus, einem die Laune zu verderben. „Wie ist doch egal, Hauptsache es hat funktioniert.“

„Der Zufall hat dir in den letzten Tagen auch nicht geholfen. Du bist hier, um etwas zu lernen und ich werde dafür sorgen, dass du das auch tust.“

War der schon die ganze Zeit so eklig? „Tja, aber da ich jetzt wieder ich bin, wird heute wohl nichts mehr draus. Es ist auch kein Teich in der Nähe“, dafür war ich wirklich dankbar, „weswegen wir es morgen noch einmal …“

Djenan beugte sich blitzschnell über den Tisch und grabschte mir an die Brust. Kein Scherz, er griff voll zu!

Ich sprang auf, riss den Stuhl dabei um und merkte wie in meiner Fassungslosigkeit meine Magie wieder erwachte. Einen Moment konnte ich ihn nur anstarren, weil ich einfach nicht glauben konnte, was er da getan hatte und dann wurde ich richtig wütend. „Sag mal, hast du sie noch alle?!“, schrie ich ihn an. „Bist du so notgeil, dass du mich begrapschen musst? Wenn du das noch mal machst, dann sorge ich dafür, dass du niemals in der Lage sein wirst, Kinder zu zeugen! Du wirst dir wünschen …“

Der Vorhang wurde zur Seite gezogen und die grüne Catlin tauchte auf. „Keine Ahnung was ihr beiden hier hinten treibt, aber tut es bitte ein wenig leiser, die Kunden fühlen sich durch das Geschrei nämlich belästigt.“ Und schon war sie wieder weg.

Ich konnte nur mit offenem Mund dastehen und ihr hinterher gucken. Ich meine, hallo? Der Kerl hatte mich gerade angetatscht und ich sollte leiser sein? Die waren hier doch alle verrückt!

„Talita, setzt dich wieder.“

„Was?“ Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt. „Tickst du noch ganz richtig? Nach dieser Aktion werde ich mich doch nicht wieder zu dir setzten. Du kannst froh sein, wenn ich dich nicht wegen Belästigung anzeige, du Perversling!“

Djenan fühlte sich nicht im Geringsten bedroht. Völlig entspannt lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und hielt mit mir Augenkontakt. Dann schlich sich sehr langsam ein Lächeln auf seine Lippen.

„Was gibt´s da jetzt so blöd zu grinsen?“, wünschte ich zu erfahren. Der Kerl konnte doch einfach nicht echt sein.

„Ganz einfach, ohne jetzt angeben zu wollen, ich habe es nicht nötig, mich auf diese Art und Weise an Frauen heranzumachen.“

Das glaubte ich ihm sogar. „Und warum hast du es dann getan?“

„Weil wir hier noch nicht fertig sind und du dich, um weiter zu machen, wieder verwandeln musstest. Das war die schnellste Möglichkeit, um mein Ziel zu erreichen.“

„Mich zu begrapschen?“

„Dich wütend zu machen“, erwiderte er schlicht.

Okay, er hatte also kein Interesse daran, an mir herumzufummeln. Trotzdem gefiel mir seine Methode absolut nicht. „Mach das ja nie wieder.“

„In Ordnung.“

„Ich meine es ernst.“

„Ich auch.“

Ob ich ihm trauen konnte oder nicht, wusste ich nicht so recht, aber ich setzte mich trotzdem zurück an den Tisch. Natürlich ließ ich seine Hände dabei nicht aus den Augen. „Du fasst mich nie wieder so an.“

„Nicht solange du es nicht möchtest.“

Was sollte das jetzt wieder heißen?

„Es gibt noch genug andere Wege, die Katze aus dir herauszulocken“, sagte er mit einem listigen Lächeln, das mir so gar nicht gefallen wollte.

Na, ob ich die so unbedingt wissen wollte?

 

°°°

 

Und das war erst der Anfang. Djenan dachte sich immer neue und schrägere Aufgaben für mich aus, um mich auch in der aufreibendsten Situation zur Kontrolle zu treiben. Jedes Mal ging er dabei phantasievoller vor, als beim Mal zuvor. Angst war nur einer der wenigen Emotionen, mit denen er arbeitete. Einmal versetzte er mich so in Panik – er machte einen auf blutrünstiger Wulf, als ich seinen Laden betrat –, dass ich mich am nächsten Tag weigerte, zu ihm zurückzugehen. Es brauchte viel gutes Zureden von Erion und eine dicke fette Entschuldigung von Djenan, damit ich mich wieder unter seine Fittiche begab. Ich wusste, er hatte es nur getan, um mich auf die Probe zu stellen, trotzdem verzieh ich es ihm nicht so leicht.

Meistens arbeiteten wir in seinem Hinterzimmer, aber wir gingen auch oft raus.

Das Problem bei seinem Unterricht war, dass er hauptsächlich mit negativen Gefühlen arbeitete, weil ich auf die am besten ansprang. Angst, Frust, Wut, Trauer. Einmal fragte er mich nach meiner Lieblingsnachspeise und bat mich, am nächsten Tag ohne Frühstück zu ihm zu kommen. Natürlich dachte ich mir nichts dabei, bis er sich mit einem leckeren Käsekuchen – für die Dinger könnte ich morden – an denselben Tisch setzte und mir verbot, davon zu essen, bis ich ein Rätsel in der Form von Eisendrähten gelöste hatte. Es war ein Logikspiel, ein Ring, an dem noch zwanzig andere metallene Gebilde hingen, die ich so miteinander kombinieren musste, das zum Schluss eine Kugel entstand, bei der der Verbindungsring nicht zu sehen sein durfte. Erst wenn ich das geschafft hatte, durfte ich etwas essen. Das Teil erinnerte mich an einen Zauberwürfel, nur ohne die ganzen Farben, das Plastik und die eckige Form. Okay, im Grunde war es etwas völlig anderes. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war die Logik und das Vergnügen. Wenn es nur so gewesen wäre.

Zu Anfang kam mir das nicht besonders grausam vor. Ich dachte, dass es ein Kinderspiel werden würde und freute mich schon auf meinen Preis. Doch ich hatte Djenans grausame Ader nicht bedacht. Das Teil richtig zu kombinieren war gar nicht so einfach und der Geruch des Kuchens, der mir die ganze Zeit in die Nase stieg, machte es auch nicht viel erträglicher. Verdammter verbesserter Geruchssinn!

Anfangs war es nur leichte Ungeduld die ich verspürte, aber je mehr Zeit ich an diesem Tisch saß, umso frustrierter wurde ich. Der Tag war schon weit fortgeschritten, als ich es endlich geschafft hatte und triumphierend meine Arbeit vorzeigte, doch er deutete nur auf den Ring, der an einer Stelle nicht verborgen war, brach die ganze Kugel auseinander und warf sie mir zu, damit ich von neuem beginnen konnte. Das machte mich so wütend, dass ich kurz davor stand, seinen Laden auseinander zu nehmen. Ein paar Nymphen, die sich die Haare hatten machen wollen, verließen sogar fluchtartig den Salon. Und genau das war Djenans Plan gewesen. Er hatte mich so richtig wütend machen wollen, um meine Kontrolle zu testen. Und, nun ja, um die stand es in diesem Moment nicht besonders gut.

Als ich am Abend immer noch in seinem Hinterzimmer saß, klärte er mich darüber auf, dass dieses Spiel nicht so zu lösen sei, wie er es von mir verlangt hatte, was mich erst richtig wütend machte. Und was machte eine Talita, wenn sie richtig wütend war? Sie nahm den Käsekuchen und klatschte ihn ihrem Mentor mitten ins Gesicht. Dann stolzierte sie mit erhobenem Haupt aus dem Salon. Mal ehrlich, für das, was er da abgezogen hatte, hätte er viel mehr als einen Kuchen im Gesicht verdient. Ich war frustriert, sauer und extrem hungrig.

Am Tag darauf entschuldigte ich mich natürlich für mein Verhalten, was mir nicht mehr als ein gleichgültiges Schulterzucken einbrachte. Der sonderbare Unterricht bei ihm wurde weitergeführt.

In den Wochen darauf brachte er mir nicht nur bei, meine Verwandlung bei Gefühlschwankungen zu kontrollieren, sondern auch, was es bedeutete, eine Katze zu sein. Er nahm mich mit in den nahegelegenen Wald – nicht der von Priscas Rudel, leider –, ließ mich Gerüche erkennen, Geräusche identifizieren und das wohl tollste an der ganzen Geschichte, zeigte mir, wie sich Katzen in Bäumen bewegten. Eine Übungseinheit beinhaltete, wie ich mich lautlos auf verschiedenen Untergründen zu bewegen hatte. Wald und Wiese. Sogar in der Stadt.

Kurz gesagt, er brachte mir alles bei, was eine Katze ausmachte, sogar die Jagd, von der ich nicht ganz so begeistert war. Das Jagen selber machte zwar Spaß, aber töten und die Beute verspeisen durfte er immer allein, denn ganz ehrlich, für blutige Rohkost, die noch dampfte, war ich einfach mal zu menschlich.

Djenan war in dieser Zeit nicht nur mein Mentor, er wurde zu einem Freund, wenn auch einem sehr extravagantem. Ich lernte nicht nur bei ihm, wir unterhielten uns auch sehr viel. Auch mit Erion verstand ich mich von Tag zu Tag besser, nur Kaj verbreitete weiterhin schlechte Laune.

Von Anwar bekam ich immer mal wieder einen Ausraster mit und fast immer ging es dabei um die Lykaner und den Codex. Er hasste die Werwölfe wirklich, nur konnte niemand so genau sagen, woran das lag. Er mochte sie einfach nicht und wollte nichts lieber tun, als ihnen ein paar Löcher in den Pelz zu brennen. Das war sein größter Traum, wie er mir mehr als einmal bei den gemeinsamen Mahlzeiten – eigentlich die einzige Zeit die ich mit ihm verbrachte – versicherte.

Zum Glück für mich, fuhr er nicht auf Großkatze ab.

Meinen neuen Kleidungsstil behielt ich bei, einfach, weil ich sehr schnell merkte, dass er viel praktischer und angenehmer zu tragen war, als die langen Roben. Er wurde einfach nur mit einer Schlaufe kombiniert, die ich über die Schulter zog und mit einem Band quer über die Brust befestigen konnte. Keine Ahnung warum, aber ich wollte nicht, dass die Leute meine Tätowierung sahen, nicht, wo sie so seltsam darauf reagierten.

Erion machte mit mir sogar einen kleinen Einkaufsbummel, in dem ich meine Klamotten aufstocken konnte. Natürlich versprach ich hoch und heilig, dass er das Geld von mir zurückbekommen würde, sobald ich irgendwann in ferner Zukunft einen Job hätte. Er winkte nur ab, als sei das eine völlig unwichtige Kleinigkeit, über die ich mir nicht meinen Kopf zerbrechen sollte. Trotzdem, ich würde ihm alles auf Heller und Pfennig zurückzahlen, schließlich wohnte ich schon bei freier Kost und Logis bei ihm, da wollte ich ihm nicht noch mehr auf der Tasche sitzen.

Wenn ich nicht mit Djenan oder Erion zusammen war, verbrachte ich meine Zeit zusammen mit Ghost vor dem Flimmerglas und ließ den Tag Revue passieren, ließ mir alles noch mal durch den Kopf gehen und versuchte, aus meinen Fehlern zu lernen. Manchmal kam es dabei vor, dass meine Gedanken so weit abschweiften, dass ich plötzlich Pal vor mir auf dem Flimmerglas sah, hin und wieder auch Veith, oder andere aus dem Wolfsbaumrudel. Wenn das passierte, wusste ich, dass es an der Zeit war, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, meist suchte ich Erion auf.

Es war zwar ziemlich traurig, aber ich vermisste dieses blöde Rudel mit jedem Tag mehr und dass sie mich so mir nichts dir nichts einfach hier zurückgelassen hatten, machte die ganze Sache nur umso bemitleidenswerter. Tja, und doch konnte ich daran nichts ändern.

Vielleicht lag es wirklich daran, dass die das Erste waren, dass ich nach meinem Erwachen gesehen hatte, anders jedenfalls konnte ich mir das nicht erklären.

Manchmal zog ich mich zu Gaare in die Bibliothek zurück und ließ mich von ihm in das Märchen einweihen, in dem ich nun lebte. Er erzähle mir von den Wesen dieser Welt und hatte zu jedem Thema ein Buch parat, dass er mir sofort in die Hand drücken konnte. So erfuhr ich zum Beispiel, dass es in dieser Welt keine Wölfe gab, zumindest nicht so, wie ich es kannte. Es gab keine Wölfe, nur Werwölfe, oder wie man hier sagte, Lykaner. Außerdem erfuhr ich, dass die Art der Lykaner mehr beinhaltete als Wölfe. So waren auch Dingos, afrikanische Wildhunde, Hyänen – hier Bouda genannt – und noch ein paar andere unter dem Namen Lykaner zu finden. Genauso war es bei den Therianern. Schneeleoparden, Löwen und Geparden waren nur ein kleiner Teil von dem, was diese Art umschloss.

Und das Seltsamste an dieser ganzen Sache? – abgesehen davon, dass all diese Wesen zwei Gestalten besaßen natürlich. Gab es eine Tierart als Werwesen, so gab es sie nicht unter den normalen Tiergattungen. Obwohl normal hier nicht unbedingt mit meinen Maßstäben zu rechnen war. Selbst die heimischen Tierarten unterschieden sich von dem, was ich kannte. Ich musste da nur an dieses Eichhörnchen zurückdenken, das ich im Wald gesehen hatte.

Ich machte mich auch über andere Wesen kundig, wie zum Beispiel die Rakshasa – oder weiblich auch Rakshasi – weil sie so viel mehr Ähnlichkeit mit mir hatten, als die Therianer. Außer natürlich der Tatsache, dass ich immer noch eine unbehaarte Gestalt annehmen konnte. Gott sei Dank, ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie viel Enthaarungscreme ich gebraucht hätte, um das ganze Fell loszuwerden.

Nach einer Weile begann Gaare auch wieder mit mir an meinen Erinnerungen zu arbeiten. Dort machte ich zwar immer nur kleine Fortschritte, aber das war immer noch besser als gar keine, wie mit meiner Herkunft. Gaare hatte schon alles Mögliche versucht, sich mit Leuten in Verbindung gesetzt, von denen er hoffte, dass sie mir helfen könnten, doch alles blieb ergebnislos. Es war, als hätte ich vor dem Dachboden einfach nicht existiert. Ich war aus dem Nichts aufgetaucht und keiner konnte sich erklären, warum das so war. Da blieb mir nur übrig, mich weiter in meinen Lernstoff zu stürzen und zu versuchen, die magische Welt ein wenig besser kennen zu lernen. Aber ich wusste genau, dass das nicht alles sein konnte, die Hypnosesitzungen mit Gaare zeigten es mir immer und immer wieder: Da, wo ich ursprünglich herkam, gab es keine Magie. Doch die Frage, wo genau das war, blieb auch nach Wochen noch offen.

Nachdem ich einen Abend mit meinen Selbststudien zugebracht hatte, begann der nächste Tag wieder mit dem Unterricht bei meinem leicht exzentrischen und  sehr fassettenreichen Mentor. Und dann, nach sieben Wochen, drei Tagen und vierzehn Stunden war es endlich soweit. Ich hatte meine Gestalt so gut unter Kontrolle, dass Djenan den Unterricht für beendet erklärte. „Mehr als jetzt kann ich dir nicht beibringen.“ Das waren seine Worte gewesen. Und dann machten wir uns zum vorerst letzten Mal auf zur Jagd.

 

°°°°°

Tag 64

„Heute führst du“, verkündete Djenan, nachdem wir den kleinen Wald bei Sternheim betreten hatten.

„Was?“ War das sein Ernst?

„Ich möchte heute, dass du mir zeigst, was du bei mir gelernt hast.“

Ja, es war sein Ernst. Wie hatte ich nur für einen Augenblick daran zweifeln könne? Djenan meinte alles so wie er es sagte.

„Ich werde dich natürlich begleiten, aber heute werde ich mich zurückhalten. Was ich kann, das weiß ich, jetzt will ich wissen, was du kannst.“

„Soll das meine Abschlussprüfung werden?“

Er schmunzelte. „So könnte man es auch nennen. Also los.“ Er griff nach seinem Lendenschurz und da ich genau wusste, was jetzt kam, drehte ich mich schnell weg und ließ derweil meine eigene Magie erwachen. Den kleinen magischen Punkt in mir zu finden, war für mich in der Zwischenzeit so einfach wie atmen geworden. Genauso wie mich der Magie zu öffnen, oder sie in ihre Schranken zu weisen. Ich spürte das mittlerweile so vertraute Kribbeln, das sich unter meiner Haut ausbreitete, fühlte wie mein Pelz die Haut durchstieß und sich mein Körper leicht verformte. Es dauerte nur Sekunden, dann war ich etwas ganz anderes und doch so sehr ich, wie niemals zuvor. Vielleicht lebte ich erst seit ein paar Wochen mit der Magie, aber das war alles, woran ich mich erinnern konnte. Ich und die Magie, das war jetzt mein Leben. Alles, was vorher gekommen war, gehörte zu einer Fremden, die im Moment noch unerreichbar für mich war, auch wenn ich mich noch so sehr nach ihr sehnte. Ich war jetzt hier und das war es, was im Augenblick zählte.

„Fertig?“, fragte Djenan.

Ich drehte mich zu ihm um und grinste frech auf die schlanke Großkatze mit den gelben Augen  hinunter. „Ich warte nur auf dich.“

Djenan war ein Luchs, ein sehr großer Luchs, oder Kuder, wie er lieber genannt werden wollte. Seine großen Ohren mit den Pinseln waren an den Spitzen schwarz. Das Fell war am Rücken gräulich und wurde zu den Pfoten hin sandfarben. Über den Rücken zog sich eine schwarze Linie, bis zum Ende seines Stummelschwanzes und im Gesicht hatte er den luchstypischen Backenbart. Kurz gesagt, er war ein Prachtexemplar von einem Luchs. Nur durfte ich ihm das nicht sagen, sonst würde er sich sonst etwas darauf einbilden und sein Ego brauchte nun wirklich nicht mehr gestreichelt zu werden.

„Na, dann würde ich sagen, machen wir uns auf den Weg. Zeig mir in welche Richtung wir müssen.“

„Nichts leichter als das.“ Naja, das hieß, sobald ich eine Fährte gefunden hatte.

Ich steckte meine Nase in die Luft und witterte. Meine Nasenflügel blähten sich auf, um die Gerüche um uns  besser aufschnappen zu können. Ich roch Kaninchen – jup, sowas gab es hier und es sah sogar ganz normal aus – doch der Geruch war schon schal. Auch die Witterung verschiedener anderes Gattungen nahm ich auf, aber nichts davon war frisch. So beschloss ich tiefer in den Wald vorzudringen, bis mir etwas Passendes unter die Nase kam. Natürlich leise und auf Samtpfoten.

Lange mussten wir nicht laufen, dann hatte ich etwas, dass ich in einer normalen Situation – naja, normal war hier relativ – als Wildschwein bezeichnet hätte. Doch dieses Tier hier war feuerrot, hatte statt Stoßzähne ein Horn auf der Nase und Fell, so weich wie Seide. Außerdem roch es nicht so unangenehm. Und trotz dieser ganzen Unterschiede wusste ich, dass es ein Wildschwein war, einfach weil Djenan es als eines bezeichnet hatte.

Ich sank hinunter in die Hocke, um mir die Erde anzusehen. Ein Stück weiter war sie aufgewühlt und noch feucht. Es musste gerade noch hier gewesen sein. Vielleicht hatte es uns ja gewittert und war deswegen verschwunden, aber so schnell würde ich nicht aufgeben. Da war meine Beute und ich hatte Lunte gerochen.

Unter Djenans Augen prüfte ich noch einmal, in welche Richtung das Tier gelaufen war, dann nahm ich am nächsten Baum Maß und fuhr meine Krallen aus. „Bereit?“

„Das war ich schon lange vor deiner Geburt.“

„Ach komm schon, so alt bist du doch auch noch nicht.“ Allein durch Beinkraft machte ich einen Satz an den nächsten Baum, versenkte meine Krallen in der Rinde und hievte mich bis auf den untersten Ast hinauf. Djenan blieb auf dem Boden und behielt von dort aus alles im Auge. Mit seinem Fell war er in dem Unterholz perfekt getarnt. Wenn ich nicht wüsste wo er säße, dann hätte auch ich mit meiner verbesserten Sehkraft Probleme ihn zu finden. Hatten wir schon mal ausprobiert und wenn Djenan nicht gefunden werden wollte, dann fand ich ihn auch nicht.

Gut, jemand mit mehr Erfahrung würde es wahrscheinlich gelingen, aber mir nicht. Und das hier war mein Unterricht, also ging es auch um mich. Alle anderen waren egal. Im Augenblick sogar Djenan, denn ich hatte ein Ziel und ließ mich gerade von dummen Gedanken ablenken, die hier nichts zu suchen haben.

Konzentration!

Ich schüttelte den Kopf, um alle unnötigen Gedanken zu verscheuchen, öffnete dann leicht den Mund, um die Gerüche besser aufnehmen zu können und machte mich durch das Geäst auf den Weg, sobald ich eine Richtung ausgemacht hatte.

Auf dem Boden folgte mir Djenan lautlos wie eine Katze – ja ich weiß, urkomisch, nicht?

Mit meinem neuen und verbesserten Gleichgewichtssinn balancierte ich den Ast entlang, stieß mich am Ende ab und sprang in den nächsten Baum. In der Zwischenzeit beherrschte ich das ganz gut. An meine Anfänge wollte ich gar nicht denken. Nicht nur, dass ich Richtung Boden gesegelt war, nein, vorher war ich auch noch gegen den Baum geknallt, auf den ich eigentlich hatte springen wollen. Das hatte mehr als eine fette Beule gegeben, vor allen Dingen hatte das ganz schön an meinem Ego gekratzt. Und Djenans Gelächter hinterher hatte es auch nicht wirklich besser gemacht.

Lautlos bewegte ich mich durch die Bäume, als ich versuchte, mich an jede Kleinigkeit zu erinnern, die mein Mentor mir in den vergangenen Wochen beigebracht hatte. „Beweg dich gegen den Wind, halt die Augen offen, mach keine Geräusche, warte ab, ruhig bleiben, gleichmäßig atmen, bring dein Herzschlag unter Kontrolle“, um nur mal ein paar zu nennen.

Meinem Atem sog ich durch die Nase ein. Der Geruch von dem Wildschwein war in der Zwischenzeit so intensiv geworden, dass ich wusste, es konnte nicht mehr weit sein. Ich schlich einen Ast entlang, lief über eine Verästelung in den nächsten Baum und hockte mich dort auf die Lauer.

Vorsichtig, um auch kein unnötiges Geräusch zu machen, legte ich mich auf meinem Ast lang und linste durch das Blätterdach, das mir Schutz vor neugierigen Blicken bot.

Da war es. Nur ein paar Meter weiter grub es seelenruhig mit der Nase im Erdreich. Das Fell war so weich, dass ich es von hier oben sehen konnte, ohne es angefasst zu haben. Seine leuchtend rote Farbe ist für jeden im Tierreich eine klare Warnung vor der Gefahr, die von diesem Tier ausging.

Auch ich wusste darum, doch das würde mich nicht aufhalten. Das hier war meine Abschlussjagd und ich würde Djenan ein unvergessliches Ergebnis bereiten.

Mit einem schnellen Blick versicherte ich mich, wo er war – er hockte unter mir in einem Ginsterbusch – dann ließ ich mich lautlos auf den Ast unter mir gleiten. Ich spürte wie meine Muskeln arbeiteten, fühlte das inzwischen vertraute Zucken in Erwartung auf dessen, was mir bevor stand. Jetzt nur kein Fehler machen, sonst konnte aus Spaß ganz schnell Ernst werden.

Ein letztes Mal atmete ich tief ein, spannte meine Muskeln und dann sprang ich …

… direkt neben das Wildschwein. Es war so überrascht, dass es mich im ersten Moment einfach nur blöde anstarrte. Das nutzte ich aus, hob die Hand und klatschte sie dem Vieh auf den Hintern. Das quickte empört auf und noch während es bei mir Maß nahm, sah ich bereits zu, dass ich davon kam. Direkt in Richtung Djenan. Ich sah noch das überraschte Gesicht meines Mentors, als ich lachend mit einem weiten Satz über ihn und den Ginsterbusch sprang, hörte wie mir das wütende Wildschwein auf den Fersen war und suchte mir einen Baum, auf dem ich mich in Sicherheit bringen konnte. Das war wohl der Moment, in dem Djenan klar wurde, dass ich wieder nicht jagte, sondern mir lieber einen schlechten Scherz erlaubte. Ja, tat mir ja leid für ihn, aber ich tötete Tiere nicht, nur weil mir langweilig war. Ich hieß schließlich nicht Anwar.

Mit einem schnellen Blick über die Schulter sah ich, wie Djenan sich mit einem Sprung zur Seite schnell aus der Gefahrenzone brachte und dann den nächsten Baum erklomm, den er erreichen konnte. Ich tat es ihm gleich, sprang, packte den untersten Ast einer alten Eiche und stemmte mich hinauf. Dann grinste ich auf eine wütende Wildsau herunter, die der Welt lautstark ihren Unmut kundtat.

Vom Baum nebenan blitzten mich zwei gelbe Augen an. „Was bitte sollte das werden?“

„Ich wollte nur deine alten Lebensgeister wecken“, grinste ich. „Du hast so gelangweilt gewirkt, so als würdest du gleich einschlafen.“

Er schnaubte und schüttelte über meinen Humor den Kopf – nur um das mal festzuhalten, seiner war auch nicht viel besser. „Sowas habe ich wirklich noch nie erlebt, klatscht die dem Schwein auf den Hintern.“

So wie er das sagte, musste ich gleich noch breiter grinsen. „Und? Habe ich meinen Test bestanden, oder muss ich noch mal ran?“

Unten quiekte es frustriert und dann rammte die Sau meinen Baum.

Ich vergrub die Krallen in der Rinde, um nicht runter zu segeln.

„Bis auf den letzten Teil war die Jagd sehr gut, aber da ich dich sowieso nicht dazu bekomme, Wild zu erlegen, können wir deine Prüfung damit als erfolgreich und beendet ansehen.“ Leicht umständlich drehte er sich im Geäst um und machte, dass er etwas Abstand zwischen sich und der wütenden Sau brachte.

Ich folgte ihm, natürlich hoch oben in den Bäumen. Vorerst würden mich keine zehn Pferde da runter bekommen, ich war doch nicht lebensmüde. „Heißt das, ich war gut?“ Sprung und ich saß im nächsten Baum. Vor mir konnte ich sehen, wie Djenan sich auf die gleiche Art fortbewegte.

„Auf jeden Fall besser, als noch vor drei Wochen.“

„Hey!“ Das war irgendwie nicht das, was ich hatte hören wollen.

Djenan grinste nur sein Katzengrinsen und setzte dann hinüber in den nächsten Baum.

So bewegten wir uns eine Weile durch den Wald. Wir witzelten und schäkerten ein wenig miteinander herum. Einmal versuchte er mich spielerisch vom Baum zu schubsen, was ich genauso witzig fand, wie er die Aktion mit der Wildsau, nämlich gar nicht. Das Schwein blieb bald zurück und wir wurden von den Klängen des Waldes umschlossen.

Nach einiger Zeit trauten wir uns auch wieder hinunter auf den Boden und tollten durch das Unterholz, schrecken ein paar Nagetiere auf und machten uns einen Spaß daraus, Vögel aufzuscheuchen. Irgendwann hörten wir das Geräusch eines kleinen Bachlaufs und folgten dem Klang, um unseren Durst zu stillen.

Ich nahm eine Handvoll von dem kühlen Nass und genoss es, wie es meine ausgetrocknete Kehle hinunterlief. Dann ließ ich mich auf den Hintern ins Gras fallen und beobachtete den großen Luchs, wie er gierig seinen Durst stille. Er war wirklich hübsch und das Fell so weich, dass man es für Wolken halten könnte. Ich streckte die Hand aus und fuhr durch seinen seidigen Pelz, kraulte ihm an der Seite, bis er sich fragend zu mir umdrehte. „Danke“, sagte ich nur.

Er neigte den Kopf, verstand offensichtlich nicht, was ich von ihm wollte.

„Dafür, dass du mir geholfen hast. Das bedeutet mir wirklich viel und ich glaube, ich habe mich dafür bisher noch gar nicht richtig bei dir bedankt.“

Er drehte sich um und schmiegte seinen riesigen Schädel schnurrend an meine Wange, so dass ich erst mal eine Handvoll Katzenhaare im Gesicht hatte.

„Oh Mann, Djenan! Nein lass das, nein, hör auf, Djenan!“, lachte ich und fiel auf den Rücken, als er immer zudringlicher wurde. Es entstand eine kleine Rangelei, an dessen Ende ich ausgestreckt auf dem Boden lag und eine ziemlich schwere Katze auf der Brust hocken hatte, die es sichtlich genoss, von mir am Kinn gekrault zu werden.

„Ich meine es ernst“, sagte ich nochmal. „Ich bin dir wirklich dankbar.“ Er hatte mich nicht aufgegeben, egal wie schwierig es mit mir war.

„Ich danke dir, dass ich dich unterrichten durfte und du auch zugehört hast“, erwiderte er bescheiden.

„Weil ein Lehrer nur so gut ist wie seine Schüler?“, fragte ich lächelnd.

„Denn nur durch ihren Erfolg kann der Lehrer glänzen.“

 

°°°

 

Das war ja komisch. Ich konnte Erion einfach nicht finden, um ihm zu sagen, dass ich von meiner Jagd mit Djenan wieder zurück war. Wenn er das Haus verlassen hätte, hätte er mir doch eine Nachricht hinterlassen, oder? Zumindest hatte er es die letzten Male immer getan. Vielleicht sollte ich ja mal den hauseigenen Satyr nach ihm fragen, aber den müsste ich jetzt auch erst suchen. Seufz. Dieses Haus war definitiv zu groß.

Ich schritt den Korridor entlang, um ihn im Eingangsbereich zu suchen. Zwar glaubte ich nicht, dass er sich hier rumtrieb, aber alles andere hatte ich mehr oder weniger ja schon abgesucht. Da hörte ich Stimmen, aus der Empfangshalle, laute, aufgebrachte Stimmen, die ich nicht kannte. Nanu, wir bekamen doch sonst nie Besuch.

Neugierig sah ich durch die offene Tür und entdeckte sowohl Erion als auch seinen Vater Anwar. Außerdem waren noch ein halbes Dutzend Wächter – die Typen mit den rostroten Uniformen kannte ich von meinen Besuchen in der Stadt – und eine Handvoll Fremder anwesend. Das waren Werwölfe, das wusste ich sofort. Diese Lendenschürze waren einfach unverkennbar.

Im ersten Moment machte mein Herz vor Freude einen kleinen Satz und alles in mir schrie,  ja, sie haben mich nicht vergessen, aber schon im nächsten Moment wurde mir klar, dass ich keinen von diesen Wölfen kannte. Ich glaubte nicht mal, dass sie vom Wolfsbaumrudel waren. Ihre Haut war dunkler und ihre Kleidung war anders geschnitten, länger und hatte die falsche Farbe, war eher beige als eierschale. Auch ihre Augen waren anderes, besaßen einen thailändischen Tatsch.

Dumm Talita, einfach nur dumm. Keiner von ihnen würde zurückkommen und mich holen, das sollte mir in der Zwischenzeit eigentlich klar sein. Keiner. Weder Domina noch Pal und schon gar nicht Veith. Der war wahrscheinlich einfach nur froh, mich los zu sein. Es war einfach dämlich von mir, immer noch zu hoffen. Sie interessierten sich nicht für mich und ich sollte sie auch endlich vergessen.

Ich wollte mich schon abwenden, als ich es hörte:

„… verschwunden. Er ist der dritte und wir verlangen, dass endlich etwas getan wird! Jemand entführt unsere Welpen und die hohen Herrschaften dieses Hauses tun nichts anderes als sich ihren vornehmen Hintern platt zu sitzen!“ Das kam von dem Vordersten. Ein schmaler, kleiner Mann, der mir gerade Mal bis ans Kinn reichte. Auf den ersten Blick nichts furchteinflößendes, aber ihn umgab eine Aura, die ich bisher nur einmal gespürt hatte und das war bei Prisca. Man sollte sich von seiner Erscheinung nicht täuschen lassen, dieser Mann/Wolf war gefährlich.

„Ich verstehe ja Ihre Sorgen, aber wie Sie schon sagten, es sind junge Wölfe“, versuchte Anwar seine Gäste zu beruhigen. „Wahrscheinlich waren sie einfach abenteuerlustig, wollten sich die weite Welt ansehen, oder haben in einem anderen Rudel eine Liebelei …“

„Wenn sie in anderen Rudeln aufgetaucht wären, hätte man uns bereits informiert. Ein fremder Wolf wird in keinem Territorium geduldet“, kam es sofort von dem kleinen Mann zurückgeschossen.

Anwar kniff die Lippen zusammen. Er mochte es gar nicht unterbrochen zu werden. Das war in seinen Augen Unhöflichkeit in Person. Und das ein Werwolf dies wagte, war wahrscheinlich noch schlimmer für ihn. Ich konnte geradezu sehen, wie sich seine Hände in Erwartung auf eine außergewöhnliche Trophäe öffneten und schlossen. Immer wieder und wieder. „Das mag sein, aber da sie nicht hier sind, kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Die Wächter werden sich um diese Sache kümmern und …“

„Das ist nicht nur eine Sache!“, fauchte eine rundliche Frau neben dem Anführer. „Das sind unsere Welpen, von denen Sie hier sprechen!“

„Ganz ruhig, Sinssi.“ Der hochgewachsene Mann hinter ihr, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, doch sie schüttelte sie einfach ab.

„Ich bleibe nicht mehr ruhig!“, fuhr sie sofort auf. „Wir haben jetzt lange genug tatenlos dabei zugesehen, wie unsere Welpen fortgenommen werden. Es reicht! Entweder die hohen Herrschaften tun bald etwas, oder ich werde etwas unternehmen.“ Das in diesem Raum wahrscheinlich niemanden erfreuen würde. Die Worte blieben unausgesprochen, aber die Botschaft war deutlich. Die Wolfsfrau spießte Anwar noch mit einem wütenden Blick auf und rauschte dann aus dem Raum.

„Sinssi hat recht“, sagte der kleine, schmale Mann, „wenn nicht bald etwas passiert, werden wir uns um die Sicherheit unserer Leute kümmern und dann sollte es niemand mehr wagen das Territorium des Steinbachrudels zu betreten, weil er es nicht mehr lebend verlassen würde.“ Auch er wandte sich ab und führte seine Leute aus dem Raum.

An der Tür bemerkte er mich, musterte mich einmal von oben bis unten – unter diesem Blick begann ich mich innerlich zu winden, der war auf jeden Fall ein Alpha – und ging dann wortlos an mir vorbei. Aber diese Wut, diese ohnmächtige Wut in seinen Augen, ließ mich vor ihm zurückweichen. Dieser Kerl würde alles tun, um sein Rudel zu beschützen.

Die Wächter folgten ihnen und ließen Anwar und Erion allein zurück. Keiner der beiden hatte mich bisher bemerkt und etwas hinderte mich daran, zu ihnen zu gehen. Erst mal zuhören.

„Diese unwürdigen Lykaner!“, echauffierte sich Anwar, kaum dass sie allein waren. „Sie sind eine Schande für die ganze magische Gesellschaft. Wilde, die sich in unsere Reihen gedrängt haben …“

Na, da hatte ich aber was anderes gehört. Eigentlich war es umgekehrt gewesen. Soweit ich wusste, hatte dieses ganze Land früher den Lykanern gehört und die Magier waren gekommen und hatten sie verdrängt. Das hatte ich aus einem von Gaares schlauen Büchern.

„.. sie sollten alle zur Jagd freigegeben werden, dann hätten sie wenigstens noch einen Nutzen.“

„Beruhige dich, Papá.“

„Ich will mich aber nicht beruhigen! Was gibt ihnen das Recht mich mit ihren Problemen zu behelligen und mir dann auch noch zu drohen? Dringen in mein Heim ein und knurren Warnungen in alle Richtungen. Was kann ich denn dafür, dass sie ihre Brut nicht unter Kontrolle haben? Dieses Steinbachrudel ist genauso schlimm wie die ganzen anderen, die in der letzten Zeit bei den Wächtern vorsprechen.“

„Aber sie haben nicht unrecht. In den der letzten Zeit verschwinden wirklich viele Wölfe aus den verschiedenen Rudeln. Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, das …“

„Gar nichts müssen wir!“, unterbrach er seinen Sohn sofort. Um Anwar pulsierte die Magie. Oh ja, der war wirklich stinkig. „Das ist eine Sache der Wächter, sowohl dieser verschwundene Jüngling, als auch all die anderen. Wir haben nichts damit zu tun! Sollen sie sich doch selber um ihre Angelegenheiten kümmern, von mir haben sie nichts zu erwarten! “

„Papá, es ist nicht gut, wenn du dich so aufregst. Kümmere dich einfach nicht um die Lykaner. Die Wächter werden schon herausfinden, was mit ihnen geschehen ist.“

„Das sollten sie auch, denn wenn ich mit diesem Problem ein weiteres Mal behelligt werde, rollen Köpfe.“ Er richtete den Finger auf Erion. „Aber das eine sage ich dir, mein Sohn, der nächste Lykaner, der sich Zutritt zu meinem Anwesen verschaffen will, wird erfahren, warum ich als der größte Jäger unserer Zeit gelte!“

„Aber Papá …“

„Ich werde sie alle abknallen!“, schimpfte er. Ein Tisch neben ihm ging in Flammen auf. Kein nettes, kleines Lagerfeuer, sondern Flammen, so schwarz wie die tiefsten Tiefen im Ozean, in die nie ein Funke Licht dringt. Das Feuer verschlang den Tisch in Sekunden. Zurück blieb nur ein kleiner Haufen rauchende Asche. „Sie werden sich noch wünschen niemals geboren zu sein.“

Ich schluckte. Wow, Anwars Hass auf die Werwölfe war noch größer als ich die ganze Zeit angenommen hatte. Wenn er so drauf war, traute ich ihm glatt zu, dass er seine Warnung wahr machen würde. Kein Pelzträger sollte sich in seiner Gegenwart sicher fühlen.

Anwar atmete einmal tief durch, dann straffte er die Schultern. „Ich muss mit Kaj sprechen, wo ist sie?“

„Unterwegs. In deinem Auftrag.“ Pause. „Weißt du das nicht mehr?“

Kaj war in Anwars Auftrag unterwegs? Anwar konnte Kaj doch gar nicht leiden. Was würde er ihr auftragen?

„Wenn sie wieder da ist, schick sie zu mir. Und sorge bitte dafür, dass hier jemand Ordnung schafft.“ Er wartete gar nicht darauf, ob Erion sich dazu bereiterklärte, sondern ging einfach. Genau in meine Richtung.

Mit eiligen Schritten sah ich zu, dass ich da weg kam. Im Moment wollte ich Anwar nicht begegnen.

Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, als ich das Gesagte Revue passieren ließ. Aus einem Rudel waren drei Welpen verschwunden und wenn es stimmte, was Anwar da von sich gegeben hatte, lagen bei den Wächtern weitere Fälle von vermissten Wölfen vor. Automatisch dachte ich an Isla. Gehörte sie auch zu den Vermissten? Was ging hier nur vor sich? Und seit wann hatte Anwar ein Interesse an Kaj? Normalerweise machte er sie doch nieder wo er nur konnte. Das passte alles nicht zusammen.

Aber wichtiger waren die verschwunden Werwölfe. Ich musste dringend mehr darüber erfahren, es war wie ein inneres Drängen, dem ich mich nicht widersetzten konnte, nur glaubte ich nicht daran, dass Erion mir dabei helfen würde. Nicht, wenn er dabei gegen seinen Vater arbeiten musste, der offensichtlich nicht wollte, dass diese Geschichte die Runde machte. So blieb nur einer, an den ich mich wenden konnte.

 

°°°

 

„Gaare?“, rief ich, kaum dass ich die Tür zur Bibliothek im Keller durchschritten hatte. Auf der Galerie klirrte etwas. Da das nicht zum ersten Mal passierte, kümmerte ich mich nicht weiter darum, sondern sah zu, dass ich nach oben kam.

Auf der Galerie hatte sich seit meinem ersten Besucht nichts geändert. Es war immer noch überfüllt, unordentlich und ziemlich staubig. Wie der Mann hier etwas finden konnte, war mir schleierhaft, aber wehe, man wagte es, sich an seinem Heiligtum zu vergreifen. Ich hatte ihm einmal angeboten, hier für ein wenig Ordnung zu sorgen. Er hatte mich regelrecht aus der Bibliothek geworfen und mir angedroht, nie wieder ein Fuß in den Raum setzten zu dürfen, würde ich ihm noch mal mit solchen Ideen kommen.

In Erinnerung daran schlich sich ein Schmunzeln auf meine Lippen. „Gaare?“

„Hier hinten.“

Ah, in seinem Refugium. Hätte ich mir eigentlich auch gleich denken können, wenn er nicht hier draußen rumturnte. Ich bahnte mir einen Weg durch schiefe Bücherstapel und zahllose Papiere, die beim kleinsten Windhauch wie ein Schneesturm um mich herum wehen würden.

Gaare hockte auf dem Boden vor einer gelben Pfütze, die er gerade mit einem Lappen aufwischte. Nein, er wischte das Zeug nicht auf, er tunkte den Lappen immer wieder hinein. Was sollte das denn?

Später.

„Hast du einen Augenblick für mich Zeit? Ich würde dich gerne etwas fragen.“

„Natürlich.“ Er faltete den nassen Lappen auseinander, sah sich die Flecken an und runzelte die Stirn. Was sollte das nur werden?

„Es geht um … also, das ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt.“

„Ich bin nicht jeder.“

Das war wohl wahr. „Ich möchte aber auch nicht, dass du mit Anwar darüber sprichst“, sagte ich gerade heraus. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was der Hausherr mit mir anstellte, wenn er mich hier beim herumschnüffeln erwischte.

Er ließ den Lappen sinken und sah zu mir auf. Auch seine Robe hatte was von diesem gelben Zeug abbekommen, doch wenn ich ihn jetzt fragen würde, was es damit auf sich hatte, dann würde er mir bereitwillig einen ewig langen Vortrag halten und dann würden wir morgen früh wahrscheinlich immer noch nicht zum eigentlichen Thema gekommen sein. „Ich weiß viele Dinge, von denen Anwar nicht mal den Hauch einer Ahnung hat, wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst.“

„Nein, es geht um Anwar.“

Gaare verstummte auf eine völlig untypische Art für ihn und ich machte mir schon Sorgen, dass ich jetzt zu weit gegangen war, da erhob er sich und deutete mir, vor ihm den Raum zu verlassen. Wollte er mich schon wieder rauschmeißen? „Ich denke es ist an der Zeit einen kleinen Happen zu uns zu nehmen, meinst du nicht auch, meine Liebe.“

„Ähm, ja?“

„Gut, du redest, während ich koche.“

Wir gingen hinunter in seine kleine Küchenecke. Er machte sich direkt an der kleinen Herdplatte zu schaffen. Ich blieb daneben stehen und beobachtete, wie er Wasser aufsetzte, das er später in eine Fertigmischung gießen würde. Jup, das war Gaares Mittagessen.

Es dauerte eine Weile, bis ich es wagte, den Mund aufzumachen, waren meine Gedanken doch ungeheuerlich, doch irgendwann riss ich mich zusammen und stellte die Fragen, die in meinem Kopf herumspuckten. Was ich dort über die verschwunden Wölfe erfuhr, ließ mich nicht nur aufhorchen, sondern auch zur Tat schreiten. Meine Entscheidung fiel mir nicht schwer, es war an der Zeit, dass ich zum Wolfsbaumrudel zurückkehrte, ob ihnen das nun passte oder nicht. Sie brauchten mich.

 

°°°°°

Tag 65

Mittlerweile war der Wald so dicht geworden, dass ich mich viel durch die Baumkronen bewegte. Das ging einfach schneller. Es war früher Nachmittag geworden und ich war schon seit dem ersten Sonnenaufgang auf den Beinen. Bis zum Lagerplatz der Wölfe konnte es nicht mehr weit sein, aber dieser verfluchte Wald war so riesig und dicht, dass ich mir einfach nicht sicher sein konnte. Ich würde es wahrscheinlich nicht mal bemerken, wenn ich einfach an ihnen vorbeilief, weil hier alles so gleich aussah. Zwar war ich die Strecke schon einmal gelaufen, aber ich hatte nicht auf den Weg geachtet. Wozu den auch? Damals wäre mir im Traum nicht eingefallen, dass ich diese Strecke einmal allein gehen müsste. Und schon gar nicht, dass ich mich als halbe Katze durch die dichten Kronen der Bäume bewegen würde.

Behände balancierte ich durch die Kronen des hohen Geästs, sprang von einem Ast zum nächsten. Den Schrecken, den ich bei meinem letzten Gang durch diese Wildnis davongetragen hatte, war nicht in Vergessenheit geraten, aber ich glaubte fest daran, dass mir hier oben nichts passieren konnte. Ich wollte auf keinen Fall eine weitere Begegnung mit dem Es, oder ein paar Leichen. Nein, hier oben war ich schon ganz gut aufgehoben.

Der kleine Rucksack, oder besser gesagt Beutel, auf meinem Rücken, war so leicht, dass er mich auf meinem Weg nicht weiter behinderte. Dort hatte ich nur ein paar Kleinigkeiten drinnen. Ein Vox, das mir Erion gegeben hatte – das war so was wie ein Handy, nur eben auf magische Weise. Kleidung zum Wechsel, wie ich sie auch jetzt trug. Lendenschurz und Schal. Etwas Proviant.

Erion hatte ich gesagt, dass ich das Rudel besuchen wollte. Er fand, dass das eine ausgezeichnete Idee war, denn im Gegensatz zu seinem Vater hatte er nichts gegen die Lykaner. Ich glaubte sogar, dass er sie ganz gerne hatte – man musste sich ja nur Kaj ansehen, denn mal ehrlich, wer würde ein Weib wie sie schon so vorbehaltlos bei sich aufnehmen. Erion war fasziniert von den Werwölfen, das hatte er mir einmal gesagt. Er würde seine Lebensweise zwar nicht unbedingt eintauschen wollen, aber dieses kleine Völkchen hatte schon was für sich. Da konnte ich ihm nur zustimmen.

Ich kletterte noch ungefähr eine Stunde, dann glaubte ich auf dem Boden einen Pfad zu erkennen. Ein Pfad mitten im Wald? Dafür gab es nur zwei Erklärungen. Erstens Wölfe und zweitens ein Wildwechsel, was zur Folge hatte, dass die Wölfe hier regelmäßig vorbei kamen, wenn sie jagten. So oder so, hier würde ich bestimmt Spuren finden. Oder ich hatte mich völlig verlaufen und befand mich am ganz falschen Ende des Waldes. Bei meinem Talent würde mich das nicht mal wundern.

Nach kurzem Zögern und einem weiteren erfolglosen Rundblick, kletterte ich hinunter und ließ mich die letzten beiden Meter auf den Boden fallen. Mit einem dumpfen Aufschlag, den ich bis in die Knochen spürte, kam ich auf. Aber ich fiel nicht auf die Nase, was mich ziemlich stolz machte. Ich horchte, witterte, aber da war kein Es, das mir aus dem Hinterhalt auflauerte. Trotzdem blieb ich wachsam.

Als ich aufblickte, sah ich vor mir einen kleinen, schwarzweißen Wolf. Einen Welpen. Ich war so überrascht, dass ich im ersten Moment nicht weiter tun konnte, als ihn anzustarren. Tja, das mit dem Finden hatte ja dann wohl doch ganz gut geklappt. „Hey“, sagte ich „Ich bin´s, Talita, kannst du mir …“

Der oder die Kleine machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Unterholz, als sei der Fürst der Unterwelt persönlich hinter ihm her.

„Nein warte, ich …“ Zu spät. Das Wölfchen war verschwunden. Klasse, einfach Klasse. Jetzt fand ich eine Spur und sie rannte vor mir davon. Dabei sah ich doch gar nicht so furchteinflößend aus, oder? Seufz. Zumindest hatte ich jetzt eine Richtung, in die ich mich wenden konnte. So tauchte ich noch tiefer in den Wald ein, aber schon nach kurzer Zeit wurde mir klar, dass ich zwischen den Ästen, Wurzeln und Blättern auf dem Boden keine Chance hatte ihn irgendwie zu verfolgen. Alles sah gleich aus. Ich blieb stehen und sah mich um, horchte. Vielleicht war mein Wölfchen ja noch irgendwo in der Nähe.

Nichts. „Mist.“

Okay, was hatte ich noch für Möglichkeiten. Ich konnte weiterhin ziellos in der Gegend rumlaufen und hoffen, zufällig über den Lagerplatz oder einen anderen Wolf zu stolpern, oder ich konnte das machen, was Tiere nun mal machten, um sich zu orientieren: Schnüffeln. Machten Katzen das auch, oder war es nur Hunden vorbehalten? Mein Gott, ich hatte noch eine Menge zu lernen. Warum hatte man mir zur Verwandlung nicht noch eine Gebrauchsanweisung, oder eine Broschüre gegeben? Sie haben sich für die haarige Variante entschieden, was nun? So in etwa.

Oh Gott, das war doch einfach lächerlich. Jetzt schnüffle halt einfach, sieht dich ja keiner. Ich hockte mich auf den Boden und sog die Luft tief in die Lungen. Der Geruch des Waldes brandete mir in der Nase. Ich roch nasses Laub und kleine Nager, etwas das nach Moschus roch und Wild sein konnte. Blumen, Pilze, Bäume und noch viele andere Dinge, die ich nicht benennen konnte, weil ich sie mit meiner menschlichen Nase einfach nicht wahrgenommen hatte und mir die passenden Informationen fehlten.

Wie ich da so auf dem Boden hockte und in der Gegend rumschnüffelte, wurde mir klar, dass ich in meinem Plan einen kleinen, aber entscheidenden Punkt vergessen hatte: ich hatte keine Ahnung, wie Wölfe rochen. Nasser Hund ja, aber nicht Wölfe. „Verdammt!“

Ich überlegte noch, was ich jetzt machen sollte, als ich aus dem Dickicht ein Rascheln hörte und dann schlug mir ein neuer, unbekannter Duft entgegen. Ich spannte mich an, bereit, abzuhauen, falls es etwas großes, haariges war, das Appetit auf einen Arm oder ein Bein von mir hatte, wie zum Beispiel ein Bär. Dann schob sich eine Nase zwischen den Büschen hervor, gefolgt von einer langen Schnauze und einem Kopf mit Bernsteinaugen. Ein Wolf!

Yes! Man musste halt nur etwas Glück haben. Und dieser Wolf hier schien nicht die Absicht zu haben, bei meinem Anblick das Weite zu suchen. Ich entspannte mich und richtete mich auf, gerade als sich ein zweiter Wolf zwischen den Blättern abbildete. Und dann noch einer und noch einer. Ein Dutzend  Wölfe, zwei davon sogar in Menschengestalt. Ein paar von ihnen kamen mir vom Sehen her sogar bekannt vor.

Ich winkte ihnen zur Begrüßung. „Hi, ich wollte …“

„Verschwinde!“ Das war der vorderste, ein riesiges, braun meliertes Vieh.

Nicht unbedingt die herzliche Begrüßung auf die ich gehofft hatte. Okay, andere Taktik. „Ähm, vielleicht kann einer von euch Pal holen, oder Veith?“ Na klar, ausgerechnet ihn, als wenn er nur darauf waren würde, dass ich wieder auftauchte. Dumm, Talita, einfach nur dumm. „Oder Fang. Ich habe …“

„Wir wollen hier keine Katzen!“, unterbrach mich ein Grauer seitlich von mir.

Alle Freundlichkeit fiel von mir ab. „Ach ja? Und was ist dann mit Domina? Ist die eine Maus oder was?“

Der Vordere zeigte die Zähne und einer der Männer knurrte sogar. Oha, Gänsehaut. Ich mochte das immer noch nicht, wenn sie das in Menschengestalt machen. Das war einfach … seltsam.

„Es wäre vielleicht besser, wenn du einfach wieder gehst.“ Das war eine Hündin mit weißem Fell, die ein Stückweit hinter dem Vordersten stand.

„Nein, ich muss doch …“

Der Graue machte ein Satz in meine Richtung, der mich zurückstolpern ließ. „Hast du nicht gehört? Du sollst gehen. Wir wollen dich hier nicht und wenn du nicht freiwillig verschwindest, werden wir dafür sorgen.“

Konnte ich mich im Rudel so getäuscht haben? Erion hatte mir gesagt, dass Wölfe außerhalb ihrer Gesellschaft wenig für andere übrig hatten, aber mir dieser Feindlichkeit hatte ich nicht gerechnet. „Ihr versteht nicht …“

„Verschwinde!“

„Geh!“

„Hau ab!“

„Wir wollen hier keine Katzen!“

So ja nicht! Ich war doch nicht den ganzen Weg gegangen, um mich kurz vor dem Ziel davonjagen zu lassen. Außerdem war es ja nicht so, dass dies ein Höflichkeitsbesuch war. Ich hatte Informationen, von denen ich glaubte, dass sie für das Rudel wichtig sein könnten. Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf fragte mich, ob das wirklich der einzige Grund für meinen Besuch war. Ich sagte ihr, dass sie still sein sollte. „Jetzt hört mir doch mal zu!“

„Nein!“ Wieder der graue. „Du verschwindest jetzt, oder wir jagen dich davon.“

„Bring mich zu Prisca“, versuchte ich es anders.

Der Vordere sprang auf mich zu. Ich registrierte einen Bruchteil bevor er lossprang, wie sich seine Muskeln anspannten und schaffte es auszuweichen, genau in die Reichweite der anderen. Einer schnappte nach mir. Ich wich zur Seite und rannte los, zwischen den Bäumen hindurch und merkte, wie sie mich verfolgten. Die jagten mich! Oh mein Gott, die Wölfe machten Jagd auf mich!

Schon nach wenigen Metern merkte ich, dass ich ihnen so nicht entkommen konnte. Klar, in dieser Gestalt war ich schneller als früher, aber ich hatte immer noch nur zwei Beine und das Unterholz war dich. Ich musste hoch in die Bäume, dahin konnten sie mir nicht folgen, aber zum Klettern hätte ich anhalten müssen und das wollte ich nicht riskieren. Davon mal abgesehen, dass sie mir dies sicher nicht gestattet hätten. Also rannte ich weiter. Vorbei an Sträuchern und Bäumen, hinweg über Geäst, Wurzeln und Blätter. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Hinter mir konnte ich Knurren und heiseres Bellen hören. Sie kamen näher. Scheiße, wie sollte ich nur … aus dem Nichts tauchte vor mir ein halb umgefallener Baum auf. Ich dachte nicht lange nach, sprang über die Wurzeln, die in die Luft ragten, auf den Baum. Beinahe wäre ich auf der moosigen Oberfläche abgerutscht, aber ich schlug meine Krallen in die alte Rinde und fing an zu klettern. Von den kahlen Ästen der Krone sprang ich an den Stamm eines anderen Baums, verkrallte mich in der Rinde und zog mich auf den untersten Ast, der mehr als vier Meter über dem Boden schwebte. Dort ruhte ich mich für genau drei Sekunden aus, in denen ich beobachtete, wie die Wölfe den Stamm umkreisten. Sie knurrten, kläffen und schimpften.

Einer sprang auf dem umgestürzten Baum und versuchte mich von dort aus zu erreichen. Ich kletterte höher.

„Komm runter Katze!“

„Wir warten auf dich.“

„Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“

Ein paar lachten.

„Du kannst nicht entkommen.“

Das hatte ich auch gar nicht vor. Ich war nach wie vor dazu entschlossen in dieses verdammte Lager der Werwölfe zu kommen und ihnen zu sagen, was ich zu sagen hatte. Ich maß die Entfernung zum nächsten Baum, kletterte einen Ast hör und sprang. Drei vier Bäume überwand ich so, bis sie merkten, in welche Richtung ich mich bewegte. Das passte ihnen natürlich nicht. Wenigsten verspotteten sie mich jetzt nicht mehr. Die Alternativen waren allerdings die Drohungen, die sie jetzt ausstießen. Beschreibungen darüber, was sie mit mir machen würden, wenn sie mich in die Finger bekämen.

Die Hälfte davon war maßlos übertrieben, das wusste ich. Werwölfe waren sehr territorial, aber nicht abartig grausam. Sie wollten mir einfach Angst machen. Und wie ich mir eingestehen musste, hatten sie damit zum Teil auch Erfolg. Doch ich gab nicht auf, kletterte weiter. Hier oben war ich einigermaßen sicher.

Mein Plan sah vor, auf diese Art so weit wie möglich ans Werwolfslager zu kommen und dann nach Pal oder einem anderen zu schreien, der mich rettete. Nun, wie das so mit Plänen war, liefen sie meist nicht so, wie man sich das vorgestellt hatte.

Ich hatte ungefähr die Strecke zurückgelegt, die sie mich gejagt hatten und machte mich zu einem weiteren Sprung bereit, als ich es unter mir knacken hörte. Ein kurzer Blick nach unten zeigte mir, dass ich die Wölfe nun wirklich verärgert hatte. Einer der Männer kletterte zu mir hoch. Schei-ße! Er machte das nicht schlecht, aber ich war schneller. Ich schätzte die Entfernung und sprang … und dann sah ich erst den anderen Wolf, der bereits in den Ästen auf mich wartete. Sie hatten mir eine Falle gestellt.

Bremsen konnte ich nicht mehr, dann wäre ich sieben Meter in die Tiefe gestützt, also blieb mir gar nichts anderes übrig, als auf dem vorhergesehenen Platz zu landen. Der Wolf griff nach mir, kaum dass ich den Ast berührt hatte, doch ich hatte immer noch den Vorteil des besseren Gleichgewichts und so wich ich einen Schritt zurück und sprang weiter in den nächsten Baum. Ich knallte gegen den Ast, rutschte ab und fiel ein paar Meter, bevor ich an einem anderen Halt fand. Das Problem daran war nur, das hier bereits ein weiterer Wolf auf mich lauerte.

Ich kämpfte mich auf die Beine, ignorierte die Schürfwunden und Kratzer vom Sturz und suchte nach dem nächsten Baum, auf dem ich mich in Sicherheit bringen konnte. Dabei merkte ich erst, wie tief ich gefallen war, als ich einen Luftzug am Bein fühlte, gefolgt von dem Geräusch zusammenschnappender Zähne. Die Wölfe unter dem Baum sprangen nach mir und versuchten, mich runterzuziehen. Ich kletterte ein Stück hoch, aber auch hier wartete bereits einer auf mich. Scheiße. Scheiße Scheiße Scheiße SCHEIßE! Die meinten das jetzt wirklich ernst.

„Du kannst nirgendwo hin“, feixte der Typ über mir und ließ sich einen Ast weiter runter. Blätter rieselten auf mich nieder. „Gib besser auf, du hast keine Chance.“

„Das glaubst auch nur du.“ Ich sprang so plötzlich in den nächsten Baum, dass ich den Wolf der dort auf mich lauerte, überrumpeln konnte, indem ich ihn wegstieß und gleich weiter in den nächsten Baum setzte. Hier wartete niemand auf mich. Ich hörte ein Schrei, brechende Äste und fuhr herum. Der Wolf, den ich weggestoßen hatte, war abgerutscht, konnte sich aber noch abfangen und hing fluchend wie ein Rohrspatz an einem dicken Ast.

Gott sei Dank war er nicht abgestürzt. Das hätte nur noch mehr Ärger nach sich gezogen, auch wenn es eigentlich seine eigene Schuld gewesen wäre. „Alles okay?“

Als Antwort bekam ich von ihm ein paar nette Bezeichnungen um die Ohren gehauen, die ich hier nicht weiter erläutern möchte.

„Scheint so.“ Wer so fluchen konnte, dem fehlte nichts.

Er schickte eine weitere Beleidigung zu mir herüber, während er sich auf den Ast zog.

„Ich hab dich auch lieb“, witzelte ich. Eine Sekunde später packte mich eine Hand am Fuß. Vor Überraschung wäre ich beinahe gefallen. Ich hatte mich so auf den anderen Typen fixiert, dass ich nicht gemerkt hatte, wie hier einer raufgeklettert kam.

Ich versuchte mein Bein wegzuziehen. Sein Griff wurde nur noch fester. Er zog mit einem Ruck an meinem Fuß. Ich versuchte noch meine Krallen in den Ast zu schlagen, aber es war zu spät. Ich rutschte weg, fand keinen Halt und fiel. Auf meinem Weg nach unter wurde ich ordentlich durchgeschüttelt. Traf auf Äste und Blätter, bis mein Sturz von dem Waldboden aufgehalten wurde. Der Aufprall trieb mir die Luft aus den Lungen und für einen Moment wurde mir schwarz vor den Augen. Vielleicht war ich sogar ohnmächtig geworden. Ich wusste es nicht. Jedenfalls, als ich die Augen aufschlug, starrten ein halbes Dutzend  Gesichter zu mir runter, menschliche wie wölfische. Und die sahen ziemlich angepisst aus. Schluck.

„Und da heißt es immer, dass Katzen auf ihren Pfoten landen.“

Einer griff nach mir – der, der fast vom Baum gefallen war. Ich wich zurück, bis ich die Rinde in meinem Rücken spürte. Die plötzliche Bewegung vermerkte mein Körper mit einem stechenden Schmerz im Arm. Ich musste ihn mir im Fall angestoßen haben. Und mein Rücken fühlte sich auch nicht viel besser an. Hecktisch sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um.

„Denk nicht mal dran, jetzt ist Schluss mit lustig.“

Die Drohung war eindeutig. Entweder, ich machte was sie wollten, oder sie würden mir ernstlich wehtun. „Aber ich muss …“

„Du musst gar nichts, außer hier zu verschwinden und das schnell, bevor mir die Geduld …“

„Halt!“ Die Stimme einer Frau, eine sehr vertraute Stimme. Ich schaute um die Männer und Wölfe herum und sah Domina in ihrer Löwengestalt mit großen Sätzen auf uns zukommen. Danke, oh danke, wer auch immer für dieses Wunder verantwortlich war. „Rührt sie nicht an.“

Der Typ, der fast vom Baum gekracht war, fuhr ärgerlich zu ihr herum. „Wir brauchen deine Unterstützung nicht, wir kommen ganz gut allein mit ihr klar.“

Domina bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick. „Nimm dich zurück, Jago, dem Mädchen darf nichts passieren.“

„Sagt wer?“

„Sagt Prisca.“

Jagos Kiefer spannte sich an.

„Wenn du damit ein Problem hast, dann klär das mit ihr. Und jetzt verschwindet, ihr alle. Ich kümmere mich um den Rest.“

Es gab Zögern und Gemurre, besonders von Seiten Jago, aber alle zogen ab.

„Danke“ war alles, was ich rausbringen konnte. Jetzt, wo die Anspannung nachließ, zitterte ich so heftig, dass mir die Zähne klapperten. In den letzten Minuten vor Dominas Auftauchen war mir klar geworden, wie ernst sie mein Eindringen nahmen. Ich war wirklich haarscharf davongekommen.

Domina sah mich mit dem gleichen, abschätzenden Blick an, mit dem sie auch Jago bedacht hatte. „Es war dumm von dir, hierherzukommen, ein bisschen mehr Verstand hätte ich dir schon zugetraut.“

Tja, es war doch immer wieder nett alte Bekannte zu treffen. Und bei manchen von ihnen fühlte man sich wirklich willkommen.

 

°°°

 

Leider war die Freude über meine Rettung nur von kurzer Dauer, denn Domina hatte, genau wie die anderen, nicht vor, mich ins Lager zu lassen. Als ich mich weigern wollte zu gehen, gab sie mir die Wahl zwischen allein und freiwillig zu verschwinden, oder von den Wölfen aus dem Territorium entfernt zu werden. Genaugenommen von den Wölfen, die mich gerade noch lynchen wollten, weil ich ihnen so auf der Nase herumgetanzt war. Da fiel die Entscheidung wenigstens nicht schwer. Als Entschädigung bot Domina mir an, mich noch ein Stück zu begleiten, obwohl ich ja eher vermutete, dass sie sichergehen wollte, dass ich auch wirklich verschwand.

Wenn sie verwundert über mein neues Erscheinungsbild war, so gab sie das nicht zu erkennen. Ihre einzige Bemerkung dazu war: „Du scheinst doch über Magie zu verfügen.“

„Ja.“ Damit war das Gespräch in diese Richtung erledigt. Hielt das Rudel wirklich so wenig von mir, dass ihnen eine solche Totalveränderung völlig egal war? Eigentlich sollte es mich nicht wundern und trotzdem tat es ein wenig weh.

So ein Rudel Wölfe war doch schon ein seltsames Völkchen und obwohl ich gekränkt darüber war, dass sie mich nicht bei sich haben wollten, war mein Anliegen doch wichtig genug, dass sie es unbedingt erfahren sollten. Wenigstens hatte ich in Domina eine Zuhörerin, die auch wirklich zuhörte. Also erzählte ich ihr auf dem Rückweg zähneknirschend das, was ich eigentlich Pal und Veith hatte erzählen wollen, sprach von den anderen Rudeln, die bei den Wächtern vorgesprochen hatten und von den Problemen, die bei ihnen herrschten. Ich hatte vielleicht zwei Minuten geredet, war gerade bei der Vermisstenmeldung über den jungen Wolf vom Steinbachrudel, als ich bemerkte, dass Domina nicht mehr neben mir war. Verwundert sah ich mich um und entdeckte, dass sie ein paar Meter hinter mir stehengeblieben war.

Nach kurzem Zögern fragte sie: „In den anderen Rudeln sind auch Wölfe verschwunden?“

Manchmal war es halt doch nicht so gut, so abgeschieden zu leben. Man bekam von der Welt um einen herum einfach nichts mit. „Ja, deswegen wollte ich ja zu euch, weil ich der Meinung war, dass ihr das wissen solltet. Anwar hat sich nämlich nicht die Mühe gemacht, es mitzuteilen, weil er der Meinung war, dass diese Fälle nicht zusammengehören. Er sagte, dass immer mal wieder Leute verschwinden und es nicht sein Problem sei. Ich hab es auch nur zufällig mitbekommen, weil die Wächter im Haus waren und ich dann mit Gaare darüber gesprochen habe.“

Domina dachte angestrengt nach. In ihrem Katzengesicht waren ihre Gefühlsregungen nur schwach, aber doch deutlich zu erkennen. Wut, Unsicherheit und Verwirrung wechselten sich wie en Farbenspiel ab. Ihr Schwanz zuckte aufgebracht hin und her. „Komm mit“, sagte sie dann und wandte sich um Richtung Rudel.

Im ersten Moment war ich so perplex, dass ich einfach nur dastand.

Ungeduldig fauchte sie mich an: „Ich will, dass du mitkommst, um es Prisca zu erzählen! Jetzt beweg dich endlich, oder hast du es dir plötzlich anders überlegt?“

„Nein, natürlich nicht.“ Ich beeilte mich hinter zukommen. Endlich würde ich Pal widersehen. Und Veith.

 

°°°

 

„Woher wussten du und Prisca eigentlich, dass ich mich in eurem Wald herumtreibe?“

„Tess“, sagte Domina. „Du hast ihr einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Sie ist ins Lager gelaufen und hat es ihrer Mamá erzählt, die mit der Nachricht von einem Eindringling umgehend zu Prisca geeilt ist. Ich war zufällig auch da. Tess hat deinen Geruch erkannt.“

Ah, der kleine Wolf im Wald, der bei meinem Anblick die Beine in die Hand genommen hatte und um sein Leben gerannt war.

Wir hatten inzwischen den Rand des Lagers erreicht. Ich konzentrierte mich einen Augenblick und ließ die Katze in mir von meiner Haut abfließen. Es kribbelte und ein letztes Zittern sagte mir, dass ich wieder aussah wie ich.

„Gute Idee“, sagte Domina. „Dieses Gesicht kennen die Wölfe wenigstens.“

„Was aber nichts heißt, dass sie weniger feindselig zu mir sein werden.“

„Höre ich da etwa einen bitteren Ton in deiner Stimme?“

Und ob sie das tat. Das würde ich ihr allerdings nicht unter die Nase reiben. „Lass uns einfach gehen.“

Domina brachte mich durch das Lager direkt in das große Haus von Prisca. Ich hatte es erst einmal für kurze Zeit betreten und hätte mich sicher nicht beklagt, wenn es das einzige Mal geblieben wäre. Gegen das Haus selber hatte ich nichts, es war die Bewohnerin, die mir eine Heidenangst einjagte.

Auch jetzt, als ich ihr in ihrem Arbeitszimmer gegenübertrat, trug sie wieder diese Maske von ruhiger Beherrschtheit, hinter der eindeutig ein Jäger lauerte, der nur darauf wartete, sich auf seine Beute stürzen zu können. Diese Aura, die sie umgab, war einfach so machtvoll, dass es schon gruselig war.

Sie war gerade in ein Gespräch mit einem älteren Wolf vertieft, der mir vertraut vorkam. Ich war mir aber sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Hellbraunes Haar, kräftiges Kinn und muskelbepackt wie ein Türsteher. Er war nur etwas größer als ich, wirkte aber trotzdem sehr einschüchternd. Besonders, als er mich mit diesem Blick aufzuspießen bedrohte, den die Werwölfe so gut drauf hatten. Warum hatte ich in den letzten Wochen noch gleich so unbedingt zurückgewollt? Irgendwie war mir das in diesem Augenblick entfallen.

Prisca saß an ihrem Schreibtisch, zurückgelehnt, den Kopf auf dem Arm gestützt und lauschte dem älteren Kerl, brach das Gespräch bei meinem Auftauchen aber sofort ab. Erst fixierten ihre Augen mich, dann Domina und wie sie dann die Lippen zurückzog. Eindeutiger konnte ein Zähnefletschen nicht sein. „Was hat das zu bedeuten? Ich habe eindeutig gesagt, dass sie aus dem Territorium gebracht werden soll!“

Domina ließ sich von der angriffslustigen Haltung nicht beeinflussen. Die Ruhe und Sicherheit, die sie ausstrahle, hätte ich mir gerne selber zu Eigen gemacht. Aber was war stattdessen? Ich wäre am liebsten aus dem Haus gerannt. So viel zum Thema Retter in der Not. Dass ich bei ihrem Geknurre keine Windel brauchte, war echt ein Wunder.

„Wir waren schon auf dem Weg zur Grenze im Osten, als sie mir etwas erzählte, von dem ich der Meinung bin, dass du es unbedingt erfahren solltest.“

Ihr Blick traf mich mit der Genauigkeit eines Lasers. „Und was sind diese überaus wichtigen Neuigkeiten, die mein Rudel dazu veranlassen, meine Befehle zu ignorieren?“

Die tat ja gerade so, als würde ich ein unbändiges Unheil über alle bringen. Dabei wollte ich doch nur helfen. Und ja, auch ein bisschen beliebt machen. „Ich bin hier, weil ich vielleicht einen Hinweis darauf gefunden habe, was mit Isla passiert ist.“

Prisca stellte die Beine nebeneinander und beugte sich ein Stück über den Schreibtisch. „Du weißt wo Isla ist?“

„Nein, aber ich habe einen Verdacht, wer sie entführt haben könnte.“

„Wer?“

Diese Stimme kam von hinter mir, war vertraut und trotzdem zuckte ich bei ihrem Klang zusammen. In einem der drei goldenen Sessel in der Ecke saß Veith. Mein Herz machte einen freudigen Satz. Blödes Organ.

Ich hatte ihn bisher nicht bemerkt, weil ich nur Augen für Prisca gehabt hatte. Er saß da, die Arme auf die Knie gestützt und unnahbar, wie eh und je. Hellbraunes Haar, markantes Kinn, die Falte zwischen seinen Augen und muskulös. Jetzt wusste ich auch, an wenn der Mann neben Prisca mich erinnerte. Er sah aus wie eine ältere Version von Veith.

Okay, lass dich von ihm bloß nicht noch mehr aus dem Konzept bringen. „Anwar“, sagte ich gerade heraus.

„Anwar von Sternheim?“, fragte der ältere Mann. „Wesensmeister von Sternenheim? Dieser Anwar?“

„Ja.“ Schlich und sachlich und ohne dabei zu zittern. Man war ich gut!

„Domina, lass uns bitte allein und schließ die Tür beim hinausgehen“, sagte Prisca.

Domina tat sofort, wie ihr geheißen und dann war ich allein mit drei Werwölfen, die über meine Anwesenheit nicht sehr glücklich waren. Gott, die taten ja gerade so, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, die sie sich allein bei meinem Anblick einfangen konnten.

Prisca lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Ich kam mir vor, als hätte ich auf dem Klo eine geraucht und wurde vor den Direktor zitiert. „Erkläre mir, was dich glauben lässt, das der Wesensmeister von Sternheim einen meiner Wölfe entführt hat.“

Nichts einfacher als das. Nach meinem Gespräch mit Gaare war mein Kopf so voll  mit Informationen, die entlassen werden wollten, dass ich glaubte explodieren zu müssen, würde ich mich dem verweigern. „Okay, aber dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Gut, ähm …“ Wie fing ich am besten an. Gott, konnten die mir nicht mal einen Stuhl anbieten? „Also ich weiß nicht, wie sehr ihr mit Anwars Hobby vertraut seid. Auf jeden Fall liebt er die Jagd über alles und sein größter Traum ist es, dass die Werwesen zum Abschuss freigegen werden …“

„Werwesen?“, fragte die ältere Veith-Version.

„Ähm, oh, ihr nennt sie anders. Ich rede von Lykanern und Therianern. Für ihn seid ihr nichts weiter als eine Herausforderung, mit der er gerne seine Wände schmücken möchte. Eine neue Art Jagdbeute, mit der er sich seinen ultimativen Kick holen will.“ Ob sie den letzten Teil verstanden hatten? Schien so, jedenfalls fragte keiner nach.

„Das allein ist kein Grund für eine solche …“

„Ich weiß, ich weiß!“, fiel ich Prisca rüde ins Wort. Dann wurde mir klar, wem ich da gerade über dem Mund gefahren war und wurde ein wenig blass. Alpha anpissen, nicht gut. Reiß dich zusammen! „Ich … lass mich bitte erst alles erzählen, dann werdet ihr es verstehen. Also, während meines Aufenthalts in Anwars Haus sind Wächter aufgetaucht, zusammen mit einem Rudel stinkwütender Wölfe. Ich glaube sie haben sich Bachstein genannt oder so.“

„Das Steinbachrudel“, sagte Veith.

„Genau, das war es. Jedenfalls sprachen sie bei Anwar vor, weil bei ihnen in der letzten Zeit drei Welpen verschwunden sind. Sie waren ziemlich sauer und wollten, dass Anwar etwas unternimmt, weil die Wächter nicht mehr weiter wissen. Er hat sie abgewimmelt …“

„Nicht überraschend“, kam es von Veith in alt.

„… aber die eigentliche Show begann erst, nachdem sie weg waren. Anwar hat getobt und gewütet und stand den Wölfen in nichts nach. Dabei hat er etwas gesagt, das mich aufhorchen ließ, woraufhin ich mich mit Gaare – dem Bibliothekar – zusammengesetzt habe und einige interessante Sachen erfuhr. Es ist nicht nur Isla verschwunden und die drei Welpen aus dem Bachsteinrudel …“

„Steinbachrudel.“

Okay, Veiths älterer Verschnitt war offensichtlich ein Besserwisser. „Aus dem Steinbachrudel. Es sind aus mindestens sieben anderen Rudeln weitere elf Wölfe in den letzten fünf Monaten verschwunden. Nicht nur … nein, lass mich bitte ausreden. Nicht nur Welpen sind verschwunden, auch mindestens neun Erwachsene und das ist auch noch nicht alles. Außerdem wurden vier Einzelläufer von Freunden als vermisst gemeldet und mehr als ein Dutzend  weiterer Einzelläufer sind tot aufgefunden worden. Ich konnte mich nur in Sternheim kundig machen, weiß daher nicht, ob noch andere Gebiete betroffen sind, aber ich fand das Ganze so beunruhigend, dass ich der Meinung war, ihr solltet es erfahren.“

Für einen Augenblick schwieg Prisca und als sie dann reagierte, tat sie es anders, als ich erwartet hatte. „Das heißt also, dass mindestens fünfzehn Wölfe in dem Gebiet um Sternheim verschwunden sind. Weiter fehlt jegliche Spur von mindestens vier Einzelläufern und ein weiteres Dutzend  ist tot.“ Sie ging auf den Teil mit Anwar überhaupt nicht ein.

„Ja, zusammen mit den beiden, die ich gefunden habe.“

„Es ist gut, dass du es uns gesagt hast, aber ich verstehe immer noch nicht, was dich dazu veranlasst Anwar zu verdächtigen.“

„Oh, Entschuldigung, da hab ich doch … okay.“ Mein Gott, entschuldige dich doch nicht ständig, du hast nichts Falsches getan. „Also dafür hab ich keine Beweise, aber es sind so Dinge, die er über die Werwesen während meines Aufenthalts gesagt hat. Kleinigkeiten. Aber hauptsächlich denke ich das, weil er absolut nicht wollte, dass die Rudel erfahren, was bei den anderen los ist. Es ist nicht nur so, dass er einfach kein Interesse daran hat, diese Dinge mitzuteilen, er will nicht, dass ihr sie erfahrt. Er spielt sie herunter und hat den Wächtern eingetrichtert, dass es zwischen diesen Fällen kein Zusammenhang gibt.“

Für einen kurzen Moment blieb es still im Büro. Dann fragte Veith: „Auf diese Indizien baust du deinen Verdacht auf?“

„Ja.“

Er schüttelte den Kopf über meine Wenigkeit. „Es ist unstimmig. Du sagst, dass Anwar sie jagen will und vielleicht tut er das auch, aber was ist mit den toten Einzelläufern? Die beiden, die du gefunden hast, wurden nicht erschossen. Sie haben sich eindeutig gegenseitig getötet.“

„Nur der Teil mit den Einzelläufern passt nicht“, kam von dem älteren Mann. „Sag mir, Talita, weißt du wie die anderen Einzelläufer zu Tode gekommen sind?“

„Ähm nein“, räumte ich ein. „Ich hatte ja keine Chance an die Akten bei den Wächtern heranzukommen. Das Einzige, was ich weiß, hab ich von Gaare und bevor ihr jetzt denkt, dass seine Informationen nicht zuverlässig …“

„Keine Sorge“, beruhigte Prisca mich, „wir wissen, wer Gaare ist. Wenn du diese Informationen von ihm hast, sind sie zu neunundneunzig Prozent korrekt.“

Und dann kehrte für einige Zeit Schweigen ein, in der Prisca intensiv über das Gesagte nachdachte. Die ersten fünf Minuten schaffte ich es noch still zu stehen. Dann verlagerte ich mein Gewicht von ein Bein aufs andere, lief ein paar Schritte hier hin, sah mich Veith gegenüber, woraufhin ich ein paar Schritte dort hinlief und zum Schluss wieder vor dem Schreibtisch stand. Die Krönung des ganzen war, als ich anfing zu Gähnen.

Ja tut mir ja leid, aber ich hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, war stundenlang unterwegs gewesen und wurde zu guter Letzt noch von einer Meute Werwölfe quer durch den Wald gejagt. Das schlauchte eben. Da war es wohl verständlich, dass sich langsam die Erschöpfung zeigte.

„Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Anwar uns gegenüber in der letzten Zeit noch feindseliger zeigt als sonst“, sagte Prisca dann. „Genau wie Tyge glaube ich nicht, dass die toten Einzelläufer damit etwas zu tun haben. Zumindest nicht die beiden, die du gefunden hast. Die anderen werden wir noch überprüfen müssen. Aber wir sollten diesen Verdacht nicht links liegen lassen. Es ist der erste Anhaltspunkt, den wir seit Islas Verschwinden bekommen haben und ich möchte, dass ihr ihn nachprüft. Tyge, du wirst mit Julica, Veith und Pal Talita zurück zum Anwesen von Anwar von Sternheim begleiten. Ich möchte, dass ihr euch da ein wenig umseht. Versucht mit ein paar Wächtern zu sprechen, weitere Informationen zu besorgen. Ich werde mich in der Zwischenzeit mit den anderen Rudeln in Verbindung setzten.“ Sie sah zu mir. „Du kannst meine Wölfe doch mit in das Anwesen bringen?“

„Ich … ich weiß nicht. Erion wird kein Problem sein, er mag Werwölfe, aber Anwar wird alles andere als begeistert sein. Und dann ist da noch Kaj, die …“

„Kaj?“, fragte Veiths älterer Verschnitt – also Tyge. „Die Welpenfresserin, die Kaj?“

Ich nickte.

„Na dann haben wir ja unsere Erklärung, warum die Einzelläufer tot sind. Alte Gewohnheiten wird man schwer los.“

„Du vergisst, Papá, dass Kaj Welpen getötet hat. Einzelläufer sind meist Erwachsene“, sagte Veith.

Ah, Tyge war also Veiths Vater. Das erklärte diese Ähnlichkeit. Hätte ich eigentlich auch gleich drauf kommen können. Das musste die Aufregung sein, oder auch die Erschöpfung. Mein Hirn funktionierte gerade eben nicht so gut.

„An Welpen aber kommt sie nicht so leicht ran. Die Einzelläufer wären für sie da eine gute Alternative“. sagte Tyge.

„Und was ist mit dem Katzengeruch?“, erwiderte Veith. „Wie erklärt ihr den? Er war sowohl an dem Ort, an dem Islas Fährte endete, als auch an den toten Wölfen im Wald.“

Veith hatte offensichtlich überhaupt keinen Bock nach Sternheim zu gehen. Oder vielleicht störte ihn dabei nur meine Anwesenheit. Das war wahrscheinlicher. Mann, was hatte er bloß gegen mich?

„Diesen Punkt können wir hoffentlich klären, wenn wir weitere Informationen haben. Es ist beschlossen. Veith, ihr werdet gehen.“ Das war ein eindeutiger Befehl von Prisca, dem sich keiner freiwillig entgegenstellen sollte. „Ich möchte, dass ihr euch vorbereitet und euch morgen früh auf den Weg macht. Ihr könnt wieder den Kinderzug nehmen, damit es schneller geht und …“

„Das ist nicht nötig“, warf ich ein. „Tut mir leid“, beeilte ich mich zu sagen, als Prisca den Mund straffte. Sie konnte es offensichtlich genauso wenig wie Anwar leiden, wenn man ihr in Wort fiel. „Ich meine nur, ich kann allein Laufen, ich habe jetzt … Fähigkeiten.“

Prisca zog eine Augenbraue hoch. „Fähigkeiten?“

„Ja, ich … ich zeige es euch am besten.“ Ich schloss die Augen, fand diesen kleinen Punkt tief in meiner Brust und ließ sich die Magie in mir entfalten. Das Kribbeln überlief meine Haut, als Fell wuchs und das Prickeln hinter meinen Schläfen und an meinen Fingern zeigte mir die Veränderung meiner körperlichen Form. Dann war es auch wieder vorbei. Nur dieser kleine Rausch der Magie blieb. Lächelnd schlug ich die Augen auf. „Mein Aufenthalt bei Anwar war sehr ergiebig.“

„Ein Therianer in der Form eines Rakshasa“, sagte Prisca. „Schneeleopard. Sehr interessant und sehr selten.“

„Eigentlich nur ein halber Therianer. Meine Magie ist schwach, mehr als das ist nicht drin, aber mit den Wölfen mithalten, das kann ich.“

 

°°°

 

Prisca entließ mich. Ich durfte mich zum ersten Mal frei in dem Lager bewegen. Trotzdem war Domina an meiner Seite, kaum dass ich das Haus verlassen hatte. Mein Fell hatte ich wieder abgelegt.

„Was hat Prisca gesagt? Weißt du wirklich, wo Isla ist?“

Das sie wahrscheinlich nach so langer Zeit tot war, wagte ich einfach nicht auszusprechen. Es war keine Gemeinheit von mir, so zu denken, es war einfach eine Tatsache, dass es unwahrscheinlich war, dass sie nach so langer Zeit noch lebte. Entführungsopfer hatten nur in den ersten Stunden nach der Tat noch eine gute Chance lebend gefunden zu werden. Je mehr Zeit verging, desto unwahrscheinlicher wurde es. Jeder weitere Tag konnte ihr letzter gewesen sein und seit ihrem Verschwinden waren nun schon mehr als vier Monate vergangen. Außerdem, wenn wirklich Anwar dahinter steckte, dann hielt er sie sich nicht als Haustiere, sondern nutze sie als Beute. Aber ich verkniff es mir, das laut auszusprechen. Stattdessen sagte ich: „Ich werde Morgen mit einer Gruppe von Wölfen zurück zu Anwar gehen. Wir werden versuchen meinen Verdacht zu bestätigen.“ Oder ihn den Erdboden gleich zu machen.

„Das ist … gut. Wenn wir wissen, was geschehen ist, wird wieder Ruhe ins Rudel zurückkehren. Und Wulf kann endlich Frieden finden.“

Wir liefen ein Stück schweigend. Ganz ohne es zu merken, schlug ich den vertrauten Weg zu Fangs Haus ein. Hier hatte sich wirklich nichts geändert. Fast konnte ich mir vorstellen, nie weg gewesen zu sein. Leider nur fast. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das für ihn sein muss.“

„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Pause. „Und, hast du in der Zwischenzeit herausgefunden, was mit dir passiert ist? Wie du auf Fangs Dachboden gelandet bist?“

„Nein. Gaare konnte nur herausfinden, dass ich Magie in mir …“

„Talita!“

Domina und ich drehten uns unison zu der Stimme um, die mich gerufen hatte. Aus einem der Häuser eilte ein Riese von einem Rotschopf auf mich zu, ein halbes Lächeln im Gesicht, ehrlich erfreut über mein Auftauchen.

Pal.

Ich sah ihn, kniff die Augen zusammen, drehte mich um und lief in die genau gegengesetzte Richtung, direkt in den Wald. Ich hatte ihn vermisst. Doch jetzt erst merkte ich, wie gekränkt ich noch davon war, dass er mich ohne Abschied einfach bei Anwar zurückgelassen hatte. Die Kränkung überstieg die Freude. Zwar hatten Veith und Domina das auch getan, aber von den beiden hatte ich auch nie etwas anderes erwartet.

„Hey, Talita, warte doch.“ Er hielt mich am Arm fest und wie immer, wenn mich jemand überraschend anfasste, zuckte ich vor der Berührung zurück. „Immer noch ängstlich, wie?“

Ich spießte ihn mit einem Blick auf und ließ ihn dann einfach stehen. Domina war irgendwo im Lager verschwunden.

Er eilte an meine Seite, ignorierte, dass ich eigentlich vor ihm davon lief. „Bist du sauer?“

Ich blieb stumm. Einfach cool bleiben. Beachte ihn nicht, dann verschwindet er schon.

„Du bist sauer, stimmt’s?“ Pal wartete auf eine Antwort, als er keine bekam, fragte er: „Warum bist du sauer? Ich habe doch gar nichts getan.“

„Und genau da liegt das Problem“, fauchte ich.

„Was?“

„Du bist einfach verschwunden!“ Na super, soviel zu Thema cool bleiben. „Du hast mich in diesem Haus zurückgelassen, ohne dich von mir zu verabschieden. Nein, ich bin nicht sauer, ich bin stinkwütend!“

„Aber die anderen haben doch auch …“

„Keiner von den anderen hat so getan, als würde er mich mögen. Sie haben die ganze Zeit über mehr als klar gestellt, was sie von mir halten, aber du … ach vergiss es!“

Pal umrundete mich, versperrte mir den Weg. „Es tut mir leid, ich hätte daran denken sollen, aber Papá wollte sofort …“

„Deine Ausreden kannst du dir da hinstecken, wo keine Sonne scheint!“ Die Magie in meiner Brust explodierte. So viel dazu, dass ich nun in der Lage war, die auch bei Gefühlsausbrüchen zu kontrollieren.

„Oh wow, was …“

Der nächste Baum war meiner. Ich sprang den Stamm hinauf, zog mich in die Krone und verschwand im Wald. Hier oben konnte er mir nicht so leicht folgen.

 

°°°

 

Es war schon dunkel und nur noch der Mond schickte sein bleiches Licht durch die Baumkronen. Langsam wurde mir kalt, ich musste schon seit Stunden hier oben in den Bäumen hocken. Pal abzuhängen war dann doch nicht so einfach gewesen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Zwar konnte er nicht klettern – das hatte ich live miterlebt, als er es versucht hatte und nicht sehr anmutig auf seinem Allerwertesten gelandet war –, aber auf dem Boden zu folgen, das bekam er hin. Und zwar mit sehr viel Ausdauer.

Ich konnte nicht sagen, ob ich ihn letzten Endes abgehängt hatte, oder er einfach aufgegeben hatte, aber irgendwann war er weg gewesen und seitdem hatte ich ihn auch nicht mehr gesehen. Dafür aber ein paar von den anderen Werwölfen. Nur die wenigsten von ihnen hatten mich hier oben bemerkt und von denen die es getan hatten, war die Ablehnung noch so frisch wie am ersten Tag. Ich war und blieb eben nur eine Katze, die ihren Alltag störte.

Langsam schweifte mein Blick hinüber zu Fangs Haus. Die ganze Zeit schon hatte ich das Bedürfnis, dort hinein zu gehen, nochmal den Dachboden zu betreten, in der Hoffnung einen Hinweis zu finden, etwas, dass die ganze Zeit übersehen wurde und mich auf die entscheidende Spur brachte, die mir sagte, wer ich war und wohin ich gehörte. Doch irgendwie kam es mir nicht richtig vor, da einfach wie selbstverständlich hinein zu spazieren, auch wenn Prisca mir erlaubt hatte, dass ich mich im Lager frei bewegte. Ich denke nicht, dass diese Erlaubnis es mit einschloss, Hausfriedensbruch zu begehen. Anderseits könnte ich auch einfach an die Tür klopfen und darauf hoffen, dass mich jemand einließ.

Unruhig rutschte ich auf dem Ast herum – das wurde langsam wirklich unbequem – und seufzte. Leider konnte ich nicht Hellsehen und wusste somit im Vorfeld nicht, wer mir die Tür öffnen würde – falls das überhaupt passierte. Im besten Fall konnte es Pal sein. Der würde mich zwar bedenkenlos reinlassen, aber den wollte ich im Augenblick nicht sehen, ich war immer noch sauer auf ihn. Ja, vielleicht war ich ein wenig kleinlich, besonders, da sich die Leute nicht gerade darum rissen, mit mir Freundschaft zu schließen, aber ich war halt ziemlich enttäuscht von ihm. Natürlich hatte ich mich gefreut ihn wiederzusehen, mehr noch, als ich zugeben wollte, aber so einfach konnte ich eben nicht darüber hinwegsehen. Was er getan hatte, tat immer noch weh.

Aber zurück zur Tür. Im schlechtesten Fall würde Wulf sie mir öffnen und ich war mir nicht sicher, ob ich schnell genug wäre, seinen Zähnen zu entkommen. Nach unserer letzten Begegnung war er der Letzte, auf den ich treffen wollte.

Es gab so viele Leute, die in diesem großen Haus wohnten, Veith, Fang, Boa, die Drillinge und noch mehr, doch leider fanden die meisten kein gutes Haar an mir. Aber ich konnte auch nicht ewig in diesem Baum sitzen bleiben, sonst müsste ich hier noch die Nacht verbringen. Probleme über Probleme. Warum hatte ich mich noch gleich so sehr darauf gefreut, diese undankbare Bande wieder zu sehen? Im Moment fiel es mir wirklich nicht ein.

Okay, Schluss jetzt mit dem Versteckspiel. Ich würde jetzt an diese Tür klopfen und wenn Pal es war, der mich einließ, dann war es eben so. Und wenn es Wulf sein sollte, würde ich ihm einfach zeigen, für was eine Katze ihre Krallen so alles einsetzen konnte – zum Beispiel auf den nächsten Baum eilig in Sicherheit zu klettern.

Entschlossen machte ich mich an den Abstieg, kletterte auf halbe Höhe und ließ mich das restliche Stück einfach fallen … und zwar fast auf Kovu rauf! Verdammt, wo kam der denn plötzlich her? Wurde das hier jetzt alltäglich? Erst Tess und jetzt auch noch er! Im Letzten Moment lehnte ich mich nach hinten und landete ziemlich schmerzhaft auf meinem Hintern. Au! Verdammt, das tat weh!

Mit großen Augen sah er mich an, dann nach oben in den Baum, dann wieder mich und grinste ein freches Lausbubenlächeln. „Was sollte das werden? “

„It´s raining cats and dogs.“

„Was?“

„Vergiss es.“ Fremdsprachen waren hier genauso unnütz wie logisches Denken. Mühevoll arbeitete ich mich wieder auf die Füße und verzog dabei das Gesicht. Mein Schwanz! Ich war auf ihm gelandet. Keine Ahnung, wie ich das hinbekommen hatte, aber es war schmerzhaft. Konnte man an einem Schwanz blaue Flecken bekommen? Hm, da gab es wohl doch noch ein paar Punkte, die Djenan in seinem Unterricht nicht bedacht hatte.

„Du hast dich ganz schön verändert. Würde ich dein Geruch nicht kennen, könnte ich dich glatt für eine Fremde halten.“

„Du hast dich gar nicht verändert.“ Ich ließ die Katze von mir abfließen, entging so dem Schmerz in meinem Schwanz, nur leider zog der jetzt höher und jetzt tat mir der Hintern weh. Oh Mann, mir blieb aber auch nichts erspart.

Er grinste schief. „War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?“

„Nichts von beidem, nur eine Feststellung.“ Ich sah wieder rüber zum Haus, in dem manche Fenster hell erleuchtet waren und die Schatten der Gestalten dahinter preisgaben. Und dann kam der Geistesblitz. Ich war ja so doof. Kovu wohnte auch in dem Haus und der hatte, soweit ich wusste, kein Problem mit mir. „Tust du mir einen Gefallen?“

„Nur wenn das ein Kompliment war.“

Ähm … okay. „Es war ein Kompliment. Ich finde es toll, dass du nach den ganzen Wochen immer noch der Gleiche bist und dich kein Stück verändert hast.“

„Doch, habe ich. Siehst du? Hier.“ Er zeigte auf eine kleine Narbe an seinem Kinn, die ich wirklich nur bemerkte, weil er mich mit der Nase drauf stupste.

„Ähm … das ist gut?“

Ein gleichgültiges Schulterzucken war seine Antwort. „Du wolltest etwas von mir?“

„Naja, nicht direkt von dir. Ich wollte nur fragen, ob ich mir noch einmal euren Dachboden ansehen kann. Vielleicht finde ich ja etwas, dass ihr übersehen habt, etwas das mir hilft.“

Kovu bekam etwas Nachdenkliches. „Heißt das, dass du immer noch nicht weißt, wer du bist?“

„Sieht ganz so aus.“

„Na, dann wollen wir doch mal sehen, was sich da tun lässt.“ Er nahm mich ohne Erlaubnis bei der Hand und zog mich Richtung Haus. Ja ja, wie ich das vermisst hatte.

 

°°°

 

Nur der Mond spendete ein wenig Licht auf dem Dachboden und da es hier keinen Lichtschalter gab, war die ganze Sache schon gelaufen, als ich an Kovus Seite nach oben trat. Nichts hatte sich hier geändert, sogar die Kisten mit den Kostümen standen noch mitten im Raum. Meine Katzenaugen ließen es zu, dass ich einigermaßen gut sehen konnte, aber Kleinigkeiten fielen da aus dem Rahmen. „Ihr habt nicht zufällig eine Taschenlampe?“

„Was sollten wir mit einer Lampe in der Tasche?“

Das war dann wohl ein klares Nein. „Das ist … schon gut, vergiss es einfach.“ Ich machte einen Schritt hinein und noch einen, versuchte etwas zu entdecken, was mir Aufschluss geben könnte, doch soweit ich sehen konnte, war da nichts. Auch meine Nase teilte mir nur mit, dass hier mal dringend wieder jemand Staubwischen sollte. Alles ganz normal. Ich seufzte lautstark. Vielleicht konnte ich ja morgen früh, wenn die Sonnen aufgegangen waren, noch mal herkommen, aber ich wusste nicht, wann wir losmussten. Wahrscheinlich würde ich gar nicht die Zeit dazu haben. Das war doch alles Mist.

„Ich glaube nicht, dass du hier noch etwas findest“, sagte Kovu dann.

Ich drehte mich zu ihm um. Das war wohl das erste Mal, dass ich ihn ernst erlebte. „Aber wenn nicht hier, wo soll ich denn dann suchen?“

Darauf konnte er mir auch keine Antwort geben. Alles andere hätte mich auch gewundert. Ich war eben verflucht und wusste nicht einmal warum.

Ich ließ mich kraftlos an der Wand runter gleiten und starrte aus dem kleinen, runden Fenster hinauf zum Mond. Das hier war wohl eine der wenigen Stellen im Lager, an der man ungehindert das Firmament sehen konnte. „Weißt du, ich bin nicht nur hergekommen, um euch zu helfen. Irgendwie habe ich wirklich gehofft, noch etwas zu finden, dass mich auf die Spur meiner Herkunft bringen würde“, gestand ich nach einiger Zeit leise. „Aber wie es im Moment aussieht, werde ich das wohl nie erfahren und zu einem Dauergast auf Anwars Anwesen werden.“ Der wird begeistert sein, wenn er davon erfährt.

„Wie ist es da so?“

„Wo?“ Nach meiner Rückkehr würde ich mir vermutlich einen Job suchen müssen, um dem Magier nicht ewig auf der Tasche zu liegen und irgendwann eine eigene Bleibe zu bekommen. Aber was sollte ich arbeiten? Was konnte man hier tun? Ich hatte absolut keinen Plan.

„Na auf dem Anwesen, in Sternheim. Wie sieht es da aus?“

Das ließ mich zu ihm aufblicken. Er stand immer noch im Türrahmen, den Kopf leicht geneigt, so wie Pal es immer machte. Pal, was sollte ich mit ihm bloß anfangen? „Warst du denn noch nie da?“

„Nein.“ Seinem Mund entkam ein schwerer Seufzer, so als läge eine unmenschliche Last auf seinen Schultern, die er kaum zu tragen vermochte. „Solange ich nicht die Mannesreife erreicht habe, darf ich unser Territorium nicht verlassen.“ Er setzte sich zu mir, doch anstatt sich an die Wand zu lehnen, wie ich geglaubt hatte, machte er es sich mit dem Kopf in meinem Schoß bequem, bettete sein Haupt auf seine Arme und kuschelte sich an mich. „Seit Islas Verschwinden würde Prisca die Welpen im Lager am liebsten wegsperren, nur um sie in Sicherheit zu wissen. Mich schließt das leider noch mit ein.“

Ich war viel zu baff, um irgendwas darauf zu erwidern. Wie selbstverständlich ging Kovu hier mit mir auf Tuchfühlung, ohne die kleinsten Bedenken. Dabei schien ihn gar nicht zu interessieren, ob mir das recht war, oder nicht.

„Erzähl mit von Sternheim. Und kraul mich.“

„Was?“ Das war doch jetzt nicht sein ernst!

Da ich nicht weiter reagierte, zog er einen Arm unter seinem Kopf vor, griff meine Hand und legte sie sich in den Nacken. „Kraulen“, sagte er nur, merkte aber wohl, wie ich mich dabei versteifte. Das war zu nahe, zu viel, es war mir unangenehm.

Zögernd nahm ich die Hand wieder weg – ich wusste wirklich nicht, wie ich jetzt reagieren sollte, der Kleine verunsicherte mich einfach – und handelte mir dafür einen fragenden Blick ein.

„Du hast Angst“, stellte er fest und setzte sich auf, um mich zu mustern.

Ich gab keine Regung von mir. Was hätte ich auch sagen sollen, er hatte ja recht und es zu bestreiten würde auch nichts bringen, da meine Angst wie ein Eigenduft in der Luft lag. Nur ganz leicht, aber sie war da und das wussten wir beide.

Kovu beugte sich vor, brachte sein Gesicht ganz nahe vor meines und würde da keine Wand in meinem Rücken sein, wäre ich wohl einfach umgekippt, so heftig zuckte ich vor ihm zurück. So stieß ich mir nur den Kopf und gab einen Fluch von mir, der ihn lächeln ließ. Verdammt, hatte er noch nie etwas von Eindringen in den privaten Bereich gehört? Das tat er nämlich gerade! Das war für ihn aber noch lange kein Grund sich zurückzuziehen, auch nicht, als ich ihm ziemlich nachdrücklich gegen die Brust drückte – Mann, der Kerl hatte vielleicht Kraft, da könnte ich genauso versuchen, einen Berg zu bewegen.

„Warum ist das so?“, wollte er wissen. „Warum hast du Angst?“

Vielleicht weil er ein großer, böser Werwolf war? „Ahm … ich weiß nicht.“ Konnte er nicht endlich ein wenig auf Abstand gehen?

„Du hast deine Erinnerungen also noch nicht wieder?“

„Doch, ein paar, vielleicht ein Dutzend.“ In der Zwischenzeit drückte ich ihn mit beiden Händen von mir, aber er bewegte sich immer noch kein Stück. Das machte mich langsam echt sauer.

Kovu konnte über meine Versuche nur lächeln. „Mehr nicht?“

Ich schüttelte den Kopf, mobilisierte all meine Kräfte und drückte. Schade nur, dass es nicht wirklich etwas brachte.

„Aber immerhin besser als gar keine.“ Er wich endlich zurück – so dass ich auch noch fast hinterher gefallen wäre – aber nur, um es sich wieder auf meinem Schoß bequem zu machen.

„Kannst du mir mal verraten, was das hier werden soll?“ Oh gut, jetzt war ich nicht mehr ängstlich, dafür aber zickig. Selbst Schuld. Ich meine, hallo? Was war nur mit diesem Kerl los?

Ohne sich weiter um meinen kleinen Ausbruch zu kümmern, nahm er wieder meine Hand und legte sie sich etwas umständlich auf seinen Rücken. „Erzähl mir von deinen Erinnerungen. Und auch was du die letzten Wochen ich Sternheim gemacht hast. Ich wollte schon immer mal nach Sternheim. Die Stadt muss echt aufregend sein.“

Der wollte mich doch verarschen. „Ist das dein Ernst? Du machst dich hier auf mir breit und willst dann auch noch, dass ich den Unterhalter spiele?“

„Und vergiss das Kraulen dabei nicht.“

Das war doch echt … ich wusste gar nicht, was ich dazu noch sagen sollte. Das war einfach nur dreist.

„Also, wie bist du zur Katze geworden. Bevor du gegangen bist, konntest du das ja noch nicht, oder?“

„Nein.“ Wollte er sich jetzt wirklich mit mir hier oben auf dem staubigen Dachboden in der Dunkelheit unterhalten?

„Wie ist es dann passiert? Was bist du eigentlich? Ich glaub nicht, dass ich so ein Wesen wir dich schon einmal gesehen habe.“

„Ich bin ein halber Therianer, ein Hybrid.“

„Aha und was ist die andere Hälfte?“

„Mensch.“

„Mensch? Ah, ich weiß, du meinst Mortatia, oder?“

„Ja.“ Irgendwie war das hier gerade mehr als nur seltsam. Kovu kannte keine Scheu, nicht so wie ich, die immer irgendwie versuchte, höflich zu bleiben – naja, fast immer.

„Aber Mortatia ist doch jeder von uns, jedes Wesen hat diese Hälfte“, erklärte er.

„Ich habe eben mehr als andere davon.“

„Ah, verstehe, wenn du nur zur Hälfte Therianer bist, dann bist du … hm … ein Viertel Katze und drei Viertel Mortatia, ist das richtig so?“

So genau hatte ich darüber eigentlich noch gar nicht nachgedacht. „Könnte sein.“

Kovu rutschte leicht hin und her. Dabei rutschten meine Finger über seinen Rücken. Sollte das wieder eine Aufforderung zum Kraulen sein? Irgendwie war mir nicht wohl dabei.

„Ist irgendwie seltsam.“

Seltsam war ja gar kein Ausdruck. Alles hier war seltsam, nur ich nicht. Zumindest von meinem Standpunkt aus gesehen. „Eigentlich nicht.“

Als er wieder sehr nachdrücklich mit dem Körper ruckelte, gab ich schließlich nach. Auch wenn es komisch war, bewegten meine Finger sich vorsichtig über seinen Rücken und sein erleichtertes Seufzen ließ mich lächeln. Zwar wusste ich, dass Werwölfe auf so viel Körperkontakt standen, trotzdem war mir so viel Nähe fremd und auch irgendwie unangenehm. Ich glaubte nicht, dass ich mit den gleichen Mentalitäten wie die Wölfe aufgewachsen war.

„Da, wo ich herkomme, sind alle zu hundert Prozent Mortatia.“ Da war ich mir sicher.

„Das muss ein komischer Ort sein.“

„Für dich vielleicht, für mich ist hier alles seltsam. Ich meine, ihr habt zwei Sonnen, die kurz nacheinander auf und untergehen. Das musste ich erst mal in meinen Kopf bekommen. Und dann die Magie erst.“ Die straffe Haut fühlte sich unter meinen Fingern glatt an, ich konnte seine Muskeln spüren, als ich eine Bahn hinauf zu seinen Schultern zog. „Damit klarzukommen, ist für mich nicht gerade einfach.“

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht“, überlegte er laut. „Und? Wie hast du deine ganzen Erinnerungen wieder bekommen?“

„Nicht meine ganzen, nur ein paar.“ Ein neuer Geruch stieg mir in die Nase. Er hatte nichts mit dem Staub in der Luft zu tun, oder dem quirligen Wolf auf meinem Schoß. Er kroch langsam von der Tür heran und ich wusste sofort was es war, nur nicht was ich davon halten sollte.

„Dann eben nur ein paar. Erzähl mir trotzdem davon. Wie war dein Leben früher?“

„Das ist nicht so einfach zu erklären, es sind nur Bruchstücke, weißt du.“ Ich seufzte und ließ meinen Blick zur offenen Tür gleiten. Auch wenn ich ihn nicht sah, ich wusste dass er da stand. „Wenn du zuhören möchtest, komm rein, lauschen gehört sich nicht“, teilte ich der leeren Luft mit und fragte mich, woher ich plötzlich die Courage hatte, sonst traute ich mich doch auch nicht so mit ihm zu sprechen.

Kovu drehte den Kopf und grinste zu mir nach oben. „Du weißt dass er da steht?“

„Damit, dass die Magie in mir erwacht ist, haben sich auch meine Sinne verstärkt. In Sternheim habe ich einen Mentor, einen Therianer, der mir beigebracht hat, mit diesen Sinnen zurechtzukommen. Ich kann ihn riechen, ihn und noch viel mehr.“ Meine Fingerspitzen glitten immer noch über Kovus Rücken, als ich den Blick wieder zur Tür hob. Und da stand er. Hellbraunes Haar, gelben Augen, durchtrainiert. Die lange Narbe an seiner Hüfte konnte ich trotz des Lendenschurzes sehen. Ob er mir verraten würde, woher er sie hatte, wenn ich danach fragte? Wohl eher nicht.

„Im Nacken“, sagte er.

Verwirrt zog ich die Stirn kraus. Hä? „Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“ Andere Leute sagte ja Hallo, aber er nicht. Irgendwie typisch Veith.

Er stieß sich vom Türrahmen ab, hockte sich neben Kovu und nahm meine Hand, um sie in den Nacken von dem Kleinen zu legen – obwohl klein hier ein relativer Begriff war. Automatisch spannte ich mich an. Ich wusste nicht was ich davon halten sollte, dass hier alle so frei mir Berührungen umgingen.

„Kovu hat es am liebsten, wenn er im Nacken gekrault wird“, sagte Veith und ließ sich dann mir gegenüber in den Schneidersitz fallen.

Puh, zum Glück lag Kovu noch zwischen uns – obwohl er ja eigentlich auf mir drauf lag. „Und das weißt du, weil du ihn selber so oft kraulst, oder was?“, fragte ich ein wenig bissig, ließ meine Hand aber an Kovus Haaransatz und stellte erfreut fest, dass er eine Gänsehaut bekam. Das schien er wirklich zu mögen. Wie bei einem Hund, schoss es mir durch den Kopf. Ich verkniff es mir, das laut auszusprechen, ich hing nämlich an meinen Gliedmaßen – an ihnen allen.

„Wenn er keinen anderen findet, kommt er bei mir an.“ Seine Augen waren misstrauisch auf meine Hand gerichtet. Entweder hatte er etwas dagegen, dass ich den Kleinen berührte, oder ich machte es nicht zu seiner Zufriedenheit. Ich tippte auf ersteres, allein schon wenn ich daran dachte, wie er Kovu auf dem Geburtstag der Drillinge daran gehindert hatte, zu mir zu kommen. Das war immer noch ziemlich bitter.

„Und du machst das dann auch?“ Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen. Um ehrlich zu sein, war der Gedanke an Veith etwas Weiches zu finden so absurd, dass er aus einem anderen Universum zu stammen schien und Kraulen war nun mal mit einer gewissen Sanftmut verbunden.

„Für irgendwas müssen große Brüder ja gut sein“, kam es von Kovu.

Verdutzt sah ich zu dem Kleinen runter. „Ihr seid Brüder?“ Wirklich? Die beiden sahen sich so gar nicht ähnlich. Veith hatte überall Kanten und Kovu war einfach nur weich. Veith war unfreundlich und Kovu schien alle und jeden sofort in sein Herz zu schließen. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, nur die Haarfarbe war gleich und die Tatsache, dass sie sich in Wölfe verwandeln konnten, aber dass traf in diesem Lager auf jeden zu. Naja, mich und Domina einmal ausgeschlossen.

Veith brummte nur etwas, dass man als Zustimmung werten konnte.

„Sieht man doch“, war Kovus Kommentar.

„Ja, weil ihr beide euch so unglaublich ähnlich seht.“ Ob sie Sarkasmus verstanden? So wie Kovu grinste, war das ein definitives Ja.

„Aber jetzt genug von uns“, kam es dann von dem Kleinen, „das kenne ich alles schon, das ist langweilig. Du wolltest mir gerade erzählen, wie du deine Erinnerungen gefunden hast und was das für welche sind.“

Wollte? Ich sollte ihm wohl mal erklären, was dieses Wort bedeutete, weil das hier ja schon fast eine Nötigung war und mit wollen nicht viel zu tun hatte. „Ich habe mich hypnotisieren lassen und bin so in den Korridor meiner Erinnerungen gekommen, in meinem Unterbewusstsein.“ Ich tippte mir mit der freien Hand gegen den Kopf. „Da hängen ganz viele Bilder und … das ist schwer zu erklären“, endete ich etwas lahm, auf Kovus verständnislosen Blick.

„Du hast einen Korridor in deinem Kopf?“

„Nein, natürlich nicht, es ist bildlich gesprochen, aber doch irgendwie real, verstehst du?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, keinen blassen Schimmer.“

Ich gab ein leicht frustriertes Geräusch von mir. „Wie schon gesagt, ist nicht so einfach zu erklären. Man muss es sehen, um es zu verstehen.“

Sein Gesicht hellte sich auf. „Na, dann ist es doch ganz einfach.“ Aus dem Liegen sprang er auf die Beine, riss mich an den Händen hoch und dann wurde ich wieder quer durch das Haus geschliffen. Dabei beachtete er meine Proteste gar nicht und auch nicht, dass ich mich auf der Treppe fast lang legte, als er zu hastig um die Ecke schoss.

Wir blieben in der ersten Etage, wo ich vor eine schlichte Tür gezogen wurde, genau gegenüber von dem Bad, in dem ich Pal kennengelernt hatte. Aber Kovu blieb hier nicht stehen, er riss die Tür auf, zog mich in den Raum und schubste mich dann praktisch auf das schmale Bett an der Wand – okay, so schlimm war es dann doch nicht, er drückte mich einfach darauf, bis ich auf dem Hintern saß.

Dann ließ er mich einfach sitzen, eilte zu einem Regal, auf das er fast raufkletterte, als er nicht gleich fand was er suchte. Mit einem „A-ha!“ sprang er zurück und hielt triumphierend etwas Kleines, Schwarzes in die Luft, dass er mir ohne lange zu fackeln in die Hand drückte. Ein etwa handgroßes, schwarzes Holzstück in einer ovalen Form, mit einem aus Metall eingelassenen Muster. Eine Azalee. Als ich mich im Raum umsah, entdeckte ich auch ein Flimmerglas an der Wand gegenüber dem Bett. Nicht annähernd so groß wie das aus dem Rudelhaus, eher so wie ein normaler Fernseher.

Ich sah mich weiter in dem kleinen Zimmer um, während Kovu weiter in dem Regal nach etwas stöberte und als er dort nicht fand, wonach er suchte dazu überging, die Kommode unter dem Flimmerglas genauer in Augenschein zu nehmen. „Ich weiß genau, dass er noch welche hat, ich hab ihn heute Morgen damit gesehen, aber er versteckt sie immer vor mir.“

Der Raum war schlicht und freundlich, alles aus Holz, leicht rustikal, aber nicht hässlich. „Wem gehört das Zimmer?“, hörte ich mich fragten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es von Kovu war, bei ihm stellte ich mir eher etwas chaotisches vor. Hier war es einfach zu ordentlich.

„Mir“, sagte Veith und betrat den Raum, direkt Richtung Kovu.

Das war Veiths Zimmer? Oh Mann, mir blieb auch gar nichts erspart. Irgendwie begann ich mich plötzlich leicht unwohl zu fühlen. Ich saß hier in Veiths Zimmer, in Veiths Bett, mit Veiths Azalee in der Hand. Schluck. Hoffentlich würde er mich dafür nicht gleich auffressen.

Aber er schien ganz anderes im Sinn zu haben, strafte mich mal wieder mit Nichtbeachtung – warum auch immer – und packte Kovu nachdrücklich an seinem Zopf, um ihn von seiner Kommode wegzuziehen.

„Hey, ich will …“

„Ich weiß.“ Veith drehte ihn um und gab ihn einen Stoß Richtung Bett. „Setz dich hin, bevor du dir noch wehtust.“

Das ließ der Kleine sich nicht zweimal sagen. Breit grinsend sprang er neben mich auf die Matratze und legte sich dann auf dem Bauch, wieder mit dem Kopf in meinem Schoß. Sollte das hier jetzt ´nen Running Gag werden? „Na, dann zeig uns mal den Korridor mit den Bildern.“

Ach, deswegen hatte er mich durchs ganze Haus gezerrt. Wäre ja auch zu einfach gewesen, es mir einfach gleich zu sagen.

Veith holte eine kleine Schachtel aus der untersten Schublade seiner Kommode heraus und setzte sich dann zu uns in das kleine Bett, nachdem er Kovus Beine zur Seite geschoben hatte. Da es sehr schmal war, rutschte ich bis an die Wand zurück – ich hatte nämlich keine Lust, Veiths Laune zu erleben, sollte er wegen der Enge auf den Boden klatschen. Den kleinen Rucksack nahm ich aber vorher ab, damit es nicht im Rücken drückte. Es war zwar sehr … nennen wir es kuschelig, aber wir hatten wenigstens alle Platz. Und viel wichtiger, Veith war mir nicht so nahe, weil der Kleine – Gott sei Dank – wieder eine Barriere bildete.

Veith tockte mit einer kleinen Holzschachtel auf Kovus Kopf, die ihm auch sogleich von dem Kleinen entrissen wurde.

„Boas Hatzelteilchen“, grinste er, öffnete das kleine Kästchen und hielt mir etwas unter die Nase, was mich an ein aufgeblähtes, bernsteinfarbenes Plätzchen erinnerte. Als Kovu bemerkte, dass ich das Teil von allen Seiten misstrauisch begutachtete, fing er doch glatt an zu lachen. „Das kannst du gefahrlos essen.“ Mit einem schelmischen Blick machte er es mir vor und sah mich dann abwartend an.

„Auf deine Verantwortung.“ Nur eine kleine Ecke landete in meinem Mund. Es schmeckte süßlich, mit einer Note, die mich entfernt nach Vanille erinnerte, doch was genau das war, wollte ich nicht fragen, nicht nach den Rothoden. Zwar war es nicht so gut wie Boas Piru, aber durchaus essbar.

Kovu lachte über mein Benehmen, drückte mir aber ein zweites Hatzelteilchen in die Hand, kaum dass das erste in meinem Mund verschwunden war.

„Wolltest du uns nicht irgendwas zeigen?“, brummte Veith unhöflich.

Ich verkniff es mir, irgendwas darauf zu erwidern. Wahrscheinlich wollte er einfach nur, dass ich mich beeilte, damit ich schnell wieder aus seinem Zimmer kam. Mann, was hatte ich ihm bloß getan? Abgesehen von meiner störenden Anwesenheit natürlich.

Ich legte die Azalee auf Kovus Rücken und positionierte meine Finger gekonnt auf den kleinen, versilberten Schnörkeln. Das Flimmerglas erwachte sofort zum Leben, als ich meine Erinnerungen mit meiner ersten Hypnosesitzung begann.

Es fing an mit dem kleinen Licht, dann der helle Raum mit der Tür, die sich einfach nicht öffnen lassen wollte. Kovu fand das so witzig, dass er sich vor Lachen an einem Hatzelteilchen verschluckte. Geschah ihm ganz recht. Doch als er dann den Korridor mit den Bildern meiner Erinnerungen sah, staunte er nur.

„Das ist toll.“

„Ja, cool, nicht?“

Wieder zeigte sich die Verwirrung in seinem Gesicht, die die Leute um mich herum immer bekamen, wenn sie ein Wort nicht verstanden. „Cool?“

„Das bedeutet toll, fantastisch, außerordentlichen, genial. Cool eben“, erklärte ich.

„Cool.“ Er probierte wie sich das Wort auf seiner Zunge anfühlte, lächelte dann wieder breit und nickte. „Ja, cool.“

Der Kleine war echt niedlich.

Als erstes zeigte ich ihnen die Erinnerung von mir als kleines Mädchen auf dem Jahrmarkt. Dann kam Jenn, meine Mutter – zumindest glaubte ich in der Zwischenzeit, dass die blonde Frau, mit der Taylor sich gestritten hatte, meine Mutter war –, Taylor. Als ich ihn zeigte, verbot ich mir jegliche Reaktion, sah stur geradeaus, doch ich konnte die Blicke der beiden spüren. Der Gedanke an ihn machte mir immer noch zu schaffen. Es war einfach diese Ungewissheit. Ja, er war tot, da war ich mit ganz sicher, aber ich wusste immer noch nicht, warum. War es eine Krankheit? Ein Unfall? Oder etwas, worüber ich gar nicht näher nachdenken wollte? Es gab so viele Möglichkeiten und ich hatte Stunden damit zugebracht, sie durchzugehen, nur um am Ende genauso ahnungslos dazusitzen, wie am Anfang.

Ich seufzte und schaltete um zu anderen Erinnerungen, zeigte den beiden Bildern von meiner Zeit in Sternheim, von Erion und Anwar, von Kaj und Djenan. Und Ghost durfte natürlich auch nicht fehlen. Kovu war von der Stadt am meisten fasziniert, gab immer wieder Kommentare ab. Seine Begeisterung war mit Händen zu greifen, was bei Veith nur diese vertraute Falte auf die Stirn trieb. Sonst hielt er sich aber zurück. Er hatte noch keinen Ton von sich gegeben, seit meine Erinnerungen über das Glas liefen.

Ein wenig zeigte ich ihnen auch von meinem Unterricht bei Djenan, was Kovu immer wieder in Lachstürme ausbrechen ließ und ein zwei Mal glaubte ich auch bei Veith ein Funken Belustigung zu entdecken. Ich konnte mich aber auch täuschen, weil ich einfach darauf hoffte, bei ihm irgendeine Art von Reaktion auszulösen. Warum eigentlich?

„Zeig mir noch mal den Korridor“, verlangte Kovu. Inzwischen hatte er sich neben mir an die Wand gelehnt und steckte sich nach einem schnellen Blick auf seinen Bruder – das bekam ich irgendwie immer noch nicht in meinen Kopf, das war unfassbarer, als die zwei Sonnen, die bei Tag am Himmel standen – noch ein Hatzelteilchen in den Mund.

„Okay.“ Ich überlegte einen Augenblick und zeigte ihnen dann die schwarzen Bilder, die verschwommenen und körnigen.

Kovu beugte sich ein wenig vor, als glaubte er, dass etwas mit seine Augen nicht in Ordnung war. „Was ist mit den Bildern?“

„Ich weiß nicht. Manche sind einfach schwarz, andere ganz zerstört, hier“, ich rief das zerbrochene Bild von Sven auf und sobald ich ihn vor Augen hatte, raste mein Herz plötzlich wie damals los, aber ich konnte dieses Gefühl immer noch nicht richtig zuordnen. Es war schlecht, auf jeden Fall, aber warum? Vermisste ich ihn, oder mochte ich ihn einfach nicht? „Es ist zerbrochen. Ich konnte es nicht berühren, dann wäre es ganz verschwunden gewesen.“ Zum Glück klang meine Stimmer fester als ich mich fühlte, ich hatte nämlich keine Lust dumme Fragen zu beantworten, deren Lösung ich eh nicht parat hatte.

„Warum hast du Angst?“, wollte Veith dann aus heiterem Himmel wissen. Diese Falte stand wieder auf seiner Stirn und auch Kovu sah mich irgendwie seltsam an.

„Wer sagt denn dass ich Angst habe?“ Konnte es wirklich das sein, was ich fühlte? Hatte ich Angst vor Sven? Wenn ja, warum?

„Ich kann es riechen“, erklärte Veith, „du dünstest es aus jeder Pore aus.“

Auf einmal war da Kovus Hand an meiner Wange, strich darüber, als wollte er mich trösten, doch ich zuckte davor zurück, ich wollte es nicht. Sie sollten mich nicht ständig anfassen. „Du brauchst dich nicht zu fürchten“, sagte der Kleine, „wir passen auf dich auf.“

Aber sicher doch. Sobald sie hatten, was sie wollten, würden sie mich wieder im Stich lassen und vergessen, dass ich ihnen helfen wollte, dass ich sie, aus welchen Gründen auch immer, mochte. Ich war nicht dumm, ich wusste, dass das nur ein kurzes Bündnis war, das bei der kleinsten Kleinigkeit wieder brechen würde, so sehr ich mir auch das Gegenteil wünschte.

Ich gehörte einfach nicht zu ihnen und daran würde sich nie etwas ändern.

„Talita?“ Kovu beugte sich vor, um mir ins Gesicht zu sehen, aber ich ignorierte es einfach.

„Ich weiß nicht, ob ich Angst vor ihm hab“, sagte ich fest, „und es ist auch egal. Er ist nicht hier, es ist Vergangenheit.“ Ich konnte mir noch so sehr wünschen, dass mich das Wissen über mein früheres Leben ereilte, es würde nicht geschehen, nicht wenn es weiter so lief wie bisher.

Da ich keine Anstalten machte, ihnen weitere Dinge zu zeigen, nahm Kovu mir zögernd die Azalee aus der Hand und zeigte uns Dinge aus dem Rudelalltag, witzige Dinge, an denen ich niemals teilhaben würde, weil ich nicht zu ihnen gehörte.

Ich wusste nicht, wie lange wir da noch saßen, aber irgendwann wurde mein Kopf schwer, meine Augen fielen mir zu. Ich merkte noch, wie ich zur Seite sackte, wie ich mich an den Kleinen lehnte und dann war ich einfach weg.

 

°°°°°

Tag 66

Am nächsten Morgen stand ich mit Tyge, Veith, Pal und Prisca am Rand des Waldes. Es war kurz vor unserem Aufbruch. Auch Julica, die Wölfin, die uns begleiten sollte, war dabei. Ich hasste sie, sobald ich sie sah. Sie war viel zu schön um wahr zu sein. Der Anblick, der einen Mann sabbern ließ und sie zu törichten Aktionen inspirierte. Langes schwarzes Haar, hohe Wangenknochen, Schmollmund und verheißungsvolle Augen. Den Körper einer Göttin bewegte sie, als gehöre ihr die Welt. Julica war all das, was ich nicht war. Okay, vielleicht hasste ich sie nicht, aber das zu sagen war immer noch besser, als zugeben zu müssen, dass man neidisch war.

„ …Rudeln gesprochen“, erklärte Prisca gerade. „Ihr habt fünf Tage, dann werdet ihr euch mit ihnen auf der Sonnenlichtung treffen, um ihnen zu erklären, was ihr wisst und nachzuforschen, welche nützlichen Informationen sie haben könnten. Julica wird mich auf diesem Treffen vertreten. Und sie wird es gut machen.“ Ein Lächeln wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte, erhellte Priscas Gesicht. Ein Lächeln voller Liebe. Iii Schmalz. Jetzt mochte ich die umwerfende Verführerin noch weniger.

„Oh Mamá“, stöhnte Julica.

Mamá? Das wurde ja immer besser! War in diesem Lager eigentlich jeder miteinander verwandt? 

In einer liebevollen Geste tätschelte Prisca ihrer Tochter die Wange und wandte sich dann ab. „Also dann geht. Ich erwarte morgen Abend den ersten Bericht.“

Pal salutierte übertrieben ernst und dann begann das Ausziehen. Ich wandte den Wölfen den Rücken zu und tauchte in den Wald ein. Sie würden keine Schwierigkeiten haben, mich zu finden, aber ganz ehrlich, mit diesem mangelnden Schamgefühl kam ich einfach nicht klar. Sich einfach vor allen nackt zu machen, als legte man nur eine Jacke ab. Gott nein, also das brauchte ich wirklich nicht.

Heute Morgen, nach dem Aufwachen, war es mir tatsächlich noch gelungen, dem Dachboden einen kleinen Besuch abzustatten, aber bis auf einen Glassplitter in meinem Fuß hatte ich nichts gefunden. Wo der wohl hergekommen war? Dort oben hatte ich nichts mit Glas gesehen.

Eigentlich war ich ja nur nach oben geflüchtet, weil ich beim Aufwachen entdeckt hatte, wo genau ich lag, besser gesagt bei wem. Ich war gestern doch einfach weggepennt! Heute Morgen lag ich halb unter Kovu begraben neben Veith. Ich hatte tatsächlich mit den beiden in dem kleinen Bett gepennt! Und noch viel unglaublicher, Veith hatte sich nicht daran gestört! Das konnte ich noch immer kaum glauben. Trotzdem musste ich zugeben, dass ich schon lange nicht mehr so gut genächtigt hatte und Veith einmal schlafend zu sehen, so völlig entspannt, war mal ein ganz neues Gefühl gewesen. Ich hatte ihn mir angucken können, ohne dass er sich daran stören konnte.

Mich zwischen den beiden heraus zu graben funktionierte natürlich nicht, ohne sie zu wecken. Naja, Veith war aufgewacht, hatte mich komisch angeguckt, aber nichts weiter gesagt, als ich über ihn aus dem Bett geklettert war. Kovu dagegen hatte nur einen lauten Schnarcher von sich gegeben und sich auf seinen großen Bruder gerollt. Die Flucht nach draußen war mein einziger Ausweg gewesen und somit hatte ich noch genug Zeit gehabt, mich auf dem Dachboden umzusehen. Erfolglos, leider.

Ich war nur ein paar Minuten unterwegs, als es hinter mir knackte und ein riesiger, roter Wolf mit einem braunen Beutel auf dem Rücken an meine Seite sprang – Gepäck auf Wolfsart. „Und du bist der Meinung, dass du mit uns mithalten kannst?“

„Mit dir rede ich nicht“, sagte ich ohne ihn anzusehen und stolperte deswegen fast über eine herausragende Wurzel.

„Aber um mir das zu sagen, hast du gerade geredet.“ Er wartete, doch ich schwieg eisern. Auf das Spielchen wollte ich mich nicht einlassen. „Ach komm schon, Talita. Ich musste gehen. Papá und Anwar waren aneinandergeraten und Veith und ich mussten ihn nach draußen bringen, sonst wäre es eskaliert.“

„Das ist keine Entschuldigung“, warf ich ihm vor – so viel zum Thema eisern schweigen. Dass er mich so im Stich gelassen hatte, tat immer noch weh. Gerade von ihm hätte ich das nicht erwartet. „Du hättest zurückkommen und Tschüss sagen können, aber das hast du nicht.“

Pal trappte ein wenig schneller. „Glaubst du wirklich, dass Anwar mich noch einmal ins Haus gelassen hätte? Er kann Lykaner nicht leiden, für ihn sind wir nichts als Tiere.“

Bei seinen Worten musste ich an Anwars Ausbruch nach dem Besuch des Steinbachrudels – ja, ich habe mir den Namen endlich gemerkt, ich bin halt doch noch lernfähig – denken und musste mir leider eingestehen, dass es sein könnte, dass Pal nicht ganz unrecht hatte. Okay, Pal hatte eindeutig recht und das ärgerte mich, aber das würde ich ihm sicher nicht sagen. „Wie machst du das nur?“

„Was?“

„Dafür zu sorgen, dass ich dir nicht lange böse sein kann.“ Denn nach dieser Erklärung konnte ich das nun wirklich nicht mehr. So kleinkariert war ich dann doch nicht. „Das ist einfach schrecklich.“

Er stellte die Ohren auf. „Heißt das, dass du mir mein Versäumnis verzeihst?“

„Vielleicht.“

Wir grinsten uns an. Verdammt, diesem Wolf zu widerstehen war aber auch schwer. Ich wusste schon, warum ich ihn so gerne hatte. Pal nicht zu mögen war, als versuchte man mit dem Finger ein Loch in einen Stein zu bohren. Es war nicht unmöglich, doch wozu sollte sie Anstrengung gut sein?

Von hinten kann eine nachtschwarze Wölfin angerannt und fragte mit Julicas Stimme: „Worüber redet ihr gerade?“ Auch sie hatte so einen braunen Beutel wie Pal auf dem Rücken. Aha, heute reisten die Wölfe also mit Gepäck. Das konnte nur heißen, dass sie einen längeren Aufenthalt in Sternheim planten. Ich würde mich sicher nicht beschweren. Ganz im Gegenteil, ich musste aufpassen, dass ich nicht im Kreis grinste und vor Freude durch die Gegend hüpfte. Es freute mich und machte mir ein unheimliches Glücksgefühl.

„Und?“ Julica sah zwischen uns beiden hin und her. Offensichtlich mochte sie es nicht, ignoriert zu werden. Aber mal ehrlich, wer tat das schon?

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Mit ihrer aufdringlichen Art, machte sie sich bei mir nicht gerade beliebter. Keine Ahnung warum, aber diese Wölfin hatte was an sich, das bei mir Abneigung aufkommen ließ. Wie Djenan es mir beigebracht hatte, ließ ich die Magie aus dem Punkt in meiner Brust in jede Zelle meines Körpers fließen und verwandelte mich. Mit lächelnden Augen sah ich Pal an. „Ja.“

„Was ja?“

„Ich bin mir sicher dass ich mit euch Wölfen mithalten kann.“ Und dann rannte ich los, setzte über einen Baumstamm hinweg und raste durchs Unterholz. Hinter mir lachte Pal, holte dann schnell auf. Veith und Tyge – ein  hellbrauner Wolf, mit schwarzen Pfoten und einer schwarzen Schnauze. Hatte ich den nicht schon mal gesehen? – überholten mich links und rechts. Julica stieß etwas aus, das nur ein Freudenruf sein konnte und tat es ihnen gleich.

„Du kannst also … mithalten?“, hechelte der große Rote neben mir.

„Darauf kannst du … Gift nehmen.“ Ich startete richtig durch und rannte dann mit vier Wölfen durch den Wolfsbaumwald.

Ich glaubte nicht, dass ich mich in meinem Leben schon einmal so frei gefühlt hatte.

 

°°°

 

„Siehst du ihn?“

„Ja, ich sehe ihn.“ Da ganz oben, hoch in der Baumkrone, hing ein grünes Etwas, das aussah wie eine Echse mit Flughäuten und einem Hörnchen auf der Schnauze. Es erinnerte mich stark an einen handgroßen Flugsaurier. Mitten auf der Stirn hatte es einen leuchtend, roten Fleck, der in einen Streifen auf seinen Rücken überging. „Und das ist eine Fledermaus?“ Die hatte so gar nichts mit den Viechern gemeinsam, die ich kannte.

Pal schüttelte seinem riesigen Wolfsschädel. „Nicht Fledermaus, Ledermaus, wegen den ledrigen Flughäuten.“ Er versuchte die Stirn zu runzeln, was ziemlich witzig aussah. „Was soll denn Fleder sein?“

Fleder? Ach so, von Fledermaus. Ich zuckte nur mit den Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht wegen fliegen und Leder, zusammengesetzt, verstehst du? Fleder.“ Klang doch irgendwie logisch.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, lenkte meine Schritte den andern hinterher. Von Tyge und Julica waren nur die Schwanzspitzen zu sehen. Sie texte ihn schon die ganze Zeit zu, wofür sie immer nur ein Brummen von ihm bekam. Ich hegte den Verdacht, dass sie ihm mit ihrem Gelaber einfach nur auf den Sack ging.

Veith lief bereits die ganze Zeit direkt vor mir und Pal, was mich ziemlich verwirrte. Er sagte zwar nichts, doch normalerweise mied er mich wie die Pest. Keine Ahnung, warum mich seine Anwesenheit heute so verunsicherte und das ärgerte mich. Warum konnte er nicht bei den anderen laufen?

„Logisch ist auch anders“, teilte mir Pal mit und trappte neben mir her.

Und das kam von einem Werwolf. Da konnte man nur noch den Kopf schütteln. Eine Ledermaus. Aber müsste es dann nicht eigentlich Lederechse heißen? Ich sah zurück zu dem grünen Winzling, der sich von uns nicht hatte stören lassen und weiter schläfrig in dem Wolfsbaum hing. Da kam mir etwas in den Sinn. „Warum heißen die Wolfsbäume eigentlich Wolfsbäume. Ich meine, klar, ihr lebt hier, aber der Name ist doch ein wenig einfallslos.“ Nicht das sie hier mit den Namensgebungen sonderlich kreativ waren, man erinnere sich da nur an das Drachengebirge.

„Sie sind wir“, kam es sehr kryptisch von ihm.

Da gab es nur eines, was ich erwidern konnte. „Hä?“ Sollte das jetzt heißen, dass die Wölfe in Wirklichkeit Bäume waren? Oder das die Bäume hier jederzeit Zähne entwickeln könnten. Das traurige an diesem Gedanken? Er war zwar nicht sonderlich erfreulich, aber ich konnte es mir geradezu vorstellen, wie ihnen plötzlich Zähne und Krallen wuchsen, wie sich Äste und Blätter unter Knacken und Rascheln vorbeugten, um sich ein ahnungslos vorbeilaufendes Opfer zu schnappen, um ihren Hunger zu stillen.

Schluck.

Vorsichthalber nahm ich ein wenig Abstand zu den Stämmen, was gar nicht so einfach war, da ich mitten in einem Wald war.

Pals Augen funkelten bei meinem Verhalten belustigt. „Wenn ein Lykaner stirbt, wird er in diesem Wald gebracht. Wir vergraben ihn, geben ihn und seine Magie der Erde zurück und aus seinen sterblichen Überresten wird ein Wolfsbaum, der uns ein Zuhause und Schutz bietet.“

„Soll das heißen, ich latsche hier über einen Friedhof?“ Dann war ich ja auf dem Weg hierher in toten Wölfen rumgeklettert. Irgendwie verursachte dieser Gedanke mir leichte Übelkeit.

„Nein, das hier ist kein Friedhof. Auf einem Friedhof gibt es kein Leben“, kam von Veith.

Ich war so überrascht davon, dass er den Mund – die Schnauze? – aufgemacht hatte und dann auch noch etwas gesagt hatte, ausgerechnet zu mir, dass mir fast die Kinnlade runterfiel.

„Was Veith damit sagen möchte“, erläuterte Pal weiter, „Bäume sind lebendige Wesen. Ja, sie sind durch einen toten Körper entstanden, aber jetzt wohnen in ihnen die Seelen unserer Verstorbenen und wachen über uns.“

Die Bewachung sollten sie dann aber noch mal üben, wenn ich da nur an Isla dachte. „Das alles hier sind tote Wölfe?“ Ich ließ meinen Blick einmal um uns herum wandern. Dieser Wald musste tausende und abertausende Wolfsbäume beherbergen.

„Es sind alles lebende Seelen“, korrigierte Pal mich.

Danach zu fragen, wie das möglich war, wäre reinste Verschwendung von Atem gewesen. Die Antwort war doch ganz klar, Magie.

Ich streckte meine Hand aus und berührte die trocknende Rinde eines Wolfsbaums. Er fühlte sich ganz normal an, nichts deutete darauf hin, dass er mehr als nur ein Baum war, aber wie hatte Veith mal so schön gesagt? Magie war Leben und Bäume lebten nun mal. „Es sind so viele.“

„Dieser Wald wächst ja auch schon seit Jahrtausenden. Und er wird immer größer, da auch andere Rudel ihre Verstorbenen hierher bringen.“

Das überraschte mich jetzt doch. „Ich dachte, fremde Wölfe dürfen euer Territorium nicht betreten.“

„Tun sie auch nicht. Sie begraben die Ihrigen am Rand des Waldes und so wird das Gebiet immer größer. Wir sind auch nicht das einzige Rudel, das unter den Wolfsbäumen lebt, nur wir befinden uns im Zentrum. Vor langer Zeit waren wir die ersten hier.“

„Hier gibt es noch mehr Rudel?“

Pal nickte. „Die Felswölfe leben in Höhlen am äußeren Rand im Süden und im Westen haben wir das Steinbachrudel. Auch sie leben in diesem Wald.“

Felswölfe? Das kam mir irgendwie bekannt vor. Ich brauchte einen Moment um darauf zu kommen. Atzaklee und ihre kleine Liaison mit dem Typen am Bach, das war ein Felswolf gewesen. Zumindest hatte Pal ihn als einen bezeichnet.

Der Wald musste noch größer sein, als ich mir das vorgestellt hatte. So revierfixiert wie die Lykaner waren, würden sie sonst gar nicht nebeneinander wohnen können, ohne sich die Köpfe einzuschlagen.

Ich ließ meine Hand von der rauen Rinde gleiten und sah zu, dass ich den anderen hinterher kam. „Der Gedanke an Bäume als Mahnmale ist trotzdem seltsam.“

„Nur für dich.“ Er rempelte mich spielerisch von der Seite an.

„Hey!“ Dem ging es wohl zu gut. „Noch so ´nen Ding, Augenring.“ Ich guckte ihn gespielt böse an, achtete dabei nicht auf den Weg und stolperte prompt über eine Wurzel. Mit den Knien voran schlug ich auf dem Boden auf und sog zischend die Luft ein. Da lag ein kantiger Stein und ich hatte ihn genau getroffen. Er grub sich sehr schmerzhaft in meine Haut.

„Was machst du denn da?“ Pal kam zu mir getrappt und stupste mit der Nase in die Wange.

„Also, du hast auch schon mal intelligentere Fragen gestellt.“ Grummelnd ließ ich mich auf den Hintern fallen, um mir den Schaden an meinem Knie anzusehen. Das erste, was ich bemerkte, war das Blut und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich Blut nicht mochte, besonders nicht, wenn es mein eigenes war. Das war so rot und … blutig. Da konnte einem glatt schlecht werden. Tapfer behielt ich mein Frühstück da, wo es hingehörte, in meinem Magen.

„Uhhh, das sieht schlimm aus“, kommentierte Pal.

Ich warf ihm einen weiteren bösen Blick zu. „Ganz ehrlich? Werde niemals Vater, denn im Trösten bist du eine Niete.“

Dafür bekam ich von ihm ein breites Wolfsgrinsen. So richtig mit ganz vielen Zähnen, dem etwas leicht Verrücktes anhafte und mich an einen Psychopath denken ließ.

Als ich etwas Feuchtes an meinem Knie spürte, wandte ich überrascht den Kopf und bekam fast einen Herzinfarkt, als ich Veith sah, der über die Wunde leckte. Ich war so geschockt, dass ich nichts weiter tun konnte, als blöd aus der Wäsche zu gucken und still zu halten. Wollte er mich fressen? War das nur ein Vorgeschmack, den er sich holte? Das war … ich sollte … er musste …

Pal schnappte nach Veith und grollte tief aus der Brust. „Bleib weg von ihr!“

Ich konnte nur zusehen, wie Veith seinem Cousin auswich, einen Schritt zurück machte und mir genau in die Augen sah. Genau wie heute Morgen, mit diesem undefinierbarem Blick, bei dem ich mich innerlich zu winden begann. Mein Herz schlug so wild in meiner Brust, als hätte es vor, demnächst schreiend davonzulaufen. Ich hatte Angst, ganz klar, aber warum fühlte es sich dann so seltsam an?

„Jetzt ist die Wunde sauber“, sagte er nur und wandte sich unter Pals Knurren einfach ab.

Ich blieb sprachlos zurück und konnte es einfach nicht glauben, was da gerade passiert war. Sollte das etwa heißen, dass er mir geholfen hatte? Veith? Das war etwas so Unfassbares, dass mir eine solche Möglichkeit einfach nur absurd vorkam. Aber Moment, nein, das war nicht das erste Mal gewesen. Er hatte mich auch aus dem Baumstamm gezogen, nachdem ich vor Es davongelaufen war. Hab keine Angst. Vertrau mir, es ist sicher. Seine Worte waren damals so sanft gewesen, genau wie jetzt, genau wie vor Anwars Haus. Es ist nicht egal. Dieser einfache Satz bedeutete mir so viel, dass ich sie immer bei mir trug. Er hatte es gesagt, so ernst. Meine Erinnerungen waren nicht egal, ich war nicht egal.

„Das nächste Mal beiße ich ihn“, grollte Pal und sah mich dann leicht besorgt an, wusste er doch, wie ich auf Nähe reagierte. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Du hättest ihn nicht wegbeißen müssen“, sagte ich leicht aggressiv und war darüber wohl nicht weniger erstaunt als er. Aber es stimmte, ich war eigentlich nur … überrascht gewesen. Von Veiths Seite aus hätte ich niemals mit sowas gerechnet.

Pal und ich sahen uns einfach nur an und in dem Moment, als ich zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, weil ich ihn so angefahren hatte, hörte ich nur ein lautes „Ich habe Hunger!“, von Julica, das wohl selbst einen Siebenschläfer im Winter geweckt hätte.

„Dann lasst uns jagen“, kam es von Tyge.

Ich seufzte und rappelte mich auf die Beine. Zum Glück tat das Knie nicht wirklich weh, nur ein leichtes Pochen. Damit würde ich problemlos jagen können. „Na wenn es sein muss.“

Das brachte mir mehrere verwunderte Blicke ein.

„Waaas?“, fragte ich genervt. „Glaub ihr, ich könnte das nicht? Djenan hat mir eine Menge beigebracht, auch das.“ Das ich nicht mit ihnen zusammen essen würde, musste ich ihnen ja nicht unter die Nase reiben, aber ich wollte nicht wieder zurückgelassen werden, nicht wenn ich daran dachte, was das letzte Mal passiert war. Zwar konnte ich in der Zwischenzeit besser auf mich aufpassen und den Weg gestern hatte ich auch allein zurückgelegt, aber wirklich wohl hatte ich mich  nicht dabei gefühlt.

Tyge brummte nur ein „Na dann los“, setzte sich in Bewegung und ignorierte Julica, die aufgedreht wie ein Welpe um ihn herum hüpfte. Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass sie eine erwachsene Frau war, oder es interessierte sie einfach nicht.

Eine Weile schlichen wir schweigend durch den Wald, horchten, witterten, achteten auf Bewegungen im Unterholz, die verrieten, wo wir – oder besser, sie – etwas zu fressen fanden, aber ein Tier auszumachen, das vier hungrige Wölfe satt bekam, war gar nicht so leicht zu finden. Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, als Tyge plötzlich verharrte, die Ohren aufstellte und auf etwas rechts von uns lauschte.

Ich tat es ihm gleich, richtete die Ohren auf und sog die Gerüche um mich herum ein. „Ein Wildschwein.“

„Unser Mittagessen“, spöttelte Pal und schlich weiter nach vorn.

Tyge machte mit der Schnauze eine Bewegung, woraufhin die Wölfe sich aufzuteilen begannen. Tyge und Pal schlichen nach links, Veith und Julica nach rechts – sie wollten die Beute einkesseln – und ich stand da und wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte.

Eigentlich wollte ich Pal hinterher, aber der war bereits mit Tyge zwischen den Büschen abgetaucht und ich befürchtete, zu laut zu sein und die Beute zu verscheuchen, wenn ich versuchte, ihn einzuholen. Veith und Julica dagegen sah ich noch, doch bei den beiden zu bleiben widerstrebte mir. Julica kannte ich nicht und Veith war … naja, Veith eben. Außerdem wusste ich immer noch nicht so recht, was ich von seiner Aktion mit dem Ablecken halten sollte. Es war … merkwürdig gewesen, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Lass dich nicht ablenken und entscheide dich endlich, sonst sind sie weg!

Ich wollte nicht mit Veith gehen, absolut nicht, er verunsicherte mich immer, also machte ich, dass ich den anderen beiden hinterher kam.

Ihr Geruch war sehr stark, ihnen zu folgen ganz einfach und trotzdem holte ich sie einfach nicht ein. Ich musste mich leise und vorsichtig bewegen, denn auch das Wildschwein war in der Nähe. Ich konnte hören, wie es in der Erde nach Wurzeln und Knollen scharrte und dabei durch die Nase schnaufte. Ein klares Grunzen drang an meine Ohren.

Mist, so würde ich die Wölfe nie einholen, aber vielleicht könnte ich mich anders nützlich machen.

Kurzentschlossen kletterte ich den nächsten Baum hinauf, von hier oben würde ich einen guten Überblick haben und könnte eingreifen, sollten sie mich brauchen. Ich würde schon beweisen, dass ich kein überflüssiges Anhängsel war, das man einfach zurücklassen und vergessen konnte. Sie würden schon sehen, was ich alles konnte und dann würden ihnen vor lauter Staunen die Augen aus dem Kopf fallen. Zwar mochte ich jagen nicht, aber ich würde es tun und beim nächsten Mal würden sie es sich zweimal überlegen, bevor sie mir schelle Blicke zuwarfen. Die würden noch staunen.

Ich zog mich leise auf den untersten Ast, der ausladend auf eine kleine Lichtung ragte. Gekonnt lavierte ich den Stamm entlang, hielt mich an einem Ast über mir fest, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und wandte mich den Geräuschen zu. Vorsichtig und leise schob ich die Blätter ein wenig auseinander, um einen besseren Blick auf das Schwein zu erhaschen.

Da war es. Es scharrte an der Wurzel eines Holundastrauches und hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es bereits zum Mittagessen der Werwölfe auserkoren war. Es sah ein wenig anders aus, als das Schwein, das ich vor Tagen mit Djenan gejagt hatte, nicht so rot, eher bräunlich, ein Weibchen.

Ich ließ meinen Blick ein wenig weiter schweifen und entdeckte nur wenige Meter vom Schwein entfernt Veith im Gebüsch kauern, alle Muskel angespannt, bereit jederzeit zuzuschlagen. Er war schon ein toller Anblick. Das hellbraune Fell erinnerte mich an Vollmilchschokolade. Ob er wohl auch so süß schmecken würde? Oh Gott, was dachte ich denn da?

Hastig zog ich mich zurück, um mich nicht nur von dem Anblick, sondern auch von den Gedanken zu entfernen und da geschah es. Ich rutschte ab, schaffte es aber noch, mich am Ast festzuhalten, schade nur, dass der alt und morsch war und mein Gewicht nicht tragen wollte. Ich hörte nur noch wie es knackte, dann fiel ich einfach und krachte mit dem Rücken voran sehr hart auf den Boden, dass es mir nur so die Luft aus den Lungen trieb – so viel zum Thema, das Katzen immer auf den Pfoten laden. Einen Moment lag ich einfach nur da und versuchte, nach Luft zu schnappte, aber da wollte einfach nichts kommen. Ich keuchte und griff mir an die Brust. Scheiße, warum ging denn das nicht?

Hände griffen nach mir, drehten mich auf die Seite und dann bekam ich einen kräftigen Schlag auf den Rücken. Plötzlich konnte ich wieder atmen, sog den lebenswichtigen Sauerstoff in meine Lungen und hustete mir halb die Seele aus dem Leib. Scheiße, was war da eigentlich gerade passiert?

„Alles ist gut, bleib ruhig, gleich geht es besser“, redete eine ruhige Frauenstimme auf mich ein, strich mir meine weißblonden Strähnen aus dem Gesicht, während ich nichts weiter tat, als hastig nach Luft zu schnappen.

Die Hand ruhte immer noch auf meinem Rücken und eine feuchte Nase drückte sich in meine Wange. Unter verschwommenen Blick erkannte ich rotes Fell.

Pal.

Besorgt stupste er mich an. Neben ihm stand Tyge. Julica stand irgendwo an meinem Kopf, was nur heißen konnte das …  hastig fuhr ich mich auf und …

„Ah!“

„Verflucht!“

… knallte mir meinem Kopf gegen einen Dickschädel, der meinem in nichts nachstand. Gott, das waren Schmerzen. Ich rieb mir über die Stirn und ja, meine Überlegungen waren richtig gewesen. Veith hockte neben mir – verwandelt und nackt – und rieb sich seinerseits die Stirn. Hastig wandte ich mich ab. Das Vergnügen dieses Anblickes hatte ich bereits gehabt, das brauchte ich kein weiteres Mal. Leider bekam ich so Julica zu Gesicht. Auch sie war wieder ein Mensch und genauso schamlos. Ich war hier unter Nudisten gelandet, mal wieder.

„Geht es wieder?“, fragte Pal besorgt und stupste mich erneut mit seiner Nase an.

Ich nickte nur und beschämend wurde mir klar, was ich gerade getan hatte. Ich war vom Baum gefallen und hatte damit das Mittagessen verscheucht. Verdammt, so viel dazu, dass ich ihnen zeigen würde, was ich alles konnte. Ich konnte vom Baum fallen.

Spitzen Leistung, Talita. 

Seufz.  

Tyge machte einen Schritt auf mich zu. „Versteh mich nicht falsch, aber ich glaube wir gehen ohne dich jagen und bringen dir dann etwas mit, in Ordnung?“

Erschrocken fuhr mein Kopf hoch. Sie wollten mich allein lassen? So wie beim letzten Mal? Nein! Nein, das war nicht in Ordnung, das wollte ich nicht. Es war nur ein kleiner Fehler, ich würde ich nicht wieder machen. Das und noch viel mehr wollte ich ihm sagen, wollte mich rechtfertigen, aber ich biss mir nur auf die Lippe und nickte nur. Tja, nicht nur dass ich nicht zu ihnen gehörte und es auch niemals tun würde, ich hatte ihnen auch noch ihr Mittagessen versaut.

„Ich weiß nicht“, sagte Pal dann. „Ich finde nicht, dass wir sie allein lassen sollten …“

Als er das sagte, flog ihm mein Herz zu …

„… nicht nachdem, was beim letzten Mal passiert ist.“

… und kam mit einer Vollbremsung wieder zum Stehen, um sich äußerst grimmig in meine Brust zurück zu stehlen. Mitleid, na super, darauf konnte ich nun wirklich verzichten. Da war ich einmal ein wenig in Panik geraten, weil ich zwei Leichen gefunden hatte und dann von etwas Hungrigem verfolgt wurde und jetzt traute er mir nicht mal mehr zu, eine halbe Stunde allein im Wald zu verbringen. Ich war doch kein Kind mehr.

„Ich bleibe bei ihr“, sagte dann Veith und brachte mich damit ein weiteres Mal völlig aus dem Konzept. Er wollte hier bleiben? Bei mir? Warum? Was war heute nur mit ihm los? Warum verhielt er sich so seltsam? Das passte alles nicht zu dem Veith, den ich kennengelernt hatte.

„Gib dir keine Mühe, das mache ich schon“, unterbrach Pal meine verwirrten Gedanken. „Mit dir will sie sowieso nicht allein sein.“

Veith ließ sich von dem Geknurre nicht aus der Ruhe bringen. „Ich …“

„Vergesst es einfach.“ Ich rappelte mich auf die Beine, ohne jemanden dabei anzusehen. „Ich bin kein kleines Kind mehr, ich brauche von keinem von euch Schutz, ich bin auch gestern allein durch diesen Wald gezogen. Nur weil ich aus dem Baum gefallen bin, braucht ihr mich nicht behandeln, als sei ich minderbemittelt. Geht ruhig jagen, wir sehen uns dann hinter den Seidenbändern.“ Falls ich auf euch warten sollte, fügte ich im Stillen hinzu und machte einen Satz in den nächsten Baum, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, etwas darauf zu erwidern.

Versteh mich nicht falsch, aber ich glaube wir gehen ohne dich jagen. Weil ich nicht zu ihnen gehörte, weil ich anders war, seltsam in ihren Augen. Aber ich brauchte ihre Zuwendung nicht, nicht auf diese Art, nicht, wenn sie dachten, dass ich schwach und hilflos war. Das war ich nämlich nicht.

Ich kletterte höher, sprang in den nächsten Baum und weigerte mich, einen Blick zurück zu werfen. Ich wusste, dass sie mir nicht folgten, ich hörte, wie sie in die andere Richtung davonzogen und das war wohl noch bitterer. Verdammt, wie sie es auch machten, es war falsch.

Bedrückt ließ ich mich auf den Ast sinken, lehnte mich an den Stamm und ließ die Beine baumeln. Auch wenn ich mir das nicht anmerken ließ, mein Rücken tat immer noch weh. Ich hatte das Gefühl, dass sich da irgendwas in mich reingebohrt hatte und mir nun in die Lunge drückte. Ich muss wirklich ungünstig gefallen sein. Und das ausgerechnet vor den Augen der Wölfe. Kein Wunder, dass sie mich für ein hilfloses Mädel hielten. Bei meinem letzten Gang mit ihnen, war ich ja auch nicht gerade der Mut in Person gewesen. Aber sah ich wirklich so erbärmlich aus, dass selbst Veith sich bereit erklärte, ein Auge auf mich zu haben? Das kratzte mehr als nur ein bisschen an meinem Ego.

Ich stieß einen frustrierten Laut aus und beschloss, dass es nichts brachte, hier verärgert vor sich hin zu brüten. Wenn ich sie schon nicht mit meinen Jagdfähigkeiten beeindrucken konnte, dann sollten sie wenigstens sehen, dass ich meinen Weg auch allein fand. Ich brauchte die Wölfe nicht, ich hatte den Wald schließlich auch gestern durchquert und das ganz ohne ihre Hilfe. Solange ich hier oben blieb, war ich in Sicherheit.

Immer noch mit schlechter Laune, richtete ich mich auf und nahm Maß zum nächsten Baum, als ich das Geräusch hörte. Ein Knacken im Unterholz, das Rascheln von Blättern. Ich stutzte, richtete die Ohren auf und ließ meinen Blick wandern, aber da war nichts. Wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Meine Nerven waren mittlerweile einfach überstrapaziert– nach den letzten Wochen war es doch irgendwie klar, dass ich irgendwann einfach durchdrehen würde –, aber als ich mich abwenden wollte, da hörte ich es wieder, ganz deutlich. Das war keine Einbildung und hatte auch nichts mit meinen Nerven zu tun.

Das Zittern begann, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Plötzlich stand mir wieder die Nacht vor den Augen, in der ich den Atem von Es in meinem Nacken gespürt hatte. Ich duckte mich, drückte mich gegen den Baumstamm und hoffte einfach nur darauf, dass ich mit dem Holz verschmelzen würde, während ich meinen Blick wachsam über den Waldboden unter mir schweifen ließ. Beruhig dich, redete ich mir gut zu, als mein Herz aus dem Takt zu geraten drohte, hier oben kann Es nicht an dich ran, Es findet dich hier nicht. Nur irgendwie sagte mein Körper mir da etwas anderes, wollte nicht auf meinen Kopf hören.

Da war es wieder, das Knacken, als bräche ein trocknender Zweig unter schwerem Gewicht. Jetzt verfluchte ich mich für meinen Dickkopf. Wären Veith oder Pal bei mir geblieben, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht in einem Baum hocken und mich von meiner Angst zerfressen lassen.

Veith.

Er war auch beim letzten Mal für mich da gewesen, hatte mich aus dem Baumstamm gezogen und mir Sicherheit gegeben. Ob er mich hören würde, wenn ich jetzt nach ihm rief? Aber dann würde Es mich auch hören und wissen, wo ich war. Scheiße!

Da raschelte es wieder, dieses Mal viel näher. Nervös ließ ich meinen Blick über das dichte Grün auf dem Boden schweifen und sagte mir immer wieder, dass ich hier oben in Sicherheit war, hier würde Es mich nicht finden, Es wusste ja nicht, dass ich im Baum saß.

Ein Knacken, ein Rascheln. Ich biss mir auf die Lippe, zwang das Wimmern in meine Kehle zurück. Wo waren nur die Wölfe? Wo war Pal, wo war Veith?

Und dann sah ich es. Nur ein kleines Stückchen braunes Fell. Es schimmerte nur kurz zwischen den Büschen hervor, dann war es auch wieder verschwunden. Scheiße, da war wirklich was! Warum hatte ich es mir nicht nur einbilden können? Warum, warum, warum?

Meine Pfoten krallten sich in die Rinde. Kurz war ich versucht, höher in den Baum zu klettern, aber ich hatte Angst, durch ein unbedachtes Geräusch auf mich aufmerksam zu machen, also blieb ich, wo ich war und betete zu Gott, dass Es mich nicht entdeckte.

Wieder ein Stück brauner Pelz, ein Rascheln und dann schob sich ein Wolf auf die kleine Freifläche vor meinem Baum. Nun zitterte ich richtig. Es war ein Wolf? Aber wie … was … warum?

Sehr vorsichtig machte der Wolf einen Schritt, ließ den Blick schweifen, als suchte er etwas. War er auf der Jagd, wollte er wieder töten? Noch ein Schritt und ein weiterer, direkt unter meinen Baum. Er stellte die Ohren auf, lauschte, hielt die Nase in den Wind, um zu wittern.

Bitte, sieh nicht nach oben, bitte nicht.

Sein Kopf senkte sich auf den Boden, schnüffelte.

Nein, bitte nicht.

Er hob den Kopf wieder, roch an meinem Baum.

Oh nein, scheiße, scheiße, scheiße!

Seine Ohren legten sich an. Er hob den Blick, immer höher und dann entdeckte er mich in dem Baum. Ich hielt die Luft an. Sekundenlang starrten wir uns einfach nur an, ich wagte es kaum zu atmen, in der Hoffnung, dass er mich vielleicht doch übersehen hatte.

„Mist“, kam es ihm dann über die Lefzen.

Verdammt, die Stimme kannte ich! „Kovu?“ Da war sie wieder, meine Minnie-Mouse-Stimme. Der Kleine war Es? Nein, Moment, das ergab keinen Sinn. Kovu war hier, aber das machte ihn noch lange nicht zu Es. Das hier war sein Wald, sein Territorium. War doch klar dass er sich hier bewegte und warum ausgerechnet unter meinem Baum? „Scheiße, was machst du hier? Ich hätte mir vor Angst fast in die Hosen gemacht!“

„Welche Hosen?“

„Das ist doch jetzt völlig egal!“, fauchte ich nach unten. „Weißt du eigentlich, was du mir für einen Schrecken eingejagt hast? Ich hab gedacht, mein letzten Stündlein hätte geschlagen.“ Mein Herz wollte sich noch immer nicht beruhigen, nur jetzt raste es vor Erleichterung und Wut in meiner Brust. „Und was hast du hier zu suchen? Hast du mir nicht gestern noch erzählt, dass du das Lager nicht verlassen darfst?“ Prisca wollte doch alle Welpen in Sicherheit wissen, also was tat er hier draußen? War er vielleicht doch Es? Nein, das war absurd, das war schließlich Kovu. Aufdringlich, ja, aber doch nicht blutrünstig veranlagt.

Kovu legte die Ohren an und wich meinem wütenden Blick aus, schaute überall hin, nur nicht zu mir und sah dabei aus, als hätte ich ihn beim Wühlen in einer Mädchenunterwäscheschublade auf frischer Tat ertappt.

Oh oh. „Kovu?“

„Ich wollte nur … ich …“

Mein Gott, ich glaubte nicht, dass ich den Kleinen schon mal so verunsichert erlebt hatte. Was hatte er nur angestellt? „Was wolltest du nur?“

„Ich bin euch gefolgt“, platzte es dann aus ihm heraus. „Ich wollte schon immer mal nach Sternheim, auch beim letzten Mal, aber es wollte mich ja nie jemand mitnehmen, deswegen bin ich euch … gefolgt“, schloss er leise.

Ich sah auf ihn runter, viel zu verdutzt, um irgendwas darauf zu erwidern und dann fing ich an zu lachen, so richtig und aus tiefstem Herzen. Ich musste mich an den Baumstamm krallen, um nicht schon wieder auf den Boden zu knallen, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu lachen. Gott, ich hatte gedacht der Kleine sei ein Mörder und wollte mich fressen. Dabei war er nur ein Kind, das ein bisschen etwas von der großen, weiten Welt sehen wollte.

„Heißt das, du bist nicht böse?“

Was? War das sein ernst? Ich versuchte mich zu beruhigen, wischte mir Lachtränen aus den Augen, aber die kamen immer wieder nach, ich konnte einfach nicht aufhören. In diesem Moment war ich einfach nur erleichtert. Es war nicht hier, niemand verfolgte mich, ich war einfach nur paranoid. Okay, das war nicht wirklich witzig, aber trotzdem eine Erleichterung.

„Talita?“

Gott, der Kleine war der Wahnsinn. Leise vor mich hin kichernd machte ich mich an den Abstieg, ließ mich das letzte Stück neben ihn fallen – oh, mein Rücken, das schmerzte – und winkte ihm zu mir zu folgen.

Eilig trappte er an meine Seite. „Wirst du mich jetzt verpetzen?“

Ich grinste ihn an. „Warum sollte ich?“

„Ähm, weil ich nicht hier sein dürfte?“

„Ich bin kein Mitglied des Rudels, davon mal abgesehen, dass ich eigentlich auch nicht hier sein dürfte, habe ich keinen Grund, dich bei jemanden zu verpfeifen. Sie haben mehr als deutlich klar gemacht, dass ich nicht zu euch gehöre, also sehe ich mich auch nicht verpflichtet, mich an Priscas Regeln zu halten.“

Dafür bekam ich ein Lausbubenlächeln. „Du weißt schon, dass sie dir trotzdem die Schuld geben werden, weil du einfach einen ihrer Welpen mitgenommen hast?“

„Das sollen sie nur mal versuchen.“ Im Moment konnte ich mir einige Freiheiten rausnehmen, sie brauchten mich, um auf Anwars Anwesen zu kommen. Das zumindest redete ich mir ein. Der Kleine war eine nette Gesellschaft und genau wie mich wollten sie ihn nicht dabei haben, das verband. Mit allem anderen würde ich mich später beschäftigen.

„Wo treiben sich die anderen eigentlich rum?“, fragte er und sprang über ein Farnbüschel, das gebogene Stacheln hatte.

Ich umging das Gebilde lieber. Vorsicht war besser als Nachsicht und ich hatte gerade kein Interesse daran, als Nadelkissen zu enden. „Auf der Suche nach einem geeigneten Mittagessen.“

„Ohne dich?“

Ja, ohne mich, dachte ich säuerlich, aber erwidern tat ich: „Los, lass uns ein wenig rennen.“ Das würde mich vielleicht auf andere Gedanken bringen.

Ohne auf Kovu zu warten, startete ich durch, er würde mir schon folgen.

 

°°°

 

„Das sieht so lecker aus.“ Um seine Worte noch zu untermalen, knurrte Kovus Magen äußerst vernehmlich. Sehnsüchtig lagen seine Augen auf den Auslagen der Bäckerei im Schaufenster. So nah und doch so unerreichbar.

Ich warf nur einen entschuldigenden Blick zu ihm und zog ihm von dem Fenster der Konditorei weg. „Tut mir leid, aber ich habe leider kein Geld.“ Schließlich lasse ich mich ja immer noch aushalten. „Du wirst wohl warten müssen, bis wir bei Anwar sind.“

„Falls ich überhaupt so weit komme“, grummelte er, während wir weiter durch die Straßen von Sternheim schlenderten. „Würde mich nicht wundern, wenn Papá mich auf den letzten Metern noch zurück ins Lager schicken würde. Notfalls würde er mich sogar persönlich dort abliefern.“

Mitfühlend tätschelte ich ihm den Arm. Ein bisschen verstand ich ihn ja. Er wollte unbedingt dabei sein, dieses Gefühl kannte ich nur zu gut.

Nachdem wir den Wald verlassen hatten, wurde von uns beiden einstimmig beschlossen, dass wir nicht auf die anderen warteten, sondern direkt nach Sternheim gehen würden, damit der Kleine die Stadt ein wenig sehen konnte, falls sein Vater ihn wirklich umgehend zurück nach Hause schickte. Gesagt, getan. Vorher hatten wir uns in dem alten Schuppen mit dem Moob der Lykaner noch einen Lendenschurz für Kovu besorgt – daran hatte er nämlich nicht gedacht – und waren dann zu Fuß in die Stand gegangen. Außerdem hatten wir beide keine Lust gehabt, stundenlang am Waldrand rumzusitzen und auf die anderen zu warten. Kovu war sich sicher, dass die anderen schon merken würden, dass wir bereits vorgegangen waren, sie würden es wittern.

Jetzt liefen wir bereits eine gute halbe Stunde herum und es war ein Vergnügen, Kovu dabei zu beobachten, wie er von einem Ort zum anderen hastete, um auch ja nichts zu verpassen und dabei große Augen machte. Es war fast so wie bei mir, bei meiner ersten Ankunft in Sternheim, nur dass ich mich mit einem Blick aus dem Moob begnügen musste.

Die erste Sonne war bereits am Horizont versunken und die zweite würde sicher nicht lange auf sich warten lassen. In den Straße herrschte zwar noch reichlich Betrieb, aber die Laternen brannten schon – das waren einfache Masten, in denen Magieadern eingearbeitet waren und so ein sanftes Licht auf ihre Umwelt abgaben.

„Viel schlimmer als deinen Papá finde ich Veith“, nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf. „Wenn der einen in die Finger bekommt … uhhh, allein bei dem Gedanken schüttelt es mich.“

In Kovus Augen tanzte mal wieder der Schalk. „Ja, er kann schon ganz schön einschüchternd sein, aber ich verrat dir mal etwas.“ Er winkte mich näher, bis er seinen Mund an mein Ohr bringen könnte. „In Wirklichkeit ist er ganz handzahm“, flüsterte er, als hegte er die Befürchtung, sei Bruder könnte hinter der nächsten Ecke auf uns lauern, ihn hören und ihn für diese Worte zur Verantwortung ziehen.

Ich schnaubte nur und wich einem Minotaurus im Kleid mit Lippenstift aus. Mann, das ist ein Anblick, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Den vielen Tüten zu urteilen, war die Dame gerade auf einer exzessiven Shoppingtour. Da sollte man nach Möglichkeit nicht im Weg stehen, wenn man nicht auf die Hörner genommen werden wollte.

„Nein wirklich“, bekräftigte Kovu seine Aussage und kam wieder neben mich. Auch er hatte ausweichen müssen, um nicht mitgerissen zu werden. „Veith tut nur immer so abweisend, er muss eben immer alles analysieren.“

„Ist mir bereits aufgefallen.“ Mich hatte er wie ein Insekt unter dem Mikroskop betrachtet, wie ein ekliges Insekt. Naja, eigentlich tat er das immer noch.

„Veith, musst du wissen, ist ein Testiculus, deswegen benimmt er sich so. Das hat also nichts mit dir zu tun.“

Also, ich verstand nur Bahnhof. „Was ist ein Testiculus?“

Kovu sah etwas erschrocken aus, als das Wort meinen Mund verließ und biss sich auf die Lippen. „Mist.“

„Was Mist?“

Er warf mir einen Blick zu, dann sah er sich das Schaufenster des Goldschmieds an, an dem wir gerade vorbeigingen, nur um zum Schluss auf den Boden zu sehen. „Das hätte ich dir eigentlich gar nicht sagen dürfen“, seufzte er dann.

Aha! Ein Werwolfgeheimnis. „Aber jetzt hast du es schon gesagt, jetzt kannst du es auch erklären.“

Er runzelte die Stirn und zum ersten Mal entdeckte ich eine kleine Ähnlichkeit zu seinem großen Bruder. Diese nachdenkliche Falte zwischen den Augen, er hatte sie auch.

„Ich sag es auch nicht weiter, versprochen.“

Ein kleiner Zweifel blieb bestehen und trotzdem öffnet er den Mund. „Wir Lykaner paaren uns fürs Leben“, begann er.

Okay, mit dieser Richtung hatte ich nun nicht gerechnet.

„Natürlich haben wir auch Liebschaften, aber nur bis der oder die Richtige kommen, danach bleiben wir monogam und interessieren uns für keinen anderen Wolf mehr.“

Daran war nichts Verwerfliches. „Ist doch gut. Andere sollten sich von euch auch mal eine Scheibe abschneiden.“

Kovu grinste so halb. „Deswegen ist mein Papá, oder auch Wulf, heute allein. Ein paar Jahre nach meiner Geburt gab es im Lager eine Seuche, an die wir viele unserer Leute verloren haben. Meine Mamá war darunter und meine Tante, die Mamá von Isla. Prisca hat ihren Gefährten verloren, um nur mal ein paar zu nennen.“ Er seufzte schwer. „Jedenfalls, jeder Lykaner ist auf der Suche nach dem einen Stück, das einen vollkommen macht und wenn dieses Stück verschwindet, bleibt man nur halb zurück, verstehst du?“

„Ja und irgendwie finde ich es traurig. Ich meine schon klar, wenn der Partner verstirbt, dann ist das natürlich Scheiße, aber den Rest seines Lebens allein sein zu müssen, ist auch nicht gerade der Burner.“

Wir hielten kurz an den Schaufenster eines Buchladens, ohne wirklich etwas zu sehen, bevor wir weiter gingen.

„Das vielleicht nicht, aber das ist bei uns nun mal so. Es ist nicht so, dass es verboten ist, sich jemand anderes zu suchen, wir können nicht. Auf der ganzen Welt gibt es nur einmal diesen Teil, der einen zu einem Ganzen macht und wenn der verschwunden ist, dann gibt es für uns keinen Grund, weiter zu suchen.“

„Ihr seid wie richtige Wölfe“, überlegte ich laut und hielt mit Kovu an der Straße. Zwei Lichtkugeln schwebten vor uns, aber nur die rote leuchtete gerade.

„Was ich versuche damit zu sagen“, führte er weiter aus, „ist, dass jeder Lykaner auf der Suche nach dem Partner fürs Leben ist, nur nicht der Testiculus, ihm ist es verboten, sich eine Gefährtin zu suchen.“ Die rote Ampellichtkugel verlosch und dafür leuchtete die grüne auf. „Er darf auch keinen Sex haben, nicht vor seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr.“

„Er darf nicht lieben?“ Kein Wunder, dass Veith sich von allem und jedem so zurückzieht. Das war ja schon unmenschlich.

„Er hat sich selber dafür entschieden“, sagte Kovu. „Ein Testiculus wird nicht bestimmt, er entscheidet sich aus eigenem Antrieb heraus dafür.“

„Was?“ War das sein Ernst? „Veith möchte keine Gefährtin?“

Kovu klappte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu verschließen.

„Was?“

Er seufzte. „Tu mir leid, ich darf es dir nicht sagen. Eigentlich habe ich bereits zu viel erzählt. Es ist etwas, dass nur uns Lykaner etwas angeht.“

„Und ich bin keiner von euch“, kam es betrübt über meine Lippen. Ich gehörte nicht zu ihnen und würde es auch niemals tun.

Kovu stieß mich leicht mit der Schulter an. „Ich wollte dir bloß klarmachen, dass Veith nicht der gefühlskalte Arsch ist, für den er sich gerne ausgibt. Ganz im Gegenteil. Und er mag dich.“

Das ließ mich mehr als nur spöttisch schnauben. „Aber sicher doch.“

„Du glaubst mir nicht?“

„Natürlich nicht.“ Der Gedanke an einen Veith, der mich mochte, war nicht nur absurd, er war geradezu grotesk.

„Es ist aber so.“

„Ach, hat er das gesagt?“

Wir erreichten mit einem Haufen anderer Wesen zusammen die andere Straßenseite und hielten uns dann rechts. In dieser Gegend war ich auch noch nie gewesen, aber es war interessant, mal ein wenig mehr von Sternheim zu sehen. Auch wenn ich momentan mehr an unserem Gespräch interessiert war. Veith mochte mich? Dieser Gedanke war ziemlich irreal.

„Nein, das nicht, aber man merk es an seinem Verhalten. Er hat sich gestern auf dem Dachboden zu uns gesetzt und dich nicht angeknurrt, als ich dich mit in sein Zimmer genommen habe. Sogar seine Hatzelteilchen mit dir geteilt. Das macht er nicht bei jedem.“

Mehr als meine Skepsis bekam Kovu dafür nicht. Das waren keine Beweise. Sowohl auf dem Dachboden, als auch in seinem Zimmer war der Kleine dabei gewesen und nur deswegen war der große, böse Wolf so handzahm gewesen. Und die Hatzelteilchen hat Kovu mir praktisch in den Mund gestopft, da wäre es schon ziemlich dämlich von Veith, mich dafür anzuknurren, dass ich sie nicht gleich wieder ausspuckte.

„Du glaubst mir nicht“, erkannte er ganz richtig.

„Ich denke dass du daran glaubst, was du sagst, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch den Tatsachen entspricht. Auch wenn du …“ Der Rest meiner Worte ging auf halbem Wege zum Mund verloren, weil mir etwas ins Auge stach, das in mir ein Gefühl von Vertrautheit auslöste. Ein großes Schild über dem Eingang eines Ladens. Arche hieß das Geschäft und durch die Glasfront war eine Zoohandlung hinter den Wänden auszumachen.

Falsch, schrie alles in mir und ich hatte das gleiche, beklemmende Gefühl, wie an dem Tag, als ich auf Fangs Dachboden aufgewacht war. Der Laden, er war … nicht richtig und doch stimmte er. Das ergab keinen Sinn.

Ich hörte das Kovu etwas zu mir sagte, aber ich nahm es nicht wirklich wahr. Wie in Trance bewegte ich mich auf das Geschäft zu, konnte dabei nicht den Blick von dem Ladenschild wenden. Ein inneres Bild überschattete kurz mein Sichtfeld, das gleiche Schild, nur etwas älter und die Wände waren nicht aus Glas. Nur ganz kurz, dann war es wieder weg.

Was hatte das zu bedeuten? Was war hier los? Dieses Gefühl hatte ich seit mehr als neun Wochen nicht mehr gehabt, also warum jetzt? Und warum hier? Was war an diesem Ort, an diesem Laden so anders, als an all den anderen?

Ohne lange zu fackeln, betrat ich vor Kovu das Geschäft und wurde von einem Türglöckchen begrüßt. Ich würde das jetzt ein für alle Mal klären, wollte endlich wissen, warum ich schon wieder dieses Gefühl von Vertrautheit an einem Ort hatte, der mir so völlig falsch vorkam.

Kaum dass ich über die Schwelle getreten war, drang mir der Geruch von Tieren und Futter in die Nase, so stark und vertraut, dass ich einen Moment einfach stehen blieb. Konnte es sein, dass ich schon mal hier war? Nichts von der Einrichtung kam mir bekannt vor, selbst die Tiere in den Käfigen waren mir zum Teil völlig fremd – ein lila Frettchen? Ein Hamster mit Säbelzähnen? Doch als ich den Kopf drehte und den großen Tresen bemerkte, war da wieder dieses Erkennen, genauso wie bei dem Ladenschild.

Aufregung machte sich in mir breit, ich war schon mal hier gewesen, da war ich mir ganz sicher. Ich spürte es einfach. Entschlossen hielt ich auf den Gorgonen hinter dem Tresen zu, der mich und Kovu schon seit unserem Eintreten neugierig beäugt hatte. Er war etwas kleiner als ich und hatte die Schlangenhaare mit einem Band zurückgebunden, was denen offenbar nicht so wirklich gefiel. Aber ich konnte es verstehen. Wenn der Serpens die Käfige mit den Mäusen sauber machte und die Schlangen in der Zeit die Ware fraßen, war das wohl nicht gut fürs Geschäft.

Gott, was mir schon wieder für Gedanken durch den Kopf gingen, das war doch jetzt völlig egal!

An Kovus Seite lehnte ich mich halb über den Tresen und sah sehr eindringlich in verdutzte Schlangenaugen. „Kennen Sie mich?“

Der Gorgone blinzelte einen Moment, als müsste er meine Frage erst einmal verarbeiten. „Wie bitte?“

„Ich will wissen, ob Sie mich schon mal gesehen haben. War ich schon mal hier? Wissen Sie, wer ich bin?“

„Ähm … nein?“

Ob es sehr unhöflich von mir wäre, ihm einfach mal ein paar zu knallen? „War das eine Frage, oder eine Antwort?“

Hilfesuchend sah der Gorgone zu Kovu, der mich auch leicht verwirrt musterte.

„Talita, alles in Ordnung mit dir?“

„Nein, nein nichts ist in Ordnung. Ich war schon mal hier, ich weiß es, ich erinnere mich.“ Auch wenn mir vieles Fremd vorkam, ein paar Dinge waren vertraut.

„Du warst schon mal hier?“

Leicht verunsichert durch seinen Ton, biss ich mir auf die Lippen. „Ich glaube schon. Das Schild draußen und der Tresen kommen mir bekannt vor.“

Kovu schaute auf seine Hand, die auf genanntem Tresen lag, dann fixierte er den Verkäufer. „Folgendes, sie“, er zeigte auf mich, „hat vor ein paar Wochen ihr Gedächtnis verloren, kann sich an nichts mehr erinnern und nun kommt es ihr hier bekannt vor, deswegen möchte sie wissen, ob Sie sie kennen.“

Der Gorgone wirkte zweifelnd, konnte die Geschichte wohl nicht so ganz glauben, schüttelte aber trotzdem den Kopf. „Nein, tut mir leid, aber ich kann mich nicht an das Mädchen erinnern.“

Warum sprach er denn jetzt mit Kovu und nicht direkt mit dem Mädchen, ich stand schließlich direkt vor ihm!

Wahrscheinlich glaubt er, dass ich verrückt bin.

Würde mich jedenfalls nicht wundern.

„Arbeitet vielleicht sonst noch jemand hier, der sie kennen könnte?“, wollte Kovu wissen.

Sehr schlau, daran hätte ich im Moment nicht gedacht.

Wieder ein Kopfschütteln. „Das ist mein Laden, hier arbeite nur ich.“

„Und Sie sind sich sicher, dass Sie sie noch nie gesehen haben?“

Angespannt wartete ich, während der Gorgone einen weiteren prüfenden Blick über mich gleiten ließ, nur um dann zu meinem Bedauern ein weiteres Mal mit dem Kopf zu schütteln. „Tut mir leid, falls ich das Mädchen schon mal gesehen haben sollte, kann ich mich nicht daran erinnern.“

Meine Schultern sackten herunter. Toll, super, jetzt war ich nicht nur ohne Vergangenheit, jetzt bekam ich auch noch Halluzinationen. Wie sonst konnte ich mir so sicher sein, dass ich schon mal hier gewesen war? Verdammt, das war so frustrierend! Ich wusste genau, dass ich mich nicht irrte, aber andererseits war  mir in Fangs Haus auch so vieles vertraut gewesen und es stand nun mal fest, dass ich da noch nie gewesen war. „Ich bin so was von im Arsch“, murmelte ich bitter.

„Hey, nun lass mal den Kopf nicht hängen.“ Kovu zog mich in seine Arme und achtete gar nicht darauf, dass ich mich bei der plötzlichen, körperlichen Nähe anspannte. Oder – was ich eher glaubte – er ignorierte es einfach. „Es dauert vielleicht ein bisschen länger, aber irgendwann wirst du wieder alles wissen.“

Ich fragte mich, wie er sich da so sicher sein konnte. Er klang so überzeugt, dass ich es fast selber glaubte, dass neue Hoffnung ihr Haupt in meinem Innersten erhob und zu einer wunderschönen Blüte reifen wollte. „Und wenn nicht?“

„Dann erfinden wir halt eine.“

Das ließ meinen Mundwinkel zuckten. „Erfinden?“

„Wir überlegen uns wo du geboren wurdest, wie es da aussah und wie deine Eltern so waren, wir schaffen dir eine Vergangenheit, mit zehn Brüdern auf einem großen Bauernhof, auf dem ihr Greife züchtet. Und du musstest da weg, weil du dich mit deiner Familie verkracht hast, da ihnen dein neuer Freund nicht passte.“

Oh Mann und ich hatte schon geglaubt, dass ich eine blühende Fantasiebesaß. Aber wenigstens konnte ich mich bei seinen Hirngespinsten entspannen. Es war mir dabei nicht mal unangenehm, dass er mich im Arm hielt. Er war einfach … normal. Kein Knurren, kein Fell, nur ein netter Typ, der mich ein wenig trösten wollte und das rechnete ich ihm sehr hoch an.

Natürlich warf ein Moment wie dieser wieder die Frage auf, warum ich es nicht mochte, angefasst zu werden. Hatte es wirklich etwas damit zu tun, dass sie Werwölfe waren, oder steckte mehr dahinter?

„Dann bist du mit sechzehn durchgebrannt und hast den Kerl zu deinem Gefährten genommen“, baute Kovu seine Hirngespinste weiter aus. „Doch leider war er dir nicht so treu, wie du es dir gewünscht hast, weswegen seine Einzelteile nun verstreut in verschiedenen Gewässern vor sich hin rotten.“

Der Gorgone schien nicht so recht zu wissen, was er mit uns anfangen sollte. Wahrscheinlich hielt er uns mittlerweile beide für verrückt. Kein Wunder bei Kovus Geschichte.

„Du hast einen ganz schönen Knall, weißt du das eigentlich?“ Ich kuschelte meine Wange unter sein Kinn und genoss es einfach nur, so im Arm gehalten zu werden. Ich wusste nicht mal mehr, wie lange es her war, dass ich das so völlig entspannt tun konnte, einfach nur einen anderen spüren, ohne das kleinste bisschen Angst. Das war nicht mal bei Pal so gewesen. Klar, ich hatte mich bei ihm schon ziemlich sicher gefühlt und ihm hin und wieder auch erlaubt, mich zu berühren, aber bei Kovu war es trotzdem etwas anderes. Es war einfach seine kindliche Art ohne Hintergedanken. Bei ihm konnte ich mich völlig entspannen.

„Nein, das ist mein Ernst. Wir müssen uns nur noch überlegen, wie du von der Ermordung deines betrügerischen Gefährten auf Fangs Dachboden gekommen bist, danach können wir uns weitere Einzelheiten ausdenken und …“ Er verstummte einen Moment. „Mist, jetzt wird’s lustig.“

Kovus plötzliche Anspannung, spürte ich sofort und als ich den Kopf ein wenig drehte, wusste ich auch, woher sie kam. Vor der Glaswand, in Reih und Glied, standen Tyge – mit verschränkten Armen –, Veith – eine echt tiefe Falte zwischen den Augen –, Julica – über irgendwas schien die sich tierisch zu freuen – und Pal – neugierig hatte er den Kopf geneigt, als wollte er fragen: „Was soll das werden?“  Ihre Gesichter waren schon halb in Schatten getaucht, weil die Dämmerung bereits weit fortgeschritten war, der Abend stand direkt vor der Tür, genau wie die vier da draußen.

Sie alle hatten ihre Augen auf uns gerichtet und plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob es so eine gute Idee gewesen war, schon mal mit Kovu in die Stadt zu gehen. „Wir könnten durch die Hintertür verschwinden“, überlegte ich laut.

„Sie können dich hören“, teilte Kovu mir mit.

„Durch die Wand?“

Darauf brauchte der Kleine nicht antworten, das taten die vier auf der Straße bereits, indem sie nickten.

„Wisst ihr eigentlich, dass euer Gehör die reinste Plage sein kann?“

„Wem sagst du das“, seufzte Kovu. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer es ist, sich nachts heimlich raus zu schleichen. Das erfordert echtes Geschick.“

Tyge machte mit dem Kopf eine Bewegung, die so eindeutig war, dass selbst der Dümmste sie verstanden hätte. „Kommt da raus, jetzt!“

Hm, aber irgendwie war es genau das, was ich gerade nicht wollte, nicht wenn ich sah, wie ärgerlich Veith war. Der würde mich glatt den Krokodilen zum Fraß vorwerfen.

„Vielleicht ist das mit der Hintertür doch keine so schlechte Idee“, überlegte der Kleine leise.

Entweder hatten sie das draußen auch gehört, oder Veith war des Wartens leid – ich tippte mal ganz stark auf zweitens, weil für alles andere Kovu dann doch zu leise gesprochen hatte. Jedenfalls löste Veith sich von seinem Platz und stürmte den Laden. Kovu und ich sprangen einfach auseinander, so konnte er uns nicht beide packen, außer natürlich, er hatte neuerdings die Fähigkeit, sich zwei zu teilen – würde mich ehrlich gesagt auch nicht wundern. Doch es kam ganz anders.

Veith war so schnell, dass er Kovu bereits mit festem Griff im Nacken gepackt hatte, als ich noch am zurückweichen war.

„Ah, verdammt, Veith, nicht so grob!“, beschwerte sich der Kleine, doch sein großer Bruder ignorierte das einfach und versuchte mich am Arm zu packen. Ich wich so hastig zurück, dass mein Rücken mit dem Tresen kollidierte und irgendwas laut scheppernd zu Boden fiel. Der Gorgone fluchte sehr ausgefallen und bekam damit einen Moment meiner Aufmerksamkeit. Das war mein Fehler. Ich merkte nur noch, wie sich ein starker Arm um meine Taille schlang und ich dann an einen warmen Körper gepresst wurde. Gleich darauf verlor ich den Kontakt zum Boden.

„Nein! Lass mich runter, nimm deine Pfoten weg, Veith!“ Ich  strampelte, versuchte mich wegzudrücken, seinen Arm wegzuschieben, doch sein Griff um mich wurde nicht nur fester, sondern stählern. Es war das erste Mal, dass seine Berührung mich nicht in Angst und Schrecken versetzte, sondern einfach nur wütend machte. Es war einfach nur dreist von ihm, sich diese Freiheit herauszunehmen. Ich war kurz davor die Krallen auszufahren, als Tyge die Tür aufhielt, damit Veith uns nach draußen schaffen konnte. „Das ist mein Ernst, du sollst mich loslassen, sonst kannst du was erleben! Ich schwöre dir, ich werde dafür sorgen, dass du niemals Kinder zeugen kannst, wenn du mich nicht endlich runter lässt!“

Kovu lief artig mit – wahrscheinlich, weil er wusste, dass Verteidigung in diesem Fall nichts brachte –, aber ich tobte und wehrte mich mit Händen und Füßen. Ich wollte nicht, dass er sich das herausnahm, er hatte mich nicht anzufassen und schon gar nicht durfte er mich wie ein Neandertaler einfach mit sich mitschleifen. Fehlte nur noch, dass er mich einfach über seine Schulter warf.

Veith jedoch ließ sich davon nicht sonderlich beeindrucken.

„Lass mich endlich runter! Ich kann allein laufen, Veith!“

Er ging mit den anderen in die Gasse neben dem Geschäft, um neugierige Blicke fernzuhalten, oder uns einfach in einer etwas privateren Runde lynchen zu können. Etwas sehr ruppig wurde ich dann auf die Füße gestellte und fiel durch den Schwung fast noch auf die Nase. Ich fing mich rechtzeitig, fuhr herum und boxte ihm in meinem Ärger gegen die Schulter – das musste am Adrenalin liegen, hätte ich klar denken können, wäre es mir sicher reichlich dumm vorgekommen, einen Werwolf zu schlagen, der auch noch doppelt so breite Schultern hatte wie ich. Aber im Augenblick war ich einfach nur stinkwütend über seine Unverfrorenheit. „Mach das noch mal und ich reiß dir den Arsch auf!“

Julica machte große Augen und Pal grinste. Veith dagegen zeigte sich von meinem kleinen Ausbruch weiterhin völlig unbeeindruckt. Das machte mich erst recht sauer. Konnte dieser Kerl nie eine Reaktion von sich geben? Das war doch echt zum Haare raufen.

Als Tyge seinen Blick auf seinen Jüngsten richtete, rückte der näher an mich ran, als glaubte er, ich könnte ihm Schutz bieten. Sehr witzig, als wenn ich etwas gegen einen waschechten Lykaner ausrichten könnte. „Ich erwarte eine Erklärung.“ Er verschränke die Arme vor der Brust. „Und ich hoffe für dich, dass sie gut ist.“

„Ich habe ihn gebeten mich zu begleiten“, platzte es aus mir heraus, bevor Kovu den Mund aufmachen konnte. War ich noch zu retten? Warum bitte nahm ich die Schuld auf mich? Das konnte doch nur in die Hose gehen. Doch ich würde jetzt nicht zurückweichen. Sie mussten endlich merken, dass ich nicht alles mit mir machen ließ, nur weil ich keine von ihnen war. „Ich habe ihn im Wald getroffen und gebeten mit mir zu kommen, damit ich nicht allein unterwegs bin.“ Das klang doch halbwegs plausibel.

Nicht so in den Ohren der anderen. Julica schnaubte belustigt – was war daran bitte so witzig? –, Pal schüttelte nur mittleidig den Kopf und in Veiths erschien wieder diese Falte, die ihn viel zu kantig und hart wirken ließ.

Tyge seufzte. „Talita, dir ist bewusst, dass ich meinen Sohn sehr gut kenne?“

Wäre ja traurig, wenn dem nicht so wäre. „Davon gehe ich aus.“

„Dann ist dir sicher auch klar, dass ich dir kein Wort glaube, erst recht nicht, wenn er mit diesem Lächeln neben dir steht.“

Ich warf Kovu aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu und widerstand der Versuchung, ihm nicht den Ellbogen in die Seite zu rammen – wäre doch ziemlich auffällig. Der grinste wirklich wie blöde. Kein Wunder, dass mir hier niemand glaubte. „Hör auf so zu grinsen“, zischte ich ihm zu, wusste aber, dass ich bereits auf verlorenem Posten kämpfte.

Kovu seufzte sehr theatralisch. „Ich bin euch gefolgt und ja, ich weiß ich hätte das nicht tun dürfen.“

„Und warum hast du es dann getan?“, wollte Veith wissen.

„Weil ich … verdammt, seit Monaten bin ich praktisch in diesem Lager eingesperrt!“

„Aus gutem Grund“, ließ Julica verlauten.

Er ignorierte sie einfach. „Ich versteh ja auch warum, aber … mir fiel einfach die Decke auf dem Kopf und ich wollte schon immer mal nach Sternheim und …“

„Da dachtest du, dass du uns einfach hinterher rennen kannst“, schlussfolgerte Tyge.

Der Kleine wirkte nicht wirklich beschämt.

Über so viel jugendlichen Freimut, konnte Tyge nur den Kopf schütteln.

„Wir haben keine Zeit ihn zurückzubringen“, merkte Veith an. „Uns bleiben nur fünf Tage, dann müssen wir uns mit den anderen Rudeln treffen.“

„Aber wir können die kleine Nervensäge doch nicht mitnehmen“, empörte sich Julica. „Er wird nur im Weg stehen.“

Kovu zeigte ihr die Zähne. „Ich bin nicht so blöd wie du aussiehst, ich werde mich schon nützlich machen, was man von dir wahrscheinlich nicht erwarten kann.“

Pal lachte mit diesem halben Lächeln im Gesicht. Ihn schien diese ganze Situation einfach nur zu amüsieren. Er hatte sich dazu überhaupt noch nicht geäußert, was in  mir die Frage aufkommen ließ, was er von dieser ganzen Sache hielt.

„Pass auf was du sagst, Welpe“, knurrte Julica mit sehr viel Betonung auf dem letzten Wort.

„Nur noch ein paar Monate“, schoss er zurück und klopfte sich auf die Brust, „dann hab ich die Mannesreife.“

„Was dich aber noch lange nicht erwachsen macht“, erwiderte sie schlicht.

„Das reicht“, sagte Tyge völlig entspannt, als Kovu schon wieder dabei war, den Mund zu öffnen. „Veith hat Recht, wir haben keine Zeit, ihn zurückzubringen und in der gegenwärtigen Lage möchte ich nicht, dass er allein durch den Wald streift, nicht mal durch unser Territorium.“ Er richtete seinen Blick auf seinen Jüngsten. „Das heißt aber noch lange nicht, dass du einfach davon kommen wirst. Du hast eine Befehl von Prisca missachtet, ein Gesetz unseres Rudels gebrochen, also wird es auch unser Alpha sein, der deine Bestrafung festlegt.“

Das Grinsen in Kovus Gesicht löste sich einfach in Luft. „Prisca?“

Sein Vater nickte nur.

„Bestrafung?“, hörte ich mich fragen? Waren wir hier plötzlich im Mittelalter gelandet? Dabei dachte ich, das hier wäre Magicland – was auch noch ziemlich verstörend war.

„Ausbau des Lagers, solche Sachen“, antwortete Pal mit einem Zwinkern. Aha, körperliche Arbeit zum Wohl der Allgeneinheit.

Julica schüttelte den Kopf. „Wir könnten das Rudel benachrichtigen, damit ihn jemand abholen kommt“, sagte sie, als wäre meine Frage gar nicht gefallen.

Noch mehr Werwölfe in der Stadt? „Findet ihr das nicht ein wenig auffällig?“, fragte ich vorsichtig und als sich alle Blicke auf mich richteten, fühlte ich mich genötigt zu erklären. „Ich meine, ich bin jetzt schon seit ein paar Wochen in Sternheim und hab die ganze Zeit keinen Wer … äh Lykaner gesehen, naja, außer die bei Anwar. Aber was ich damit meine, es ist doch ein wenig auffällig, wenn hier plötzlich haufenweise Werwölfe auftauchen und durch die Straßen ziehen.“ Ich zuckte nur mit den Schultern unter ihren Blicken. „Ich mein ja nur, ich dachte, wir sollten das hier halbwegs unauffällig abziehen.“

Kovu drückte seinen Arm gegen meine, eine Geste des Danks, weil ich versuchte, seine Strafe noch ein wenig aufzuschieben, obwohl ich meine Worte ernst gemeint hatte. Anwar würde schon so ein harter Brocken werden, aber je mehr von den Pelzträgern hier auftauchten, desto misstrauischer musste er doch werden.

„Talita hat recht“, kam es zu meiner Überraschung von Veith.

Also, entweder hatte ich etwas an den Ohren, oder er hatte mir gerade allen Ernstes zugestimmt. Ich  musste aussehen wie ein Fisch auf dem Trocknenden, so wie mein Mund nach Sauerstoff schnappte.

Tyge seufzte nur. „Wir werden ihn mitnehmen, uns bleibt gerade keine andere Wahl.“

„Juhu!“ Kovu machte vor Freude einen Satz in die Luft, weswegen ich vorsichtshalber einen Schritt zur Seite tat, ich wollte ja nicht plötzlich unter ihm liegen.

„Aber“, fügte Tyge hinzu, „du brauchst gar nicht glauben, dass das hier ein Urlaub für dich wird …“

„Ach und ich hatte mich schon so auf die Sehenswürdigkeiten gefreut.“

Das überging der Älteste einfach. „… du wirst tun, was ich sage und dich in allen anderen Dinge zurückhalten, haben wir uns verstanden?“

Er nickte eifrig. Wie ein kleiner Junge, voll niedlich.

„Dann lasst uns endlich gehen, wir haben schon genug Zeit vertrödelt, um euch beide ausfindig zu machen.“ Er wandte sich ab und Julica und Veith folgten ihm sofort. Kovu führte noch ein kleines Tänzchen auf und grinste mich frech an, bevor er sich daran machte, sich ihnen anzuschließen.

Ich konnte nur den Kopf schütteln und lief ihnen an Pals Seite hinterher.

„Du wolltest an den Seidenbändern auf uns warten.“ Klang da ein Vorwurf aus seinen Worten?

„Ich habe es mir anders überlegt.“ Aus einem Impuls heraus nahm ich seine Hand, was ihn doch sehr überraschte, aber ich lächelte einfach nur. Wie ich das vermisst hatte, einfach ein Tag mit diesen verrücken Wölfen verbringen, auch wenn sie mein Gefühlsleben mit ihrer Anwesenheit jedes Mal aufs Neue auf den Kopf stellten. Wenn ich nur dran dachte, was heute schon alles war, Frust, Verwirrung, Freude, Angst, Unsicherheit, Wut und dabei war der Tag noch nicht mal gelaufen.

 

°°°

 

Ich stand direkt vor dem großen Eingangsportal vor Anwars Anwesen und traute mich einfach nicht zu klingeln. Nicht, dass ich glaubte, sie würden mir den Zutritt verweigern … obwohl dieses Gefühl sich doch einen kleinen Platz direkt hinter meinem Schlüsselbein gesucht hatte. Erion würde sich sicher über meine Rückkehr freuen. Hoffte ich zumindest. Und was, wenn es wie bei den Wölfen ist? Eine solche Zurückweisung würde mich wirklich kränken.

„Das ist doch lächerlich.“

„Nein, nicht …“ Doch es war zu spät. Pal beugte sich an mir vorbei und noch bevor ich ihn aufhalten konnte, betätigt den Türklopfer. Jetzt wussten sie, dass wir hier waren, jetzt gab es kein Zurück mehr, alles würde sich entscheiden, sobald die Tür geöffnet wurde. Mist. „Warum hast du das gemacht?“

„Weil ich keine Lust hatte hier Wurzeln zu schlagen?“ Pal zog eine Augenbraue hoch. „Ehrlich, Talita, ich weiß nicht, wo das Problem liegt.“

Ich würde den Teufel tun und ihn über meine Unsicherheiten in Kenntnis setzen.

„Vielleicht hat sie uns ja etwas verheimlicht“, sagte Veith.

Den Blick, den ich ihm zuwarf, hätte jeden anderen sofort in die Flucht geschlagen – zumindest redete ich mir das ein –, aber einen Veith schreckte sowas natürlich nicht. Was dachte er eigentlich von mir? Na warte, dem würde noch Hören und Sehen vergehen. „Natürlich habe ich das und das ist auch nicht alles. Außerdem stecke ich mit Anwar unter einer Decke. Das hier ist alles nur ein fieser, finsterer Plan, den ich mir ausgedacht habe, um euch in eine Falle zu locken, damit er euch als Jagdtrophäe ausstellen kann, murhahaha.“

Veith Gesicht wurde ausdruckslos.

„Was, glaubst du mir nicht? Ich brauche dringend ein paar Accessoires in meinem Zimmer und ich dachte mir, Werwolffelle würden die ganze Einrichtung ein wenig aufpäppeln. Pal werde ich direkt vor mein Bett legen, damit ich immer schön warme Füße habe. Ich liebe diese rote Farbe. Und Julicas Fell würde sich prächtig als Bettüberwurf machen. Dich dagegen habe ich vor ausstopfen zu lassen, um mir immer deinen dämlichen Gesichtsausdruck vor Augen führen zu können. Du weißt schon, welchen ich meine, oder? Ja, genau den“, sagte ich, als die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen erschien.

Einen kurzen Moment herrschte drückendes Schweigen und ich dachte schon, dass ich es mit meinem Sarkasmus ein wenig zu weit getrieben hatte, aber dann lachte Kovu prustend los. Er lachte so heftig, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Japsend legte er mir den Arm um die Schultern und schien dabei gar nicht zu bemerken, wie ich mich leicht versteifte. Obwohl ich diese Art an den Wölfen in der Zwischenzeit zur Genüge kannte und wusste, dass ich von ihnen nichts Schreckliches zu erwarten hatte, reagierte mein Körper automatisch, als wollte er mich vor einer Gefahr beschützen.

Kovu wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Und was hast du mit mir vor?“

„Du kommst vor den Kamin. Ich werde mich immer mit einem Glas Wein und einem guten Buch darauf zusammenrollen.“

„Du und ich vor einem knisterndes Feuer im Kamin. Noch ein guter Wein, das wird richtig romantisch werden. “

„Ja, und das Beste wird sein, dass er die Klappe halten muss, weil er keinen Kehlkopf mehr haben wird“, stieg Pal mit ein.

Kovu streckte ihm die Zunge raus. „Mich wird sie wenigstens nicht nur dafür benutzen, um ihre Füße …“

Die Tür schwang auf und der Satyr, der mich schon bei meinem ersten Besuch in Empfang genommen hatte, stand dort. Und genau wie damals, war er nicht sonderlich erfreut, mich mit einer Meute Werwölfe im Rücken zu sehen. Aber er ließ uns anstandslos eintreten. „Die Herrschaften des Hauses sind aus“, sagte er, als ich an ihn vorbeitrat.

„Auch Erion?“

„Ja, nur das Personal ist anwesend.“

Das hieß, dass auch Kaj ausgeflogen war – wo die sich wohl immer rumtrieb? Es gab doch einen Gott. „Das ist okay. Ähm … können sie für meine Freunde ein Zimmer herrichten lassen?“ Versuchen konnte man es ja mal.

Die Tür wurde mit einem kaum hörbaren Klicken geschlossen. „Natürlich. Weiß der Herr über den Besuch Bescheid?“

Das wusste er nicht und das war dem Satyr auch klar, doch er war so nett, mich mit dieser Frage darauf hinzuweisen, dass ich mit ziemlicher Sicherheit riesigen Ärger bekommen würde, wenn Anwar nach Hause kam. „Nein und ich würde sie gerne bitten, ihm nicht zu sagen, bis ich mit Erion gesprochen habe.“

„Wie Sie wünschen. Ich werde Herrn von Sternheim zu euch schicken, sobald er heimkehrt.“

Ich hoffte er sprach von Erion. „Ja danke, das wäre nett.“

„Okay“, sagte Pal dann und rieb sich die Hände. „Da wir das jetzt geklärt haben, wo bekomme ich hier etwas zu futtern.“

Ich verdrehte die Augen. Typisch Pal. „Komm mit, ich zeig es dir.“

„Da schließe ich mich doch an.“ Kovu beeilte sich uns zu folgen. Auch Julica schloss sich an. Die anderen beiden folgten … äh, ich sollte mir wirklich langsam mal seinen Namen geben lassen.

 „Das ist viel besser gelaufen als ich gedacht habe.“ Ich brachte die drei in die kleine Küche im Erdgeschoss, gegenüber vom Esszimmer. Sie war in sehr dunklen Tönen gehalten, schwarz und Terrakotta, dabei sehr modern, mit einer großen Kochinsel in der Mitte. Alles war recht edel und passte zusammen, war aber absolut nicht mein Style.

Die Köchin war ausgeflogen, wahrscheinlich einkaufen. Hoffentlich brachte sie genug Essen für ein ausgehungertes Wolfsrudel mit. Wenn ich an die Mahlzeiten bei denen im Lager dachte, oder an das Geburtstagsfest der Zwillinge, die konnten ganz schön was in sich reinschaufeln, da wurde einem schon beim Zusehen schlecht.

Kaum im Raum stürzte sich Pal auf den Kühlschrank, als gäbe es keinen Morgen – hatten die im Wald nicht gerade erst gejagt? „Hattest du etwa befürchtet, sie würden uns auf der Türschwelle stehen lassen?“ Er suchte sich systematisch durch die einzelnen Fächer, schob den Inhalt hier hin und dort hin, dass es knisterte und klickte. Hin und wieder legte er etwas auf die Ablage neben ihm.

„Nein“, sagte ich ganz ehrlich und hievte mich auf Arbeitsfläche, wo ich die nackten Füße baumeln ließ. Es war immer noch ein wenig ungewohnt so rumzulaufen, aber meine Schuhe gingen bei den Verwandlungen immer verloren, da konnte ich sie auch gleich weglassen. „Nachdem, was Anwar gesagt hat, lag meine Befürchtung eher bei mit der Schrotflinte aus dem Ort jagen.“

„Ich bin mir sicher, wenn ich die Anspielung verstehen würde, fände ich sie witzig“, sagte Pal. Der Essensberg neben ihm wurde stetig größer. Wie wollte er das nur alles … okay, das hier war Pal, der schaffte diese Menge, ohne mit der Wimper zu zucken und bekam dann noch nicht mal Bauchschmerzen. Das war einfach nur ungerecht. „Aber ich habe keine Ahnung, was eine Schrotflinte ist.“

„Das ist eine Waffe, mit der man Wölfen und anderem unerwünschten Getier, da, wo ich herkomme, Löcher in den Pelz brennt, um ihnen eine bleibende Erinnerung mitzugeben.“

„Das ist aber nicht nett.“ Kovu stibitzte sich eine Geflügelkeule von Pals Berg. Der warf ihm einen bösen Blick zu und nahm sich eine neue aus dem Kühlschrank, die er so hinlegte, dass er jeden weiteren Diebstahl vereiteln konnte. Lächelnd lehnte sich Kovu zurück und biss ein großes Stück ab. „Dabei sind wir doch so liebenswürdig.“

Wie es ihm gelang, das an dem Essen in seinem Mund vorbei zu nuscheln, war mir ein Rätsel, aber er schaffte es sogar deutlich zu sprechen. Das musste ein naturgegebenes Talent sein. Ich hätte dabei garantiert die Hälfte auf den Boden gespuckt. Davon abgesehen, dass ich meine Zunge wahrschein gar nicht erst hätte bewegen können.

„Du bist nicht liebenswürdig“, teilte Julica dem Kleinen mit und setzte sich neben mich auf die Anrichte. Was sollte das denn werden? „Du bist eine Plage.“

„Und das von jemanden, dem Febe heute noch die Ohren langziehen will, weil sie als Welpe so viel Schabernack betrieben hat.“

Die schwarzhaarige Wölfin streckte ihm die Zunge raus und stibitzte sich ein Stück von seiner Putenkeule, das sie eilig in ihrem Mund verschwinden ließ. „Kann ja nicht jeder so ein Schleimer sein wie du.“

Und da war es wieder, das Lausbubenlächeln. „Das nennt man nicht schleimen, dass nennt man beliebt. Ich bin halt der Liebling der Drillinge.“

„Träum weiter“, kam es von Kühlschrank. „Das bin ich und werde es auch immer bleiben.“

Daraufhin entstand zwischen den drei Lykanern eine angeregte Diskussion, in der sie sich gegenseitig das Essen klauten und sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Es war faszinierend sie dabei zu beobachten und ich merkte schnell, dass hinter den vielen Sticheleien und verbalen Angriffen viel Zuneigung steckte.

Sie waren ein Rudel, eine Einheit und ich kam mir mal wieder ziemlich ausgeschlossen vor. Ich gehörte einfach nicht dazu und würde es wahrscheinlich auch niemals tun, egal wie sehr ich mich danach sehnte.

Irgendwann bekamen sich Kovu und Julica richtig in die Flicken, das man es sicher im ganzen Haus hören konnte. Einen Moment war ich versucht mich einzumischen, ließ es dann aber sein. Ich hatte hier eh nicht viel zu melden. Ich war nur ein Mittel zum Zweck und auch, das Pal zu mir kam und mich von seinem Teller fütterte, änderte nichts daran. Meine Zeit mit ihnen würde nur kurzfristig sein.

„Das ist noch gar nichts“, flüstere Pal mir zu und rückte näher, bis ich seinen warmen Körper an meinem Bein spüren konnte. Es störte mich nicht wirklich, war sogar irgendwie angenehm und trotzdem war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Schon klar, Werwölfe machten sowas andauernd, das gehörte einfach zu ihnen, aber ich war ja nun mal kein Werwolf. „Die beiden haben sich schon gestritten, da lag Kovu noch in den Windeln.“

Meine Mundwinkel zuckten. „Sie haben sich gerne.“ Es war vielleicht ein wenig verdreht, aber auf ihre Weise mochten die beiden sich, konnten das aber anscheinend nur so zum Ausdruck bringen.

„Ja“, sagte Pal schlicht, gab mit die letzte Beere von seinem Teller und stellte ihn dann neben mir auf die Anrichte. Irgendwie landete seine Hand dabei auf meinem Rücken und meine nackte Haut kribbelte angenehm unter seinen Fingern. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? „Ein Rudel.“

„Eine Gemeinschaft.“

Julica sprang auf und nahm Kovu von hinten so liebevoll in den Schwitzkasten, dass ich nur lachen konnte. Mann, das Weib hatte echt Kraft und langsam aber sicher kam sie mir gar nicht mehr so unsympathisch vor, wie auf den ersten Blick. Ich meine, sie konnte ja schließlich nichts für ihr Aussehen. Wenn man jemanden dafür die Schuld geben konnte, dann ihren Eltern. Aber auch die waren bei der Vergabe der DNA mehr oder weniger machtlos. Oh Mann, ich dachte hier schon wieder nur Blödsinn. 

„Zwei unbelehrbare Streithähne“, fügte Pal trocken hinzu und bewegte dabei leicht seine Finger auf meinem Rücken, dass es nur so kribbelte.

Ich fasste ihm scharf ins Auge. „Was machst du da?“ Nicht das es unangenehm war, ganz im Gegenteil, irgendwie gefiel es mir, trotzdem hätte ich gerne einen Blick in seinen Kopf erhascht.

Er rückte noch näher. Nicht zu nahe, nicht aufdringlich, sondern einfach nur näher. „Ich hab dich seit Wochen nicht gesehen“, sagte er ganz ernst, ohne die Spur seines Lächelns, „und ob du es nun glaubst oder nicht, ich habe dich vermisst.“

Freunde dich nicht zu sehr mit Pal an. Du weißt, dass du gehen musst und er nimmt sowas immer sehr schwer. Das hatte Fang beim Tanz am Feuer zu mir gesagt. Ob es stimmte? Aber viel wichtiger, was bedeutete das genau? Ich war kein Teil des Rudels.

Pal sah mir so intensiv in die Augen, dass ich wusste, er wartete auf eine Reaktion meinerseits, doch durch das abrupte Verstummen der beiden Streithähne, rückte das Gespräch mit Pal sofort in den Hintergrund.

Julica hatte von dem Kleinen abgelassen und fixierte die Tür.

Auch ich wandte mich um.

Mit einem leichten Lächeln um den Mund, lehnte Erion am Rahmen und beobachtete unsere illustre Runde neugierig. Heute trug er eine grüne Robe mit einem goldenen Gürtel. Und schon wieder hatten wir die gleichen Farben am Leib, wie kam das nur immer? „Störe ich?“

Ich schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“

„Lewis hat mir mitgeteilt, dass du mich sprechen möchtest.“ Er ließ den Blick noch einmal über die Wölfe in Menschengestalt schweifen. „Und ich denke, ich habe jetzt auch eine ungefähre Vorstellung warum.“

Dafür bekam er ein schüchternes Lächeln. „Wer ist Lewis?“

„Unser Buttler.“

Ah, der Satyr. Na, wurde ja auch mal Zeit, dass ich seinen Namen kannte.

Erion stieß sich vom Rahmen ab und schlenderte in unsere Mitte. Dabei wurde er von keinem der drei Wölfe auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen gelassen. Mir gegenüber lehnte er sich an die Kochinsel. Dabei wirkte er nicht im mindestens eingeschüchtert. Entweder war er einfach nur mutig, oder die Zeit mit Kaj gab ihm eine Sicherheit, von der ich nur träumen konnte. „Ich hatte nicht erwartet, dass du deine Freunde mitbringst.“

„Das hatte ich ursprünglich auch nicht vor, es hat sich kurzfristig ergeben.“

Er neigte neugierig den Kopf. „Wie das?“

Jetzt nur keinen Fehler machen. Ich hatte mir mit Tyges Hilfe auf dem Weg hierher bereits eine Geschichte zusammengebastelt, jetzt musste ich sie nur noch glaubhaft rüberbringen. „Naja, die Lykaner wollten die nächsten Tage sowieso in die Stadt kommen, um ein paar Besorgungen zu machen, die sie im Wald nicht bekommen können, da hab ich sie eingeladen mich zu begleiten und so lange hier zu bleiben, wie sie in Sternheim sind.“ Mein Blick war schüchtern, vorsichtig. „Ich hoffe du bist mir nicht böse.“

Er guckte etwas zweifelnd. „Ich nicht. Mich stört es nicht, wenn ihr ein paar Tage hier bleibt, aber mein Papá wird das, fürchte ich, ein wenig anderes sehen.“

Ich riss meine Augen zu meinem schönsten Hundeblick auf, den ich zustande brachte und hoffte dass er ihm nicht widerstehen konnte. „Kannst du da nicht irgendwas tun?“ Ob ich leidig genug klang, damit er mir auf dem Leim ging?

„Ich weiß nicht.“

„Bitte, Erion.“ Oh Mann, ich kam mir gerade so richtig verabscheuungswürdig vor, seine Gutmütigkeit so auszunutzen, aber es ging nicht anders. „Nur dieses eine Mal. Ich verspreche auch, dass ich sowas nicht wieder tun werde.“

Nach einem kurzen Moment seufzte er geschlagen. „Ich werde sehen was ich tun kann.“

Vor Freude sprang ich von der Anrichte und fiel ihm um den Hals, um ihn einmal kräftig an mich zu drücken. Im ersten Augenblick schien er etwas überrascht, nahm mich dann aber seinerseits in die Arme. „Danke, du bist der Beste.“

„Aber ich kann nichts versprechen.“

„Das weiß ich doch.“ Ich löse mich ein wenig von ihm und grinste ihn an. „Aber allein dafür dass du es versuchen willst, ist dir mein Dank schon sicher.“

Daraufhin grinste auch er und wandte sich dann den Wölfen zu, die seltsam grimmig guckten. Und Pal erst, der fixierte Erions Arm auf meinem Rücken, als wollte er ihn notfalls mit Gewalt von meinem Körper trennen. Hastig machte ich einen Schritt zurück. Zwar war mir nicht ganz klar, was das zu bedeuten hatte, aber ich wollte nicht Schuld an einem möglichen Blutvergießen sein. Mann, meine Fantasiespielte wirklich mal wieder verrückt. Als wenn sich hier jemand wegen mir in die Wolle kriegen würde.

„Dann heiße ich euch vorerst als meine Gäste willkommen, muss aber leider darum bitten, Talita einen Moment unter vier Augen sprechen zu können.“

Pal kniff die Augen zusammen.

„Warum?“, kam es von Kovu. Auch Julica schien damit nicht einverstanden zu sein.

Was war denn jetzt los?

„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das geht nur sie und mich etwas an.“

„Ist schon gut“, sagte ich schnell, bevor das hier in einer handfesten Diskussion ausarten konnte. „Geht doch schon mal zu Tyge, ich komme dann gleich nach.“

Keiner bewegte sich.

Seufz.

„Bitte.“ Ich flehte mit den Augen geradezu darum, dass sie jetzt keinen Fehler begingen, der alles kaputt machen könnte. Sie in dieses Haus zu bekommen, war wichtig, deswegen wäre es nicht sonderlich klug, einen Aufstand zu machen, der sie alle auf die Straße brachte.

„Lass uns nicht zu lange warten, sonst kommen wir dich holen“, grinste Kovu und war der Erste, der sich in Bewegung setzte. Auf dem Weg nach draußen strich er mir sehr auffällig über den Arm. Auch Julica tat das, bevor sie ihm nach draußen folgte und ich stand mit einem großen Fragezeichen im Gesicht da. Was war das denn jetzt bitte schon wieder?

Pal dagegen legte mir die Hand auf die Schulter, drückte sie leicht und fixierte Erion mit einem Blick, der ihn wohl das Fürchten lehren sollte – also ehrlich, bei Veith wäre das sicher besser gekommen – und ging dann ohne ein Wort hinaus. Und ich? Ich stand da und wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Erion sah den Wölfen nachdenklich hinterher. „Ich hoffe du weißt, auf was du dich da eingelassen hast.“

„Bitte?“

„Die Lykaner.“ Er wandte sich mir zu. „Ich weiß nicht warum, aber sie scheinen dich vor etwas schützen zu wollen.“

„Quatsch.“ Ich winkte ab. „Die wollen sich nur kostenlos durchfuttern und dazu brauchen sie mich.“

Der Zweifel in Erion war nicht zu verkennen, dennoch sagte er. „Ich hoffe, du hast damit recht, denn wer mit den Wölfen spielen will, muss die Regeln kennen.“

Oh wie wahr. „Ich bekomme das schon hin, sie sind eigentlich ganz handzahm.“ Na hoffentlich bekommt keiner von ihnen raus, dass ich das gesagt hatte.

Erion schien ähnlich zu denken, denn er grinste belustigt. „Das hoffe ich für dich und doch solltest du ein wenig Acht auf dich geben. Durch Kaj habe ich ein wenig Einsicht in das Verhaltens eines Lykaners bekommen und sie sind nicht wie du und ich, sie sind im Herzen Tiere, rau und wild und sie sehen viele Dinger anders. Manchmal ist es nicht ganz einfach, ihr Verhalten zu verstehen und noch schwieriger es zu akzeptieren.“

„Wem sagst du das.“ Denn vom persönlichen Bereich hatten die definitiv noch nie etwas gehört. „Aber auch wenn ich noch nicht viel von ihnen weiß, ich bin lernfähig und so manches ist auch bei mir schon angekommen.“ Zum Beispiel den Kopf einzuziehen, wenn sie ihn einem abreißen wollen.

„Woran du immer denken solltest, wenn du mit ihnen zu tun hast, dass du ihnen die Stirn bieten musst“, empfahl er mir, „sonst überrennen sie dich einfach. Zeig ihnen, dass du keine Beute bist, sondern ein Jäger, der ihnen gleichgestellt ist.“

O-kay, das war dann wohl genau das Gegenteil von dem, was ich gerade gedacht hatte. Ich sollte ihnen die Stirn bieten? Ich war doch nicht lebensmüde!

„Wenn du ihnen die Möglichkeit lässt, werden sie auf die herumtrampeln.“

Danke, das hatten sie schon zu genüge, mehr brauchte ich nun wirklich nicht.

„Das darfst du ihnen nicht durchgehen lassen.“

Als wenn ich da eine große Wahl hätte. „Weißt du das alles wegen Kaj?“

„Natürlich. Was glaubst du, was ich am Anfang für Schwierigkeiten mit ihr hatte. Ich musste ihr mehr als einmal ziemlich deutlich zeigen, dass ich hier das Sagen habe. Lykaner brauchen sowas, eine strikte Ordnung, an die sie dich halten können, so fühlen sie sich am wohlsten, so wissen sie genau wo ihr Platz ist und was ihre Aufgaben sind.“

„Wie ein Alphatier“, überlegte ich laut.

Nickend stimmte er mir zu. „Kaj wurde von Ihresgleichen verbannt, ist mental aber nicht in der Lage lange als Einzelgänger zu leben, dafür ist sie einfach nicht geschaffen. Sie ist zu devot, sie braucht die Führung, ohne sie würde sie zu Grunde gehen und ich habe ihr diese Möglichkeit geboten.“

Wo wir schon mal beim Thema waren, da gab es eine Frage, die mir schon ziemlich lange unter den Fingernägeln brannte. „Stimmt es … also, ich hab gehört … wegen Kajs Vergangenheit …“

„Wenn du etwas über Kaj erfahren möchtest, dann solltest du dich lieber an sie wenden.“

Aber sicher doch, die würde mich doch gleich in blutige Streifen schneiden.

„Ich möchte ihr Vertrauen nicht missbrauchen und etwas preisgeben, dass sie dich eigentlich gar nicht wissen lassen möchte. Ich hoffe das verstehst du.“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. Natürlich verstand ich es, das bändigte meine Neugierde aber noch lange nicht. „Und wie kam es, dass sie jetzt hier bei dir ist?“

Erion neigte leicht den Kopf, so dass sein Haar in dem milchigen Licht von den Magieadern leicht dumpf wirkte. „Ich habe mich schon immer für die Lykaner interessiert, sie faszinieren mich, weil sie so anders sind als wir. Ihre Stärke beruht auf ihrer Gemeinschaft, nicht auf Magie wie bei anderen Arten. Und nichts und niemand kann dort hineindringen, oder sie zerstören. Sie sind alles, was sie haben und sie brauchen auch nichts anderes.“

Aha, sehr interessant, auch wenn das eigentlich nicht meine Frage gewesen war. „Und das erzählst du mir weil?“

„Damit du verstehst.“ Er verschränkte die Beine, während sein Blick in die Vergangenheit abtauchte. „Früher habe ich Papá noch hin und wieder zu seinen Jagdausflügen begleitet. Er bestand darauf, auch wenn ich nie Freude daran hatte.“ Er schüttelte den Kopf, als wolle er einen Gedanken loswerden. „Wie dem auch sei. Bei einem dieser Ausflüge fand ich Kaj nahe des Wolfsbaumwaldes. Natürlich erkannte ich auf dem ersten Blick, was sie war. Sie war schwer zugerichtet und kaum noch am Leben. Ich wollte sie zurück zu ihrem Rudel bringen, weil ich glaubte, dass man sich dort um sie kümmern würde, aber sie hat so panisch reagiert, dass ich mich trotz der Einwände meines Papás dazu entschloss, sie mit zu mir zu nehmen. Ich fand sie … interessant, sozusagen ein Studienobjekt direkt vor der Nase. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“

Das hörte sich irgendwie ziemlich kalt an.

„Sie hat Wochen gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen und in der Zeit hat sie mich wohl als ihren Alpha angenommen, so schwer das auch zu glauben sein mag. Sie hat mich nicht gestört, ganz im Gegenteil, sie ist sogar äußerst hilfreich bei meiner Arbeit und dann ist sie eben einfach geblieben. Wir sind Freunde geworden und ich möchte sie, trotz ihrer manchmal sehr aggressiven Art, nicht missen.“

Naja, jedem das Seine. Mich würde es nicht wirklich stören, wenn ich Kaj niemals kennengelernt hätte. Ihre Feindseligkeit konnte einem schon ganz schön auf die Nerven gehen. Aber da fiel mir noch etwas anderes ein. „Sag mal, hattest du nicht über irgendwas mit mir reden wollen?“

„Das habe ich doch gerade.“

„Nein, ich meine, weil du die Wölfe rausgeschickt hast.“

„Das meine ich auch.“

Hä?

Erion lächelte milde, als er die Fragezeichen in meinem Gesicht bemerkte. „Ich wollte mir dir über sie reden, dir einfach klar machen, auf was du dich einlässt, wenn du mit ihnen Kontakte pflegst.“

Ähm … okay. „Dann kann ich jetzt zu ihnen? Oder ist noch was?“

„Nein, geh nur. Ich werde dann auch sehen, dass ich mit Papá spreche, damit deine Freunde bleiben können. Aber denke immer daran, Talita, auch unter dem Antlitz des Mortatia bleiben sie Tiere, die anders gestrickt sind, als die Wesen dieser Welt.“

Das hätte er mir nicht sagen müssen, das hatte ich bereits gemerkt, als ich mich das erste Mal in Fangs Haus wiederfand.

 

°°°

 

Das Zimmer der Werwölfe auszumachen, war mehr als einfach, ich musste nur dem Geruch folgen. Irgendwie war es immer noch seltsam für mich, mir den Weg zu erschnüffeln, aber es hatte durchaus seine Vorteile.

An der Tür war ich kurz am überlegen, ob ich anklopfen, oder einfach reingehen sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Die Tür ging auf, jemand packte mich am Arm, zog mich rein und dann war die Tür auch schon wieder zu.

„Da ist sie ja!“, freute sich Kovu vom Bett aus, wo er gerade das mit Julica tat, was er gestern bei mir abgezogen hatte. Dieser Bengel kannte wirklich keine Scham. Naja, eigentlich kannte die ja kein Lykaner.

Der Raum war wesentlich schlichter eingerichtet als meiner. Ein großes Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank und eine weitere Tür, die wohl ins Bad führte. Das war es dann auch schon. Aber eines fiel sofort ins Auge, die Unmengen an Kissen, Laken und Decken, die halb ausgebreitet neben dem Bett lagen. „Wo habt ihr die denn alle her?“ Das sah ja fast aus wie ein Bau.

„Der Butler war so freundlich sie uns zu bringen“, teilte mir Pal mit. Er hatte es sich mitten im Herz des Haufens gemütlich gemacht. Tyge saß an das Kopfteil gelehnt mit im Bett, was hieß … ich riskierte einen Blick zur Seite und tatsächlich, es war Veith der mich da in den Raum gezogen hatte. Plötzlich kribbelte die Stelle, an der er mich berührt hatte ganz massiv.

Das bildete ich mir doch ein, oder? Vorsichtshalber ging ich trotzdem einen Schritt zur Seite. So kam ich in Pals Reichweite. Er schnappte sich meinen Arm und zog mich zu sich herunter, so dass ich halb auf ihn fiel.

„Verdammt, Pal!“, schimpfte ich und versuchte mich aus dem Knäuel an Decken und Laken zu kämpfen, was ihn nur lachen ließ. Aufstehen durfte ich auch nicht. Er erlaubte es mir zwar, mich aufzusetzen, aber als ich dann wegkrabbeln wollte, zog er mich zurück und nach einer kleinen Rangelei, die uns beide lachen ließ, lehnte ich dann mit dem Rücken an seiner Brust und tat beleidigt, weil er so viel stärker war als ich.

Das tat seiner Laune natürlich keinen Abbruch, der Fall lag genau anders, er schien sich darüber zu freuen.

„Hmpf“, machte ich, was zur Folge hatte, dass Pal an einer meinen weißblonden Strähnen rumzupfte, bis ich sein Hand wegschlug.

„Wir müssen besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen“, sagte Tyge so leise, dass es mir selbst mit meinem verbesserten Gehör schwer fiel, ihn zu verstehen. Vermutlich hatte er Angst, dass wir belauscht wurden.

„Erion wird auf jeden Fall dafür sorgen, dass ihr erst mal hier bleiben könnt“, warf ich einfach mal in den Raum. „So können wir uns auch im Haus umsehen. Vielleicht finden wir ja etwas.“

Tyge nickte. „Das werden wir auf jeden Fall tun, heute Nacht noch, wenn alle schlafen.“

So schnell? Andererseits, worauf sollten wir noch lange warten? Wer konnte schon vorrausahnen, wie lange Anwar die Anwesenheit der Lykaner duldete. Wurde mich echt nicht wundern, wenn er sie morgen schon vor die Tür setzten würde.

Veith setzte sich in Bewegung und ließ sich direkt neben mir auf das Bettzeug sinken. Das war mir zu nahe. Ich konnte ihn so schlecht einschätzen und war allein bei seinem Anblick schon ständig verunsichert, da brauchte ich ihn nicht auch noch fast auf meinen Schoß zu sitzen haben. Unauffällig rutschte ich von ihm weg, drückte mich praktisch gegen Pal, der die Gunst der Stunde natürlich sofort ergriff und mir eine Hand auf den Bauch legte. Vorsichtig, als wollte er fragen: „Ist das okay?“ Und ja, irgendwie war es das, zumindest bei Pal, auch wenn ich mich im ersten Moment noch anspannte.

Veith ließ ich nicht anmerken, ob er mein Gebaren bemerkte, seine Augen lagen nur ruhig auf mir. „Kannst du uns in sein Arbeitszimmer bringen?“

„Ich weiß wo es ist, wenn es das ist, was du meinst, aber wenn es abgeschlossen ist, sehe ich keinen Weg hinein.“ Denn mal ehrlich, ich war in der Zwischenzeit vieles, aber sicher kein Einbrecher.

„Das wird kein Problem sein“, sagte Julica, als besprechen wir hier die Farbe ihres Nagellacks – sie trug keinen, nur um das klar zu stellen – und kraulte Kovu dabei unbeirrt den Nacken.

„Weiter wäre es vielleicht sinnvoll noch einmal mit Gaare zu sprechen“, überlegte Pal. Seine Finger zogen träge Kreise auf meinem Bauch, die ein leichtes Prickeln verursachten.

Ich ließ ihn einfach gewähren. Ein Aufstand würde eh nichts bringen. „Das ist sicher kein Problem. Ich werde ihn fragen, gleich morgen.“

Tyge nickte. „Vielleicht kann er auch dafür sorgen, dass wie Einblick in die Akten der Wächter erhalten. So wie du gesagt hast, scheint er viele Fähigkeiten zu haben.“

„Eher viele Bekannte, aber ich kann dir nicht versprechen, dass das klappen wird.“ Wer wusste schon wie Gaare darauf reagierte, dass wir seinen Boss auf dem Kicker hatten. Klar, bei den Informationen wegen der verschwundenen Werwölfe war er sehr hilfsbereit gewesen, aber wer, außer ihm, wusste schon, wo genau er die Grenze zog.

„Dann sollten wir es erst mal auf einem anderem Weg versuchen“, kam es von Veith. „Ich würde nur ungerne die Einhörner scheu machen.“

Einhörner? Hieß das nicht Pferde?

„Und wie?“, fragte Julica. „Ich glaube nicht, dass die Wächter uns mal einen Blick hineinwerfen lassen werden, nur weil wir ganz lieb bitte sagen.“

„Vielleicht kann ich uns da weiter bringen.“ Damit hatte ich die sofortige Aufmerksamkeit. „Die Nichte von Djenan, Obaja, ist die Gefährtin von einem Wächter, das hat er mal nebenbei erwähnt. Ich kann ihn ja mal fragen, ob er da was arrangieren kann.“

Wieder ein Nicken von Tyge. „Tu das.“

„Gleich morgen nach dem Frühstück schaue ich bei ihm vorbei“, versprach ich.

„Veith und ich werden dich begleiten“, sagte er dann. „Die anderen werden sich in der Zeit ein wenig in der Stadt umhören.“

Veith? Ich sollte mich mit Veit auf die Socken machen? Konnte er mir nicht lieber Pal geben? Der war mir um einiges lieber. Vorsichtig riskierte ich einen Blick auf den Genannten. Was er wohl davon hielt? Ich würde ihn sicher nicht fragen.

„Wir werden …“ Tyge unterbrach sich sofort, als es an der Tür klopfte. Im ersten Moment schien sich keiner dafür verantwortlich zu fühlen sie zu öffnen. Ja sie schienen regelrecht verärgert über die Störung, also wollte ich aufstehen, doch Pal hielt mich fest.

„Hey, lass das, ich will …“

„Veith macht das schon.“

Und tatsächlich, Veith war schon auf den Beinen, öffnete die Tür aber nur einen Spalt. Erst als ich Erions Stimme vernahm, machte er sie weiter auf, so dass der Magier einen prima Blick in das Zimmer hatte. Irgendwie war es mir unangenehm, dass er mich so sah, aber als ich mich von Pal lösen wollte, hielt er mich wieder fest.

Das sollte ich ganz schnell unterbinden, das ging ja mal gar nicht.

Erion schien sich daran aber nicht zu stören. „Ich habe gerade mit meinem Papá gesprochen“, kam er gleich ohne Umschweife zum Punkt, „und er ist, gelinde gesagt, nicht begeistert von eurer Anwesenheit.“

Na das konnte ich mir vorstellen.

„Aber ich habe ihm auch klar gemacht, dass es unhöflich von ihm wäre, so seltenen Besuch nicht als Gäste zu ehren und es auf ihn zurückfallen könnte, schließlich seid ihr ein Teil des Codex.“

Oh, ich konnte geradezu bildlich sehen, wie Anwar darauf reagiert hatte. Er wollte ja nichts lieber, als die Lykaner aus dem Codex verbannt zu haben.

„Ihr könnt also hier bleiben, aber ihr solltet ihm aus dem Weg gehen, sonst macht ihr euch das Leben nur unnötig schwer.“

„Danke.“ Und das meinte ich ganz ehrlich.

Erion nickte mir nur zu. „Nun, ich will dann auch nicht länger stören. Ich wünsche eine gute Nacht.“ Er nickte allen noch mal allgemein zu und dann war er auch schon wieder weg.

In der nächsten Stunde besprachen wir noch ein paar Einzelheiten und Abläufe und warteten darauf, dass wir uns hinausschleichen konnten. Es war schon nach vor Mitternacht, als ich leicht einnickte und etwas später durch sanftes Rütteln von Pal geweckt wurde.

„Wie spät ist es?“, nuschelte ich noch halb verschlafen.

„Zeit um aufzubrechen“, lächelte er.

Ich gähnte einmal herzhaft, rieb mir die Augen und richtete mich dann auf, um die müden Knochen zu strecken. „Na dann mal los.

 

°°°°°

Tag 67

Im ganzen Haus war es ruhig und dunkel, selbst die Magieadern schienen für die Nacht zu ruhen. An der Seite der Werwölfe schlich ich etwas verkrampft durch die Flure. Nicht nur, dass ich Angst hatte, man könnte uns erwischen, nein, mein Rücken tat auch wieder weh. Also entweder hatte ich mich bei meiner kleinen Siesta verlegen, oder – und das glaubte ich eher – ich hatte mich bei dem Sturz schlimmer verletzt, als ich geglaubt hatte. Komisch war nur, dass ich den ganzen Nachmittag keine Beschwerden gehabt hatte. Jetzt spürte ich mein Kreuz bei jedem Schritt und das war nicht angenehm.

Pal drückte sein leicht borstiges Fell gegen mein Bein, als spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Er hatte sich verwandelt, damit wir eine Spürnase bei uns hatten – hi hi. Zwar konnte er auch in menschlicher Gestalt ausnehmend gut riechen, aber auf vier Beinen war es halt noch besser.

Ich führte unsere kleine Gruppe durch den stillen Korridor. Tyge und Kovu waren zurückgeblieben, zu viele waren nicht nützlich und nachher traten wir uns nur gegenseitig auf die Füße. Nein, weiniger war manchmal halt doch mehr.

Wir liefen so langsam, um auch ja kein Geräusch zu machen, dass ich zwischenzeitlich schon glaubte, wir würden nie an unser Ziel kommen, doch irgendwann standen wir dann in der nächtlichen Dunkelheit vor Anwars Büro. Die einzige Lichtquelle war der Mond, aber selbst der versteckte sich zum Teil hinter dicken Wolken, als wolle er einfach nicht sehen, was wir hier trieben.

Per Fingerzeig deutete ich ihnen, dass wir hier angekommen waren und wollte nach der Türklinke greifen, um zu sehen, ob das Büro offen war, doch Veiths Arm preschte vor und hielt meinen fest. Stirnrunzelnd sah ich erst auf seine Hand, dann in sein Gesicht und war mir nicht ganz sicher, ob ich dem Bedürfnis nachgeben sollte ihm ein paar zu klatschen. Das die Werwölfe sich immer die Freiheit herausnahmen, alles und jeden anzutatschen, konnte einen wirklich in den Wahnsinn treiben.

Veith schüttelte nur den Kopf, aber als er seine Hand nicht von allein von mir löste, tat ich das für ihn und drohte ihm mit Blicken, dass er das in Zukunft zu unterlassen hatte, wenn ihm etwas an seinem Leben lag. Natürlich wurde das von ihm mal wieder rigoros ignoriert. Blödmann.

Er gab Julica ein Zeichen, das ich nicht verstand, sie aber offensichtlich, denn sie nahm eine kleine Ampulle aus der Tasche ihres Lendenschurz, entkorkte sie und trank einen Schluck. Dann reichte sie das gläserne Gefäß an Veith weiter, der es ihr gleich tat und mir das Teil dann hinhielt.

Nur zögernd nahm ich es in meine Hand und sah mir die ganze Angelegenheit erst mal ganz genau an. Das Fläschchen erinnerte mich an ein Glasröhrchen aus dem Chemieunterricht in der Schule. Die Flüssigkeit darin war grünlich und hatte einen sehr intensiven Geruch nach Blumen. Das war so schlimm, dass ich kurz am überlegen war, mir die Nase zuzuhalten. Und das sollte ich trinken? Wofür? formte ich lautlos mir den Lippen und hoffte das Veith es trotz der Dunkelheit gesehen und auch verstanden hatte.

Entweder das, oder er hatte sich heute massiv den Kopf angeschlagen, weil er mir seinen Arm vor die Nase hielt und zwar so plötzlich, dass ich mich gezwungen sah, vor ihm zurückzuweichen, um nicht erwischt zu werden. Das störte ihn nicht, er hielt mir den Arm nur noch nachdrücklicher hin.

Ich konnte nur verwirrt das Gesicht verziehen. Was bitte sollte mir diese Geste auch sagen?

Wäre Veith der Typ dafür, hätte er wohl die Augen verdreht, so aber roch er an seinen Arm und hielt ihn mir dann nochmal hin. O-kay, wenn ich ihn jetzt richtig verstanden hatte, sollte ich an ihm riechen, nur den Gedanken dahinter verstand ich immer noch nicht. Trotzdem beugte ich mich vorsichtig vor. Ich berührte ihn nicht und ich ließ ihn dabei auch nicht aus den Augen, wer wusste schon was da so alles in seinem Kopf vor sich ging.

Seine Haut roch nach … Blumen? Das kam überraschend. Ich hatte Veith auf keinen Fall für den Blümchentyp gehalten. Bei einem solchen Kerl erwartet man eher einen dunkeln, rauchigen Geruch, der … Blumen! Mann, Geistesblitze waren bei mir heute wohl aus. Ich sah auf das Flächen in meiner Hand, dann auf Veith und da er nickte, musste ich wohl die richtigen Schlüsse gezogen haben. Er roch wegen dem grünen Zeug nach dem bunten Grünzeug – ja, schon klar, bunt und grün, passt nicht recht –, aber der Sinn dahinter blieb mir leider noch verborgen. Warum sollte ich nach Blumen riechen, stank ich etwa? Dann wäre das auf jeden Fall eine sehr unkonventionelle Methode mir das mitzuteilen.

Da Veith mein Zögern langsam ungeduldig machte, nahm ich einen kleinen Schlick von dem Zeug, bevor er auf die Idee kam, es mir persönlich einzuflößen. Es war nicht nur bitter, bei dem Geschmack zogen sich mir jegliche Nervenzellen zusammen und meine Augen fingen auch noch an zu tränen. Das war echt ekelhaft und dass ich nicht würgte und alles wieder ausspuckte, lag nur ein meiner eisernen Willenskraft. Ein keuchendes Husten allerdings konnte ich nicht unterdrücken. Wie hatten Veith und Julica das trinken können, ohne nur mit der Wimper zu zucken? Mich schüttelt es am ganzen Körper und ich hatte das dringende Bedürfnis, etwas nachzuspülen, doch ich hatte nur noch mehr von dem Zeug und das würde ich definitiv nicht mehr trinken.

Veith nahm mir das Röhrchen aus der Hand und gab den Rest Pal, dem sich sofort die Nackenhaare sträubten. Na wenigstens war ich hier nicht die Einzige, die von dem Zeug Gänsehaut bekam. Das war einfach nur ekelerregend.

Julica nahm das Flächen wieder an sich, verstaute es in der Tasche und huschte dann lautlos an mir vorbei. Vorsichtig betätigte sie die Türklinke und – oh Wunder – sie war offen. Ein triumphierendes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie dir Tür lautlos aufzog und wir einer nach dem anderen in das Büro huschten. Sie zuletzt und genauso leise wie sie uns geöffnet hatte, verschloss sie den Raum nun wieder.

Pal verzog die Nase. „Das Zeug ist widerlich.“ Er leckte mit der Zunge über seine Lefzen, als hoffte er, damit den Geschmack aus der Schnauze zu bekommen.

„Da kann ich dir nur zustimmen.“ Auch ich hatte hart an meiner Galle schlucken müssen. „Was ist das überhaupt für ´nen Zeug?“

„Er überdeckt unseren Geruch.“ Veith schritt zielsicher auf den großen, protzigen Schreibtisch zu und machte sich daran die Schubladen zu durchsuchen, während Pal anfing, den Raum abzuschnüffeln. Julica ging zu den Bücherregalen.

Damit blieben mir die Aktenschränke. „Und warum müssen wir unseren Geruch überdecken?“

„Wegen Kaj“, kam es leise von Julica. Sie zog ein Buch nach dem anderen raus, schüttelte es einmal aus und stellte es dann zurück. „Sie wohnt hier und wir können es nicht riskieren, dass sie unseren Geruch zufällig in diesem Raum aufschnappt.“

Okay, soweit hatte ich nicht gedacht. „Ihr scheint echte Profis im Einbrechen zu sein.“ Da fragte man sich doch, wie oft sie sowas schon getan hatten. Leider war hier gerade nicht der passende Ort, um so ein Thema zu besprechen, aber aufgeschoben war ja nicht aufgehoben. Ich würde es mir für später merken, denn das bedurfte dringender Klärung. So sah ich das zumindest.

Ruhig und systematisch begann ich damit Akte um Akte oberflächlich durchzublättern. Aber mehr als Protokolle irgendwelcher Sitzungen, Anträge, Ablehnungen, Briefe der Einwohner und all solch ein Zeug fiel mir nicht in die Hände. Auch von den anderen war nichts als leises Wühlen in Papieren zu hören. Hin und wieder eine Schublade, die Veith etwas zu laut schloss. Einmal nieste Pal, als er Staub in die Nase bekam, aber das war dann auch schon alles.

Schweigend sahen wir alles durch, dessen wir habhaft werden konnten. Nach der erfolglosen Durchsuchung des Schreibtischs, gesellte sich Veith sogar an meine Seite, um die siebentausend Akten durchzusehen. Mann, wozu brauchte ein Mensch nur so viel Papierkram?

„Hier ist was“, kam es dann von Pal und hatte damit die sofortige, allgemeine Aufmerksamkeit. Vielleicht war es nicht sonderlich geistreich, dass wir einfach alles stehen und liegen ließen, aber jeder legte hin was er gerade in der Hand hatte und eilte zu dem roten Wolf in der Ecke, der sehr intensiv an einem braunen Vorhang herumschnüffelte.

Julica war die Erste die ihn erreicht hatte. Mit einem Ritsch riss sie den Vorhang zur Seite und legte eine weitere Tür offen, die mir bisher noch nie aufgefallen war – wahrscheinlich war das auch der Grund für den Vorhang.

Die schwarzhaarige Lykanerin wollte schon nach der Klinke greifen, als ein „Warte!“ von Veith sie mitten in der Bewegung stoppte.

Er eilte mit mir im Rücken heran, kniff die Augen zusammen und inspizierte so eine bestimmte Stelle auf der Tür. „Da“, sagte er dann und zeigte auf einen Punkt an der Klinke. „Sie ist gesichert.“

Ich musste mich an Veith vorbeibeugen, um zu erfahren, was er damit meinte. Genau an der Klinke, zwischen Rahmen und Tür war ein schwaches Glühen von einer Magieader auszumachen. Es schien aus der Wand zu kommen und in das Holz der Tür einzusickern, aber um das zu sehen, musste man wirklich sehr genau hingucken. „Was bedeutet das?“, wollte ich wissen und richtete mich wieder auf.

Pal legte die Ohren an und zuckte unzufrieden mit dem Schwanz. „Es beutet, dass wenn wir die Tür aufmachen, ein Alarm losgeht.“

„Vielleicht sogar schon, wenn wir die Tür berühren“, fügte Julica hinzu.

Also Fort Knox sicher. „Das bedeutet, egal was dahinter ist, Anwar will auf keinen Fall, dass es jemand zu Gesicht bekommt.“

Pal nickte. „Ein Grund mehr für uns, da reinzukommen.“

„Und wie?“, fragte Julica genervt. „Kannst du neuerdings Magie lenken?“

„Hör auf mich anzumachen“, knurrte er. „Ich habe nur etwas festgestellt und von dir kam bisher auch nichts Gescheites. Wenn Veith dich nicht aufgehalten hätte, hättest du bereits den Alarm ausgelöst.“

Dafür bekam er einen wirklich bösen Blick.

Veith bekam wieder diese kleine, niedliche Falte – niedlich? – und legte den Kopf schief, um einen besseren Blick zu bekommen. „Das wird so nichts, wir brauchen …“ Sein Kopf wirbelte herum und im gleichen Moment hörte auch ich es. Stimmen. Draußen auf dem Korridor war jemand und hielt genau auf diesen Raum zu.

Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Veith mich am Arm packte – schon wieder ohne meine Erlaubnis, nur so nebenbei – und mich durch den ganzen Raum zerrte. Vorbei an den Aktenschränken, die er noch schnell schloss und dann schob er mich unter den protzigen Schreibtisch, der vorn verblendet war. Bevor er mich praktisch da runter stieß, sah ich noch, wie Julica den Vorhang wieder verschloss und zum Fenster eilte, um sich in die Nische zwischen Wand und Schrank zu kauern, dann quetschte ich mich auch schon in den kleinen Hohlraum. Lange blieb ich nicht allein, weil auch Veith sich mit hineindrängte, aber wo war … „Pal?“, flüsterte ich und bekam sofort eine Hand auf den Mund geklatscht.

Stimmen wurden vor dem Büro laut und keine Sekunde später ging die Tür auf und die Magieadern tauchen den Raum in sanftes Licht.

„… nicht mehr machen!“ Das war Kajs Stimme. „Du kannst mich nicht dazu zwingen, ich muss nicht auf dich hören.“

Ein Schnauben, Schritte.

„Solange du unter meinem Dach wohnst, wirst du tun was ich verlange.“ Anwar.

Ich drückte mich tiefer in unser Versteck und auch Veith rutschte nach. Er war mir so nahe wie noch nie, drückte seinen Körper gegen mich, die Hand noch immer auf meinem Mund, aber ich merkte es kaum, dafür war ich gerade viel zu abgelenkt.

Warum zum Teufel war Anwar noch nicht im Bett und was hatte Kaj bei ihm zu suchen?

„Ich will das nicht und Erion hat gesagt, dass ich nicht auf dich hören muss, wenn ich …“

Etwas krachte auf den Schreibtisch – eine Faust? – und ich fuhr vor Schreck fast aus der Haut. Scheiße. Plötzlich kam mir mein Herzschlag viel zu laut vor und ich konnte meine Atmung einfach nicht beruhigen. Er musste uns hören, etwas anderes war gar nicht möglich.

„Auch Erion wohnt unter meinem Dach“, sagte Anwar gefährlich ruhig und aus heiterem Himmel erinnerte ich mich an den Besuch der Werwölfe aus dem Steinbachrudel. Es stand mit klar vor Augen, was Anwar in seiner Wut angerichtet hatte und ich wünschte mich ganz weit weg. Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, dass es klug wäre, mitten in der Nacht in sein Büro einzusteigen? Ich hätte doch wissen müssen, dass die ganze Aktion bei meinem Glück nach hinten losginge.

„Du magst vielleicht sein kleines Haustier sein …“

„Ich bin kein Haustier“, knurrte Kaj.

„… aber ich bin immer noch der Herr in diesem Haus. Ich bin Wesensmeister von Sternheim …“

Ein bisschen größenwahnsinnig der Gute, was?

„… und ich werde deinen Ungehorsam nicht dulden. Du tust, was ich sage, sonst weißt du, was passiert.“ Wieder Schritte. „Ich versteh sowieso nicht, warum du diese räudigen Köter noch schützen willst, nicht nachdem, was die dir angetan haben.“ Er lachte auf, als hätte er einen besonders guten Witz gehört. „Da sieht man es doch mal wieder, ihr Wilden seid nichts als unzivilisierte Tiere, ihr versucht ja schon, euch gegenseitig umzubringen.“

Dann wurde es ruhig, als müsste Kaj darüber nachdenken.

Was war hier los?

Ich merkte erst wie ich zitterte, als Veith versuchte mich durch gleichmäßige Streichbewegungen auf dem Arm zu beruhigen. Gott, warum war er nicht so am ausflippen, warum konnte er nie eine Gefühlsregung zeigen? Ich sah ihm in die Augen, aber er beachtete mich gar nicht, horchte nur angestrengt auf das Gesprochene, auf die Bewegungen im Raum.

Etwas bewegte sich in meinem Augenwinkel. Julica. Sie hatte sich leicht vorgebeugt, ließ sich dann auf alle viere fallen und … ja war die denn des Wahnsinns? Sie krabbelte einfach los. Schnell, lautlos und direkt zu mir und Veith. Selbst wenn Kaj und Anwar gerade nicht in ihre Richtung sahen, war das nicht nur eine gefährliche Aktion, sondern dazu noch eine saudämliche. Ich wollte gar nicht wissen, was der Wesensmeister mit uns anstellte, sollte er uns in seinem Büro entdecken – wenn wir Glück hatten, würden wir einfach auf der Straße landen, an alles andere wollte ich gar nicht denken.

Julica gab Veith ein Zeichen, dass ich nicht kapierte. Er aber schon. Er nickte und dann krabbelte die Wölfin weiter. Am Schreibtisch vorbei, um die Ecke. Was hatte sie vor?

„Sie haben geglaubt, das Richtige zu tun“, sagte Kaj dann schwach.

Wieder ein Schnauben von Anwar. „Sie glauben auch, dass sie über allen anderen stehen, halten sich für etwas Besseres, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch so ist.“

Wieder Stille, Schritte.

„Also, Kaj, was ist nun, kann ich auf dich zählen, oder muss ich zu anderen Mitteln greifen?“

Was das für Mittel waren, ließ er offen, doch ich horchte auf und im meinem Kopf begann es zu arbeiten. Mit was konnte Anwar Kaj drohen und was wollte er eigentlich von ihr? Er sprach von den Wilden, damit konnte er nur die Lykaner meinen. Sollte es hier um die verschwundenen Werwölfe gehen? Mein Herz schlug bei dem Gedanken schneller.

„Ich werde sehen, was ich machen kann“, gab sie sich mit schwerer Stimme geschlagen.

„Sehr schön. Dann werde ich hoffentlich bald genug Belege haben, die ich dem Rat vorlegen kann.“ Er bewegte sich durch den Raum. Ich konnte genau hören welchen Weg er nahm und mir blieb fast das Herz in der Brust stehen, als seine Beine vor dem Schreibtisch auftauchten. „Ich werde dafür sorgen, dass er nicht länger die Augen vor Tatsachen verschließen kann und du wirst mir dabei helfen.“

Nein, dachte ich betrübt, hier ging es nicht um die verschollenen Lykaner, sondern um den Codex. Hieß das, dass Kaj Anwar helfen wollte, die Wölfe aus dem Bündnis auszuschließen? Na gut, von wollen konnte hier nicht wirklich die Rede sein, aber ihr musste doch klar sein, was es auch für sie bedeutete, wenn sie ihm – wie auch immer – bei seinem Vorhaben unter die Arme griff.

„Natürlich werde ich das.“

Kajs Worte klangen weniger wie „Aber gerne doch“ als viel mehr wie „Als wenn ich die Wahl hätte“, oder „begegne mir bei Dunkelheit, dann hat dein letztes Stündchen geschlagen.“

„Gut, dann geh jetzt, ich erwarte, dass du gleich morgen früh … ahh!“

Bei seinem überraschten Ausruf, wäre ich fast an die Decke gesprungen, nur Veiths Griff hielt mich still. Verdammt, ich wollte hier raus und zwar ganz schnell! Das machten meine Nerven nicht mehr lange mit.  

Etwas krachte, als sei es gegen die Wand geflogen. „Verfluchter Geist!“, schimpfte Anwar und verschwand wieder vom Schreibtisch. „Ich muss endlich was gegen ihn unternehmen!“

Ghost?

„Geister lassen sich aber nicht vertreiben“, sagte Kaj ziemlich altklug. „Nicht, wenn sie nicht wollen.“

„Raus“, kam es nur von dem Magier. Wow, der konnte ja auch knurren.

Leise, leichte Schritte entfernten sich Richtung Tür, nur um dort noch mal einen Moment zu verharren. „Übrigens solltest du das Personal anweisen, etwas weniger Duftstoffe beim Putzen zu verwenden, hier drinnen stinkt es penetrant nach Blumen.“ Dann war sie weg.

Das hatte sie ja jetzt noch raushauen müssen, was? Nicht nur, dass ich hier unter dem Schreibtisch eingeklemmt mit Veith verharren musste, jetzt bemerkte sie auch noch den Blumenduft.

Als sich Anwar wieder in unsere Richtung bewegte, wurde ich ganz starr. Ich drückte mich gegen Veith, als könnte ich da Schutz finden, obwohl ich genau wusste, dass wir beide dran wären, wenn Anwar nur einen Blick unter seinen Tisch riskierte. Es war eine irreale Handlung, aber Veith war im Moment halt mein einziger Verbündeter in diesem Raum.

Den Geräuschen nach zu urteilen, suchte Anwar etwas in der Schublade. Ich konnte ein Stück von seiner purpurnen Robe erkennen, aber er hatte scheinbar nicht vor, sich hier häuslich niederzulassen, da er auch gleich darauf wieder aus meinem Sichtfeld verschwand. Er bewegte sich durch den Raum, den Schritten nach zum anderen Ende des Büros. Ein Ritsch, das gleiche Geräusch das Julica vorhin gemacht hatte, als sie den Vorhang vor der verborgenden Tür zur Seite gezogen hatte.

Veith erkannte wohl im gleichen Moment wie ich, dass Anwar in den verschlossenen Raum ging. Ja ich konnte die Zahnrädchen in seinem Kopf geradezu arbeiten hören, als er überlegte, wie wir uns das zunutze machen könnten. Doch das ging nicht, Anwar war jetzt darin.

Etwas zerbracht klirrend. „Was zum … dieser verdammte Geist!“, hörte ich Anwar wütend.

Schon wieder Ghost? Was machte der Kleine hier? Das war ja fast, als wollte er Anwar ablenken, oder weglocken. Konnte das wirklich sein? Ich wusste nichts über die Intelligenz von Geistern, aber bisher war mir der kleine Kerl immer wie ein einfacher Kater vorgekommen. Einer, der viel Schabernack trieb – besonders gerne mit den Zerberus´ von Anwar – aber nichts desto weniger ein Kater.

Stampfende Schritte, eine Tür knallte und ließ mich erneut zusammenzucken. Grummelnd wütete der Hausherr etwas in seinen Bart, dann knallte eine zweite Tür. Die Magieadern erloschen und ich saß mit Veith unter einem Schreibtisch in der Dunkelheit. Erst jetzt wurde mir so wirklich bewusst, wie nahe wir uns eigentlich waren. Ich saß halb auf seinem Schoß, hielt mich an seinen Schultern fest, während er seinen Arm um mich geschlungen hatte.

Zeitgleich sahen wir uns in die Augen, verharrten einfach so, bis uns so richtig bewusst wurde, wer der Andere war. Ich fuhr so schnell vor ihm zurück, dass ich mit dem Kopf gegen den Tisch knallte. Scheiße, das gab sicher ´ne Beule.

Veith hob nur leicht die Augenbraue, wandte sich dann aus dem Knäuel, das wir bildeten und kroch leise aus unserem Versteck. Vorsichtig, langsam. Er horchte, aber wir waren allein. „Komm“, flüsterte er nur, dann verschwand er aus meinem Sichtfeld.

Da ich hier nicht versauern wollte, blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Ich krabbelte heraus, richtete mich gerade auf, dass mein Rücken nur so knarrte und entdeckte Veith am anderen Ende des Raumes, wie er die geheimnisvolle Tür erneut untersuchte. Er kniff die Lippen zusammen und ließ den Vorhang wieder zurückfallen. „Verschlossen“, war sein einziger Kommentar.

Als wenn mich das jetzt interessierte. Das Einzige, was ich wollte, war schnell aus diesem Raum zu verschwinden. Ich eilte zu der Bürotür, drückte die Klinke und … „Nein, nein, nein!“ Sie war auch verschlossen. Warum war die denn jetzt bitte nicht offen? Ich war noch hier drin und ich wollte raus! Ich drückte sie nochmal und nochmal, doch sie wollte einfach nicht aufgehen. „Das soll wohl ein schlechter Witz sein!“

„Sei leise“, bekam ich den Befehl von seiner Halsstarrigkeit.

„Aber ich will …“

Wieder wurde mir eine Hand auf den Mund geklatscht. Dann packte Veith mich an der Taille und presste mich mit sich zusammen an die Wand. Ich versuchte ihn abzuschütteln, woraufhin er sich mit dem ganzen Körper gegen mich drückte und mir keinerlei Bewegungsfreiraum mehr blieb. Was sollte das denn bitte werden?

„Du musst ruhig sein“, flüsterte er an meinem Ohr und ich konnte seinen warmen Atem spüren. War ich eigentlich noch zu retten? Er quetschte mich hier gegen die Wand und ich nahm ausgerechnet das wahr?

Und dann hörte ich die Schritte auf dem Korridor. Sie kamen so schnell heran, dass wir keine Möglichkeit mehr hatten, uns zu verbergen. Das Schloss klickte, die Tür schwang auf und ein ziemlich wütender Anwar rauschte in den Raum …

… direkt an uns vorbei.

Veith fackelte nicht lange, schob mich aus der offenen Tür um die Ecke und drückte mich da gegen die Wand. das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert.

Ich blieb ganz still. Hatte Anwar uns bemerkt? Hatte er gesehen, wie wir aus dem Raum geschlüpft waren, oder würden wir noch einmal davon kommen?

Alles blieb ruhig. Ich konnte zwar hören, wie der Wesensmeister sich im Büro bewegte, aber er kam nicht raus. Sollte das Glück uns wirklich mal holt sein? Es hatte ganz den Anschein.

Langsam ließ Veith mich los, blieb aber im Schutz der Wand, damit der Magier ihn nicht durch die offene Tür entdecken konnte. Er deutete mir leise zu sein und schlich dann den Flur entlang.

Na, das hatte er jetzt wirklich tun müssen. Als wenn ich hier jetzt einen auf wildgewordenen Elefant machen würde. Der hielt mich wohl für völlig schwachsinnig. Idiot.

Leise schlichen wir auf den gleichen Weg zurück durch das dunkle Haus, auf dem wir gekommen waren. Ich konnte es immer noch nicht richtig fassen, dass wir nicht entdeckt wurden und mein Herz würde wahrscheinlich Wochen brauchen, um sich von dem Schrecken heute Nacht zu erholen.

Erst als ich das Zimmer der Werwölfe betrat und Veith die Tür hinter mir verschloss, erlaubte ich es mir, tief durchzuatmen und einfach mal in mich zusammenzusacken – wortwörtlich. Direkt vor der Tür gaben meine Beine nach und ich fand mich auf dem Boden wieder. Das war zu viel für mein Nervenkostüm gewesen. „Das war, verdammte Scheiße noch mal, knapp gewesen.“

„Wow, ich glaube nicht, dass ich sie schon einmal fluchen gehört habe“, griente Kovu. Er saß vor Julica am Bett gelehnt und kraulte den roten Pelz von Pal. Verdammt, den hatte ich in der ganzen Hektik ja total vergessen.

„Was … wie bist du aus dem Büro gekommen?“ Ich hatte ihn das letzte Mal gesehen, bevor Anwar mit Kaj hereingeschneit war. Und auch Julica, sie war irgendwann einfach an uns vorbeigekrabbelt.

Pal erhob sich von dem Deckenlager und trappte zu mir, um mir seinen riesigen Schädel ins Gesicht drücken zu können. „Ich hab neben der Tür gekauert und als sie aufging, bin ich einfach herausgeschlüpft. Sie haben mich nicht gesehen.“

Also in etwa so wie ich und Veith. Ich richtete meinen Blick auf Julica und sie verstand mich ohne Worte.

„Bin rausgehuscht, als die beiden gerade nicht hingesehen haben.“

„Aber die viel wichtigere Frage“, mischte sich Tyge vom Bett aus ein, „ist doch, ob ihr etwas herausgefunden habt.“

„Nichts Nützliches“, seufzte Julica. „Nur das da jemand mal dringend die Bücher abstauben müsste.“

„Dem kann ich nur zustimmen“, sagte Pal.

„Im Schreibtisch war nichts“, kam es von Veith.

Tyges Blick richtete sich auf mich.

Ich zuckte nur die Schultern. „Ich konnte nicht alle Akten durchgehen, dafür war die Zeit zu kurz, aber was ich in der Hand gehalten habe, hatte nicht mit euch oder anderen Lykanern zu tun. Nur Papiere und Dokumente, die die Stadt betreffen.“

Veith nickte zustimmend. „Bei mir auch.“

„Wäre ja auch zu einfach gewesen, so schnell etwas zu finden“, kam es wenig hilfreich von Kovu, woraufhin sich alle Blicke auf ihn richteten. „Was denn? Ich meine ja nur.“

„Da ist noch eine Tür“, erklärte Julica dann, „aber die war verschlossen und magisch versiegelt. Da sind wir nicht reingekommen.“

Während die fünf leise miteinander diskutierten, ließ ich die letzte Stunde noch mal in meinem Kopf Revue passieren, insbesondere das Gespräch zwischen Kaj und Anwar. Jetzt, wo ichin Ruhe darüber nachdenken konnte, wurden mir zwei Sachen sonnenklar. Erstens, es war dabei um den Codex gegangen, da war ich mir sicher und zweitens … „Er erpresst Kaj.“

Tyges Blick richtete sich wieder auf mich. „Wer?“

„Anwar. Ich weiß nicht womit, aber er erpresst Kaj, damit sie ihm hilft euch aus dem Codex zu werfen.“

Fünf unverständliche Gesichter richteten sich auf mich. Ups, hatte ich das etwa noch gar nicht erwähnt gehabt? Muss in all dem Trubel wohl untergegangen sein. Also erklärte ich ihnen, was genau ich damit meinte und auch, was ich zu dem Thema in den letzten Wochen mitbekommen hatte, nur um von Tyge schlussendlich ein Abwinken zu bekommen.

„Das ist nicht wichtig, das haben schon ganz andere versucht. Die verschwundenen Lykaner haben Vorrang.“

Na da war ich mir nicht so sicher, aber es war schließlich nicht mein Kopf, der hier auf dem Spiel stand, er würde schon wissen, was er tat.

Als Veith neben mir anfing zu knurren, zuckte ich erschrocken zusammen und warf ihm dann einen bösen Blick zu. „Mein Herz musste heute bereits genug Belastung aushalten, wenn du also so freundlich wärst, das zu unterlassen, wäre ich dir sehr dankbar.“

Er beachtete mich nicht einmal, sah nur auf die Tür, in der Ghost zur Hälfte stand und den großen, bösen Werwolf anblinzelte. Einmal, zweimal und dann lief er mit erhobenem Schwanz einfach an ihm vorbei auf mich zu.

Lächelnd streckte ich ihm die Hand entgegen, spürte das leichte Kribbeln auf der Haut, als er seinen Kopf daran schmiegte. „Na kleiner Held, du hast uns ganz schön den Arsch gerettet, weißt du das eigentlich?“ Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er nicht im Büro aufgetaucht wäre und Anwar abgelenkt hätte.

Ghost rieb noch einmal seinen Kopf an mir, drehte sich dann um und ging zur Tür. Kurz vorher hielt er noch einmal, öffnete das Schnäuzchen, als wolle er mich tonlos anquaken und marschierte dann durch die Tür.

Tja, das war dann wohl mein Zeichen abzuhauen. Ich wollte zwar nicht, aber ich konnte ja auch nicht die ganze Nacht bei den Werwölfen bleiben. Außerdem machte sich langsam die Müdigkeit in mir breit. Kein Wunder. Wie mir die Uhr an der Wand mitteilte, hatten wir es ja auch schon kurz vor Vier am Morgen. „Zeit in mein Zimmer zu verschwinden.“

Ein letztes Mal strich ich Pal über den großen Schädel und erhob mich dann mit müden, schweren Knochen, aber nicht ohne einen Schmerzenslaut von mir zu geben, weil mein Rücken gegen diese Bewegung mit einem heftigen Stich protestierte.

Zwischen Veiths Augen erschien wieder die Falte. „Was hast du?“

Ich winkte nur ab. „Nichts weiter, nur mein Rücken. Tut noch vom Sturz aus dem Baum weh.“

„Du bist vom Baum gefallen?“, fragte Kovu. „Schon wieder?“

Ich kniff die Augen zusammen. „Was heißt hier schon wieder?“

„Naja, vor zwei Tagen bist du auch aus einem Baum gefallen, fast auf mich rauf.“

Jup, daran erinnerte ich mich. „Da bin ich nicht gefallen, sondern gesprungen.“ Und auf den Hintern geknallt, damit ich nicht den Kleinen unter mir begrub.

„Dann solltest du aber noch an der Landung arbeiten. Nur so als kleiner Tipp.“

Das würde ich sowas von gar nicht mit einer Erwiderung würdigen.

„Leg dich dahin“, kam es dann ohne ersichtlichen Grund von Veith.

In meinem Gesicht stand ein riesiges Fragezeichen. „Bitte was?“

„Du sollst dich da hinlegen.“ Er deutete auf das Sammelsurium von Bettzeug. „Wir brauchen dich im Moment gesund. Eine Rückenverletzung wäre hinderlich.“

Oh wie nett sich das anhörte. Sollte das heißen, dass ich sonst mit Schmerzen rumrennen konnte? Der Typ war doch der reinste Charmebolzen. „Und du glaubst, wenn ich mich da hinlege, dann geht es mir wie von Zauberhand plötzlich besser?“

Veith seufzte, als sei er mich und meine Reden einfach nur noch leid. „Tu einfach, was ich dir sage.“

Aber sicher doch. „Warum sollte ich?“

„Papá kann das wieder in Ordnung bringen“, kam es von Kovu.

Verwirrt wandte ich mich zu dem Kleinen um.

„Er kennt so einige Griffe“, erklärte Julica. „Deine Schmerzen verschwinden einfach.“

„So was wie eine medizinische Massage“, fügte Pal noch hinzu.

Ich sollte mich da hinlegen und freiwillig von einem Werwolf begrabbeln lassen? War ich hier im falschen Film gelandet?

Ja, aber schon vor siebenundsechzig Tagen.

Auch wieder wahr.

„Nun komm schon, das ist echt entspannend“, versuchte Kovu mir die Sache schmackhaft zu machen. „Und wenn er bei dir fertig ist, kann er bei mir weiter machen.“

„Warum?“, kam es von Tyge. „Hast du es etwa auch im Rücken?“

„Wenn du mich dafür massierst, dann auf jeden Fall!“

Pal schnaubte und stupse mich dann Richtung Bettenlager. Ich ergab mich einfach in mein Schicksal. Das Adrenalin war in der Zwischenzeit abgeflaut und für Widerstand war ich einfach zu müde.

Ich schnappte mir ein Kissen, machte es mir damit zwischen den Decken auf dem Bauch bequem und nahm eigentlich nur noch am Rande wahr, wie Tyge sich neben mich setzte. Nur die ersten paar Minuten bekam ich noch mit, wie sich seine Hände gezielt und präzise über meine Wirbelsäule bewegten. Das tat wirklich gut.

 

°°°

 

Ich hatte nicht geglaubt, schlafen zu können, aber so war es. Eine traumlose Nacht in tiefer Dunkelheit, die alles außer Ruhe von mir fernhielt.

Als mein Geist am nächsten Morgen – oder besser gesagt Mittag – langsam aus den Tiefen meines Bewusstseins erwachte, spürte ich von allen Seiten eine wohlige Wärme. Und dass ich mich nicht bewegen konnte. Verwundert blinzelte ich und stellte fest, dass ich der Mittelpunkt in einem Knäuel aus Werwölfen in Menschengestalt war – zum Glück waren alle angezogen, naja, so mehr oder weniger, wie immer halt. Auf dem Rücken liegend analysierte ich die Situation.

Kovu benutzte meinen Bauch als Kopfkissen, Tyge mein Bein, seine Hand auf meinem Knie. Julica hatte sich von hinten an ihn gekuschelt. Pal lag halb auf meinem Arm und schnürte mir die Blutzufuhr ab, so dass er schon ganz taub war und unangenehm kribbelte. Veiths Kopf lag neben meinen, seine Beine in die entgegengesetzte Richtung. Ich benutze seine Hand für meinen Kopf.

Wie bitte war es uns gelungen, uns in einer Nacht so zu verknäueln und warum wurde ich als Bettzeug missbraucht? Ich wurde unruhig. Gemeinschaft hin oder her, das hier war mir doch ein wenig zu viel. Ich lag hier mit einem Rudel Werwölfe, aber wie hatte ich denn geglaubt, wie es sein würde? Ich musste mir mal wieder vor Augen halten, dass das hier im Grunde Tiere waren. Tiere, die das Aussehen eines Menschen annehmen konnten, ja, aber nichts desto weniger Tiere.

„Schhh“, machte Tyge. „Schlaf weiter.“ Seine Finger zogen träge Spuren über mein Bein. Es war, als versuchte ein Vater sein Kind zu beruhigen. Und das erstaunlichste? Es klappte. So seltsam das auch war, diese Bewegung beruhigte mich. Irgendwie.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite um Veith zu beobachten. Im Schlaf wirkte er völlig entspannt, genau wie gestern. Die für ihn so typische Falte auf seiner Stirn war geglättet, seine dichten, braunen Wimpern lagen auf seinen Wangen. Er wirkte … friedlich, nicht so feindselig und verwirrend wie sonst. Es gefiel mir, ihn so zu sehen, mehr als es eigentlich sollte. So ruhig, so völlig im Einklang mit sich.

„Du starrst mich an.“ Er schlug die Augen auf und sah mir direkt in die meinen.

War ja klar, dass er nicht schlief. Hätte ich mir eigentlich gleich denken können. „Ich hatte die Wahl zwischen dir und Kovus Beinen.“

„Hast du was gegen meine Beine?“, murmelte eine schläfrige Stimme an meinem Bauch. Sein Atem kitzelte beim Reden und ich musste mich beherrschen, nicht zu kichern, was vielleicht auch in einer Hysterie geendet hätte, denn ich lag hier nach wie vor halb unter fünf Werwölfen begraben.

„Nein“, sagte ich ohne den Blickkontakt mit Veith zu brechen, „bloß gefiel mir die haarige Aussicht nicht so gut.“ Es rumpelte leicht an meinen Beinen, als Tyge leise lachte. Ich stützte mich auf die Ellenbogen. „Wenn ihr alle schon wach seid, warum benutzt ihr mich dann weiter als Kopfkissen?“

„Julica schläft noch“, nuschelte Kovu.

„Tut sie nicht, aber würde sie gerne“, murmelte Julica in Tyges Rücken.

Pal richtete sich gähnend auf und streckte die Arme über den Kopf, bis sie knackten. „Zeit, einen Happen zu sich zu nehmen.“

Gott, nicht nur, dass er, kaum dass er die Augen aufschlug, was essen konnte, er war auch noch ein Morgenmensch, äh Wolf. Das war echt schrecklich. Und noch viel schlimmer war, dass er bei der Menge, die er verschlang, kein Gramm zunahm. Das war so was von ungerecht. „Wie kannst du direkt nach dem Aufstehen ans Essen denken?“

„Ich bin ja noch gar nicht aufgestanden.“ Er erhob sich. „Jetzt bin ich aufgestanden. Möchte sonst noch jemand etwas aus dem Kühlschrank?“

Ein schläfriges Kopfschütteln von allen war Antwort genug.

„Auch gut, aber glaubt ja nicht, dass ihr etwas von mir abbekommt.“ Mit wiegendem Schritt verschwand er durch die Tür. Mann, wie konnte jemand um diese Zeit nur schon so viel Energie aufbringen, erst recht nach dieser durchwachsenen Nacht. Das war mir einfach nur unverständlich.

Veith zupfte an meinen Armen, eine Aufforderung, mich wieder hinzulegen, der ich nur zögernd nachkam, weil ich mich mal wieder fragen musste, was in seinem Kopf vor sich ging. Dieses Verhalten passte so gar nicht zu ihm, das war völlig ungewohnt.

Er mag dich, kam mir plötzlich Kovus Stimme in den Sinn. Aber klar doch. Das war ein Wunschtraum, mehr nicht. Aber, warum sollte ich mir das wünschen? Mist, jetzt war ich schon wieder verwirrt und es wurde auch nicht besser, als Veith seinen Kopf an meiner Schulter bettete, eine Berührung, die genauso selten wie wertvoll für ihn war. Und somit auch für mich. Er tat das nicht oft, das war mir schon aufgefallen. Eigentlich nur bei seinem Vater und Kovu. Warum also machte er das plötzlich bei mir? Das wurde ja immer verwirrender.

Seine Hand kam neben meinem Kinn zur Ruhe und dieser Blick mit dem er mich bedachte, beschleunigte meinen Herzschlag.

Okay, ich konnte sagen was ich wollte, ich mochte diesen Kerl trotz seiner Ecken und Kanten – oder gerade deswegen? Wirklich klasse, das hatte mir gerade noch gefehlt. Im Moment hatte ich den Kopf ja noch nicht voll genug, als das da nicht noch ein wenig Platz für einen … naja, lassen wir das. „Ich fühle mich ziemlich eingeengt“, murmelte ich, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

„Du wolltest ja beim Rudel schlafen“, sagte Veith nicht lauter als ich. Trotzdem wusste ich, dass alle im Raum uns hören konnten. Ja, ich war lernfähig.

„Was heißt hier wollen? Du hast mich geradezu dazu getriezt, mich hier hinzulegen.“

„Hör auf, dich zu beklagen, ich will noch schlafen“, beklagte sich Julica.

„Warum?“ Kovu setzte sich auf und strich sich mit der Hand über den Kopf, so dass die Haare, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, in alle Richtungen abstanden. Ein wirklich niedlicher Anblick. „Schönheitsschlaf ist bei dir sowieso hoffnungslos.“

Julica knurrte. „Pass auf was du sagst, Grünschnabel, sonst schick ich dich mit einem Arschtritt zurück in die Kindergruppe.“ Und damit ging das Geplänkel zwischen den beiden richtig los. Ich bekam es nur am Rande mit, war gefangen in Veiths Blick. Wortlos teilte er mir mit, was er von dem Kinderkram hielt und ich fragte mich, ob er jemals so unbefangen und ausgelassen wie andere Kinder gewesen war. Ich konnte mir richtig vorstellen, wie er schon als kleiner Junge abseits der anderen saß, eine Falte in dem jungen Gesicht und stumm ihr Verhalten analysierte.

Julica war dazu übergegangen, Kovus Jagdkünste zu kritisieren, woraufhin er sie an eine Geschichte mit einem Wildschwein erinnerte, die sie für eine Sekunde verstummen ließ. Und dann begann sie ihn richtig zu beschimpfen. Hm, diese Geschichte musste ich mir unbedingt mal erzählen lassen. Wenn Julica bei ihrer Erwähnung so ausklinkte, dann musste sie witzig sein. Wenigsten für andere, wenn schon nicht für sie.

Als die Lautstärke der beiden weiter zunahm, brachte Tyge sie mit einem gebrummten „Ruhe“ zum sofortigen Schweigen. Für ungefähr fünf Sekunden. Dann ging es mit ordentlichem Schmackes weiter.

Veith schloss die Augen. „Du wolltest ja beim Rudel schlafen“, wiederholte er leise. Ein heimliches Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel, was meinen Puls sofort auf Touren brachte. Na toll. Ob er wohl erkannt hatte, dass ich gestern Abend – heute Morgen? – nicht auf mein Zimmer gewollt hatte? Verdammt, warum war dieser Kerl nur so undurchsichtig? Das konnte echt nerven.

Eine halbe Stunde etwa blieben wir noch in diesem Nest aus Decken, Laken und Kissen liegen, dann seufzte Tyge und gab damit das Zeichen den Tag zu beginnen.

Pal war in der Zwischenzeit mit einem Teller zurückgekommen, der den Berg Essen darauf kaum fassen konnte. Er lümmelte auf dem Bett und ließ es sich schmecken.

Als alle von mir runter waren, konnte ich endlich wieder tief einatmen und streckte mich, bis die Muskeln in meinem Körper protestierend knackten. Dabei stellte ich freudig fest, dass es meinem Rücken besser ging. Egal was Tyge da gemacht hatte, es hatte geholfen und ich hoffte, dass es auch anhalten würde und nicht nur vorrübergehend war. „Das nächste Mal kann einer von euch das Kissen spielen“, beschwerte ich mich, als Tyge gerade ins Bad – Entschuldigung, den Feuchtraum – verschwand.

„Geht nicht“, sagte Kovu und versuchte Veith die Kanne mit dem Saft aus der Hand zu klauen. „Der Schwächste schläft in der Mitte, so kann er am besten geschützt werden.“

Veith vereitelte Kovus Versuch, indem er sich ganz einfach wegdrehte. Dabei schwappte der Saft über den Rand und hinterließ eine klebrige Pfütze auf dem Boden, für die sich keiner der beiden verantwortlich zu fühlen schien.

Ich funkelte Kovu an. „Hast du mich gerade als schwach bezeichnet?“

Pal gluckste, konnte aber keinen Kommentar ablassen, da er den Mund voll hatte.

Kovu unterbrach die kleine Rangelei, die zwischen ihm und seinem Bruder ausgebrochen war und grinste wie ein Lausbub.

„Pass lieber auf was du sagst“, murrte ich, glaubte aber nicht wirklich, dass er mich auch nur einen Augenblick für voll nahm.

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Warum zeigst du mir sonst deine Krallen?“

„Du willst es heute aber unbedingt wissen“, sagte Julica, die regelmäßig in den Genuss seiner Stänkereien kam. Sie saß noch auf dem Bettenlager und versuchte, mit den Händen ihre Haare durchzukämmen – ob ich ihr sagen sollte, dass da drüben eine Bürste war? Neee, das würde sie schon allein merken.

Mir war es unter meiner Würde, auf Kovus blöde Anspielung zu reagieren, also ignorierte ich sie einfach, zupfte an meiner Kleidung herum und wartete darauf, dass ich anstelle von Tyge den Feuchtraum nutzen konnte.

„Ach komm schon.“ Kovu kam rüber und hockte sich neben mich. „Du wirst doch jetzt nicht etwa beleidigt sein. Es ist doch nichts Schlimmes schwach zu sein.“

Was hatte Erion zu mir gesagt? Wer mit Wölfen spielen wollte, sollte ihre Regeln kennen. Davon hatte ich mir in der Zwischenzeit ein Paar angeeignet. Kovus Herausforderung war offensichtlich. Ich hatte jetzt die Wahl zwischen ignorieren, oder die Sache ein für alle Mal zu klären. Ich stürzte mich auf ihn, überrumpelte ihn damit und warf ihn auf den Rücken. „Wer ist hier jetzt schwach?“

Die kurze Überraschung wich seinem Lausbubenlächeln. „Du“, sagte er, warf mich ab und fiel über mich her.

Werwolfsspielchen waren hart und nichts für schwache Nerven. Er drängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf mich und nagelte mich damit auf den Boden. Meine Beine klemmte er zwischen seine, aber als er versuchte, meine Hände zu fangen, versetzte ich ihm einen harten Schlag gegen die Brust. Ein Kinnhacken folgte gleich darauf. Doch es half nichts. Verfluchte Werwolfskräfte!

Wie Erion einmal so schön gesagt hatte, das Einzige, was stärker war als ein Lykaner, war ein Drache, oder halt ein anderer Werwolf. Nur schade, dass mir dieses Wissen gerade nichts nützte. Ich versuchte Kovu von mir runterzustoßen, doch genauso gut hätte ich versuchen können, einen Berg mit bloßen Händen zu bewegen. Dann schaffte er es endlich meine Handgelenke zu erwischen, hielt beide mit einer Hand über meinen Kopf auf den Boden gefangen und drehte mit der anderen mein Kinn zur Seite. Und dann spürte ich seine Lippen an meiner Kehle, gefolgt von seinen Zähnen. Ich gab einen überraschten Laut von mir.

Seine Zähne waren nicht schmerzhaft, dennoch deutlich zu spüren. „Gott verdammt, was machst du da?“

„Er dominiert dich“, erklärte Veith sachlich, als besprächen wir gerade völlig ruhig, ob wir zum Nachtisch lieber Eiskrem oder Apfelkuchen essen wollten – ich wäre ja für Käsekuchen – und nicht als läge ein Siebzig-Kilo-Wolf auf meiner Brust und grub seine Zähne in meinen Hals.

Ich zappelte, Kovus Biss wurde fester und er knurrte leise. „Hey!“, protestierte ich. Das ging nun wirklich zu weit.

Veith lehnte am Tisch, entspannt, mit einem Becher Saft in der Hand. „Wenn du willst, dass er aufhört, musst du seine Dominanz akzeptieren.“

„Nein, das kannst du nicht machen!“, rief Julica empört. Sie stand irgendwo am anderen Ende des Raums, von wo ich sie von meinem Platz am Boden nicht sehen konnte. „Wenn er gewinnt, wird er unausstehlich werden. Wirf ihn ab!“

Tja, leichter gesagt als getan.

„Das schafft sie nicht“, kam der wenig hilfreiche Kommentar von Pal.

Tyge kam zurück ins Zimmer. Ich hörte genau den Augenblick, als er mich und Kovu auf dem Boden erblickte, weil seine Schritte für einen Moment verstummten. Dem folgte ein gemurmeltes „Welpen“ in sehr abfälligem Ton, bevor er uns einfach links liegen ließ und sich von seinem ältesten Sohn einen Becher voll Saft geben ließ.

Ich zappelte herum. Kovu knurrte lauter, drückte mich fester auf den Boden. Sein Biss war nun an der Grenze zu schmerzhaft. Sicher würden da Zahnabdrücke zurückbleiben.

„Los, wirf ihn ab, zeig was du kannst, Frauenpower!“, feuerte Julica mich an. Dass sie eine Erwachsene war, die fast die dreißig erreicht hatte, würde man kaum glauben, wenn man sie hier hörte. Aber sie hatte Recht, also versuchte ich es, ehrlich, aber diese halbe Portion von einem Werwolf besaß Bärenkräfte. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.

„Okay, ich gebe auf.“ Mühsam schluckte ich meinen Stolz herunter. „Du hast gewonnen.“

Kovu zögerte einen Moment, biss leicht nach und leckte dann über die schmerzende Stelle. Okay, das war igitt, doppel-igitt. Dann richtete er sich auf und grinste er auf mich hinunter. „Ich hab gewonnen.“

„Ja ja, freu dir ´nen Kullerkeks und beiß die Ecken ab.“

Verwirrung huschte über seine Züge, wie immer, wenn ich etwas sagte, was keiner verstand. „Heißt das, du stimmst mir zu?“

„Ja, du bist der Größte, ein absolutes Prachtexemplar, der tollste Hecht im Teich, der beste Hengst im Stall und jetzt geh von mir runter, bevor ich dir Beine machen muss!“

Er ließ von mir ab, mit einem dicken fetten Grinsen im Gesicht.

Pal lachte.

„Na, das hast du ja toll hingekriegt“, schimpfte Julica. „Sich von einem Welpen so fertigmachen zu lassen. Damit wird er nun ununterbrochen angeben. Ich hoffe, du bist zufrieden.“

Das Schlimmste an meiner Niederlage war nicht, dass ich mit wehenden Fahnen untergegangen war, sondern, dass ich mich hatte von so einer halben Portion fertig machen lassen – wenn auch einer kräftigen halben Portion. Ich kratzte das letzte bisschen Würde zusammen, dessen ich noch habhaft werden konnte, rappelte mich auf die Beine und stolzierte mit erhobenem Kopf ins Bad.

Blöde Werwolfsspielchen!

 

°°°

 

„Guckt nicht so, ich weiß, dass das ein Friseursalon ist, aber genau hier bekommen wir die Hilfe, die wir brauchen.“

Tyge und Veith sahen zwar zweifelnd aus, behielten ihre Meinung aber für sich. Gute Entscheidung.

Das in der Zwischenzeit so vertraute Türglöckchen begrüßte mich fröhlich, als ich Djenans Laden betrat. Sofort wandte sich die grüne Catlin zu mir um. Sie war gerade damit beschäftigt, den Schweif eines Zentauren zu färben – die Haare auf dem Kopf hatte sie schon fertig. Wäre es das erste Mal, dass ich hier so etwas zu Gesicht bekam, wären mir sicher die Augen aus dem Kopf gefallen, aber mir waren hier schon ganz andere Sachen während meines Unterrichts untergekommen – der Versuch einer Gorgonin, die Schlangenhaare zu kürzen, fanden die Schlangen nicht sonderlich witzig.

„Talita!“, kreischte Catlin freudig, ließ den Zentauren einfach stehen und fiel mir um den Hals. Diese stürmische Art hatte mich die ersten Male zwar ein wenig erschreckt, aber man gewöhnte sich ja an alles.

Sie drückte mich einmal fest an sich, sodass ich ihre pinken Haare in den Mund bekam – igitt, sag ich da nur – und stand dann strahlend vor mir. „Du bist ja schon wieder zurück.“ Ein Blick an mir vorbei. „Und hast ein paar Souvenirs mitgebracht, wie ich sehe.“ Sie zwinkerte Veith eindeutig zweideutig zu, was er mit einer unbewegten Maske über sich ergehen ließ.

„Ja, ähm … das sind Tyge und sein Sohn Veith“, stellte ich die beiden vor. „Wir müssten mal mit Djenan sprechen, ist er da?“

Sie zeigte nur stumm in den hinteren Teil des Ladens, wo Djenan gerade dabei war, die Haare einer Frau zu richten, bei der auf Anhieb nicht gleich zu erkennen war, welcher Spezies sie genau angehörte. Sie sah einfach nur menschlich aus.

Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd, als ich auf ihn zuhielt, so sehr freute ich mich ihn zu sehen. Keine Ahnung, wie genau das geschehen konnte, aber ich hatte Djenan mehr als nur gerne. Er war sowas wie ein Ersatzpapa für mich, mein Big Daddy, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Vielleicht lag es daran, dass er der einzige andere Therianer war, den ich kannte, vielleicht auch daran, dass ich hier in diesem Teil der Welt keine Familie hatte. Auf jeden Fall fühlte ich mich bei ihm immer willkommen und verstanden, auch wenn er manchmal etwas exzentrisch und eigenwillig war.

„Hey, Big Daddy“, grüße ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange, als er sich von da ganz weit oben zu mir runter beugte. Seine enorme Größe bestaunte ich heute nicht mehr. Sie war auch nicht angsteinflößend, da Djenan eher so was wir ein großer Teddybär mit Eigenleben war. „Kann ich dich mal kurz allein sprechen? Ich hätte da eine Bitte an dich.“

Sein Blick ging kurz zu den beiden Werwölfen, bevor er sich wieder ganz seiner Arbeit widmete und mit geübten Händen die Haare der Frau beschnitt. „Ich muss das hier noch fertig machen. Du kannst ja schon mal hinten warten, ich komme gleich.“

„Du bist der Beste.“

Sein Mundwinkel zuckte leicht. „Da habe ich aber schon ganz andere Sachen von dir gehört.“

„Nur wenn du sie verdient hattest“, schmunzelte ich zurück und musste wieder an den Käsekuchen in seinem Gesicht denken.

Die Frau beäugte mich durch den Spiegel irgendwie seltsam, als versuchte sie meiner Natur auf den Grund zu gehen und als ich dann die Farbe ihrer Augen sah, wurde mir auf einmal ganz anders. Das war eindeutig eine Hexe. Ihre Augen ließen gar keinen anderen Schluss zu. Nur Hexen hatten solche schwarzen Augen.

Wie auf ein Zeichen begann das Tattoo auf meiner Schulter zu kribbeln. Jetzt war nur die Frage, ob ich mir das einbildete, oder ob dieses Gefühl wirklich existent war. Vorsichtshalber machte ich einen Schritt zurück, schaden konnte es ja nicht. „Ich bin dann mal hinten“, sagte ich, winkte die Jungs heran – obwohl man Tyge ja nicht wirklich mehr als Junge bezeichnen konnte – und führte sie ins Hinterzimmer, in dem ich so oft mit Djenan gesessen hatte.

Bildete ich mir das nur ein, oder sah mir die Hexe die ganze Zeit hinterher? Langsam wurde ich wirklich paranoid, was sich auch wieder darin bestätigte, dass ich, kaum hinter dem Vorhang, nach meiner verdeckten Schulter griff und die Tätowierung befühlte. Wie nicht anders zu erwarten, fand ich nichts, was da nicht hingehörte. Trotzdem zupfte ich den Stoff zurecht, bevor ich mich auf einen Stuhl in der Ecke an den Tisch setzte. Aus dem Regal hinter mir nahm ich mir eine der Saftflaschen, die Catlin dort immer bunkerte und lehnte mich zurück.

Tyge beanspruchte den einzigen anderen Stuhl in dem kleinen Raum, weswegen sich Veith nach einer optischen Untersuchung des Raumes, mit verschränkten Armen gegen die Wand lehnte und mich böse anschaute. Was hatte ich denn jetzt schon wieder verbrochen? Mann, dieser Kerl war doch einfach nicht zu fassen.

„Und du glaubst wirklich, dass der Kerl uns helfen kann?“

Es spricht! Und dann auch noch mit mir. Stand die Welt jetzt Kopf? „Sonst hätte ich euch ja sicher nicht hergebracht, oder glaubst du, ich muss mir jetzt ´ne neue Frisur machen lassen?“ Hey, seit wann war ich gegenüber Veith eigentlich so mutig? Hm …

„Wie geht es deinem Rücken?“, fragte Tyge dann.

„Gut, danke.“ Was auch immer er da getan hatte, ich hatte heute den ganzen Tag noch keine Schmerzen gehabt.

Nach dem Aufstehen hatten wir uns alle in die Küche verzogen, um uns den Wanst vollzuhauen – ja, Pal hatte auch kräftig zugelangt, sein zweites Frühstück, wie er mir erklärt hatte – und hatten anschließend das Haus verlassen. Pal, Julica und Kovu hatten sich kurz darauf von uns getrennt, um im Stadtarchiv nach möglichen Hinweisen zu forschen, die uns entgangen sein könnten.

Nach unserer Rückkehr würde ich mit Gaare sprechen. Vielleicht hatte er ja was Neues zu berichten, aber jetzt stand erst mal – hoffentlich – ein Besuch bei den Wächtern an.

Die ganze Wartezeit über, blieb es mehr oder weniger Still im Raum. Tyge war ein genauso schweigsamer Typ wie sein Sohn – na irgendwoher musste er das ja auch haben. Als Djenan dann endlich durch den Vorhang kam, war das schon fast eine Erleichterung. Diese drückende Stille voller Anspannung und Erwartungen war ja kaum auszuhalten.

Er beachtete die Werwölfe gar nicht, kam direkt zu mir und drückte mir einen Kuss auf die Wange, wie er es immer tat. Natürlich musste er sich dazu sehr weit runter beugen. Manchmal fragte ich mich, ob die Luft da oben nicht zu dünn war. „Alles gut gelaufen? Hast du den Weg gefunden?“

Ich nickte. „Alles prima, die Lykaner haben mich kurz vor dem Lager aufgegabelt und zu ihrem Alpha gebracht.“ Das sie vorher versucht hatten, mich zu lynchen, ließ ich besser unerwähnt. Musste ja nicht jeder wissen, dass ich bei den Werwölfen nicht so beliebt war, wie ich es gerne hätte.

„Und der Rückweg?“

„Auch super, ich hatte ja Gesellschaft.“ Die mich auf halbem Wege einfach im Stich gelassen hatte – oder ich sie? Das war Ansichtssache. Aber auch das ließ ich erst mal unerwähnt.

Er nickte und lehnte sich gegen den Tisch. Die Lykaner in seinem Rücken wurden immer noch nicht beachtet. Hatte er was gegen sie? Musste die alte Geschichte zwischen Hund und Katz sein. „Und warum musst du dann so dringen mit mir allein sprechen?“

Mein Mundwinkel zuckte. allein. Meine Gesellschaft passte ihm wohl wirklich nicht. „Du hast mir mal erzählt, dass Obajas Gefährte ein Wächter ist.“

Mit einer Kopfbewegung stimmte er mir zu. „Recep, ein Vampir.“

Ein Vampir? Ich wusste gar nicht, dass es hier auch Liebeleien speziesübergreifend gab. Hatte ich noch nie gesehen und das durfte auch die eine oder andere Auseinandersetzung zwischen dem Pärchen erklären. Ich hatte den doch sehr kühlen Feriin kennengelernt und wenn Recep  genauso war, wunderte es mich nicht, dass er mit dem Feuer einer Therianerin nicht umgehen konnte. Die Geschichte, wie die beiden zusammengekommen waren, würde ich gerne mal hören, aber nicht jetzt, jetzt hatte ich anderes im Kopf. „Ähm ja, meinst du … also, wir bräuchten …“

„Soll ich später noch mal wiederkommen, wenn du deine Worte geordnet hast, oder soll ich entschlüsseln, was du mir durch diesen Wortsalat versuchst, mitzuteilen?“ Typisch Djenan.

„Entschlüsseln wäre schon nicht schlecht“, murmelte ich und warf einen Blick zu Veith. Keine Ahnung warum, aber nachdem er mir zunickte, als wolle er sein Einverständnis dazu geben, dass ich Djenan alles erzähle, lockerte sich meine Zunge.

Ich berichtete Big Daddy von Isla, von Anwars feindlicher Haltung gegenüber den Lykanern, von der Auseinandersetzung mit dem Steinbachrudel, von meinem Gespräch mit Gaare und von dem Besuch in Priscas Haus. Auch ließ ich unseren kleinen, nicht sehr ergiebigen Einbruch in Anwars Büro nicht aus. „… eigentlich nur herausgefunden, dass Anwar Kaj erpresst“, endete ich. „Mir den verschwundenen Lykanern sind wir noch keinen Schritt weiter gekommen.“

Eine von Djenans Augenbrauen wanderte nach oben, eine Reaktion, die ich häufig bei ihm hervorlockte. „Und jetzt möchtest du, dass ich mich mit Recep  in Verbindung setzte, damit er euch Einblick in die Wächterakten gibt.“

Mein Grinsen wurde von ihm mit einem ungläubigen Schnauben kommentiert.

„Weißt du eigentlich, wie sich das anhört?“

„Wie ein schlechter Krimi voller Verschwörungen und Intrigen, die nur durch einen strahlenden Helden enträtselt werden können?“

„Nein, als hättest du das letzte bisschen Verstand, das dir noch geblieben ist, nun auch noch verloren.“

Veith knurrte und Tyge stellten sich praktisch die Nackenhaare auf.

Ich machte mir nicht sehr viel daraus. Das war eben mein Big Daddy. „Ich wusste gar nicht, dass da noch was übrig war.“

Das ließ Djenan lautstark seufzen. „Hast du es schon mal auf anderem Wege probiert, zum Beispiel mit Erion darüber gesprochen?“

„Nein und das werde ich auch nicht. Erion mag mich vielleicht, aber er ist immer noch Anwars Sohn. Ich glaube nicht, dass er seinem Vater in den Rücken fallen würde, nicht bei den Verdacht, den wir hegen.“

„Einen ziemlich weit hergeholten Verdacht“, kommentierte er.

„Aber trotzdem ein Verdacht. Der Einzige, den wir haben, weswegen wir ihm nachgehen müssen.“ Ich versuchte einen Welpenblick, der bei ihm irgendwie noch nie funktioniert hatte. „Kannst du uns nun helfen?“

Djenan sah mich von oben herab mit diesem strengen Blick an, unter dem ich mich immer ganz klein und hilflos fühlte. „Warum euch? Was hast du damit zu tun? Sie haben dich praktisch ausgesetzte.“

Aha, daher kam also diese Feindlichkeit. Er war verärgert darüber, dass die Werwölfe mich einfach bei Anwar gelassen hatten. „Sie haben mir die ersten Tage geholfen.“ Warum verteidigte ich ihr Verhalten jetzt auch noch? Ich sah es doch ganz genauso wie Djenan.

„Du hast deine Schuldigkeit mehr als geleistet“, sagte er völlig ungerührt.

Oh Mann. „Bitte Djenan, vergiss das einen Augenblick, das ist jetzt nicht Thema.“

Sein Blick teilte mir unzweifelhaft mit, dass er es ganz sicher nicht vergessen würde, beließ es aber vorerst dabei. „Ihr solltet noch einmal versuchen in den verschlossenen Raum zu gelangen. Vielleicht findet ihr da etwas.“

„Wenn sich die Möglichkeit ergibt, werden wir das bestimmte machen“, erwiderte ich, „aber jetzt müssen wir erst mal an die Akten rankommen. Also, was ist nun, hilfst du uns, oder müssen wir einen weiteren, weitaus gefährlicheren Einbruch wagen?“

Dafür, dass ich überhaupt diesen Gedanken hatte, ditschte Djenan mir ganz nach Katzenmanie auf den Kopf. Es war nicht das erste Mal. Das tat er immer, wenn er mich wegen unbedachter Äußerungen ermahnen wollte. „Warte hier.“ Immer noch ohne Notiz von den beiden Lykanern zu nehmen, verließ er das Hinterzimmer.

Kaum das der Vorhang hinter ihm zugefallen war, begann wieder diese nervenaufreibende Stille, die voller Erwartungen auf uns niederdrückte. Was würde geschehen?

 

°°°

 

Mit einem schweren Seufzer verließ ich an Pals Seite Gaares Bibliothek. Die Informationen, die er uns hatte geben können, waren genau die gleichen, wie beim letzten Mal, nichts Neues. Auch der Besuch im Stadtarchiv hatte nichts ergeben. Von den aktuellen Fällen der verschwundenen und toten Lykaner war dort nicht mal ein Fitzelchen zu finden gewesen. Jetzt konnten wir nur noch auf die Akten von Recep hoffen.

Natürlich war es nicht so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Nichts mit auf ein Sprung bei den Wächtern vorbeihüpfen und mal einen Blick in die Akten riskieren. Doch zum Glück war an dieser Stelle noch lange nicht aller Tage Abend. Recep hatte mehr oder weniger zugesagt. Er würde versuchen, an die Akten raunzukommen, was dann so viel hieß wie warten. Da konnte man wirklich nur noch hoffen.

Und noch mal, seufz.

„Hey.“ Pal stieß mich leicht mit der Schulter an. „Nun mach mal nicht so ein langes Gesicht, wir werden schon noch etwas finden.“

„Ja, aber das dauert so lange.“ Ich schüttelte den Kopf. „Und wenn wir gar nichts finden, weil ich mich geirrt habe? Diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen.“ Auch wenn ich sie im Moment nicht für sehr wahrscheinlich hielt, es war nicht von der Hand zu weisen, dass ich nichts weiter als Indizien und Vermutungen hatte. „Das führt doch alles zu nichts.“

„Nun mal nicht so schnell den Kopf in den Sand stecken, es wird sich schon was ergeben.“

„Das bleibt zumindest zu hoffen.“

Nebeneinander gingen wir die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Die anderen hatten sich in ihr Zimmer zurückgezogen und wollten noch einmal alles durchsprechen, um das weitere Vorgehen zu planen. Eigentlich hatte ich dabei sein wollen, aber da Gaare den ganzen Tag nicht aufzufinden war, hatte ich seine späte Anwesenheit genutzt. Und dann war das Gespräch eben etwas ausgeartet. Kein Wunder bei Gaare.

Pal legte mir eine Arm um die Schulter. Ich war nach dem heutigen Tag so deprimiert, dass ich deswegen nicht mal mehr zusammenzuckte. Warum auch? Er würde es ja doch wieder tun. Schon die Aktion in Anwars Büro war der reinste Reinfall gewesen, aus dem wir nur knapp unentdeckt entkommen waren und jetzt war es schon wieder dunkel, besser gesagt, jetzt war es schon fast wieder morgen und wir hatten nichts erreicht. Da durfte man doch ein wenig enttäuscht sein.

„Weißt du was ich immer mache, wenn ich Aufmunterung brauche?“

„Du reißt einen schlechten Witz auf meine Kosten?“

Sein Gesicht wurde von diesem halben Lächeln erhellt, das nur einen Hauch seiner Zähen preisgab. „Nein, das tu ich nur, wenn ich gute Laune habe. Wenn ich schlechte Gedanken zerstreuen will, dann gehe ich in die Küche und vergreife mich an dem Kühlschrank.“

„Essen?“

„Ja klar, ist ein Allheilmittel.“

Aber sicher doch. „Nur für jemanden wir dich, der nie auch nur ein Gramm zunimmt.“ Im Gegensatz zu Normalsterblichen wie mir. Obwohl sich an dieser Stelle die Frage stellte, war ich noch normalsterblich? Das wäre wirklich mal interessant zu wissen.

„Na los, komm schon“, spornte Pal mich an. „Hey, du hattest mir doch mal versprochen, mich zu bekochen, das könntest du doch jetzt machen. Dann würdest du sicherlich auf andere Gedanken kommen.“

„Jetzt noch? Es ist fast Mitternacht.“

„Na und? Grübeln kannst du auch morgen noch.“ Er drückte mich an sich, was das gerade Laufen nicht wirklich einfach machte. „Oder hast du heute noch etwas Besseres vor, als einen armen, verhungernden Lykaner zu füttern?“

„Du bist weder arm, noch am verhungern“, teilte ich ihm völlig ungerührt mit.

„Heißt das, ich muss mit leerem Magen ins Bett gehen?“

„Nein, natürlich nicht.“

Er strahlte.

„Geh in die Küche, der Kühlschrank ist immer gut gefüllt.“

Und genauso schnell ging die Sonne in seinem Gesicht wieder unter.

Das war echt voll süß. „Na gut“, ließ ich mich erweichen. Diese Betroffenheit war ja nicht mit anzusehen und da er mich immer noch im Arm hatte, konnte ich leider auch nicht so einfach weggehen.

„Wirklich?“

„Hab ich doch gerade gesagt.“

Eine Sekunde später verlor ich den Kontakt zum Boden, da er seiner Freude Ausdruck verlieh, indem er mich einmal durch die Luft wirbelte. Ich lachte und erklärte ihm, dass er nicht so übertreiben sollte, schließlich ging es hier nur um ein Essen, aber er ließ sich in seiner Freude nicht beirren, schleppte mich dann fast in die Küche und stellte mich direkt vor dem Kühlschrank ab, als befürchtete er, ich könnte es mir sonst noch einmal anders überlegen.

Ich kramte ein wenig in den Schränken herum, machte mich mit allem vertraut und entschied mich dann für eine Variante von Toast Hawaii. Das würde zwar nicht wie das Original werden, weil es hier sowas wie Ananas nicht gab, aber ich konnte auch mit einer ähnlichen Frucht arbeiten. Glusglu, das würde sicher auch schmecken. Und wenn nicht? Naja, Pal schaufelte sowieso alles in sich hinein. Brot nahm ich ganz normales, dass ich mit einem Schinken und jeder Menge Käse belegte. Danach schob ich das Ganze in den Ofen und konnte nur darauf hoffen, dass ich ihn auch richtig eingestellt hatte. Die ganzen magischen Geräte bereiteten mir manchmal Probleme. War ja auch nicht so, dass mir hier jemand eine Gebrauchsanweisung in die Hand drückte, in der ich alles nachlesen konnte. Wenn also Kohle aus dem Ofen kommen sollte, konnte ich die Schuld ganz ohne Gewissensbisse von mir weisen.

Die ganze Zeit wuselte Pal um mich herum, klaute mir die Zutaten – teilweise auch direkt vom Brot – und fütterte auch mich damit. Langsam kam ich wirklich auf den Gedanken, dass die Werwölfe nicht glücklich sein konnten, wenn sie mich nicht vollstopften.

„Das reicht jetzt“, sagte ich, als Pal mir schon wieder ein Stück Käse in den Mund schieben wollte. „Wenn ich noch einen Bissen zu mir nehme, dann ist ja gar kein Platz mehr für das Essen.“

„Nicht schlimm, ich esse die auch allein.“

Das glaubte ich ihm glatt. „Vergiss es, ich will auch eines haben.“ Ich schob ihn samt seinem Stück Käse von mir und begann damit, die übriggebliebenen Zutaten zurück in den Kühlschrank zu räumen.

„Aber du hast nur sechs gemacht!“, beschwerte er sich.

„Ja, für jeden einen, oder meinst du, die anderen wollen nichts essen?“ Ich ließ mir die angebrochene Verpackung mit dem Schinken reichen und räumte sie in den Kühlschrank.

„Was interessieren mich die anderen? Ich habe Hunger.“ Er grinste verschmitzt. „Und eigentlich hatte ich gehofft, allein in den Genuss deiner Kochkünste zu kommen.“

Oh Mann. „Du bist ein ganz schöner Süßholzraspler.“ Den Käse bekam ich als nächstes in die Hand.

„Nein, bin ich nicht, ich hab es genauso gemeint, wie ich gesagt habe.“

Lächelnd drehte ich mich zu ihm zurück, hatte wieder mit einem Scherz seinerzeit gerechnet, aber er sah mich völlig ernst an. Okay, ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was das jetzt schon wieder zu bedeuten hatte, aber bitte. „In Ordnung.“ Ich schloss die Kühlschranktür und stellte mich vor ihn, zwar musste ich auch nach oben gucken, aber nicht so weit wie bei Djenan – der Kerl war wirklich ein Riese. „Lass mich nur einmal abbeißen, dann kannst du auch mein Toast haben“, machte ich ihm den Vorschlag. Hunger hatte ich zwar keinen mehr – dafür hatte ich in der letzten halben Stunde einfach zu viel gefuttert –, aber probieren wollte ich meine eigene Kreation dann doch.

Pal neigte den Kopf und musterte mich mit einem eigenartigen Blick. „Du teilst dein Essen mit mir?“

„Ähm … klar, ist ja nichts dabei.“ Das machten die Lykaner doch die ganze Zeit untereinander. „Aber einen Bissen will ich haben.“ Nur um das noch einmal klarzustellen. Ich wollte unbedingt wissen, wie Glusglu anstatt Ananas schmeckte.

„Nein“, sagte Pal und legte seine Hand auf meine Wange und trat noch einen Schritt näher an mich heran. Sein intensiver Blick bohrte sich in meine Seele. „Wir teilen nicht, wir klauen uns das Essen gegenseitig.“

Das war mal ein wahres Wort. Tischmanieren waren bei den Lykanern so gut wie nicht vorhanden. Da könnten die noch so einiges lernen.

„Oder wir geben einem anderen etwas, aber wir teilen selten.“

Ähm … war teilen und geben nicht dasselbe? So wie er es betonte war die Antwort hier wohl nein, doch was genau das bedeutete, entging mir. Auf einmal bekam ich ein ganz komisches Gefühl, ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch, das sich auch noch verstärkte, als er sich zu mir vorbeugte. Er wollte doch nicht etwa … „Pal, was machst du da?“ Warum klang meine Stimme auf einmal so atemlos? Und warum hüpfte mir das Herz bis in die Kehle?

„Mich bedanken.“ Seine Lippen waren nur noch ein Hauch von meinen entfernt und ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Wie war die Stimmung so plötzlich umgekippt? Aber viel wichtiger, wollte ich das auch? Ich hatte mir bisher keinerlei Gedanken darüber gemacht, aber seinen warmen Atem so auf den Lippen zu spüren machte mich neugierig. Wie würde er schmecken? Würde es mir gefallen?

Plötzlich wurde mir die Bedeutung dieses Augenblicks klar, dies wäre mein Erster Kuss. Vielleicht nicht wirklich der erste, aber der Erste an den ich mich erinnern könnte.

Sein Mund war so einladend, nur noch ein Hauch von mir entfernt, ich konnte seine Körperwärme spüren, die Hand, die in meinen Nacken wanderte. Sollte ich wirklich?

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr zur vollen Stunde.

Mitternacht.

Und dann hörte ich das Knurren.

 

°°°°°

Tag 68

Erschrocken wich ich so ruckartig von Pal weg, dass ich ausrutschte und wenig elegant auf meinem Allerwertesten landete. Ein Schmerz zog mir die gesamte Wirbelsäule herauf, doch mein Blick galt dem Lykaner im Türrahmen, der ziemlich angepisst aussah.

Veith in seiner ganzen, erschreckenden Natur.

Dazu blieb nur noch eines zu sagen: Ertappt.

Ich fühlte, wie die Hitze in meine Wangen schoss. Die Verwandtschaft zu einer Tomate war in diesem Augenblick nicht mehr ausgeschlossen. „Ich …“ Ja was ich? „Ich hab Essen gemacht“, sagte ich ziemlich lahm und schlug mir innerlich gegen die Stirn.

„Das habe ich gesehen“, kam es trocken von der Tür.

Ich wagte es weder ihm, noch Pal in die Augen zu sehen. Was mochten sie jetzt nur von mir denken? Das war so peinlich! Aber eigentlich hatte ich doch nichts Falsches gemacht. Wahrscheinlich war Veith nur so angepisst, weil ich mich an seinen Cousin rangemacht hatte, obwohl das ja hauptsächlich von Pal ausgegangen war, nur um das mal klar zu stellen – auch wenn ich ja nicht gerade abgeneigt gewesen war. Rudel ging über alles und ich gehörte nicht dazu. Veith fand es wahrscheinlich einfach nur frevelhaft von mir, dass ich mich versuchte, auf diese Weise hineinzudrängen, auch wenn dem ja eigentlich gar nicht so war.

„Ich hab auch was für dich gemacht“, sagte ich vorsichtig, versuchte ihn damit friedlich zu stimmen. Leider war Veith ein sturer Ignorant. Mir hätte also gleich klar sein müssen, dass es nichts brachte.

„Kein Bedarf“, waren seine einzigen Worte, dann wandte er sich ab und verschwand aus der Küche.

Ich konnte hören, wie er durch den Flur ging und sich immer weiter entfernte, wagte es aber immer noch nicht, meinen Blick zu heben. Pal war noch da. Seine Anwesenheit nahm ich so stark wahr, als würde ich ihn berühren, aber ich hatte in diesem Moment absolut keine Peilung, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte ihn fast geküsst, oder er mich, war ja auch egal. Wie hatte das nur passieren können?

„Talita?“, fragte Pal vorsichtig.

Gott, das war so … ahgrrr! „Ja?“

„Möchtest du nicht vom Boden aufstehen?“

Eigentlich nicht, eigentlich wollte ich in diesem Moment einfach nur allein sein. Warum nur machte es mir ein schlechtes Gewissen, dass Veith das kleine Zusammenspiel gesehen hatte? Ich hatte ja nichts verbrochen. Es war einfach aus der Situation heraus geschehen.

Als Pal sich neben mich hockte und die Hand nach mir ausstreckte, stand ich hastig auf und wich ihm aus. Im Moment wollte ich mich nicht von ihm berühren lassen. Nicht, dass ich glaubte, er habe etwas falsch gemacht, ich brauchte nur einfach Zeit meine wirren Gedanken ein wenig zu ordnen. „Das Essen müsste in ein paar Minuten fertig sein. Nimm es dir einfach. Ich muss … ich sollte … ich gehe jetzt besser“, sagte ich fahrig, ohne ihm in die Augen zu sehen und verschwand eilends aus der Küche.

Gott, ich war so dämlich. Ich hätte das nicht zulassen dürfen. Wäre ich gleich einen Schritt zurückgetreten, hätte Veith uns nicht erwischen können.

Ich hab doch gar nichts gemacht!

Aber es sah so aus und das war hier das Problem. Verdammt, ich hätte das sofort unterbinden müssen. Pal und ich waren doch Freunde – so mehr oder weniger – und unter Freunden machte man sowas nicht. In jeder billigen Fernsehserie konnte man sehen, wohin solche Beziehungskisten führten. Oh Mann, was ich wieder für einen Schwachsinn dachte.

Ich rieb mir mit den Händen übers Gesicht, ohne meinen Schritt zu verlangsamen. Erst an meiner Zimmertür wurde ich ein wenig ruhiger. Hier konnte ich mich entziehen, einen Moment verschnaufen. Hier …

„Ah, da bist du ja endlich, ich hab schon angefangen mich zu langweilen.“

… saß Kovu auf meinem Bett. Hä? „Was hast du hier zu suchen? Das ist mein Zimmer!“

Der Kleine blinzelte mich über meinen harschen Ton unsicher an. „Ich wollte nur … tut mir leid, ich geh schon.“

Na toll, jetzt hatte ich den angefahren, der am allerwenigsten etwas für meine Dummheit konnte. „Nein, ist schon gut“, stoppte ich Kovu, als er schon die Beine aus meinem Bett schwang. Mist, der Kleine traute sich ja nicht mal mehr, mir in die Augen zu sehen. Ich sollte wirklich ein wenig darauf achten, an wem ich meine Launen ausließ. „Ich wollte dich nicht so anfahren.“ Eine schwache Entschuldigung, aber besser ging gerade nicht.

Ich schloss meine Zimmertür und setzte mich neben dem Kleinen aufs Bett – ich sollte mir einen neuen Spitznamen überlegen, denn Klein war anders. „Tut mir leid“, entschuldigte ich mich nochmal.

Zögernd sah er mich an, so ganz anders als sonst, unsicher. „Was ist denn los?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab Mist gebaut, das ist los.“

Vorsichtig, als wollte er sich vortasten, ob er das auch durfte, legte Kovu mir seine Hand auf meine in meinem Schoß und drückte sie leicht. Berührungen spenden Trost, sowas in der Richtung hatte Pal doch mal gesagt. Oh Pal. Verfluchter Mist.

„Willst du darüber reden, oder soll ich dich lieber allein lassen?“

Ob allein so viel besser war, wusste ich nicht, dann könnte ich mich wieder nur mit meinen Gedanken beschäftigen. Das hatte ich zwar gewollt, aber jetzt kam mir das nicht mehr richtig vor. Dann müsste ich nachdenken, mich der Sache stellen. „Kovu, was ist der Unterschied zwischen Essen geben und Essen teilen?“ Das wollte mir nämlich immer noch nicht so ganz in den Kopf und das war ja eigentlich der Auslöser für diese ganze Miesere gewesen.

Diese Frage überraschte den Kleinen. „Naja, Essen geben tun wir eigentlich bei jeder Mahlzeit, ich habe dir auch schon was gegeben, aber ganze Stücke. Teilen ist etwas anderes, privateres. Ein Stück, das ich zu zwei mache, damit zwei Leute von demselben Stück essen können. Das machen wir nur, wenn der Andere uns etwas bedeutet, mehr als Freundschaft. Verstehst du?“

Ich verstand, deswegen gab es da nur noch eines zu sagen. „Scheiße.“

„Warum Scheiße, was hast du getan?“

„Nur Mist.“ Wie hätte ich das denn auch wissen sollen? Für mich hatte das nicht so eine große Bedeutung, es war nur Essen. „Nimmt man immer an, wenn einem das Teilen von Essen angeboten wird?“ Irgendwie war mir das in diesem Moment wichtig. Wenn das so Sitte war, dann konnte ich Pals Verhalten vielleicht noch nachvollziehen, aber wenn nicht … darüber wollte ich nicht näher nachdenken. Ich mochte Pal, das schon, aber ob da mehr war? Ich wusste es nicht.

Zu meiner Bestürzung schüttelte Kovu den Kopf. „Nein, nur wenn man das auch will. Ich würde niemals mit jemanden teilen, denn ich nicht näher kommen möchte. Außer mit einem Welpen, aber das ist etwas anderes.“

Und noch mal: „Scheiße.“

Kovu neigte den Kopf zur Seite. „Sagst du mir jetzt was los ist, oder …“

Ohne anklopfen ging die Tür zu meinem Zimmer auf und Pal erschien mit einem Teller voller Hawaii Toast im Türrahmen.

Oh nein, bitte nicht.

Unschlüssig stand er da, wusste nicht, ob vor oder zurück. Ich konnte es ihm nachvollziehen, fühlte ich mich im Augenblick doch genauso unsicher. Er seufzte. „Talita, wegen eben …“

„Ich wusste nicht, was es bedeutet“, unterbrach ich ihn. „Ich hätte es nicht angeboten, wenn ich es gewusst hätte.“ Ich biss mir auf die Lippe, das hatte sich jetzt irgendwie angehört, als würde ich den Fast-Kuss bereuen – was ja auch so war – nur nicht so, wie er das verstehen würde. „Was ich damit meine, wir sind Freunde …“ Hoffte ich zumindest. „… und ich wollte dich nicht auf falsche Gedanken bringen. Ich … ach Mist, ich will nicht, das du das Falsche denkst, aber dass du nicht abgelehnt hast, ich …“ Verfluchter Dreck, wie sollte ich das nur ausdrücken, ohne ihn vollkommen vor den Kopf zu stoßen?

Pal grinste schelmisch. „Mach dir darüber keine Gedanken.“

„Aber …“

„Du hast es mir angeboten.“ Jetzt grinste er eindeutig. „Und ich war neugierig, weiter steckt nichts dahinter.“

Ich sah auf. Meinte er das ernst? „Wirklich?“

„Wirklich.“ Er schloss die Tür von innen und kletterte samt Teller zu mir und Kovu ins Bett, ließ sich hinter uns in den Schneidersitz fallen. „Du brauchst dir also keinen Kopf darum zu machen, in Ordnung?“ Irgendwie wirkte sein halbes Lächeln ein wenig verkrampft und erreichte seine Augen nicht, was mich an der Glaubwürdigkeit seiner Worte zweifeln ließ. Aber in diesem Moment hielt ich es für besser, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Er reichte mir einen Ausweg aus dieser Situation und ich griff mit beiden Händen zu. So war es am einfachsten.

„In Ordnung.“ Ich nahm mir das oberste Brot, versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen, denn irgendwie waren seine Worte auch nicht das gewesen, was ich hören wollte. Was war nur mit mir los? Hätte es mir besser gefallen, wenn es anders gewesen wäre? Mist, mit achtundsechzig Tagen Lebenserfahren kam ich mit diesem Problem einfach nicht klar. Ich sollte mir dringend eine Kummerkastentante anschaffen. Vielleicht würde Catlin sich ja für den Posten bereiterklären, obwohl es dann durchaus passieren könnte, dass ich anschließend pinkfarbene Haare hatte und trotzdem keinen blassen Schimmer, wie ich mich verhalten sollte. Ich brauchte unbedingt meine Erinnerungen zurück.

Kovu sah wissend zwischen Pal und mir hin und her und schnappte sich auch ein warmes Brot, bevor Pal den Teller vor ihm in Sicherheit bringen konnte. „Ich glaube langsam, dass ich weiß was hier los ist.“

„Halt dich da raus, Grünschnabel“, sagte Pal und biss in sein eigenes Toast Hawaii. „Hmmm …“, machte er und verdrehte genussvoll die Augen, was mich kichern ließ. „Das ist der Wahnsinn.“

„Nun übertreib mal nicht“, tadelte ich milde und biss in meine eigenes. Oh Gott, das war wirklich gut. Damit hätte ich niemals gerechnet.

Nach einem Bissen war es eine beschlossene Sache, wir würden den anderen nichts abgeben. Wenn man sowas zwischen die Zähne bekam, musste man halt mal etwas egoistisch sein.

Zu dritt räumten wir den Teller leer – um das letzte Brot prügelten wir drei uns fast – und legten uns dann in meinem Bett schlafen. Zwischen Kovu und Pal kuschelte ich mich in die Matratze – der Schwächste schlief schließlich immer in der Mitte – und zum ersten Mal, seit ich die Lykaner kannte, war mir so viel Nähe nicht unangenehm. Nein, ich genoss es einfach nur die beiden bei mir zu haben. Wenn auch nur für einen Nacht.

Ich war nicht allein.

 

°°°°°

Tag 70

Als es an der Tür klopfte, versuchte ich es einfach zu ignorieren. Zum Aufstehen war es definitiv noch viel zu früh. Die erste Sonne schickte sich gerade mal an, am Horizont aufzugehen. Aber wer auch immer da draußen stand, sah das wohl ganz anders, denn er wollte einfach nicht aufhören.

Nur langsam drangen klare Gedanken in mein benebeltes Hirn. Wenn es einer der Lykaner wäre, würde er nicht klopfen, sondern einfach in mein Zimmer reinplatzen – wie bereits erwähnt, kein Respekt vor Privatsphäre – was unterm Strich hieß, dass es ein Mitglied des Hausstandes sein musste und ich mich zur Tür begeben sollte, auch wenn ich so überhaupt keinen Bock hatte, mein warmes Nest zu verlassen. Das wäre zumindest höflich gewesen.

Wieder klopfte es, nicht ungeduldig, aber doch sehr nachdrücklich.

Auf meinem Rücken regte sich Julica. „Willst du dich nicht mal darum kümmern?“, nuschelte sie mir zu.

„Nein“, nuschelte ich zurück. „Kovu soll gehen.“ Dann könnte ich noch ein wenig weiterpennen.

„Kovu schläft noch“, murmelte Kovu verschlafen.

Oh Mann, die wollten mich doch alle ärgern.

Als es ein weiteres Mal klopfte, gab ich mich seufzend geschlagen und wollte aufstehen, aber das war gar nicht so einfach, wie man glauben sollte. Ich musste Julica sehr nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich an die Tür musste, um das Klopfen zu unterbinden und das konnte ich auch nur, wenn sie sich von meinem Rücken bequemte. Das sah sie zwar nicht so, aber sie rutschte dennoch runter und benutzte nun Kovus Brust als Kopfkissen.

Noch halb schlafend richtete ich mich auf, strich mir das Haar aus dem Gesicht und schlürfte an die Tür. Die anderen beiden pennten einfach weiter. Jupp, sie lagen in meinem Bett. Keine Ahnung, wie sie dahin gekommen waren, gestern als ich unter die Decke geschlüpft war, war ich jedenfalls noch allein gewesen. Doch diese Tatsache beschäftigte mich nicht wirklich. Auch gestern war ich mit Kovu im Bett aufgewacht, obwohl ich mich allein hingelegt hatte. Mir war es gleich.

Bevor es das nächste Mal klopfen konnte, hatte ich die Tür bereits geöffnet und ein frisch gebügelter Lewis stand vor mir. „Was gibt´s?“

„Verzeihen Sie die frühe Störung, aber an der Tür ist ein Herr, der Sie zu sprechen wünscht.“

Besuch? Für mich? „Was für ein Herr?“ Mein Gähnen zu unterdrücken, wollte mir nicht so recht gelingen, aber ich schaffte es wenigstens, mir eine Hand vor den Mund zu halten. Ich wollte ja schließlich nicht, dass der Mann, äh Satyr, von meinem morgendlichen Atem in die Flucht geschlagen wurde. Obwohl, eigentlich wollte ich das doch. Dann könnte ich wenigstens noch einmal unter die Decken kriechen. Irgendwo zwischen den beiden Wölfen in meinem Bett, würde sich schon noch ein Plätzchen finden lassen und wenn nicht, dann würde ich mich einfach drüber packen, so wie sie es immer mit mir taten. Das war doch mal ein guter Plan.

„Ein Vampir. Er sagte, ich solle Ihnen ausrichten, dass Djenan ihn schickt. Er hat sich mir mit dem Namen Recep vorgestellt.“

Augenblicklich war ich hellwach. „Er ist hier?“ Blöde Frage, ich war wohl doch noch nicht so ganz wach.

„Er wartet draußen vor der Tür. Soll ich ihn hineinbitten, damit Sie sich vorher noch ein wenig frisch machen können?“

„Ja. Ja bitte, das wäre gut, ich komme dann gleich.“ Ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu, nur um sie gleich wieder aufzureißen. Das war wirklich unhöflich. „Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.“

„Nichts zu danken, ich tue nur meinen Arbeit.“ Er wandte sich ab und ich schloss die Tür erneut, nur um zu meinem Kleiderschrank zu sprinten und lautstark nach Klamotten zu suchen.

„Hör auf, so einen Lärm zu machen“, beschwerte sich Julica.

Ich schnappte mir einen weißen Lendenschurz mit passendem Schal für den Oberkörper. Das war einer der Wenigen, der Haken im Nacken hatte. Viel einfacher zu schließen, obwohl ich im Knotenbinden in der Zwischenzeit auch ein wenig Übung hatte. „Hast du gar nicht mitbekommen, was hier gerade passiert ist, oder funktionieren deine Ohren um diese Zeit einfach noch nicht richtig?“

„Doch, da ist jemand für dich an der Tür, aber das ist noch lange kein Grund, mich zu wecken.“

Das war doch wirklich nicht zu fassen. Ohne den Schrank zu schließen, eilte ich ins Bad. „Der will nicht etwas von mir, sondern wir von ihm. Da ist Recep an der Tür, der Wächter, der uns die Akten über Lykaner bringen wollte.“ Ich sah noch ihren verdutzen Gesichtsausdruck, dann schloss ich die Tür. So schnell ich konnte schälte ich mich aus meinem Nachthemd, nahm eine schnelle Katzenwäsche an mir vor und schlüpfte in die sauberen Sachen. Als ich noch dabei war, den Schal in meinem Nacken verhaken, verließ ich schon wieder das Bad.

Julica war weg, aber Kovu saß noch im Bett. Er wirkte noch völlig verschlafen und rieb sich müde die Augen.

„Wo ist unser Morgenmuffel?“, fragte ich und nahm mir eine Bürste, um meine weißblonden Haare mit ein paar schnellen Strichen halbwegs in Ordnung zu bringen.

„Ist zu den anderen rüber, um ihnen von deinem Besuch zu erzählen.“

Hätte ich mir eigentlich auch denken können. „Und du bist noch hier, weil du dich gleich wieder ins Bett packst?“

„Ich begleite dich“, brachte er beinahe empört hervor, als wäre jeder andere Gedanke völlig unerhört.

Das Zucken meines Mundwinkels war an dieser Stelle einfach Pflicht. „Na dann komm.“ Ich legte die Haarbürste weg und war schon zur Tür raus, da hatte der Kleine sich noch nicht mal vom Bett erhoben. Aber der würde mir schon folgen.

So war es dann auch. Als ich an der Haustür ankam, stand dort ein Mann, der etwas kleiner war als ich, etwas älter, aber nicht viel. Blondes, etwas längeres Haar, was ihn nicht ganz so blass aussehen ließ, Pokerface, eine gerade, aristokratische Nase, dünne Lippen, schmales Kinn, athletisch. Er wirkte nicht wirklich hübsch, aber das lag wohl er an seiner Ausstrahlung, bei der ich am liebsten in die andere Richtung gegangen wäre. Leider war das nicht Sinn der Sache.

Als ich vor ihm stand, streckte ich ihm mit einem Lächeln meine Hand entgegen. „Hi, ich bin Talita, ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

„Recep.“ Ein fester Händedruck und dann ließ er mich auch schon wieder hastig los, als bekäme er sonst einen Pilz.

Ich bekam eine Gänsehaut. Seine Haut war nicht nur kalt, sondern eiskalt und den Blick konnte ich auch nicht gerade mit Wärme beschreiben. So stellte ich mir einen Massenmörder, oder einen Serienkiller vor. Ein Mitglied der Mafia, frostig wie ein Winter in der der Arktis und ohne jegliche Skrupel.

Gott, jetzt hör doch mal auf, dir da schon wieder was in deinem Kopf zusammen zu spinnen!

„Der Gefährte von Obaja, ich weiß“, lächelte ich, um meine Unsicherheit zu überspielen.

Er regierte darauf gar nicht – Mann, der war ja noch schlimmer als Veith und das war keine einfache Leistung. Obwohl Veith ja bei all der Härte, die er mir entgegenbrachte, nicht wirklich kalt war, sondern nur abweisend.

 das wurde hier ja immer besser, jetzt spuckte er mir schon wieder im Kopf herum, gaaanz toll. Seit er mich vor drei Tagen mit Pal in der Küche erwischt hatte, war von ihm kein Wort mehr in meiner Richtung gekommen. Er hatte gar kein Recht, sauer auf mich zu sein, er hatte überhaupt kein Recht, irgendwas auf mich zu sein und trotzdem bedrückte es mich mehr, als ich mir selber eingestehen wollte. Gerade als er anfing, mich nicht mehr wie etwas Abartiges anzusehen, musste sowas passieren. Seufz.

„Haben Sie die Akten?“, riss Kovu mich aus meinen Gedanken.

„Draußen.“ Damit drehte er sich um und verließ das Haus.

Kovu und ich guckten uns nur einen Augenblick in einvernehmlichen Stillschweigen an und folgten ihm dann. Jetzt wunderte es mich gar nicht mehr, dass Obaja sich hin und wieder vor dem Kerl verkroch. Der war ja herzlich, wie ein Eisklotz und genauso wortkarg. Ja, selbst Feriin brachte einem mehr Wärme entgegen. Wie hatte er es nur geschafft, eine Frau zu finden und noch dazu die Nichte von Djenan? Ich kannte sie zwar nicht, aber wenn sie nur annähernd so drauf war wie ihr Onkel, dann musste das Mädel ordentlich Feuer im Hintern haben.

Recep verließ zügig das Anwesen und hielt auf einen schwarzen Greif zu, der am Straßenrand an einen Pfosten gebunden war. Nein, das war hier kein seltener Anblick, manchmal, wenn ich hier durch die Straßen lief, dann kam ich mir vor, wie im Wilden Westen, nur ohne Cowboyhüte und Staubmäntel. Besonders die Wächter bewegten sich hauptsächlich auf diesen geflügelten Löwen mit dem Adlerkopf fort. Mir war das ja suspekt. Ein anders Wesen, welches mich auf mein Geheiß hin durch die Gegend trug und sich sogar in die Lüfte begab? Nein danke, ich blieb lieber mit meinen eigenen Beinen fest auf dem Boden – oder in einem Baum, aber auch da waren es meine eigenen Beine.

Als Recep an das Tier trat – das aufgeregt mit den Flügeln zu rascheln begann, als es ihn sah – behielt ich einen respektablen Abstand ein. Dieser Schnabel war verflucht scharf und auch die Krallen waren nicht von schlechten Eltern. Nein, hier hinten stand ich ganz gut.

Recep machte sich an der Satteltasche des Greifs zu schaffen, zog nach einigem Fummeln einen dicken Batzen Akten heraus und kam damit dann zu uns. „Das hier sind Kopien von den eigentlichen Akten.“

Kovu neben mir war so aufgeregt, dass er praktisch von einem Bein aufs andere hüpfte. Ich konnte seine erwartungsvolle Unruhe spüren und auch, wenn es mir kaum anders ging, hätte ich ihm am liebsten angefahren, damit aufzuhören. Es machte mich nämlich noch nervöser.

„Niemand weiß, dass ich sie euch gebe und ich erwarte, dass das auch so bleibt.“

Schon klar, wahrscheinlich würde er seinen Job verlieren, wenn das rauskäme.

„Wenn ihr etwas findet, das uns entgangen ist, erwarte ich, dass ihr mir das sagt.“

Holla, der war ja drauf. Wäre es wirklich zu viel gewesen, aus dem Befehl eine Bitte zu machen? So, wie er mich ansah, ein definitives Ja. „Natürlich tun wir das.“ Was anders wäre mir im Augenblick gar nicht in den Sinn gekommen zu sagen, nicht so, wie er mich mit seinen Blicken praktisch aufspießte. Der Kerl war echt unheimlich.

„Du wirst mir die Akten wieder aushändigen, egal, ob sie euch weitergebracht haben, oder nicht.“ Unter seinem Blick musste ich mich stark zusammenreißen, um nicht schreiend davon zu laufen. Was war nur mit diesem Kerl los? „Ich tu das nur, weil Djenan mich darum gebeten hat und er glaubt, dass ein Lykaner etwas finden könnte, was uns zur Klärungen dieser Fälle helfen könnte.“

„Ihr glaubt also immer noch nicht, dass es da einen Zusammenhang geben könnte?“, wagte ich zu fragen.

Ich bekam keine Antwort, dafür aber einen Satz Akten, der so schwer war, dass ich beinahe in die Knie ging.

Recep nickte mir noch einmal zu, dann wandte er sich um und machte seinen Greif vom Pfahl los. Ich wartete nicht, bis er weg war, dafür war ich einfach zu neugierig. Seit fünf Tagen waren wir in der Stadt und das Einzige, was wir bisher herausgefunden hatten, war, das es in Sternheim keine Spur gab, die auf die verschwundenen und getöteten Lykaner hindeutete. Diese Akten waren das erste Handfeste, was wir bekommen hatten und ich wollte keine Sekunde mehr damit verschwenden, doof in der Gegend rumzustehen. Schon heute Nachmittag würden wir aufbrechen, um uns morgen mit den anderen Rudeln zu treffen, da blieb keine Zeit mehr, die wir unnötig verschwenden konnten. Hier und jetzt war Eile geboten. So drehte ich mich einfach herum und ging an Kovus Seite zurück ins Haus.

Neugierig blickte er immer wieder auf die Papiere, die ich an meine Brust drückte. Er war genauso gespannt wie ich. Vielleicht hielt gerade in diesem Augenblick den Schlüssel in der Hand, um Isla zu finden – und auch die anderen Verschwundenen.

An der Haustür erhaschte ich noch einen letzten Blick auf Recep, wie er gerade auf seinem Greif davonritt. Wie hatte Djenan es nur geschafft, ihn dazu zu bewegen, uns die Akten zu geben? Der Kerl wirkte nicht gerade, als wolle er seinen Mitmenschen helfen, eher so, als wolle er sie alle vom nächsten Hochhaus schubsen. Wie kam so jemand nur dazu Wächter zu werden? War ja auch egal, ging mich nichts an. Ich hatte die Akten und nur das zählte im Moment, alles andere konnte warten.

Meine Gedanken flossen nur so dahin, als ich durch den Korridor eilte.

„Hoffentlich werden wir nicht vom Hausherrn erwischt“, sagte Kovu unvermittelt.

Erschrocken sah ich ihn an. Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht. „Mal doch den Teufel nicht an die Wand.“ Sicherheitshalber sah ich mich beim Laufen um, als würde Anwar gleich hinter der nächsten Ecke hervorspringen und „Buh!“, rufen. Mann, von dem wollte ich jetzt auf keinen Fall erwischt werden.

„Warum sollte ich die Wand anmalen?“

Oh Mann. „Das sagt man nur so.“

Wir bogen um die Ecke und ich bekam fast ein Herzstillstand, als ich das Hausmädchen beim Staubwischen sah, aber sie beachtete uns gar nicht, staubte einfach die ausgestopften Tierköpfe an der Wand ab und summte dabei leise ein Lied. Klasse, jetzt hatte Kovu es geschafft, ich war paranoid.

Kopfschüttelnd eilte ich an dem Mädchen vorbei. Das Zimmer der Lykaner erreichten wir zwei Minuten später. Da ich die Hände voll hatte, öffnete Kovu mir die Tür. Augenblicklich waren vier Paar Augen auf mich gerichtet, auch die von Veith, was mein Herz einen seltsamen Hüpfer machen ließ. Er hatte mich seit Tagen nicht mehr angesehen, jedenfalls nicht länger als er für einen kurzen abschätzenden Blick brauchte. Aber nun lagen seine Augen unverwandt auf mir.

Ich tadelte mich innerlich dafür, dass mich ein einfacher Augenkontakt so freute und ließ mich zu Tyge und Julica auf das Bettenlager am Boden fallen.

„Sind sie das?“, fragte Julica unnötigerweise.

Kovu schloss die Tür. „Nein, Talita läuft immer mit einem Haufen Altpapier durch die Gegend.“

Ich verkniff es mir, etwas dazu zu sagen und reichte die Akten stattdessen an Tyge weiter. „Das sind nur Kopien und wir müssen sie zurückgeben, wenn wir damit fertig sind.“

Pal rutschte vom Bett herunter neben mich. Dabei landete seine Hand auf meinem Bein. Es kümmerte mich nicht, von den letzten Tagen war ich das mehr als gewöhnt. Wenn man schlafen konnte, wenn einem ein Werwolf auf dem Rücken lag, dann war das ja wohl wirklich nur eine nebensächliche Kleinigkeit, der man keiner weiteren Beachtung schenken musste.

„Ich schlage vor, jeder nimmt sich einen Stapel“, sagte Veith und ließ sich neben Pal nieder. „Und anschließend vergleichen wir die Informationen.“

Tyge nickte, als Kovu sich zwischen mir und Julica quetschte. Der Kleine war der erste, der sich eine Akte aus unserer Mitte fischte.

Veith beugte sich zu ihm rüber und riss sie ihm wieder aus der Hand.

„Hey!“

Veith kniff die Augen zusammen. „Was glaubst du, was du da tust?“

„Ich sehe mir die Akten an, damit …“

„Du siehst dir gar nichts an“, unterbrach Julica ihn rüde. „Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein.“

Ich kümmerte mich nicht weiter um das kleine Geplänkel, dass nach kurzer Zeit von Tyge durch ein leises „Ruhe“, beendet wurde, sondern machte mich meinerseits daran, mich in die Akten zu vertiefen.

Die Erste die mir in die Hände fiel, war von einer jungen, rothaarigen Frau.

Lirana.

Laut der Akte zählte sie siebenundzwanzig Jahre und stammte aus dem Felswolfrudel. Sie wurde seit fast drei Monaten vermisst, ist von einem Spaziergang einfach nicht mehr wiedergekommen. Erst Stunden später hatte ihr Rudel ihre Abwesenheit bemerkt und war ihrer Fährte bis kurz vor den Rand des Territoriums gefolgt. Da hatte sich ihr Geruch einfach in Luft ausgelöst und war von dem nach Katze ersetzt worden. An einer Stelle hatte man orangenes Fell gefunden, aber der Geruch daran war verwirrend gewesen, sowohl Katze, als auch Wolf.

Schon auf den ersten Blick war mir klar, dass die Parallelen zu dem Verschwinden von Isla nicht von der Hand zu weisen waren. Wie also war es möglich, dass die Wächter das nicht auch so sahen? War Anwars Machteinfluss wirklich so groß, dass ein einziges Wort von ihm reichte und sie die Sache einfach so übergingen?

Bei dem Gedanken bekam ich ein ganz mulmiges Gefühl. Wie sollten wir dem Kerl so etwas nachweisen? Das würde noch schwerer werden, als bisher gedacht.

Als ich nach der nächsten Akte griff, rutschte Kovu hinter mich, um über meine Schulter einen Blick auf die Papiere zu werfen. Wenn er sie sich schon nicht selber in die Hand nehmen durfte, dann würde er sie sich eben so ansehen.

Ich ignorierte ihn einfach, auch als er seine Arme um meinen Bauch schlang. Er war wohl der Einzige von den Wölfen, bei dem ich dieses Angstgefühl vor Berührungen einfach so abschalten konnte. Vielleicht, weil er noch ein Welpe war, auch wenn die knapp drei Jahre die uns unterschieden, nicht wirklich viel waren. Es war nicht nur sein Status im Rudel, sondern auch seine kindlich verspielte Art. Er war einfach … Kovu.

In der zweiten Akte fand ich ein Foto – oder besser gesagt, ein Porträt, denn die Bilder hier waren alle gemalt, zwar sehr detailliert, aber dennoch gemalt. Hier war die Rede von einem der vermissten Einzelläufer. Ein Mann um die vierzig. Saphrir wurde er genannt. Eine Freundin hatte ihn als vermisst gemeldet, als er nicht zu ihrem wöchentlichen Spieleabend aufgetaucht war. Sie bestand darauf, dass er ihn noch nie hatte ausfallen lassen, jedenfalls nicht, ohne sich bei ihr zu melden und abzusagen. Das war jetzt fast drei Wochen her. Ein Vermerk wies mich darauf hin, dass diese Frau sich fast täglich bei den Wächtern meldete, in der Hoffnung, dass sie ihn gefunden hätten. Das war deutlich, er war also bis heute nicht wieder aufgetaucht.

Vielleicht würde es Sinn machen, sich mit dieser Frau in Verbindung zu setzen. Es könnte doch sein, dass sie noch weitere Informationen hatte. Das sollte ich auf jeden Fall in der Hinterhand behalten.

Ich legte die Akte weg und nah mir die nächste. Eine ganze Weile blieb es ruhig, nur das Knistern des Papiers war zu hören. Hin und wieder ein paar gemurmelte Worte.

Manche der Wölfe waren einfach ohne Hinweis verschwunden, ein junger Mann sogar direkt aus dem Bett seiner Gefährtin. Mancherorts haben die Lykaner den starken Geruch von Katze wahrgenommen, aber eines stach schon nach kurzer Zeit hervor: zu einem Großteil waren die Wölfe männlich und alle waren mehr oder weniger ausgewachsen. Selbst die Welpen. Der, oder besser gesagt die Jüngste war Isla mit ihren sechzehn Jahren. Die anderen waren alle siebzehn und älter. Der älteste Lykaner war eine Frau Mitte vierzig aus dem Nebeltal, das auf der anderen Seite von Sternheim lag.

Das war auch noch so eine Sache, alle verschwunden lebten in den Rudeln, die um Sternheim ihre Reviere hatten, manche näher als andere, aber das Zentrum schien trotzdem diese Stadt zu sein. „Was ist mit den Rudeln weiter weg?“, fragte ich irgendwann.

Pal zuckte mit den Schultern, ohne den Blick von seiner aktuellen Akte zu nehmen. „Über die steht hier nichts.“

„Das meine ich nicht.“ Ich ließ die Akte sinken, um ihn ansehen zu können. „Es ist doch klar, dass sich die Rudel, die weiter entfernt leben, nicht hier nach Sternenheim kommen, um ihre Vermissten zu melden, sie gehen zu den Städten, die bei ihnen in der Nähe liegen.“ Welche auch immer das sein mögen. „Sie können hier also gar nicht verzeichnet sein, doch vielleicht sollten wir herausbekommen, ob auch dort Wölfe verschwunden sind.“

„Sie hat Recht.“ Das kam von Tyge. „Julica, rufe doch bitte deine Mamá an und bitte sie darum, sich mit den Rudeln von außerhalb in Verbindung zu setzen, damit wir herausbekommen, was an Talitas Überlegung dran sein könnte.“

Julica nickte wortlos, legte ihre Akte zur Seite und verschwand mit dem Vox ins Bad, um ungestört zu sein.

„Und du glaubst, dass die uns so einfach Auskunft geben?“ Pal klang leicht ungläubig.

Tyge zuckte mit den Schultern. „Das können wir nur hoffen. Wenn Prisca ihnen die Situation erklärt, werden sie bestimmt mitteilsam werden.“

Sein Zweifel blieb bestehen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. So geheimnistuerisch, wie die Lykaner gerne taten, würde bestimmt keiner von ihnen freiwillig zugeben, dass sie die Sicherheit ihrer Leute nicht gewährleisten konnten, weil sich ein Eindringling Zugang zu ihrem Territorium verschafft hatte.

„Das bleibt nur zu hoffen“, sagte der Rothaarige grimmig.

Ich legte die Akte von dem Mann, der direkt aus dem Bett verschwunden war, zur Seite und griff nach der nächsten. Schon als ich sie aufschlug, stockte mir der Atem. Dort war ein Bild von einer halb verwandelten Frau. Ihr Fell war wohl mal weiß gewesen, nicht so auf diesem Bild. Rostrote Flecken überzogen sie, kahle, blutige Stellen ohne Fell, offene Wunden am ganzen Körper, tote, leere Augen. Das haarige Ding, das da neben ihr lag, wollte ich mir gar nicht so genau ansehen – es sah aus wie ihr Schwanz –, aber das schlimmste war wohl die Bauchwunde, die Dinge zeigte, die eindeutig unter der Haut verborgen bleiben sollen.

Augenblicklich stand mir wieder der Anblick von den beiden Toten im Wald vor Augen. Die gräuliche Hautfarbe, leblose Augen und die eingefallenen Wangen. Aber am deutlichsten waren da die tiefen Fleischwunden, die Es in sie geschlagen hatte.

Pal sah besorgt von seiner Akte auf, hatte meine Gemütsveränderung wohl gespürt, oder wenigstens gerochen – ja, Lykaner konnten Gefühle riechen. „Talita?“

Langsam klappte ich die Akte wieder zu, legte sie zurück auf den Stapel und löste mich aus Kovus Griff. Ohne ein Wort stand ich auf und verließ unter den fragenden Blicken der Wölfe das Zimmer.

Zur Tür raus, auf den Korridor und einfach nur weg. Leider wollte das nicht ganz so klappen. Ich schwankte leicht und mir war schlecht. Mit diesem Bild war alles zurückgekommen, was ich in den letzte Wochen einfach verdrängt hatte. Die Angst in dieser Nacht, dieses Gefühl beobachtet, gejagt zu werden. Das Alleinsein. „Oh Gott.“ Im Korridor musste ich mich an der Wand abstützen, um nicht umzukippen. Langsam ließ ich mich dran auf den Boden sinken, darauf hoffend, dass mein gestriges Abendessen nicht auf sehr unkonventionelle Methode wieder zum Vorschein kam.

Ich bemerkte erst, dass Pal neben mir hockte, als er meine Wange berührte – wo kam der plötzlich her? Erschrocken zuckte ich zusammen – das war mir schon seit Tagen nicht mehr passiert.

„Was ist mir dir?“ Pal schob sich in mein Sichtfeld. „Du bist weiß wie ein Laken.“

Oh, manchmal sagte er so nette Dinge. Ich schüttelte nur den Kopf, wollte nicht näher auf meinen Zustand eingehen. Diese Bilder sollten einfach nur aus meinem Kopf verschwinden. Es gab halt doch Erinnerungen, die man missen wollte.

„Talita? Sprich mit mir.“ Er rutschte noch ein wenig näher. Dieses Mal zuckte ich nicht vor seiner Berührung zurück, ließ es kommentarlos zu, dass er mir mit dem Daumen über die Wange rieb, ja fand in dieser Geste sogar ein wenig Trost. Ich war nicht allein, zumindest nicht im Moment. „Bitte.“

Wie sollte ich das nur erklären? „Es ist nichts, ich brauchte nur mal kurz frische Luft.“

Seine Augen forschten in meinem. „Sicher?“

„Ja, es geht sicher gleich wieder.“ Obwohl es mir davor graute, zurück in dieses Zimmer zu gehen und vielleicht noch mehr von diesen Bildern zu Gesicht zu bekommen. Nein, das brauchte ich wirklich nicht, aber ich würde mich auch nicht wie ein feiges, kleines Mädchen zurückziehen.

Neben mir ertönten Schritte. Ich wusste ohne hinzusehen, dass es Veith war, erkannte seinen Geruch sofort und wünschte mir, dass er einfach wieder verschwinden würde. Auf ihn hatte ich nun mal gar keinen Bock. Außerdem, was wollte er hier? Seit drei Tagen ignorierte er mich wo es nur ging und jetzt lief er mir hinterher? Das ergab keinen Sinn. Gut, bei dem Kerl ergab sowieso nur wenig Sinn. Veith war einfach ein Widerspruch in sich.

„Ich denke es ist besser, wenn wir die restlichen Akten ohne dich sichten“, ließ er dann verlauten.

Ich biss mir auf die Lippen. Hatte er das jetzt wirklich tun müssen? Ich wusste ja, dass er mich nicht dabei haben wollte, aber musste er mich jetzt auch noch mit der Nase draufstucken? Es war doch wirklich nicht zu viel verlangt, mich einfach nur in Ruhe zu lassen. Langsam stieg der Ärger über diese ungerechte Behandlung in mir hoch.

Pal knurrte.

„Vielleicht solltest du dich zurückziehen“, fügte Veith noch leise hinzu.

Wütend fuhr ich zu ihm herum. „Warum? Weil ich nur als Mittel zum Zweck diene? Weil ihr jetzt alles von mir habt, was ihr braucht? Weißt du was, es ist mir scheiß egal, was du glaubst! Ich lass mich von dir nicht vergraulen, nur weil du ein Problem mit mir hast! Eigentlich hatte ich ja geglaubt, dass wir den ganzen Mist hinter uns hätten, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Und nur damit du es weißt, auch wenn es dich eigentlich gar nichts angeht, dass in der Küche mit Pal war ein Missverständnis und dass du seitdem so bockig mit mir bist, geht mir tierisch auf die Nerven. Dazu hast du gar kein Recht, also hör endlich auf damit!“

Veith runzelte in vertrauter Geste die Stirn. „Wie kommst du darauf, dass ich deswegen bockig bin?“

Ich kniff die Lippen zusammen. Darauf zu antworten war mir einfach zu dämlich. Wenn er der Meinung war, dass er so tun musste, als wäre nichts, bitte, aber ich würde da sicher nicht mitspielen.

Veith seufzte. „Ich versteh dich nicht. In dem einen Moment fällst du fast wie eine aggressive Wölfin über mich her und im nächsten verwandelst du dich in ein kleines, schüchternes Kätzchen.“

War das jetzt eine Beleidigung, oder ein Kompliment? Wahrscheinlich eher erstes, so wie immer. „Lass mich einfach in Frieden.“

Langsam hockte er sich neben mich, beachtete Pals Anwesenheit dabei gar nicht und sah mich an, als wolle er mich ergründen. „Warum bist du so?“ Er neigte den Kopf leicht.

Was war das denn für ´ne Frage? „Warum bist du so?“

Er seufzte tief, als wäre er mich einfach nur noch leid – was wahrscheinlich auch so war. „Ich hab das nicht gesagt, um dich zu vergraulen, ich …“ – er warf einen Blick zu Pal rüber. „Würdest du uns kurz allein lassen?“

Pal zeigte ihm die Zähne. „Vergiss es.“

Allein? Was sollte das denn jetzt werden? Wollte er mich jetzt fressen, weil ich so widerspenstig war? Okay, meine Fantasieging mal wieder mit mir durch, trotzdem kamen mir wieder die Bilder von den toten Lykanern in den Sinn und ich musste schlucken.

Veith starrte seinen Cousin auf eine Art nieder, die ich niemals am eigenen Leib erfahren wollte – das war richtig gruselig –, aber es schien zu funktionieren. Pal schrumpfte merklich unter diesem Blick und senkte schlussendlich sein Haupt. Unterwürfiges Verhalten, schoss es mir durch den Kopf. Pal wurde von seinem Cousin allein durch einen Blick dominiert und ergab sich dem Druck. Er richtete sich auf, ohne mir in die Augen zu sehen und verschwand eilends im Zimmer der Werwölfe. Dann war ich mit dem großen, bösen Wolf ganz allein auf dem Flur.

Schluck.

Als er sich mir wieder zuwandte, drückte ich mich ganz automatisch mit dem Rücken an die Wand. Er war mir viel zu nahe. Konnte er nicht auf Abstand gehen? So ungefähr zehn Meter sollten für den Anfang ausreichen.

Sofort tauchte wieder diese Falte auf seiner Stirn auf. „Warum machst du das?“

„Was?“

„Vor mir zurückweichen.“

Ähm, weil er Zähne und Krallen hatte? Okay, das sagte ich ihm natürlich nicht, ich wollte ihn ja schließlich nicht auf falsche Gedanken bringen. Daher schwieg ich einfach beharrlich und dachte mir meinen Teil.

Veith wartete, fast fünf Minuten auf eine Antwort, die wir in Schweigen verbrachten, aber ich weigerte mich, mich dazu zu äußern – irgendwie hing ich an meinem Leben. Auch sein eindringlicher Blick ließ mich nicht schrumpfen … nein, tat er nicht, zumindest nicht äußerlich. „Ich hab dir nie etwas getan“, sagte er dann irgendwann.

„Das vielleicht nicht“, wagte ich mich zu erwidern, „aber sehr freundlich warst du auch nie.“

„Du hast nicht zum Rudel gehört.“

„Gehört? Vergangenheitsform? Ich gehöre immer noch nicht dazu. Das zeigt ihr mir ja nur zu deutlich.“ Verdammt, wie war es gekommen, dass ich so ein Gespräch führte und dann ausgerechnet noch mit Veith?

„Wer tut das?“, fragte er mich völlig ernst.

Einen Moment konnte ich ihn nur mit offenem Mund anstarren. „Willst du  mich veräppeln? Du tust das. Bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit zeigst du mir, dass ich nicht dazugehöre, dass ich anders bin und dass ihr mich eigentlich gar nicht bei euch haben wollt.“ Verdammt, musste meine Stimme so weinerlich klingen? Das war ja schon fast erbärmlich. Wütend auf mich selber, verschränkte ich die Arme vor der Brust und wandte den Blick ab. Ich würde so was von gar nichts mehr sagen, ich fühlte mich bereits erniedrigt genug, mehr brauchte ich nun wirklich nicht mehr. 

Als ich seine Hand auf meinem Arm spürte, spannte ich mich merklich an. Was sollte das jetzt wieder?

„Du gehörst zu uns. Das ich nicht möchte, dass du weiter mit in die Akten siehst, liegt daran, dass du diese Bilder offensichtlich nicht verkraftest.“ Er sprach so einfühlsam, dass ich einen Moment glaubte, nicht Veith hockte neben mir, sondern sein guter Zwilling. „Ich habe dich gefunden, in diesem Baumstamm und weiß wie verstört du warst. Ich möchte dich nicht noch einmal so sehen.“

Das musste ich erst mal verdauen. Sollte das heißen, er machte sich Sorgen um mich? Das passte nicht zusammen, das war so ganz anders, als das, was ich von ihm gewohnt war. Aber was dann meinen Mund verließ, hatte mit ihm persönlich nur wenig zu tun. „Ich gehöre zu euch?“

Er neigte leicht den Kopf zu einem Nicken. „Du hilfst uns, du bist eine Freundin des Rudels.“

Das war wohl so viel wie ein Ja. Mir ging das Herz auf und das zeigte sich wohl in meinem leisen Lächeln. „Du willst mir nicht verbieten, wieder in diesem Raum zu gehen?“

„Nein.“

Langsam hob ich meine Hand und legte sie auf seine. Er stieß mich nicht weg. Rudelprivilegien, ich gehörte dazu, ich hatte mir dieses Recht verdient. Mein Lächeln wurde noch breiter. „Ich glaube, du hast Recht.“

„Ich weiß.“ Er erhob sich und zog mich mit auf die Beine. „Und es tut mir leid, dass ich bockig war.“ Wie er das Wort aussprach, das ließ mich gleich noch breiter grinsen.

„Vergeben und vergessen?“

Er nickte ohne Zögern.

„Gut.“

So standen wir voreinander und schauten uns einfach nur an. Das war irgendwie sehr seltsam. Verdammt, warum klopfte mein Herz plötzlich so schnell?

„Ähm“, machte ich und ließ meinen Blick zur Tür schweifen, um mich von seiner Nähe etwas abzulenken. „Du solltest vermutlich wieder hineingehen.“

„Ja.“

„Gut, dann werde ich …“ Ja, was würde ich denn? „Ähm …“

„Geh doch zu Gaare. Vielleicht hat er ja etwas Neues über dich herausgefunden.“

Die Zeichen standen dafür zwar schlecht, aber es war mir immer noch lieber, als mich wieder mit diesen Bildern zu beschäftigen. „Das ist eine Idee.“ Ich trat einen Schritt von ihm weg, was wohl das Zeichen für ihn war, sich zurück an die Arbeit zu machen.

Er hatte die Hand schon an der Türklinke, als mir noch etwas auf der Zunge lag, das ich unbedingt loswerden musste.

„Hey, Veith.“

Er richtete seinen Blick auf mich und wieder machte mein Herz so einen seltsamen Hüpfer. Was war das nur?

„Das war das erste vernünftige Gespräch, dass wie je miteinander geführt haben.“ Damit drehte ich mich lächelnd um und ging nach unten in die Bibliothek. Daran würde ich mich gewöhnen können.

 

°°°

 

Ich klopfte an der großen Doppeltür und öffnete sie. Gaare entdeckte ich, kaum dass ich eingetreten war. Er saß tief über einen der langen Tische gebeugt, mit der Nase in irgendeinem Buch, das graue Haar wirr und die Brille auf der Nasenspitze. Heute aber hüllte er seine gedrungene, magere Gestalt zur Abwechslung mal in eine rote statt seiner sonstigen blauen Robe. Doch das machte kaum einen Unterschied, sie wirkte genauso schäbig wie all die anderen.

Als Gaare mich näherkommen hörte, blickte er auf. Wie immer verwirrte ihn mein Anblick im ersten Moment, als fragte er sich, wo ich den plötzlich hergekommen war, doch dann lächelte er. „Talita, meine Liebe, schön dich zu sehen, wirklich schön. Es ist immer eine Freude, wenn du mich besuchen kommst. Komm, setzt dich, setzt dich und ich mache uns Tee.“

„Nein nicht nötig“, lehnte ich sofort ab. Nach der Begegnung mit Veith glaubte ich auch gar nicht, dass ich in der Lage war, es mir im Moment mit einem Tässchen Tee bequem zu machen. Dafür hatte ich viel zu viele Hummeln im Hintern. „Ich wollte nicht lange bleiben, sondern nur nachfragen, ob du vielleicht etwas Neues herausgefunden hast. Du weißt schon, über mich.“

Ein mitleidiger Zug erschien in seinem Gesicht und ich ahnte die Antwort schon bevor er sie aussprach. Ich hatte es doch gleich gewusst, diesen Weg hätte ich mir sparen können und meine gute Laune bekam einen kräftigen Dämpfer.

„Es tut mir ehrlich leid, aber bisher habe ich keine Fortschritte gemacht, nicht mal mit Hilfe der Wächter.“ Gaare raufte sich die Haare, als würde es ihn genauso frustrieren wie mich. „Es ist, als würdest du gar nicht existieren. Jedes Wesen hinterlässt sein Leben lang Spuren, anhand welcher nachzuvollziehen ist, wo er herkommt, wo er war, was er getan hat. Auch du hinterlässt eine solche Spur und sie beginnt auf dem Dachboden der Lykaner. Ich habe gesucht und gesucht, mit allen Mitteln die mir zur Verfügung stehen, aber es ist, als …“

„… hätte ich vorher nicht existiert“, vollendete ich seinen Satz mit den Worten, die er mir gegenüber schon mehr als einmal ausgesprochen hatte.

Vielleicht war es meine niedergeschlagene Stimme, oder etwas das er in meinem Gesicht sah, auf jeden Fall wurde seine Mimik weicher und sagte mit sanfter Stimme: „Keine Angst, so schnell gebe ich nicht auf. Vielleicht stecken wir zurzeit in einer Sackgasse, aber ich werde weitersuchen.“ Er schwieg kurz. „Erzähl mir doch einfach nochmal in allen Einzelheiten, an was du dich erinnerst. Von Anfang an.“

 „Das hab ich dir doch schon hundertmal erzählt, was also soll das bringen?“ Ja ich wusste, dass sich das ziemlich weinerlich anhörte.

„Tu es mir zuliebe. Vielleicht fällt dir ja noch etwas ein, dass du vorher vergessen hast, eine Kleinigkeit, die dir unbedeutend vorkam.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. Ich glaubte zwar nicht, dass wir neue Erkenntnisse gewinnen würden, aber wenn es ihn beruhigte. Und außerdem gab es da immer noch diesen kleinen Hoffnungsschimmer in mir. Vielleicht hatte Gaare ja Recht, schaden konnte es zumindest nicht. „Also gut. Ich bin, wie du ja schon weißt, auf diesem beschissenen …“

„Keine Ausdrücke.“

„Auf diesem Dachboden aufgewacht. Mit mörderischen Kopfschmerzen. Domina die Löwin war da und ein paar Kinder vom Rudel. Natürlich auch Fang.“ Ich lachte kurz auf, als ich mich daran erinnerte, wie ich Fang zum ersten Mal in seinem Lendenschurz gesehen hatte. „Mann, das hat mir wirklich einen Schrecken eingejagt. Man könnte fast sagen, dass ich vor Schreck wieder in Ohnmacht gefallen bin. Das Nächste, an das ich mich erinnere ist, wie ich im Arbeitszimmer aufgewacht bin – obwohl hochgeschreckt es wohl eher beschreibt.“

„Moment, noch mal zurück zum Dachboden. Dort hat alles begonnen und mir scheint, dass wir auch dort nach der Lösung forschen sollten. Versuch dich genau zu erinnern. Was hast du dort getan, was haben die anderen getan, was wurde gesagt, könnte noch jemand anwesend gewesen sein, von dem du nichts mitbekommen hast? Jede noch so kleine Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen.“

Ich überlegte und rief mir jeden einzelnen Moment noch einmal in Erinnerung. „Es ist gut möglich dass da noch jemand war, ich war schließlich nur wenige Minuten wach und habe nicht wirklich mitbekommen was um mich herum geschehen ist. Aber ich denke dass es in der Zwischenzeit jemand erwähnt hätte.“ Ich überlegte. Durch die Anstrengung verzog sich meine Stirn und tausend kleine Falten, was nun wirklich nicht schön aussah. „Ich bin aufgewacht“, rekapitulierte ich. „Fang versuchte mich wachzurütteln. Ich habe ihn gespürt, aber nicht für voll genommen. Was mich wirklich aufwachen ließ war das Gekicher von dem kleinen Jungen. Fang hockte vor mir und ich bin vor seinem Anblick zurückgeschreckt.“ Ich runzelte die Stirn noch mehr. Da war noch etwas gewesen, aber erst als ich eine kleine weiße Narbe auf meinem Arm erblickte, fiel es mir wieder ein. „Der Spiegel“, sagte ich.

„Spiegel?“ Gaare horchte auf. „Was für ein Spiegel?“

„Ich lag vor einem Spiegel. Als ich aufgewacht bin, hab ich ihn zerbrochen, als ich vor Fang zurückgezuckt bin. Das hatte ich völlig vergessen.“ Wie hatte mir das nur passieren können? Okay, müßige Frage.

„Erzähl mir von dem Spiegel.“

„Naja“, überlegte ich laut. So wirklich hatte ich ihn ja nicht gesehen, auf jeden Fall nicht lange. Ich war ja gleich darauf wieder in Ohnmacht gefallen. „Das war ein riesen Ding, golden und protzig und …“

Gaare war schon aus seinem Sessel hochgeschnellt, kaum dass ich zwei Worte über meine Lippen gekommen waren. Für so einen alten Kerl konnte er sich manchmal recht flink bewegen. Er sagte kein Wort, während er die Bücher in den Regalen abschritt. Ihn umgab die gleiche Energie wie immer, wenn er ein neues Ziel vor Augen hatte.

„Gaare?“

„Der Spiegel, das könnte …“ Er zog ein Buch heraus, blätterte kurz darin und stellte es wieder zurück. „Ich weiß, dass es hier irgendwo sein muss.“

„Was denn? Vielleicht kann ich dir suchen helfen.“ Helfen war bei den tausenden von Büchern wahrscheinlich keine schlechte Idee. Das und noch mindestens hundert andere Leute, die uns zur Hand gehen würden.

Gaare schenkte mir ein kurzes Lächeln. „Danke, meine Liebe“, sagte er während er weitere Bücher aus dem Regal zog, „aber ich kenne diese Bibliothek besser als jeder andere und ich bezweifle, dass du finden würdest, wonach ich suche. Dazu wäre ein mehrjähriges Studium nötig, über das du leider nicht verfügst.“ Zwei Bücher landeten in seinen Armen, die er sofort zum Tisch brachte, nur um nochmal zurück zu gehen und ein drittes aus den Reihen zu ziehen.

„Sagst du mir dann wenigstens wonach du suchst?“ Langsam wurde ich aufgeregt, ja richtig kribbelig. Gaare schien genau zu wissen, was er brauchte. War das ein gutes Zeichen? Ich hoffte es einfach mal.

„Jenseits des Spiegels“, sagte er nur und drückte mir das dickste der drei Bücher in die Hand.

„Was?“ Zwar nahm ich es entgegen, verstand aber nur Bahnhof.

„Vor ein paar Jahren habe ich etwas gelesen, das mich vermuten lässt, dass es wahr ist. Ich muss es nur wiederfinden, vielleicht …“ Er verstummte wieder, schlug das erste Buch auf und überflog konzentriert die ersten Zeilen. Dann legte er die Schwarte zur Seite und machte sich erneut auf den Weg zu den Regalen.

Also wirklich, mit Gaare in einem solchen Moment zu sprechen konnte wirklich frustrierend sein. „Gaare?“

„Das ist ein Märchen, das wir unseren Kindern erzählen. Ließ es und du wirst verstehen.“

Mein Gesicht war immer noch ein großes Fragezeichen. „Ein Märchen? Aber wo … ich …“

„Das Buch in deiner Hand, dort drin steht es. Jenseits des Spiegel. Und jetzt geh, ich habe zu tun.“

Ich wollte noch etwas sagen, aber er winkte mich mit einer Hand fort. Ich kannte ihn in der Zwischenzeit gut genug, um zu wissen, dass es nichts brachte ihn weiter zu löchern. Er war nun völlig in seiner kleinen Welt versunken und würde meine weitere Anwesenheit nur als lästig und störend empfinden. So ließ ich ihn allein und suchte mir einen ruhigen Ort, um mich ein weiteres Mal mit einem Märchen zu beschäftigen.

 

°°°

 

Nachdenklich saß ich im kleinen Salon, das dicke Buch auf dem Schoß und starrte ins Nichts. Wenn dem, was da stand, nur ein Körnchen Wahrheit gegeben war, hielt ich damit des Rätsels Lösung in der Hand. Die Märchen, die ich kannte, waren auch wahr geworden, warum sollte das nicht auch mit jenem sein, das ich vor Augen hatte?

Jenseits des Spiegels. Ich strich mit dem Finger über die Überschrift. In der Geschichte ging es um eine neugierige junge Hexe. Eines Tages fand sie einen magischen Spiegel, der sie in eine andere Welt führte, in eine Welt ohne Magie. Sie lebte und liebte dort, war glücklich und so weiter, aber eines schönen Tages bekam sie fürchterliches Heimweh. Im Prinzip drehte sich die Geschichte um die Probleme, die sie hatte, wieder nach Hause zu finden. Sie schaffte es und lebte glücklich bis an ihr Lebensende, bla bla bla. Ein nettes Märchen, das man Kindern wohl erzählte um ihnen zu verklickern, dass sie sich nicht weit von zuhause entfernen sollten, weil sie dann vielleicht Schwierigkeiten hatten, wieder zurückzufinden. Nur ein Satz ließ mich aufmerken und zwar der letzte, denn darin hieß es: Als sie wieder nach Hause kam und ihre Liebsten in die Arme nahm, war sie so glücklich, dass sie darüber ihr Leben Jenseits des Spiegels vergaß.

Das war es: vergaß. Sie hatte alles vergessen.

Ich hatte alles vergessen.

War es vielleicht das, was mir passiert war? Konnte das sein, dass ich durch einen magischen Spiegel in eine andere Welt gefallen war? Und wenn ja, was bedeutete diese Entdeckung für mich? Die Beschreibung der Welt Jenseits des Spiegels ähnelte der an die ich mich erinnerte. Natürlich vor Jahrhunderten, Vergangenheit, Geschichte. Aber …

Die Tür schlug auf und knallte gegen die Wand. Ich zuckte zusammen.

„Ach hier versteckst du dich.“ Kovu kam herein geschlendert, Pal direkt hinter sich und ließ sich neben mich auf das Sofa plumpsen. Er sah das Märchenbuch in meinem Schoss und klaute es. „Das ist aber mal eine dicke Schwarte.“

„Hey, gib das wieder her!“ Ich beugte  mich zu ihm rüber, aber er drehte sich einfach weg. Blödmann.

Auch Veith fand den Weg in den kleinen Salon, nur machte er dabei nicht so einen Krach. Augenblicklich musste ich wieder an den Korridor vor einer Stunde denken. War jetzt wirklich alles friedlich zwischen uns? Auch wenn ich mich darüber freute, so ganz traute ich dem Frieden noch nicht, dafür war Veith einfach zu sehr Veith.

„Ein Märchenbuch?“ Kovu verzog das Gesicht, hielt das Buch aber erneut aus meiner Reichweite, als ich ein zweites Mal versuchte danach zu greifen.

„Gib her!“

„Was krieg ich denn dafür?“

„Frag lieber was du bekommst, wenn ich du es nicht tust“, drohte ich, was mir nur wieder sein Lausbubenlächeln einbrachte.

Pal nahm Kovu das Buch ab, um es sich selber anzusehen, wurde es aber sogleich wieder los, als Veith es sich griff. Wölfe, also wirklich, keinerlei Privatsphäre. Ich stand auf und streckte ihm die Hand her. „Das ist meins.“

Nach einem kurzen Blick auf Deckblatt gab er es mir zurück.

„Warum liest du das?“, wollte Pal wissen. Er machte es sich auf der Lehne bequem.

„Ich lese es nicht, mich interessiert nur eine Geschichte daraus. Jenseits des Spiegels, kennt ihr die?“

„Klar“, sagte Kovu und fläzte sich so auf die Couch, dass kein anderer mehr Platz hatte. „Das Märchen hat Papá uns immer erzählt, als wir noch klein waren.“

Ich schob seine Beine weg, um mich wieder hinzusetzen. Kovu nahm das sofort als Einladung seine Position zu wechseln und es sich mit seinem Kopf in meinem Schoß bequem zu machen. Werwölfe, mehr war dazu ja wohl nicht zu sagen. „Gaare denkt, dass es vielleicht das ist, was mir passiert ist.“

„Was, dass du durch einen Spiegel gefallen bist?“ Kovu ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. „Cool.“

Veith dagegen bekam sein typisches Stirnrunzeln. „Glaubst du das wirklich?“

„Warum nicht? Das ergibt doch alles Sinn“, sagte ich aufgeregt. „Ich erinnere mich an eine Welt ohne Magie, so wie es im Buch steht. Als ich aufgewacht bin, lag ich vor einem großen Spiegel, wisst ihr noch? Ich bin mit dem Kopf gegengeknallt.“

„Ja und hast ihn damit zu Kleinholz verarbeitet. Boa trauert dem hässlichen Ding immer noch nach“, lachte Kovu.

„Und wie in der Geschichte ist meine Erinnerung an dieses Leben völlig ausgelöscht.“ Erwartungsvoll sah ich zu Veith hoch.

Der runzelte immer noch die Stirn. „An deiner Theorie gibt es nur ein Problem.“

„Und welches?“

„Sie ist nicht stimmig.“

„Natürlich ist sie das. Klar, das hier ist nur ein Märchen für Kinder, abgerundet und schöngeschrieben, aber in den Eckpunkten stimmt sie mit meiner Geschichte überein.“ Es musste einfach so sein, das würde so viel erklären.

„Ich will dir ja nicht die Freude verderben …“

„Dann lass es!“

„… aber es gibt da ein ziemlich großes Loch in deiner Theorie. Nehmen wir an, es ist wirklich einer Hexe gelungen in eine andere Welt zu reisen und sie kam wieder zurück, dann ist da immer noch das Problem mit ihrer Erinnerung. Hätte sie ihr Gedächtnis verloren, so wie du, wie hätte sie dann diese Geschichte schreiben können?“

Bam. Dieser Kerl verstand es wirklich gut, einem jede Hoffnung mit einem Schlag zu entreißen, aber leider hatte er damit Recht. Ich legte das Buch auf einen Beistelltisch, lehnte mich dabei über Pal, der mir im Weg saß und nagte nachdenklich auf meiner Lippe herum. Es stimmte so viel überein, es musste einfach wahr sein. Ich übersah einfach eine Kleinigkeit, etwas das alles erklären würde. Nur was?

„Vielleicht ist mehr als einer rüber“, sagte Kovu dann.

Ich unterbrach mein Grübeln. „Wie meinst du das?“

„Na so, wie ich es sage. Vielleicht gab es nicht nur eine Hexe, sondern einen ganzen Zirkel und als die Außerwählte zurückgekehrt ist und alle feststellten, dass sie vergessen hat, was auf der anderen Seite ist, schickten sie eine zweite hinüber. Nur das diese diesmal den Auftrag hatte, alles aufzuschreiben, was sie dort erlebte und ihren Schwestern das Geschriebene übergab. So wäre es egal, ob sie es vergessen hat oder nicht.“ Er schwieg einen Moment. „Vielleicht hat die Hexe aber auch einfach Tagebuch geführt. Sowas macht ihr Frauen doch ständig.“

 „Du hast eine blühende Phantasie“, sagte Veith herablassend.

„Nein, er könnte recht haben.“ Ich war plötzlich ganz aufgeregt. So musste es gewesen sein. Ob nun ein Zirkel oder eine einzelne Hexe, das war die Erklärung dafür, dass es dieses Märchen gab. Und apropos Märchen, das würde auch erklären, warum es dort, wo ich herkam, so viele Geschichten über Wesen gab, die dort gar nicht existierten. Sie waren auf die Seite Jenseits des Spiegels gereist und wieder zurückgekehrt. Wenn man von dieser Seite ausging. Von der anderen Seite aus wäre dies Jenseits des Spiegels, oder? Ganz schön kompliziert. „Ein Spiegel, eine Art Portal, durch das die magischen Wesen reisen können.“

„In eine andere Welt?“, fragte Veith skeptisch.

„Natürlich, warum denn nicht. Ich meine Hallo? Sieh dich doch einfach mal um. Überall ist Magie, die unmögliche Dinge möglich macht, warum also nicht ein Spiegel der in eine andere Welt führt, in eine ohne Magie?“

Veith blieb kritisch. „Das heißt also, du stammst aus einer anderen Welt?“

„Cool“, sagte Kovu wieder. Mann, dieses Wort hatte es ihm echt angetan. Ich hätte es in seiner Gegenwart nie erwähnen dürfen.

Aber Veiths Frage machte mich nachdenklich. „Scheint fast so, oder?“ Ich konnte es ja selber kaum glauben, aber das machte alles einen Sinn. „Ich  muss sofort mit Gaare sprechen.“ Ich schubste Kovu von mir herunter. „Wenn das Ganze wirklich stimmt, finden ich vielleicht endlich einen Weg nach Hause.“ Ich war über meine Entdeckung so aufgeregt, dass ich gar nicht merkte, das Pal ungewöhnlich still war. Kein Scherz, kein sarkastischer Spruch, nichts. Nicht mal eine Berührung.

Ich war schon fast an der Tür, als mich Veiths leise Frage kurz halten ließ. „Willst du denn noch nach Hause?“

„Natürlich“, sagte ich ohne zu überlegen. Doch nach ein paar Schritten wusste ich nicht mehr, ob das stimmte. Wollte ich wirklich wieder nach Hause, oder reichte es mir zu wissen, woher ich kam?

 

°°°

 

Ich schaffte es nicht mehr in die Bibliothek. Auf halbem Wege fingen Tyge und Julica mich ab. Sie wollte los, zum Treffen. Jetzt. Ich versuchte noch, ihn zu überreden einen Moment zu warten, weil ich noch mit Gaare sprechen wollte, aber er meinte schlicht, dass ich ja nicht mitkommen bräuchte. Schöne Erpressung. Er wusste genau, wie scharf ich darauf war, ihn und die anderen zu begleiten. So gingen wir zurück in den Salon, um Pal, Veith und Kovu abzuholen, verabschiedeten uns noch von Erion und waren nur Minuten später unterwegs zum Großtreffen der Rudel am nächsten Tag. 

 

°°°

 

Mit einiger Skepsis sah ich zu, wie die Wölfe sich gegenseitig ihr Fell von den Resten ihres Abendessens säuberten. Also, um andere abzulecken, da müsste mir wirklich was fehlen – von den ganzen Haaren auf der Zunge einmal abgesehen.

Ich war zu der Jagd nicht eingeladen gewesen – wen wundert’s? – hatte mich in ihrer Abwesenheit auf einen Baum verzogen, wo ich mich an meinem mitgebrachten Essen genüsslich getan hatte. Weniger Blut und Knochen und viel mehr Zucker.

Es war schon sehr spät, der Himmel bereits dunkel. Der Mond wurde von dem Blätterdach ausgesperrt, doch das störte mich nicht. Seit Gaare die Magie in mir geweckt hatte, sah ich nachts viel besser, was mir jetzt sehr gelegen kam.

Schläfrig kuschelte ich mich in meine Laubkuhle und dachte über den Tag nach. Die Akten hatten nicht viel ergeben und von Prisca hatten wir auch noch keine Rückmeldung bekommen. Blieb nur zu hoffen, dass das Rudeltreffen morgen etwas ergiebiger sein würde.

Doch was  mich wirklich beschäftigte, war eine ganz andere Sache, die damit gar nichts zu tun hatte. Ich bekam es immer noch nicht richtig zu fassen, dass ich vielleicht endlich die Antwort meiner Herkunft gefunden hatte. Zwar wusste ich noch lange nicht, wie ich wieder zurückkommen sollte, aber es war ein Anfang, eine Richtung in die ich mich wenden konnte, sobald ich zurück in Sternheim war. Vielleicht hatte ich endlich das gefunden, wonach ich die letzten Wochen so verzweifelt gesucht hatte.

Ein Spiegel, ein magisches Portal. Erst nach und nach war mir die Bedeutung dessen bewusst geworden: ich befand mich in einer anderen Welt. Das war so absurd, dass ich mich an den Gedanken erst gewöhnen musste. Bisher hatte ich immer angenommen, dass ich … was weiß ich, in einem anderen Land, oder einer Insel gelandet war, aber eine andere Welt? Vor dieser Idee hatte ich mich immer verschlossen, weil es noch unglaubwürdiger war, als das, was um mich herum sowieso schon vor sich ging.

Eine andere Welt. Eine Welt voller Magie, mit Lebewesen, die so unglaublich waren, dass sie der Fantasieentsprungen sein könnten. So ergab das jedenfalls einen Sinn, auch wenn mir noch nicht ganz klar war, wie ich an ein solches Portal gekommen sein könnte. Naja, war ja auch kein Wunder, wo meine Erinnerungen noch immer der Meinung waren, sich im Dunkeln herumdrücken zu müssen.

Pal erhob sich schwerfällig von seinem Platz, trottete zu mir herüber und legte sich zu mir in die Kuhle. Seine Zunge glitt einmal quer über den Pelz in meinem Gesicht – Irgs. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte er leise und grummelte befriedigt, als ich mit den Fingern – Pfoten? – durch sein Fell fuhr. Mit den Ballen fühlte es sich anders an, als mit einer menschlichen Hand.  

„Bei dem Märchen, das Gaare mir gegeben hat.“ Ich kuschelte mich an seinen warmen Körper und schlang die Arme um seinen Hals. „Vielleicht ist das wirklich die Lösung. Es würde auch erklären, wie ich auf den Dachboden von deinem Vater gekommen bin. Ich bin durch den Spiegel direkt hineingefallen.“

Pal legte seinen großen Schädel, auf seine Vorderpfoten. Sein Kopf war direkt neben  meinem Gesicht, aber er beachtete mich gar nicht.

„Was hast du?“

„Nichts.“

Ja, klar doch. „Und jetzt versuchen wir es noch einmal mit der Wahrheit, okay?“

Er seufzte übertrieben, drehte den Kopf aber so, dass er mich ansehen konnte. „Du willst zurück nach Hause.“ Eine Feststellung.

„Natürlich.“

„Aber ich will nicht, dass du gehst.“ Er sagte es so leise, dass ich selbst mit meinem verbesserten Gehör Probleme hatte es zu verstehen. Doch als die Nachricht dann doch zu mir durchdrang, englitten mir ein paar Gesichtsmuskeln.

Mist, was sollte ich dazu jetzt sagen? Bei all meinen Überlegungen hatte ich überhaupt nicht daran gedacht, dass es hier jemand geben könnte, der mich vermissen würde. Die meisten waren immer so abwesend, ja sogar feindselig zu mir und wollten nichts lieber, als mich schnellst möglich wieder loszuwerden.

Ich vergrub mein Gesicht in seinem roten Fell, sog den vertrauten Geruch ein und drückte ihn fester an mich. „Aber dort gehöre ich hin.“ Das musste ihm einfach klar werden. Nicht hier war mein Platz, sondern dort, wo ich geboren war, in einer Welt ohne Magie, in der die Technik vorherrschte. An einem Ort, wo ich keine Angst haben musste, in einem Wald von einem Monster angegriffen zu werden. „Dort ist mein Zuhause.“ Auch wenn ich es nicht mehr kannte.

„Nicht, wenn du dich dagegen entscheidest.“ Als ich nicht reagierte, rieb er mit seinem Kopf über meinen, streifte meine Wange, mein Ohr. Diese Geste hatte etwas Vertrautes, Schützendes. Sie war liebevoll. „Ich meine, es gibt bestimmt einen Grund, warum du zu uns gekommen bist.“

„Du sprichst von höherer Gewalt.“

„Ich rede vom Schicksal. Vielleicht musst du hier eine Aufgabe erfüllen.“ Seine Nase berührte mich an der Wange. „Deswegen darfst du nicht einfach gehen.“

„Vielleicht ist aber auch alles nur ein großer Zufall.“

„Und wie erklärst du es dir dann, dass du trotz der Tatsache, dass du aus einer nicht magischen Welt kommst, Magie in dir trägst, die nur darauf gewartete hat, geweckt zu werden?“

Das wusste ich nicht. Vielleicht hat jeder Mensch gewisse Magie in sich ruhen, vielleicht hatte ich sie aber auch bekommen, als ich in diese Welt eigetaucht war, oder es war etwas ganz anderes. Das war wirklich nicht einfach zu sagen. „Dafür kann es viele Gründe geben.“

Damit verfielen wir in Schweigen, in der nur die Geräusche des Waldes uns ummantelten und jeder von uns seinen Gedanken nachhing.

Ich streichelte den großen, roten Wolf, versuchte ihn damit zu trösten. Er musste einfach verstehen, dass ich früher oder später wieder nach Hause gehen würde, auch wenn ich mich hier im Augenblick pudelwohl fühlte. Das war nicht der Ort, an den ich gehörte.

Langsam wurde ich schläfrig und dämmerte weg. Ich bekam noch mit, wie die anderen Werwölfe sich zu uns beiden kuschelten und dann schlummerte ich in dieser wohligen Wärme und Geborgenheit ein. Nein, das hier war nicht mein Zuhause und trotzdem würde ich es vermissen, das wusste ich jetzt schon.

 

°°°°°

Tag 71

Es war ein schmerzhaft hoher Piepton, der mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf riss. Ich schlug die Augen auf und sah … nichts. Mein Blickfeld war komplett von hellbraunem Fell eingenommen, das mich im Gesicht kitzelte. Ich hatte mich an diesen Körper geschmiegt, aber das war nicht Pal und auch nicht Kovu, wie mir nach einer Geruchsprobe aufging. Ich kuschelte hier mit Veith. Für einen Moment war ich versucht, meine Hände wegzureißen, aber ich tat es nicht. Ich war eine Freundin des Rudels, ich hatte Rudelprivilegien, durfte dass, hatte es mir verdient, besaß ihr Vertrauen – wenn auch nur bis zu einem bestimmten Maß.

Langsam löste ich meinen Griff und strich vorsichtig durch den leicht borstigen Pelz, fuhr mit den Fingern in das weichere Fell hinter seinen Ohren und konnte mir einfach nicht verkneifen zu lächeln. Wer hätte schon gedacht, dass Veith das jemals zulassen würde? Ich sicherlich nicht.

Ich war so gefangen von dem warmen Gefühl unter meiner Hand, dass ich gar nicht bemerkte, wie Veith träge ein Auge öffnete und mich beobachtete. Erst als er ein genussvolles Grummeln von sich gab, wurde mir klar, dass er wach war – hatte ich ihn geweckt? Überrascht riss ich nun doch meine Hand weg. Plötzlich schämte ich mich für meinen Mut, egal was mir in diesem Rudel zustand, ich hätte es nicht tun dürfen und das Einzige, was mir jetzt noch blieb, war verlegen den Kopf zu senken.

„Hör nicht auf“, flüsterte er leise.

Überrascht hob ich den Blick, sah ihm in die offenen Augen. War das sein ernst?

Sonst hätte er es ja wohl nicht gesagt, Dumpfbacke!

Fast wie in Zeitlupe hob ich meine Hand wieder und vergrub sie in dem dichten Pelz. Etwas wie ein erleichtertes Aufatmen kam aus seiner Schnauze. Dann schloss er einfach nur die Augen und genoss es, dass ich ihn hinter dem Ohr kraulte.

Erst ein weiteres, ohrenbetäubendes Piepen ließ mich wieder innehalten.

Irgendwo an meinen Beinen grummelte Julica und mir wurde klar, was dieser unmenschliche Laut, der mir fast das Trommelfell zum Platzen brachte, bedeutete. Da versuchte uns jemand über das Vox zu erreichen – diese Dinger waren nicht gerade freundlich zu denen, die ein besseres Gehör hatten.

„Kann das mal jemand abstellen“, murmelte Kovu irgendwo neben Veith.

Ich richtete mich ein wenig auf und wollte mich frei machen, um an meinen Beutel zu gelangen, aber Tyge war schneller, hatte sich schon verwandelt und hockte nackend an meiner Tasche. Schnell ließ ich mich wieder zurückfallen. Zwar hatte ich die Lykaner schon oft nackt gesehen – viel zu oft nach meiner Auffassung –, aber trotzdem war es mir noch unangenehm. Das gehörte sich meiner Meinung nach einfach nicht. Ich war ja schon dürftig bekleidet, aber bei mir waren wenigstens noch alle wichtigen Stellen verdeckt. Noch weniger ging ja mal gar nicht.

In Veiths Augen blitzte es und ich bekam das Gefühl, als würde ihn mein Verhalten amüsieren. Das war so völlig neu und unerwartet, das mein Herz wieder diesen komischen Hüpfer machte und es in meinem Bauch kribbelte, als seien dort ganz viele Krabbelkäfer unterwegs.

Erst als Pal seinen Kopf auf meine Taille legte und meine Hand in Veiths Fell bemerkte, ließ dieses komische Bauchgefühl nach. Ich grinste zu dem roten Wolf hinauf, der mir die ganze Nacht den Rücken gewärmt hatte. „Na, gut geschlafen?“

Er schob seinen Kopf unter meinen Arm, so dass meine Hand auf dem riesigen Schädel zu liegen kam. „Wie im Märchen“, witzelte er.

Das ließ mich nur noch breiter grinsen. „Na, solange du nicht einen auf Dornröschen machst, geht das klar.“ Ich ließ meine Finger durch das kurze, flauschige Kopfhaar wandern.

„Wer ist Dornröschen?“, fragte er.

„Eine Märchengestalt aus meiner Welt.“ Das waren wohl die falschen Worte gewesen, denn sofort trat etwas Trauriges in seine Augen. In dem Moment ging uns wohl beiden das Gespräch von gestern Abend durch den Kopf. Ich gehörte hier nicht hin, mein Platz war ganz woanders.

„Oh, gibt´s hier Streicheleinheiten?“ Kovu kletterte über seinen großen Bruder herüber und störte sich auch nicht daran, dass Veith ihn anknurrte, da er dabei nicht sonderlich vorsichtig vorging und seinen großen Bruder einen schmerzhaften Tritt versetzte. Der Kleine versuchte, Pal seinen Platz unter meiner Hand streitig zu machen, was zur Folge hatte, dass ich plötzlich unter knurrenden und schnappenden Wölfen lag. Keine sehr angenehme Aussicht.

„Ähm, Jungs, könnt ihr das vielleicht woanders machen?“

Konnten sie nicht und das machte mich langsam nervös. Ein Glück für mich, dass Veith sich einschaltete – ihm wurde das wahrscheinlich auch zu bunt. Er packte Kovu mit den Zähnen im Nacken und zog ihn mit einem Ruck weg. Schade nur, dass der Kleine Pal dabei nicht losgelassen hatte. Dem ging dadurch nämlich ein Stück Fell flöten, was er wohl zum Anlass nahm, den beiden hinterher zusetzen. Gleich darauf balgten sich die drei Rüden spielerisch auf dem Boden, schnappten, knurrten und kratzen sich, schmissen sich gegenseitig um und warfen sich auf die anderen drauf. Das war wohl das erste Mal, dass ich Veith so ausgelassen sah. Bei Pal hielt er sich immer noch ein wenig zurück, war distanzierter, aber das bekam man nur mit, wenn man die drei kannte und genau hinsah.

Ich richtete mich auf, strich mir die verfilzen Haare aus dem Gesicht und wich ein wenig zurück, um die drei nicht zu behindern. Auch Julica war nun endgültig wach. Sie stand auf, streckte sich, gähnte einmal herzhaft, dass ihre vielen, scharfen Zähne nur so zur Geltung kamen und setzte sich dann an meine Seite. In ihren Augen blitzte es, als wollte sie am liebsten auch am Spiel teilnehmen.

„Ich hab ihn schon lange nicht mehr so übermütig gesehen.“

„Bitte?“

„Veith“, sagte sie. „Seit gestern ist er irgendwie … anders.“

„Anders?“ Also heute schien ich nicht gerade ein Hirnakrobat zu sein.

Julica schmunzelte belustigt. „Ja. Seit er sich entschlossen hat ein … ähm … schon vor einer ganzen Weile hat er angefangen, sich vom Rudel zurückzuziehen, als wolle er sich schon vorbereiten, damit es nicht noch schwerer wird.“

„Vorbereiten?“

Sie sah mich mit einem undefinierbaren Blick an und stand dann auf, ohne auf meine Frage einzugehen. „Wir sollten uns langsam fertig machen, damit wir nicht zu spät kommen.“

Ach ja, das Rudeltreffen. Darauf war ich schon gespannt. Neugierig und auch nervös. Wie würde es sein? Wie würden die anderen Lykaner auf mich reagieren? Hoffentlich nicht so abweisend, wie das Wolfsbaumrudel bei unserer ersten Begegnung.

Tyge tauchte zwischen den Bäumen auf, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht – und immer noch unbekleidet. In seiner Hand hielt er das Vox so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervorstachen.

„Was ist passiert?“, traute ich mich zu fragen.

Die drei Streithähne hielten in ihrem Spiel inne und wandten sich in wachsamer Erwartung an den Ältesten unter uns.

„Das war Prisca“, sagte Tyge sofort, ohne lange Vorreden zu halten. „Sie hat sich bei den anderen Rudeln erkundigt.“

Julica stellte die Ohren aus. „Und? Was hat sie gesagt?“

„Nicht alle Rudel haben ihr eine Auskunft gegeben, aber deutlich die Mehrheit. Bei keinem von ihnen fehlt ein Lykaner, niemand ist verschwunden. Beim Wildtaurudel ist vor ein paar Wochen eine junge Frau zur Einzelgängerin geworden, seitdem haben sie dort nichts mehr von ihr gehört, aber das war auch schon das Einzige. Keine Vermissten, keine Toten, kein Katzengeruch.“

Das war ja soweit keine schlechte Nachricht, aber … „Das bedeutet, dass sich das Verschwinden der Lykaner allein auf den Bereich um Sternheim beschränkt.“

Julica nickte grimmig. „Was so viel bedeutet, wie, dass die Stadt weiterhin den Mittelpunkt bildet.“

„Womit wir wieder bei Anwar wären“, fügte Veith hinzu.

Pal knurrte.

„Lasst uns aufbrechen“, befahl Tyge.

 

°°°

 

Der Mittag war bereits angebrochen, als wir den Treffpunkt auf der Sonnenlichtung erreichten. Ohne weitere Unterbrechungen waren wir bis hier durchgelaufen – meine armen Pfoten – und mit jedem Schritt in der letzten halben Stunde, war eine gewisse Unruhe bei uns entstanden. Nur eine ganz kurze Pause hatten wir vor ein paar Minuten eingelegt, in der die Lykaner sich verwandelt hatten. Bewaffnet mit Lendenschurz – Gott sei es gedankt – erreichten wir schon wenig später unser Ziel. Ich wusste nicht so genau, was ich mir vorgestellt hatte, aber mit Sicherheit nicht diese angespannte und feindselige Atmosphäre, die hier zwischen den wolkenkratzergroßen Bäumen herrschte.

Diese Lichtung wirkte irgendwie unheimlich, düster, überall lauerten Schatten und die Sonnen schafften es trotz ihrer doppelten Kraft kaum einen warmen Strahlen bis auf die moosige Wiese zu bringen.

Es waren knapp ein Dutzend  Rudel anwesend. Genaugenommen elf, das Wolfsbaumrudel mitgezählt. Wie ich das auf einen Blick so schnell herausfand? Ganz einfach. Die Rudel standen oder saßen alle in kleinen Grüppchen zusammen, von den anderen so weit entfernt wie es nur ging, ohne die Lichtung verlassen zu müssen. Zwischen ihnen verliefen unsichtbare Trennlinien. Und die Aggressivität die in der Luft lag, machte sie so dick, dass man sie mit Messern schneiden konnte. Das waren keine guten Voraussetzungen für ein friedliches Gespräch unter Freunden – oder wenigstens Gleichgesinnten.

Manche waren Wölfe, sogar ein paar afrikanische Wildhunde und zwei Dingos entdeckte ich, aber die meisten waren in menschlicher Gestalt. Mehr oder weniger bis gar nicht bekleidet – oh bitte, nicht schon wieder.

Einen von ihnen erkannte ich auf Anhieb. Den kleinen Mann aus dem Steinbachrudel, den Alpha. Auch die Frau, diese Sinssi – ja, den Namen hatte ich mir gemerkt – war dabei. Die anderen waren mir völlig fremd und sie alle starrten sich an, als wollten sie sich gegenseitig auffressen. „Na das wird sicherlich witzig“, murmelte ich vor mich hin, während ich meinen Blick schweifen ließ.

Pal berührte mich am Elenbogen und beugte sich zu meinem Ohr hinunter. „Zeig ihnen bloß nicht, dass du nervös bis. Sie können das riechen.“

„Und das findest du jetzt beruhigen?“

Darauf lächelte er nur sein halbes Lächeln.

Im Konvoi setzten wir uns in Bewegung. Die Wölfe auf der Lichtung hatten uns schon längst bemerkt. Von jeder Gruppe trennte sich eine Person, die direkt auf uns zukamen und das Erste was mir auffiel, war das von ihnen allen eine Aura der Macht ausging. Scheiße, das waren alles Alphas! Super, da konnte der Spaß ja beginnen.

Auch Julica trennte sich von uns. Der Rest blieb ein paar Schritte hinter ihr, mich eingeschlossen. Ich hatte auch gar keine Ambitionen, näher an sie heranzutreten. Hier hinten stand ich schon ganz gut.

„Julica.“ Eine Frau mit sehr dunkler Haut und kurzen, schwarzen Haaren baute sich direkt vor Julica auf. Schlank, durchtrainiert, komplett unbekleidet. „Erst lässt deine Mamá uns hier alle zusammenkommen und dann hält sie es nicht mal für nötig selber aufzutauchen, sondern schickt ihren Welpen.“

Julica fletschte die Zähne – jupp, das ging auch als Mensch, oder Mortatia, wie man hierzulande sagte. „Ich bin schon lange kein Welpe mehr, also unterschätz mich nicht, Cui.“

Die schwarze Frau – Cui? – zeigte sich nicht beeindruckt.

Eine kräftige Brise zog auf und wehte mir das Haar in ins Gesicht. Ungeduldig wischte ich es mir zur Seite, um mir auch ja nichts zu entgehen lassen. Nicht das ich sensationslüstern gewesen wäre, nur hielt ich bei so vielen potenziellen Gefahren die Augen nur gerne sehr weit offen. Man konnte schließlich nie wissen, wann es angebracht war, sich eilig in dem nächsten Baum in Sicherheit zu bringen.

„Und doch ist es nicht deine Mamá die hier auftaucht.“ Das kam von dem Alpha des Steinbachrudels.

„Najat.“ Julica nickte ihm zu – kannte sie hier jeden der Wölfe? „Meine Mamá hatte nicht die Zeit, nach Sternheim zu gehen, deswegen hat sie unseren Beta Tyge geschickt und mich gebeten, ihn zu begleiten, damit ich mit euch über die Vermissten sprechen kann.“

„Prisca sprach davon, dass ihr einen Verdacht habt, wer es gewesen war“, sagte Cui.

„Eine Katze war es!“, rief ein braunhaariger Mann, dessen Lendenschurz mit bunten Perlen und Schnüren geschmückt war. „Sie war überall in unserem Revier zu riechen.“

„Das ist richtig“, stimmte Najat zu, „auch bei uns war der Geruch nach Katze allgegenwärtig. Drei Mal haben wir sie gerochen, drei unserer Welpen sind verschwunden.“

Julica nickt. „Ich weiß, wir haben uns … informiert.“

Dieser Satz brachte ihr von verschiedenen Seiten misstrauische Blicke ein.

„Bei uns sind vier Lykaner verschwunden“, kam es von dem Mann mit dem perlenverzierten Lendenschurz. „Vier meiner Leute einfach weg, ohne die geringste Spur!“

„Ich weiß, Rojcan“, versuchte Julica ihn zu besänftigen. „Ich weiß von all euren Verlusten, auch das Wolfsbaumrudel ist davon betroffen. Deswegen sind wir ja alle hier. Wir müssen Informationen austauschen, jedes noch so kleine und unbedeutende Detail aussprechen. Auch ich werde euch alles sagen was ich weiß und zusammen schaffen wir es vielleicht, dieser Tragödie endlich ein Ende zu bereiten.“

Das führte zu einem Schweigen, in den man die Grillen husten hören konnte.

Julica seufzte. „Ihr solltet jetzt nicht glauben, dass mir eine solche Zusammenarbeit leichtfallen würde. Ihr gehört nicht zu meinem Rudel, ich vertraue keinem von euch, aber es ist notwendig, wenn wir vorwärts kommen wollen.“

„Prisca sprach von einer Informantin“, sagte Najat.

Der Wind drehte wieder, trug meinen Geruch Richtung Lykaner und augenblicklich waren aller Augen auf mich gerichtet. Ein einheitliches Knurren entsprang vielen Kehlen. Ein netter Willkommensgruß klang anders. Hm, denen war vorher wohl nicht klar gewesen, dass ich eine Katze war.

Ich stellte mich leicht neben Veith, um notfalls hinter in springen zu können. So viel Aufmerksamkeit war mir gar nicht recht, besonders nicht, wenn sie so feindlich war. Ja Leute, ich wusste, dass ich eine Katze war, aber deswegen war ich noch lange kein schlechter Mensch, äh, Therianer.

„Ist sie das?“, grollte Rojcan.

„Ja“, sagte Julica. „Das ist …“

Und plötzlich ging alles ganz schnell. Veith stieß mich heftig zur Seite, so dass ich nicht nur im Dreck landete, sondern ihn auch noch zu fressen bekam. Im nächsten Moment kauerte Pal über mir und knurrte warnend in Richtung der sehr mordlüsternen Lykaner, die auf mich zustürmten. Wo ich eben noch gestanden hatte, schlug sich Veith knurrend mit einem halb verwandelten Rojcan und mir wurde klar, hätte der große, böse Wolf mich nicht zur Seite gestoßen, würde ich jetzt unter diesem Monster liegen. Wie damals bei Wulf.

Ich bekam kaum mit, wie Julica die Beherrschung verlor und jeden drohend anknurrte, der es sich wagte, auch nur einen weiteren Schritt in meine Richtung zu tun. Nur am Rande nahm ich wahr, wie Tyge und Najat versuchten, die beiden Wölfe auseinander zu bringen, oder wie Kovu verunsichert hinter mir stand, weil er nicht genau wusste, was er tun sollte. Ich sah nicht, wie sich Lykaner in allen Gestalten langsam in meine Richtung schoben und dabei genauso wenig  wie ich auf Julicas Worte achteten. In diesem Moment stand mir nur eines klar vor Augen: das war die gleiche Situation, wie an meinem metaphorischen Geburtstag, in Fangs Büro. Eine Katze war für all das Leid verantwortlich und ich war eine Katze, also war ich auch schuld.

Vielleicht war es die Panik, vielleicht eine Hysterie, vielleicht war ich mit der Situation auch einfach nur überfordert, oder ich wurde nun doch verrückt – hätte mich ehrlich gesagt auch nicht großartig gewundert. Wie auch immer, ich konnte das Kichern, das in meiner Kehle langsam zu einem ausgewachsenen Lachanfall heranreifte, einfach nicht unterdrücken. Diese ganze Situation war so surreal, dass mir ein herzlicher Lachanfall einfach mal gelegen kam.

Ich lag unter Pal, der immer noch schützend über mir kauerte und bekam mich vor Lachen gar nicht mehr ein. Ja kugelte mich praktisch auf dem Boden. Ich bekam schon richtig Seitenstechen davon, konnte aber nicht damit aufhören, nicht mal als Pal mich verwirrt am Arm berührte.

Alles und jeder auf der Lichtung wurde ruhig und sah mir – der Verrückten – beim haltlosen Gackern zu. Selbst Rojcan war von mir so verwirrt, dass Tyge und Najat es nun endlich gelangen, ihn von Veith runterzuziehen.

„Talita?“ Als ich nicht reagierte, kletterte Pal besorgt von mir runter und hockte sich neben mich. Er verstand es einfach nicht. „Was ist mit dir?“

„Was mit … ha … mir … haha … ist?“ Ich bekam die Worte vor Lachen kaum raus. Okay, jetzt war es offiziell, bei mir saß mehr als nur eine Schraube locker.

Auch Kovu hockte sich neben mich, nahm meine andere Seite ein und neigte neugierig den Kopf. „Möchtest du uns sagen, was so witzig ist?“

„Ihr“, brachte ich heraus und prustete von neuem los. Die Gesichter, die die beiden machten, waren einfach zu herrlich.

Pal und Kovu sahen sich und dann Tyge hilflos an, aber auch der wusste nicht, was er tun sollte, konnte nur machtlos meinen kleinen Anfall beobachten.

Es war Veith, der mich schlussendlich aus diesem Zustand holte. Er kam zu mir und, schubste Pal nicht sehr freundlich weg – wofür der Rote ihn anknurrte – und zog mich in eine sitzende Position hoch. Stumm blickte er mir in die Augen, doch allein seine Berührung hatte mich schon halbwegs zur Räson gebracht. „Was?“, war seine schlichte Frage, mehr war nicht nötig.

Kichernd wischte ich mir ein paar Lachtränen aus den Augen. „Verstehst du denn nicht?“ Ich versuchte tief einzuatmen, um wieder zur Ruhe zu kommen, doch mit dem Seitenstechen wollte das nicht so ganz funktionieren, wie ich mir das vorstellte. „Es ist wie mit Wulf. Ich bin die Katze, also bin ich auch der Täter, eine bitter böse Mieze, die es auf die Lykaner abgesehen hat.“

Verstehen machte sich auf seinem Gesicht breit und ich glaubte sogar, das Zucken seines Mundwinkels zu bemerken.

„Ich wusste gar nicht, dass ihr Lykaner so rassistisch seid.“ Immer noch kichernd saß ich vor ihm und war mir nur halb bewusste, dass seine Hände immer noch auf meinen Armen lagen. Doch die Wärme spürte ich sehr deutlich, genauso wie das leichte Kribbeln in meinem Bauch. Das konnte aber auch vom Lachen kommen.

„Könnte das vielleicht mal einer erklären?“, forderte Cui, den mörderischen Blick immer noch auf mich gerichtet. Das ließ mich gleich noch mehr kichern. Schon klar, an dieser Situation war eigentlich nichts Witziges zu finden, aber es war immer noch besser, als vor Angst schreiend auf dem Boden zu kauern.

Tyge seufzte und gab eine kurze Erklärung über mich und Wulf ab, aber es war zu sehen, dass er selber immer noch nicht so recht verstand, was daran so lustig sein sollte, dass es schon wieder ein Wolf auf mein Leben abgesehen hatte. Auch die anderen Lykaner fanden die Pointe nicht.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, wütete Rojcan. „Warum schützt ihr die Katze, die unsern Rudeln schadet?!“

„Bitte?“ Julica runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf, dass sie der Täter ist?“

„Weil du es gesagt hast“, knurrte er wütend. Die Macht dieses Alphas war bis zu mir zu spüren und das Lachen verging mir augenblicklich. Ich rutschte näher an Veith heran.

„Wann habe ich bitte gesagt, dass Talita unsere Leute fortnimmt?“, wollte Julica wissen.

„Eben!“, fauchte Rojcan. „Ich habe dich gefragt ob sie es ist und du hast mit Ja geantwortet!“

Julica kniff die Augen zusammen. Sie mochte es gar nicht, wie der Kerl mit ihr sprach. „Das war auf Najats Worte bezogen. Talita ist die Informantin, von der meine Mamá gesprochen hat und kein Verbrecher. Oder glaubst du wirklich, dass sie noch leben würde, wenn sie etwas mit dem Verschwinden der Lykaner zu tun hätte?“

Oh danke, wie nett.

„Sie ist eine Katze!“

Gut, jetzt wusste ich definitiv, dass ich den Typen nicht leiden konnte. Nicht, dass er nach dem Mordversuch an mir noch viele Sympathiepunkte gehabt hätte. „Ich bin viel mehr als eine Katze“, sagte ich fest. „Ohne mich würde heute keiner von euch hier sein, weil ihr immer noch nicht wüsstet, dass es auch in anderen Rudeln Vermisste gibt. Eure Kommunikation ist nämlich äußerst beschissen.“

Kovu grinste. „Wow, schon wieder ein Schimpfwort. Ich glaube, wir haben einen schlechten Einfluss auf sie.“

Ich zeigte ihm den Mittelfinger, aber seiner verwirrten Miene nach, konnte er nichts damit anfangen.

Najat neigte den Kopf zur Seite. „Ich habe dich schon einmal gesehen.“

„Im Anwesen von Anwar von Sternheim“, bestätigte ich. „Durch euer Auftauchen bin ich erst darauf gekommen, dass es außer Isla noch mehr Verschwundene gibt.“

„Du hast gelauscht“, stellte er fest.

„Ja.“ Kurz und fest. Eine Lüge wäre ja auch unnütz gewesen.

Er neigte leicht den Kopf. „Ich danke dir.“

Okay, das ließ mich etwas perplex aus der Wäsche schauen. „Warum?“

„Weil, wie du schon gesagt hast, ohne dich wären wir jetzt nicht hier und wüssten immer noch nicht mehr als bis zu diesem Zeitpunkt im Haus des Wesensmeisters.“

Irgendwie machten seine Worte mich verlegen. Das war wohl das erste Mal, dass mich ein Lykaner nicht auf Anhieb für meine Existenz verfluchte. Und dafür gelobt zu werden, gelauscht zu haben, war auch irgendwie … hm, nett war nicht wirklich das richtige Wort. „Ähm … nicht der Rede wert, das hätte doch jeder getan.“

„Nein.“ Entschlossen schüttelte er den Kopf. „Außer dir hätte das wohl niemand getan.“

Womit er vermutlich recht hatte. Die Lykaner schotteten sich von allen anderen so ab, dass auch die anderen nichts mit ihnen zu tun haben wollten. Und selbst wenn sie diese Informationen hatten, würden sie sie nicht weiterleiten, man nehme nur Anwar. Okay, schlechtes Beispiel. Aber auch die Wächter mussten es in der Zwischenzeit wissen und keiner hatte sich die Mühe gemacht, die Werwölfe aufzuklären.

„Da das nun geklärt ist, sollten wir zum eigentlichen Teil kommen“, meinte eine kleine Alphahündin mit seltsam gefleckten Haaren, in allen möglichen Farben. Sie hatte vorhin bei den afrikanischen Wildhunden gestanden.

„Du hast recht, Xyla“, stimmte Julica zu. „Ich werde euch am besten erzählen, was wir allein in Erfahrung gebracht haben und möchte euch bitten, zu ergänzen, was ich nicht weiß, oder vergessen habe.“ An Ort und Stelle ließ sie sich in den Schneidersitz fallen und sah die anderen Alphas erwartungsvoll an.

Nur nach und nach folgten diese ihrem Beispiel und schon kurz drauf, war nur noch ihre Stimme auf der Lichtung zu hören. Ein paar Wölfe gesellten sich zu ihren Alphas, stellten sich wachsam neben sie, oder legten vertrauensvoll Hände und Pfoten an ihre Oberschenkel. Auch Julica bekam Gesellschaft. Tyge – der Beta des Rudels – setzte sich zu ihr, blieb aber respektvoll ein Stück hinter ihr sitzen, als wolle er ihr nicht die Show stehlen – oder um ihr seinen Respekt zu zeigen, schließlich fungierte sie im Augenblick als Sprachrohr seiner Alphahündin.

Ich blieb, wo ich war, lauschte Julicas Erläuterung und nahm nur am Rande wahr, wie Kovu sich mit dem Kopf auf meinen Schoß kuschelte. Dafür war Veith Berührung viel zu gegenwärtig. In all der Aufregung hatte ich sie kaum gespürt, aber jetzt brannte sie fast ein Loch in meine Haut.

Seine Hand auf meinem Arm rutschte langsam tiefer, bis sie auf meiner zu liegen kam. So gebannt wie er auf die Gruppe der Alphas starrte, merkte er wahrscheinlich gar nicht, was er da tat, aber ich spürte es ganz genau. Auch den Daumen, der beruhigend Kreise auf meinem Handrücken zeichnete. Jedes Nervenende in mir kam dadurch in Aufruhe, was mich ihn nur noch stärker spüren ließ. Ich war versucht meine Hand wegzuziehen, weil ich nicht wusste, was ich davon halten sollte, aber es fühlte sich so unsagbar gut an, dass ich es einfach nicht über mich brachte. Den Kontakt zu ihm zu unterbrechen, wäre in diesem Moment, als wenn ich mir den eigenen Arm abhacken würde. Es war mir einfach nicht möglich. Was war nur mit mir los?

Das Gespräch zwischen den Lykanern zog sich in die Länge und entgegen meiner Erwartungen schafften sie es, sich halbwegs zivilisiert aufzuführen. Es wurde zwar viel geknurrt, immer wieder blitzen Zähne auf und mehr als einem Wolf stellte sich regelmäßig das Nackenfell auf, aber keiner fiel über einen anderen her. Das war doch schon mal als positiv zu werten. Der negative Aspekt war der, dass es scheinbar nichts Neues gab, das erwähnenswert war. Alles, was die anderen Rudel uns mitzuteilen hatten, war uns bereits bekannt. Mit jeder weiteren Minute schien diese ganze Versammlung im Sande zu verlaufen. Zwar erfuhren die anderen Rudel, eine ganze Menge neue Dinge, aber für uns war nichts dabei.

„Vielleicht seid ihr nur einfach nicht in der Lage eure Rudel richtig zu schützen“, kam es von einem braungebrannten Kerl in gelben Lendenschurz mit goldenen Fransen und schwarzem Gürtel.

Ich hielt die Luft an und hoffte, dass ich einfach unsichtbar wurde, als plötzlich ein mehrstimmiges Knurren aus vielen Kehlen drang. Sowas traute der Kerl sich auch nur zu sagen, weil er selber ein Alpha war.

„Wer ist das?“, flüsterte ich Veith zu, aber es war Pal, der antwortete.

„Azar vom Drachenfelsrudel. Halte dich bloß fern von dem.“

Als wenn ich ihm zu ´ner Tasse Tee einladen würde.

„Sei nicht so überheblich“, sagte Najat ganz ruhig. „Du hast bisher Glück gehabt und dieses solltest du nicht herausfordern.“

„Das hat mit Glück nichts zu tun. Auch bei Xyla und Zephir ist niemand verschwunden, einfach weil wir wissen, wie wir unsere Leute schützen müssen.“

Wenn das keine Herausforderung war, dann fresse ich einen Besen samt Stiel. Ich lehnte mich zu Pal. „Wer ist Zephir?“

Pal zeigte auf einen sehr langen und dünnen Mann mit sandfarbenem Haar und spitzer Nase. Neben ihm lag ein Dingo mit angelegten Ohren, der wachsam alles im Auge behielt.

Xyla war der afrikanische Wildhund. Da kam mir ein Gedanke. „Sind das alles Wölfe?“

„Bis auf die Rudel von Xyla, Zephir und Hiob.“

Hiob? War das sein ernst? Okay, jedem das seine, es gab jetzt wichtigeres zu tun, als sich um seltsame Namen zu kümmern. Ich schob Kovu von meinem Schoß, löste mich schweren Herzens von Veiths Hand und huschte zwischen Julica und Tyge, die mich überrascht ansahen. Nun galt so manches Knurren mir, was ich versuchte, nicht weiter zu beachten – gar nicht so einfach. „Darf ich etwas sagen?“ Mir schien es sicherer, erst mal nachzufragen.

Julica zog zwar eine Augenbraue nach oben, nickte aber.

„Okay, ähm. Mir ist gerade etwas aufgefallen. Könnte mal bitte jeder Alpha, der jemanden vermisst, seinen Arm heben, so?“ Ich führte es vor, bekam aber nur verständnislose Blicke. Oh Mann, sture Hunde. „Bitte, ich möchte etwas demonstrieren.“

Mit Skepsis machte Julica nach einiger Zeit den Anfang. Die anderen folgten ihr, wenn auch zögerlich.

„Danke. Und nun, würde bitte jeder Alpha den Arm heben, der ein Wolf ist?“

Dieses Mal ging es schon schneller, aber immer noch schienen sie nicht zu verstehen, worauf ich hinaus will.

Außer Xyla. „Nur Wölfe sind betroffen, kein anderer Lykaner“, fasste sie meine Erkenntnis zusammen.

Ich nickte, aber bevor ich meine Vermutung weiter ausführen konnte, quatschte dieser Azar dazwischen.

„Wir sind auch Wölfe, aber wie bereits erwähnt, ist mein Rudel vollständig.“

Den Typen konnte ich definitiv nicht leiden, der war viel zu überheblich. „Dann freu dir ´nen Kullerkeks und beiß die Ecken ab!“, fauchte ich ihn an, ignorierte das leichte Grollen in seiner Brust und wandte mich den anderen wieder zu. „Die Informationen, die wir in den letzten Tagen zusammengetragen haben, drehen sich ausschließlich um die Wölfe. Auch die verschwundenen Einzelläufer und die vielen Toten sind Wölfe, kein anderer Lykaner ist davon betroffen, was heißt …“

„Talita“, unterbrach Julica mich. „Die Toten sind alle in Beißereien umgekommen. Ja, es sind in der letzten Zeit sehr viele gewesen, aber das kann nicht Anwars Werk gewesen sein. Er jagt nicht wie ein Tier, diese Möglichkeit hat er gar nicht. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es eindeutig, dass die beiden Toten, die du gefunden hast, sich gegenseitig umgebracht haben.“ Sie wandte sich zu Veith um. „Du hast die beiden doch gesehen.“

Er nickte. „Sie haben sich das eindeutig gegenseitig angetan.“

Julica richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Da hörst du es, es kann nicht Anwar gewesen sein, er hat keine Krallen.“

Das war wohl war. Ich kaute auf meiner Lippe herum und dachte über dieses Problem nach. Ich war mir sicher, dass er auch daran beteiligt war, mein Gefühl sagte mir das, ich musste es nur beweisen. „Vielleicht hat er ja seine Hunde auf sie gehetzt. Er hat vier ausgebildete Zerberus´ für die Jagd, die können es gewesen sein.“

Cui schnaubte. „Kein Zerberus kann es mit uns aufnehmen, auch keine vier.“

„Na dann hat er sich vielleicht selber in eine Tier verwandelt.“

Julica schüttelte schon den Kopf, bevor ich geendet hatte. „So funktioniert das nicht. Anwar kann zwar Magie wirken und lenken, aber er ist nicht in der Lage, seine Gestalt zu ändern. Das ist nicht möglich, so funktioniert Magie nicht.“

Verdammt, die hatten aber auch an allen Erklärungen etwas auszusetzen. „Aber er war es, ich weiß es.“

„Woher?“, wollte Najat wissen.

„Ich hab´s im Gefühl.“

Schnaubend schüttelte Azar den Kopf. „Auf Gefühle einer Katze werden wir nicht viel geben.“

„Pass auf, wie du mit ihr sprichst“, knurrte Julica und überraschte mich damit. Ich hätte nie geglaubt, dass sie für mich Partei ergreifen würde. Klar, wir verstanden uns eigentlich ganz gut, nur bisher hatte ich geglaubt, dass es eher so was, wie Akzeptanz der Gegenwahrt des anderen wäre. Hatte ich mich in ihr genauso getäuscht wie in Veith? Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und merkte, wie er mich beobachtete.

„Nein Julica“, knurrte Azar zurück. „Pass du lieber auf wie du mit mir sprichst. Du magst vielleicht hier sein, um deine Mamá zu vertreten, aber das macht dich noch lange nicht zu einem Alpha.“

„Na Gott sei Dank“, rutschte es mir heraus. Als sich elf paar Augen auf mich richteten, schoss mir die Hitze ins Gesicht. Meine Wangen waren ganz heiß und ich wusste genau, dass ich knallig rot war. „Ich … ähm … so habe ich das nicht gemeint, ich meinte nur …“ Ich schlug mir die Hand vors Gesicht, doch es half nicht wirklich. Die scharfen Blicke konnte ich immer noch auf mir spüren. Warum hatte ich das nur laut gesagt? „Versteht mich nicht falsch, es ist bestimmt klasse ein Alpha zu sein.“ Ich ließ die Hand wieder sinken, wagte es aber nicht, irgendwem in die Augen zu sehen, wer wusste schon, wie die im Augenblick darauf reagieren würden. „Aber so viele auf einem Haufen sind schon echt … furchterregend. Ihr strahlt so eine Macht aus, bei der einem schon Angst und Bange werden kann.“ Gott, was laberte ich denn da? „Und je mehr ihr seid, desto gruseliger seid ihr“, schloss ich kleinlaut und flehte darum, dass sich unter mir ein Loch auftun würde, in dem ich versinken konnte. Leider tat das Erdreich mir diesen Gefallen nicht.

Ein leises Lachen kam von Najat und auch die anderen Alphas schienen meine Worte zu belustigen. Na super, jetzt hatte ich mich endgültig zum Gespött der Leute gemacht. Hätte das nicht wenigstens auf eine etwas würdevollere Weise passieren können?

„Eine Sache gibt es da noch“, unterbrach eine Alphahündin mit grauem gelocktem Haar. Das sah irgendwie seltsam aus, weil sie noch sehr jung schien, kaum älter als ich. Sie war wohl die jüngste Alpha in dieser Runde und hatte sich bisher auch ziemlich zurückgehalten.

„Wie alt bist du?“, rutschte es mir raus, ohne vorher darüber nachzudenken, einfach weil sie mir wirklich noch recht jung vorkam. Und wieder hatte ich die Aufmerksamkeit aller. Ob es passieren könnte, vom ständigen rot anlaufen, dass man die Farbe nicht mehr los wurde? Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ein roter Schneeleopard. Obwohl, wäre mal etwas anderes. „Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein“, schob ich schnell noch hinterher.

Sie aber schien sich daran nicht zu stören. „Neunundzwanzig Jahre zähle ich seit kurzem.“

„So alt schon?!“ Oh Mann, nicht schon wieder. War denn da wirklich kein Loch, in dem ich mich verkriechen konnte? „Ähm … ich meinte damit … du hast dich wirklich gut gehalten.“

„Danke.“

„Bitte und … ich glaube ich werde jetzt gar nichts mehr sagen.“

„Wäre wahrscheinlich eine gute Idee“, kam es klar von Azar.

Ich ignorierte ihn und trollte mich zurück zu Pal und den anderen. Zuschauen und die Klappe halten, wäre vermutlich wirklich das Beste.

Nachdem das mit dem Alter nun geklärt war, wandte sich Julica an die Wölfin. „Freya, wenn ich das richtig verstanden habe, dann wolltest du uns noch etwas mitteilen?“ Sie ließ die Feststellung wie eine Frage klingen und wartete neugierig.

„Ja und nein. Auch wir Felswölfe hatten einen Verlust, eine Wölfin, Lirana.“

Ich erinnerte mich an eine rothaarige, junge Frau aus dem Felswolfrudel. Ihre Akte war die Erste gewesen, die ich aufgeschlagen hatte, ihr Verschwinden glich dem von Isla bis aufs Haar.

„Bei uns war es wie bei vielen anderen, sie war einfach plötzlich weg und am Ende ihrer Fährte haben wir einen starken Geruch nach Katze bemerkt und ein Stück rotes Fell gefunden, das definitiv von einer Großkatze stammte. Leider war das schon alles gewesen.“ Sie machte eine kurze Pause, um ihre Gedanken zu sammeln. „Natürlich habe ich danach die Sicherheitsmaßnahmen erhöht, denn mir war von Anfang an klar, dass sie nicht einfach zum Einzelläufer geworden ist, dafür ist sie zu gesellig. Bis vor zwei Wochen ist dann aber nichts weiter passiert. Wir haben weder eine Spur zu Lirana gefunden, noch gab es einen außergewöhnliches Eindringen in unser Territorium. Ein paar Jungwölfe, aus anderen Rudeln, die eine Mutprobe starten wollten, ein verirrter Wanderer, der sehr schnell entfernt wurde, nichts Außergewöhnliches.“

Die anderen Alphas und Julica nickten verstehend.

„Vor ein paar Wochen dann hat eine meiner Familien einen Ausflug zu den Wasserfällen gemacht.“ Sie winkte ein junges Mädchen mit stahlgrauen Haaren heran, das sich ziemlich am Rand aufhielt, in der Hoffnung, dort unentdeckt zu bleiben. Bei der geballten Macht hier, konnte ich es ihr locker nachfühlen.

Sie konnte nicht viel älter als Isla sein, das Gesicht war noch sehr jung und sie zögerte beim Aufstehen, so dass der Mann neben ihr sich gezwungen sah, ihr einen kleinen Schubs zu geben. Den Haaren und dem Gesicht nach, musste das ihr Vater sein.

Verschüchtert huschte das Mädchen an Freyas Seite und versuchte sich halb hinter ihr zu verstecken. Dabei sah sie keinen der anderen Wölfe auf dieser Lichtung auch nur an. Es war mehr als offensichtlich, dass sie hier nicht sein wollte.

„Das ist Hija“, stellte Freya sie vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Hija, erzähl ihnen, was du mir erzählt hast.“

Das Mädchen sah ihre Alpha an, leckte sich nervös über die Lippen und riskierte dann einen kurzen Blick in die Runde, bevor sie ihn auf den Boden senkte. „Ich war mit meinen Eltern und einer Freundin an den Wasserfällen und bekam Hunger, also ging ich jagen.“ Wieder ein kurzer Blick in die Runde. „Ich hab ein Kaninchen gefunden, lag auf der Lauer und wollte gerade losspringen, als es plötzlich die Ohren aufstellte und dann flüchtete. Nicht mich hatte es gehört, sondern jemand anderes, aber das habe ich nicht gleich gemerkt, weil ich mich über seine Flucht geärgert habe. Erst als ich diesen Geruch wahrnahm, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Er kam ganz plötzlich. In dem einen Moment roch alles noch normal und im nächsten war er überall.“

„Was war das für ein Geruch?“, wollte Najat wissen.

Hija wagte es nicht ihn anzusehen, spannte sich sogar an, als er sie ansprach, so als befürchtete sie das schlimmste von ihm. „Katze“, sagte sie leise. „Alles dort roch nach Wildkatze, so intensiv, dass ich davon niesen musste.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten, als rang sie einen inneren Kampf mit sich aus. Was war nur mit diesem Mädchen los, dieses Verhalten war doch nicht normal? „Als ich das roch, erinnerte ich mich an Lirana und wollte einfach nur wegrennen, doch ich verfing mich in einer Wurzel und fiel hin.“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie einen unliebsamen Gedanken schnellstens loswerden. „Ich bekam Panik und schrie nach meinen Eltern, was wohl auch meine Rettung war, aber bevor sie kamen, hörte ich noch das Knurren.“ Langsam hob sie ihren Blick. „Das Knurren eines Wolfes.“

Das stürzte alle auf der Lichtung erst mal in Verwirrung. Nur mich nicht, denn ich verstand weniger als Bahnhof.

„Willst du damit sagen“, begann Cui stirnrunzelnd und beugte sich ein wenig vor, „dass die Katze, die wir suchen, ein Wolf ist?“

„Ich habe niemanden gesehen, aber ja, in meinen Ohren klang das Knurren nach einem Wolf.“

„Was?“ Ich wusste, es wäre wahrscheinlich besser gewesen, einfach die Klappe zu halten, aber das war einfach nicht drin. „Soll das heißen, die Lykaner werden von einem Lykaner entführt?“

Freya neigte den Kopf zur Bestätigung. „Es hat ganz den Anschein.“

„Aber …“ Ich schüttelte den Kopf, konnte das nicht glauben. „Anwar ist der Täter, er hat sich an den Wölfen vergriffen.“

Tyge runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht auch nicht. Wenn unser Täter tatsächlich ein Lykaner ist, dann könnten auch die Toten auf sein Konto gehen. Ein anderer Lykaner ist durchaus in der Lage, uns solche Wunden zuzufügen.“

Was? Das wurde ja immer besser! Erst bestritten alle, dass die Toten auch nur im Entferntesten etwas mit den Verschwundenen zu tun gehabt haben und jetzt gehört doch alles zusammen, aber Anwar sollte aus dem Schneider sein? „Nein, es muss Anwar sein, es spricht so viel gegen ihn, wer soll es den sonst gewesen sein?“

„Genau das ist jetzt die Frage“, kam es von Freya.

 

°°°

 

Grummelnd umrundete ich einen sehr breiten Wolfsbaum. Nicht nur, dass ich mich mehr als einmal auf dieser Versammlung vor einer Stunde zum Vollhorst gemacht hatte, nein, alles war jetzt für die Katz`. Ein Lykaner war der Täter? Was war mit Anwar? Das ganze Treffen hatte mehr neue Fragen aufgewirbelt, als alte zu beantworten.

Wir hatten noch zwei weitere verschwundene Wölfe, von denen die Wächter noch nichts wussten, unser Täter war entlastet, weil es da plötzlich einen anderen gab – und das, obwohl bisher alles auf Anwar hingedeutet hatte. Das passte nicht, Wölfe rochen nicht nach Katze, das ergab absolut keinen Sinn! Ich war mir so sicher gewesen. Wie hatte meine Theorie durch die Aussage eines jungen Mädchens alles über den Haufen werfen können?

„Hey“, Pal rempelte mich mit seiner roten, pelzigen Schulter an, aber mir war gerade überhaupt nicht nach spielen, also fauchte ich ihn warnend an. Das überging er einfach. „Hör auf so viel zu grübeln.“

Ich schnaubte. „Anwar muss damit zu tun haben“, sprach ich meine Gedanken aus. „Es ist so, ich weiß es, egal was dieses Mädchen sagt.“

„Aber vielleicht …“

„Nein!“, fuhr ich ihn an. „Keine Ahnung wie die Katze da in das Ganze hineinpasst, aber vielleicht hat sie das Knurren auch einfach nur falsch interpretiert. Ich kann auch knurren, weißt du, nur hört es sich nicht wie bei euch an, aber ich kann es. Vielleicht war Hija so in Panik, dass sie es nicht richtig gehört hat.“

Pal zuckte mit den Schultern. „Möglich ist es, aber genauso möglich ist es auch, dass du dich da ganz schön in etwas verrennst.“

Ich kniff die Lippen zusammen. Natürlich war es möglich, dass er recht hatte und dass ich das alles gründlich missverstanden hatte, aber ich glaubte es nicht. Ich war mir so sicher, dass es Anwar war, aber Hija war sich auch mit dem Wolf sicher. Mir kam eine Idee. „Und wenn es mehr als einer ist?“

Pal stellte die Ohren auf. „Was meinst du damit.“

„Wenn Anwar nicht allein arbeitet? Vielleicht hat er ja einen Partner, der ihm hilft. Ich weiß, dass er Freunde hat, mit denen er auf die Jagd gehen kann. Vielleicht hilft ihm einer davon ja und sie machen irgendetwas magisches, was diesen Katzengeruch auslöst. Das Knurren hätte auch von einem Tonband stammen können und …“ Ich verstummte. Meine Überlegungen wurden immer phantastischer, nur damit ich mir einreden konnte, Recht zu haben. Nachher kam ich noch auf die Idee, dass die verschwundenen Wölfe einfach von der Erde absorbiert wurden.

Ich rieb mir übers Gesicht und stolperte nur nicht über die Wurzel vor mit, weil Pal mich rechtzeitig abdrängte.

„Wir brauchen eine Pause“, sagte Veith und ließ sich neben mich zurückfallen. Bisher war er mit den anderen Wölfen vor mir gelaufen. „Du brauchst eine Pause.“

„Ich bin nicht müde, ich kann noch laufen.“

„Das habe ich nicht gemeint.“ Er umrundete mich und versperrte mir den Weg. Damit ich nicht über ihn rüber fiel und mal wieder im Dreck landete, musste ich stehen bleiben. „Dein Kopf brauch eine Ablenkung. Hör auf nachzudenken.“

„Ach und wie soll das bitte gehen?“, fragte ich schnippisch. „Meine Gedanken lassen sich nicht einfach so abstellen.“ Auch wenn das im Augenblick gar nicht so schlecht klang. Eine Pause von alledem würde mir sicher gut tun.

Jagd“, rief Kovu von vorn. „Lasst uns Jagd spielen.“

Auch die anderen  Wölfe blieben stehen und stellten neugierig die Ohren auf.

„Was soll das sein?“ Klar, ich wusste was eine Jagd war, aber daraus ein Spiel zu machen, hörte sich in meinen Ohren zu sehr nach … Anwar an. Da war es wieder, so viel zum Thema Ablenkung. Tiere zum Spaß töten war sein Hobby. Ich mochte das nicht mal wenn ich hungrig war, da würde ich doch keine arme Seele jagen, nur um auf andere Gedanken zu kommen.

„Das ist ganz einfach.“ Aufgeregt trappte Kovu näher, ja er wedelte sogar mit der Rute – das sah echt süß aus, wie ein großer, verspielter Hund. „Jeder gegen jeden, wer als erster alle anderen erwischt hat, der hat gewonnen.“

„Du meinst“, – ich zeigte von einem auf den anderen – „wir jagen uns gegenseitig?“

„Das ist ein Spiel für kleine Kinder“, warf Julica ein.

„Das sagst du doch nur, weil du immer verlierst“, schoss Kovu zurück und sah dann erwartungsvoll zu seinem Vater. „Lasst uns Jagd spielen. Da kommen wir auf andere Gedanken und können uns ein wenig austoben.“

Ja, weil wir im Moment ja auch zu wenig Bewegung hatten.

Doch entgegen meiner Erwartungen neigte Tyge seinen Kopf zu einem stummen Ja. Das war der Startschuss. Noch bevor ich es richtig realisierte, begann das Spiel schon. Veith schoss als erster davon, die anderen dicht dahinter. Innerhalb von Sekunden stand ich allein mitten im Wald und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. War das jetzt wirklich ihr ernst? Sie wollten jetzt spielen, nachdem was wir gerade erfahren hatten und was es bedeutete?

Es dauerte kaum drei Sekunden, da kreuzte Kovu meinen Weg, Julica war ihm dicht auf den Fersen. Ich musste hastig nach hinten ausweichen, um nicht von den beiden mitgerissen zu werden.

Die schwarze Wölfin sprang, warf Kovu um und kniff ihm mit den Zähnen in den Nacken. Dann war sie auch schon wieder im Unterholz verschwunden. Ein Punkt für sie.

Das sah so witzig aus, dass ich gar nicht anders konnte, als zu lachen. Schade nur, dass ich so den Kleinen darauf aufmerksam machte, dass ich noch hier rumstand und nicht recht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. Kovu dagegen wusste es ganz genau. Er nahm mich ins Visier. „Oh scheiße.“ In Sekundenbruchteilen sprintete ich los, rannte mitten hinein in ein Dickicht. Kovu blieb mir auf den Fersen.

Die Erregung der Jagd ergriff von mir Besitz und ich spürte das vertraute Adrenalin, sich in meinen Blutkreislauf breit machte. Er würde mich nicht kriegen, dafür würde ich sorgen.

Als ich an ein paar Bäumen vorbeikam, hörte ich Tyges verärgertes Grollen. Er war wohl gerade von jemand erwischt worden. Kurz glaubte ich das rote Fell von Pal zwischen den Büschen vorbeihuschen zu sehen. Kovu holte auf, schon ein siegreiches Funkeln in den Augen. Das konnte er ja gleich mal vergessen. Er war nicht der erste Werwolf, der versuchte mich zu fangen, damit hatte ich schon Erfahrung und genau wie den anderen würde ich ihm zeigen, was es bedeutete,  einer Katze auf den Fersen zu bleiben. Gespannt wartete ich bis er sprang, passte genau ab, wie sich seine Muskeln anspannten, um mich unter sich zu begraben, dann sprang auch ich, direkt auf den nächsten Stamm zu, stieß mich dort mit den Beinen an der trockenen Rinde ab, bekam einen tiefen Ast zu fassen und zog mich hoch. Ausmanövriert!

„Hey!“, beschwerte sich Kovu und stoppte hastig, bevor er mit dem Baum kollidierte. „Das ist gegen die Regeln!“

Ich lächelte zu ihm hinunter. „Was erwartest du? Ich bin eine Katze und Katzen klettern auf Bäume. Wenn du durch einen Fluss waten würdest, müsste ich auch hinterher und glaub mir, Wasser ist das letzte was ich in meinem Fell haben möchte.“

Er verzog das Gesicht. „Komm runter.“

„Okay, aber gib mir einen Vorsprung. Du hast zwei Beine mehr als ich, du bist schneller.“

Wachsam trat er ein paar Schritte zurück, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen.

Als ich mich auf den Boden gleiten ließ – obwohl gleiten hier wohl der falsche Ausdruck war. Meine Landung hatte eher etwas von einem Plumpsack –, achtete ich auf jede seiner Regungen, um bei der kleinsten Bewegung sofort reagieren zu können. Doch die Gefahr kam von ganz unerwarteter Seite. Ich hatte den Boden kaum berührt, da schoss Veith aus dem Gebüsch und warf mich auf den Rücken. Ich landete mit einem „Uff“, viel zu erstaunt über diesen plötzlichen Überfall, als mehr zu tun, als einfach nur dazuliegen. Veith schob die Nase unter mein Kinn und knabberte vorsichtig an meiner Kehle, was mein Herz dazu veranlasste, mit dem dreifachen der jetzigen Geschwindigkeit weiterzuschlagen.

Er richtete sich auf, sah auf mich herunter, in seinen Augen Triumph und Aufregung. Das Fieber der Jagd. Ich schob die Hand in seinen braunen Pelz, der mich an Vollmilchschokolade erinnerte, fühlte sein Herz, das mit der gleichen Geschwindigkeit raste wie meines.

„Da war es nur noch einer“, flüsterte er und sprang von mir herunter. Ich sah wie er Kovu jagte, um das Spiel siegreich zu Ende zu bringen.

 

°°°

 

Mann, das Leben konnte so schön sein. Und wenn die Wölfe ihre Spielchen mal einstellten auch so entspannend.

Nachdem wir durch den Wald getobt waren – mehrere Runden lang, aus denen einmal Tyge und vier Mal Veith als Sieger hervorgegangen waren –, hatten die Wölfe etwas erlegt, das dem Namen nach ein Hirsch sein sollte. Es hatte aber nur entfernt Ähnlichkeit mit majestätischem Geschöpf, das ich mit diesem Wort verband. Diesem Ding ragten zusätzlich zum Geweih auf dem Kopf noch Stacheln aus dem Rücken, die gemeingefährlich aussahen. Es hatte drei lange Schwänze, mit denen es wie mit Peitschen durch die Gegend schlagen konnte und die Farbe des Fells schimmerte wie das innere einer Muschel. Aber zumindest die Größe und die grobe Form entsprachen einem Hirsch wie ich ihn kannte.

Ich hatte bei der Jagd ein wenig geholfen – ja, sie hatten mich nicht wieder auf den nächsten Baum verbannt, um dort auf sie zu warten –, doch das Fressen der Beute ihnen überlassen. Wildkatze hin oder her, ich war als Mensch aufgewachsen und hatte meine Grenzen. Und die waren bei rohem blutigem und noch dampfendem Fleisch definitiv erreicht. Das hatte ich nicht mit meinem Big Daddy Djenan machen können und hier konnte ich das auch nicht, obwohl mich weder das blutige Gerangel, noch die Fressgeräusche abstießen. Ich hielt mich einfach abseits und suchte mir in den Bäumen und Büschen ein wenig vegetarische Kost.

Veith hatte recht behalten, das Spiel war wirklich eine gute Ablenkung gewesen, um den Kopf wieder etwas klarer zu bekommen. Auch jetzt verbot ich mir die Gedanken, an die Versammlung und alles was damit zusammenhing. Nur für den Augenblick wollte ich alles ruhen lassen und dann mit neuer Energie voll durchstarten zu können. Vielleicht würde ich ja so auf die Lösung des Rätsels kommen.

Nach unserem – oder besser gesagt ihrem – kleinen Festmahl, hatten wir uns auf eine sonnenbeschienene Lichtung zurückgezogen, zusammengerollt und betrieben nun Fellpflege – mit mir mittendrin. Irgendwann in den letzten Tagen war ich so ins Rudel reingerutscht, dass es für mich jetzt nicht mal seltsam war an Veiths Flanke zu liegen und ihm Blätter, Gräser und Zweige aus dem Fell zu pullen, während Kovu mir mit der Zunge das Nackenfell säuberte. Obwohl ich der festen Überzeugung war, dort sauer zu sein, ließ ich ihn einfach machen. Pal lag mit dem Kopf auf meiner Taille und döste vor sich hin, während Julica ihm die Schnauze  ableckte und so von den getrockneten Blut seiner Mahlzeit befreite.

Ich streckte die Glieder, bettete meinem Kopf auf Veiths Fell und genoss sowohl die Sonne, als auch die kühle Brise, die der Wind mit sich brachte und die Massage mit der Zunge. Wie schon gesagt, das Leben konnte so schön sein. Es dauerte nicht lange, da fiel ich in eine Art Wachschlaf. Etwas rumpelte unter meiner Brust, wahrscheinlich Veith, der über irgendwas lachte. Es interessierte mich nicht. Ich wollte einfach hier liegen, vor mich hindämmern und nichts außer der Seligkeit des Moments genießen. An nichts denken, nur dieses wohlige Gefühl auskosten. Doch dann merkte ich, dass die Zunge in meinem Nacken verschwunden war und spürte alle Blicke auf mir ruhen. „Waaas?“, fragte ich halb genuschelt und riskierte ein halbes Auge.

„Du schnurrst“, schmunzelte Tyge mit seiner grollenden Stimme, soweit man im Wolfskörper halt schmunzeln konnte.

„Nein ich …“ Ich bemerkte das gleichmäßige Rumpeln in meiner Brust, das abbrach als ich in mich hinein hörte. Tatsächlich, ich schnurrte. Was ich fälschlicherweise für Veiths Lachen gehalten hatte, produzierte ich selber. Wer hätte das gedacht? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich das konnte. Bei Djenan hatte ich das nie gehört. „Ich bin halt eine Katze und Katzen schnurren. Das steht sogar im Gesetz.“

„Domina nicht“, sagte Kovu.

„Doch, tut sie.“ Tyge bekam ein richtiges Wolfsgrinsen. „In der richtigen Situation“, fügte er hinzu.

„Papá!“

Alle lachten über Kovus Ausruf. Tja, dass der eigene Vater sich mit dem anderen Geschlecht zu amüsieren wusste, war wohl selbst als Werwolf nichts, dass man als Siebzehnjähriger wissen wollte. Damit waren die Gespräche beendet und langsam dämmerten auch die Wölfe weg.

 

°°°

 

Ein Krachen ließ mich aus meinem Halbschlaf hochschrecken. Es wurde lautstark geflucht und gelacht und erst nach einem Moment der Orientierung, wurde mir klar, was hier gerade lief. Kovu war aus einem Baum gefallen, als er versuchte hatte … ja keine Ahnung, was er da versucht hatte, auf jeden Fall hatte er sich dabei reichlich blöd angestellt und war samt Ast runtergeknallt.

Julica und Pal saßen noch in Wolfsgestalt um ihn herum und zogen den ungeschickten Jüngling auf.

Veith hatte sich nicht vom Fleck bewegt, seit ich eingedöst war, fungierte immer noch als mein Kopfkissen und Tyge lag auch weiterhin neben mir, den Kopf auf den Pfoten gelegt und beobachtete seinen jüngsten Sohn gelassen.

Kovu arbeitete sich schwerlich auf die Beine und rieb sich seine nackte Kehrseite – Gott, warum hatte der den jetzt schon wieder nichts an?

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Krach wirklich von den Dreien da kam und kein potenziell gefährliches Monster auf den Weg zu mir war, um mich samt Haut und Haaren zu verschlingen, lehnte ich mich wieder zurück in Veiths Wärme und erlaubte mir, die Nähe zu ihm zu genießen. Noch vor ein paar Tagen hätte ich jeden für verrückt erklärt, der mir versichert hätte, dass ich irgendwann einmal so mit Veith daliegen würde. Es war angenehm und langsam begann ich wirklich zu glauben, dass wie beide doch noch so was wie eine … hm, Freundschaft schien mir für den Moment ein zu starkes Wort zu sein, doch es war genau das, was ich wollte. Seine Zuneigung, seine Nähe. Ich mochte Veith trotz seiner Ecken und Kanten, vielleicht sogar mehr, als ich eigentlich sollte.

Er war nicht so kalt und abweisend, wie es den ersten Anschein bei ihm hatte. Ganz im Gegenteil, er versteckte sich einfach nur.

„Warum siehst du mich so an?“

Ertappt wandte ich den Blick ab. Mist, ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich ihn angestarrt hatte. „Ach, ich hab nur über etwas nachgedacht. Nicht so wichtig.“

Veith klappte die Schnauze auf, um etwas zu sagen, als ein markerschütternder Schrei durch den Wald hallte, er mir das kalte Grauen über den Rücken jagte. Ich fuhr auf die Beine, genau wie alle anderen. Augenblicklich verstummte jedes Geräusch auf unserer kleinen Lichtung. Alle Wölfe stellten die Ohren auf und lauschten, keiner wagte es sich zu bewegen, oder anderweitig ein Geräusch zu machen.

In der anhaltenden Stille stellten sich mir die Nackenhaare auf und ich wusste, dass wir nicht länger das Einzige intelligente Leben in der näheren Umgebung waren. Es war noch jemand hier, nur wo? Ich spannte meine Muskeln an, bereit jeden Moment loszurennen. Alle meine Sinne stellten sich scharf und so kam mir der erneute Schrei überlaut vor. Er ließ mir die Haare zu Berge stehen.

Tyge und Julica waren sofort im Unterholz verschwunden, folgten der gepeinigten Stimme. Veith ranzte Kovu und mir noch ein „bleibt hier“ zu, bevor auch er vom Wald verschluckt wurde. Pal zögerte einen Moment, als wollte er uns nicht allein lassen, aber nur kurz, dann war auch von ihm nichts mehr zu sehen. Danach wurde es um uns herum unnatürlich still. Kein Tier traute sich, ein Laut zu verursachen, die Vögel waren verstummt, ja sogar der Wind schien den Atem angehalten zu haben und darauf zu lauern, was das zu bedeuten hatte.

Kovu schob sich so dich an mich heran, dass ich seine Körperwärme auf der Haut spüren konnte. Dabei huschten seine Augen ununterbrochen hin und her, beobachteten die Bäume um uns herum, sondierten jedes Blatt und jeden Zweig. Er lauschte auf den Wind, auf jedes Geräusch, das zu uns drang. Es war tröstlich ihn bei mir zu wissen.

Als er mich am Arm berührte, wäre ich vor Anspannung beinahe aus der Haut gefahren. „Ich kann nichts hören.“

„Wir könnten ihnen folgen“, schlug ich halbherzig vor. Mir war nicht danach, in unsicherer Gefilde zu marschieren, wenn ich nicht wusste, was der Schrei zu bedeuten hatte – nur zu klar stand mir in diesem Augenblick wieder die Nacht mit Es im Nacken vor Augen –, aber noch weniger wollte ich hier wie auf dem Präsentierteller rumstehen. Wer wusste schon, was da draußen lauerte. Und wieder drängten die Gedanken an Es in den Vordergrund.

Ich wusste, dass Kovu es nicht mochte Befehle zu ignorieren, besonders, da er ja genaugenommen gar nicht hier sein dürfte, aber hier im Wald Wurzeln zu schlagen brachte uns auch nicht weiter. Außerdem hatte ich keine Lust mehr zurückgelassen zu werden, ich wollte wissen was bei den anderen los war, aber allem voran wollte ich Sicherheit, die ich hier nicht bekommen würde. „Wer immer da geschrien hat, Tyge und die Anderen scheinen ihn verscheucht zu haben.“ Das zumindest hoffte ich, den die Möglichkeit dass sich noch jemand hier rumtrieb, wollte mir so gar nicht gefallen. Ich machte einen entschlossenen Schritt vor und wurde sofort von Kovu ausgebremst. Und Sie können mir glauben, sich gegen einen Werwolf zu stemmen, selbst gegen einen Jüngling wie Kovu, war leichter gesagt als getan. Auch mein halbes Therianerblut half mir da nicht weiter.

Sein Griff um meinen Arm wurde noch fester. „Wir sollen hier warten.“

„Und was, Däumchen drehen?“ Ich sah ihm fest in die Augen, so wie ich es bei den anderen gesehen hatte, eine Herausforderung ohne Worte. „Bist du ein Mann oder eine Maus?“

„Wir sollen hier warten“, wiederholte er schlicht. Meine Worte ließen ihn völlig kalt. Es schien als hätte er doch ein paar Eigenarten seines Bruders, verdammt! Werwölfe waren so stur.

„Ich will aber nicht …“

Knack.

Wir fuhren beide herum.  Kamen die anderen schon wieder? Aber keiner zeigte sich uns und auch sonst blieb alles ruhig. Aber ich hatte das starke Gefühl, heimlich beobachtet zu werden. Ich wurde zunehmend nervös, das hier gefiel mir gar nicht. „Bist du immer noch der Meinung, dass wir warten sollten?“

Langsam und systematisch ließ er nochmal seine Augen über die Büsche und Bäume gleiten, dann ließ er meinen Arm los. Ein wortloses „nein, bin ich nicht“. Mehr Ermutigung brauchte ich nicht. Fast lautlos, wie Big Daddy es mir gezeigt hatte, glitt ich durchs Unterholz. Das Gefühl, beobachtete zu werden, folgte uns. Plötzlich nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich fuhr herum, doch bevor ich eine Warnung rufen konnte, stürzte sich schon etwas aus den Büschen auf Kovu. Er stieß noch einen Laut der Überraschung aus, kippte wie ein gefällter Baum um und bewegte sich nicht mehr. In Bruchteilen von Sekunden registrierte ich, was uns da Angriff: der Geruch von Katze, viel zu intensiv, der riesige aber schmale Körper eines Wolfes, das Fell eines Tigers und scharfe Zähne, die nach Kovus Kehle schnappten.

Ich reagierte ohne nachzudenken, schnappte mir einen stabilen Ast vom Boden, der sich gut als Knüppel eignete und schlug zu. Nur leider traf ich nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. In meinem Kopf war ein Bild, wie ich den getigerten Wolf perfekt am Schädel traf und ihn in die Bewusstlosigkeit zu Boden streckte. In der Realität streifte ich gerade mal seine Schulter und verhinderte so, dass er Kovu die Kehle zerfetzen konnte. Zu allem Überfluss stolperte ich auch noch über Kovus Beine, so dass ich der Länge nach hinschlug und sicherte mir damit die Aufmerksamkeit unseres Angreifers. Und das war der Moment, in dem die Panik ihre kalten Klauen in mich schlug.

Ich blickte in ein geiferndes, mit scharfen Zähnen versehendes Maul. Ein klägliches Wimmern entrang sich mir. „Veith!“, schrie ich mit so schriller Minnie-Mouse-Stimme, dass sie jedem Wolf in den Ohren wehtun musste. Mein Atem ging hektisch, mein Herz schlug viel zu schnell und die Angst drohte mich blind zu machen.

Das nächste, was geschah, beobachtete ich irgendwie von außen. Es war als hätte ich meinen Körper verlassen, um mir alles aus sicherer Entfernung anzusehen. Ich sah mich selber da bäuchlings auf dem Boden liegen, noch immer den Knüppel in der Hand, sah Kovu bewegungslos neben mir, dem Blut aus einer Wunde am Kopf sickerte. Und natürlich den Wolf mit der Tigerzeichnung, der knurrend und geifernd einen drohenden Schritt auf mich zumachte.

Alles geschah wie in Zeitlupe, wie ein Film. Ich folge mit angehaltenem Atem, wie sich meine Erstarrung löste, wie ich den Knüppel mit der mir verbliebenden Kraft schwang und dieses Mal traf. Der Wolf jaulte auf, ich sprang auf die Beine und rannte um mein Leben, dann war ich wieder in meinem Körper.

Zweige und Äste peitschten mir ins Gesicht und gegen Arme und Beine. Ich strauchelte, als ich an einer Wurzel hängen blieb, fing mich aber wieder. Weg, nur weg, das war alles was ich wollte. Wie durch dichten Nebel hörte ich mich selber wimmern und schluchzen, hörte meinen Atem, wie er stoßweise durch meine Lungen fuhr. Mein Arm tat weh. Ich wusste nicht mal warum und es war mich auch egal, genau wie meine schmerzenden Muskeln und das Seitenstechen. Ich musste die anderen finden, musste aus diesem bescheuerten Wald raus, musste …

Zwei Arme schlangen sich um mich.

Ich schrie, trat und schlug um mich, versuchte mich dem Griff zu entziehen. Nur am Rande nahm ich wahr, was mein Kopf schon wusste, aber mein Körper nicht glauben konnte: Wölfe fingen ihre Beute mit Zähnen und Klauen, nicht mit Armen. Aber das drang nicht ganz bis zu mir durch. Ich wollte nicht sterben, nicht hier, nicht so.

Nur langsam drang eine Stimme durch den Nebel meiner Panik.

„… bin es. Talita, ich … uff! Hör auf, Tal …“

Das war Veith! Seine Stimme, seine Arme. Ich fing an zu schluchzen und klammerte mich an ihn. „Veith … Veith …“ Wie eine Beschwörung wiederholte ich seinen Namen immer und immer wieder, als wenn er dadurch realer werden würde. Er war in diesem Moment mein Anker, der Grund warum ich mich nicht völlig an meine Furcht verlor.

Veith nahm mein Gesicht zwischen die Hände, damit ich ihn ansehen musste. In seinen Augen sah ich Angst – um mich? – und Unsicherheit, gemischt mit Wut und dem Bedürfnis zu beschützen. „Was ist passiert?“

Am Rande meiner Wahrnehmung bemerkte ich, dass Julica auch da war. Von Tyge und Pal fehlte jede Spur.

„Talita, sag mir was passiert ist.“

„Ich … d-der Wolf, er k-k-kam und Kovu … oh Gott K- Kovu … er ist, ist … ich konnte nicht, ich hatte A-A-Angst“, schluchzte ich. War ich wirklich so verängstigt, dass ich in meiner Panik Kovu vergessen hatte? „E-Es tut mir leid, ich woll-woll-wollte nicht … und K-Kovu, er hat sich nicht mehr be-be-bewegt. Kovu … oh Gott, Kovu, nein …“

Veiths Griff wurde fester. „Talita, konzentrier dich, was ist mit Kovu?“

Jetzt erst verstand ich. Diese Besorgnis und Angst in seinen Augen. Es ging gar nicht um mich, er wollte wissen, was mit seinem Bruder geschehen war. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich ihn in meiner Panik im Stich gelassen hatte, dass mich dieser Tigerwolf so erschreckt hatte, dass ich ihn einfach mit Kovu allein gelassen hatte?

Veith schüttelte mich. „Verdammt, sag mir was mit Kovu ist!“

„Ich … ich weiß nicht, er hat … hat sich nicht mehr bewegt.“

Veith kniff die Lippen zusammen, drehte sich um und marschierte hastig in die Richtung, aus der ich zuvor gekommen war. Dabei hielt er meine Hand fest umklammert. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich wollte da nicht wieder hin, wollte nicht sehen, was mit Kovu geschehen war, weil ich einfach weggelaufen war, aber ich wollte auch nicht allein zurückgelassen werden. Ich konnte nichts anders tun, als mich an seinen Arm zu klammern und aufzupassen, dass ich nicht über die raustragenden Wurzeln am Boden stolperte.

Meine Sicht war verschwommen, die Tränen wollten nicht nachlassen. Als mir dann auch noch der intensive Geruch nach Katze in die Nase drang, fing mein Körper an zu zittern wie Espenlaub und Hijas Worte klangen in meinen Gedanken wieder. Das Knurren eines Wolfes. Jetzt verstand ich, wie es möglich war, aber auf diese Erfahrung hätte ich durchaus verzichten können.

Julica trappte wachsam neben uns und bleckte lautlos die Zähne, als der Geruch dieses Tigerwolfes immer stärker wurde. Als er sich dann mit dem Duft nach Blut vermischte, hielt sie nichts mehr und sie rannte einfach los. Auch Veith wurde schneller. Das Blut trug eindeutig die Note von Kovu.

Ich erwartete das Schlimmste, als wir auf die Lichtung rannten, aber nicht das sie leer war. Der Wolf mit dem Tigerfell war verschwunden, nur Kovu lag noch dort, genauso wie ich ihn verlassen hatte. Starr, völlig bewegungslos mit geschlossenen Augen. Und dem Blut am Kopf.

Ein Schluchzen entrang sich mir. Veith ließ meine Hand fallen und stürzte an die Seite seines Bruders. Eilig überprüfte er den Herzschlag und die Atmung, tastete am Kopf nach der Wunde und stieß dann erleichtert die Luft aus.

Meine Beine sackten unter mir zusammen. Kovu war nicht tot, der Wolf hatte ihm nichts getan, bis auf die Wunde am Kopf, war er völlig unversehrt.

Vorsichtig schlug Veith dem Kleinen auf die Wange und als er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Augen aufschlug, weinte ich vor Erleichterung.

 

°°°

 

Die Schatten des Waldes wurden schon ein wenig länger, als wir uns auf den Weg machten, um Pal und Tyge zu suchen. Kovus Hand lag warm in meiner, während er sich mit der anderen auf Veith stürzte. Vorhin noch hatte er über Mörderkopfschmerzen geklagt, jetzt versuchte er einfach nur noch auf den Beinen zu bleiben, ohne sich von der nächsten Unebenheit im Boden in die Knie zwingen zu lassen. Sein Kopf wurde von einem Turban geziert. Veith hatte dafür, einen meiner Schals in Streifen gerissen und ihn dem Kleinen als notdürftigen Verband um den Kopf gewickelt. Und die ganze Zeit über hatte ich Kovus Hand gehalten. Ich machte mir solche Vorwürfe, dass ich ihn einfach hatte liegen lassen und abgehauen war. Es hätte sonst was passieren können und ich wäre Schuld daran gewesen. Das würde ich mir niemals verzeihen können und so wie Veith die Lippen zusammenkniff, er mir auch nicht.

Kovu drückte meine Hand. „Guck nicht so, ist doch nichts weiter passiert.“ Er verzog das Gesicht, als schmerzte ihn das Sprechen. „Ich hätte auch ganz ohne fremde Hilfe auf den Kopf fallen können.“

„Genaugenommen ist er das schon“, verkündete Julica. Aufmerksam ließ sie ihre Ohren spielen, hob die Schnauze zum Wittern in die Luft, doch nur die normalen Gerüche des Waldes brachte der schwache Wind mit sich. Keine Katze, kein getigerter Wolf.

Außer mir hatte niemand dieses Vieh gesehen. Kovu hatte zwar noch den Geruch mitbekommen, war dann aber k.o. gegangen, bevor er hatte einen Blick riskieren können. Dieses Biest war auch nicht mehr zurückgekommen, nur sein Geruch hing nach wie vor auf der Lichtung.

Kovu schnaubte. „Ich glaube, du verwechselst mich mit dir, Julica.“

Sie zog nur eine Augenbraue nach oben und überwachte dann weiter unseren Weg. „Da sieht man mal, wie hart er auf den Kopf gefallen ist.“

Kovu zeigte ihr die Zähne.

Ich verstand nicht, wie der Kleine darüber Scherze machen konnte, er wäre schließlich fast gestorben! Noch immer fühlten sich meine Augen verweint an, noch immer nagte die Schuld an mir und er torkelte an meiner Hand und machte schlechte Witze. Aber vielleicht war das auch seine Art, mit dem Erlebten fertig zu werden. Konnte sich ja nicht jeder wie ich, in einer alten Baumhöhle verkriechen und vor Angst zittern.

Julica hob die Nase zum Wittern in die Luft und führte uns dann mir einem „Hier lang“ tiefer in den Wald. Sie folgte der Fährte von unseren verlorenen Schäfchen.

Unbemerkt riskierte ich einen Blick auf Veith und spürte fast schmerzhaft, wie er sich vor mir zurückzog. Seit wir auf die Lichtung gehetzt waren, hatte er nicht mehr das Wort an mich gerichtet, ja mich nicht mal mehr in meine Richtung geguckt. Sein Gesicht war komplett verschlossen, in seinen Augen stand die kalte Wut. Er hatte sich wieder ganz und gar in sich zurückgezogen und ich wusste, dass es meine Schuld war. Ich hatte seinen kleinen Bruder im Stich gelassen.

Eine Träne rollte mir über die Wange und ich wandte hastig den Blick ab, damit sie niemand bemerken konnte. Wenn Veith und ich jemals so etwas wie Freunde hätten werden können, hatte ich das nun völlig versaut und diese Tatsache tat so richtig weh.

Mit gelegentlich scherzhaften Kommentaren von Kovu, aber ansonsten schweigend, folgten wir Julica durch den Wald. Es dauerte nicht lange, da drang leises Weinen an mein Ohr und Pals beruhigende Stimme, die leise murmelte. Genau diese Tonlage hatte er auch am an Anfang unserer Bekanntschaft drauf gehabt. Vorsichtig, tastend und ich wusste, hier war etwas passiert.

Nur wenige Bäume mussten wir noch passieren, dann sah ich den vertrauten, roten Pelz von dem riesigen Wolf durch die Büsche schimmern. Zwei Schritte brachten uns aus dem Wald, direkt vor eine steile Klippe. Vor Überraschung machte ich einen Satz rückwärts, stolperte über einen dicken Ast und setzte mich auf meinen Hintern. Da ich Kovu nicht losließ, wurde er mit hinuntergezogen, genau wie Veith und beide landeten auf mir. Die Luft wurde mir aus den Lungen gedrückt. Irgendwer rammte mir seinen Elenbogen in die Seite, Kovu stöhnte vor Schmerz und Veith knurrte verärgert. Der große, böse Wolf brauchte einen Moment, um sich zurück auf die Beine zu arbeiten, zog dann den Kleinen von mir runter und setzte ihn neben mir ins trockene Laub.

Ich lag da auf dem Boden und fing einen ärgerlichen Blick von Veith auf. Jetzt war es offiziell, wir standen wieder am Anfang. Dieser kurze Augenkontakt tat so weh, dass ich nur noch mein Gesicht abwenden konnte. Vielleicht konnte ich meine Fehler nicht mehr gut machen, aber ich konnte wenigstens verhindern, dass er meinen Schmerz sah, von dem ich nicht mal genau wusste, warum er so wehtat.

Meine Augen streiften den großen Roten, der mich mit einem unergründlichen Blick beobachtete und jetzt erst wurde ich mir so richtig meiner Umgebung bewusst. Wir saßen an einer steil abfallenden Klippe mitten im Wald, die nur mit spärlichem Gestrüpp bewachsen war. Der Wind heulte wie ein Wolf hindurch und zerrte an der kargen Landschaft.

Pal lag am Rand, einen weißen Welpen zwischen den großen Pfoten, der leise weinte. Den Kopf an Pals Brust vergraben, sah man nichts als einen weißen, bebenden Pelz, der scheinbar nicht mal hörte, wie Pal beruhigend auf ihn einredete.

Was war hier passiert? Wo kam der kleine Wolf her? War er es, der geschrien hatte?

„Wo ist Papá?“, fügte Veith meinen lautlosen Fragen noch eine weitere hinzu.

Ach ja, Tyge, wie hatte ich den nur vergessen können? Ich richtete mich auf, schaute mich suchen um, konnte ihn aber nirgends entdecken und dass, obwohl ich seinen Geruch in der Nase hatte. Lange konnte er noch nicht weg sein.

Ohne seine gemurmelten Worte zu unterbrechen, machte Pal mit der Schnauze eine ruckartige Bewegung Richtung Schlucht. Zuerst verstand ich nicht, was er damit sagen wollte, aber als Veith sich dann mit angespannten Schultern, dem Rand in den Abgrund näherte, entglitt mir nicht nur meine Gesichtsfarbe. „Er ist in der Schlucht?“, quiekte ich mit Mini-Mouse-Stimme. Scheiße, was war hier nur passiert?

Der kleine, weiße Wolf gab einen erstickten Schluchzer von sich.

Mich hielt nichts mehr an meinen Platz. Auf allen Vieren krabbelte ich neben Veith. Mir graute es vor dem Blick nach unten, doch ich konnte einfach nicht anders. Vorsichtig, ganz langsam ließ ich meinen Blick hinab gleiten und entdeckte Tyge ein paar Meter unter mir, auf einem Felsvorsprung. Unverletzt.

Er versuchte tiefer zu klettern und ich wollte schon anfahren, was er da unten zu suchen hatte und wie er es wagen konnte, mir einen solchen Schrecken einzujagen, das mir fast das Herz in die Hose rutschte, als ich die zweite, unbekannte Person entdeckte, besser gesagt einen Wolf – einen weißen Wolf. Der Körper sah … gebrochen aus und aus der Schnauze lief ihm eine rötliche Flüssigkeit. Ich glaubte nicht, dass dieser Wolf noch lebte, er wirkte einfach … tot.

Mein Blick wanderte zurück auf den weißen, bebenden Pelz und ich ahnte Übles.

„Hier riecht es nach Katze“, knurrte Julica und schlich an meine Seite, um auch einen Blick in die Tiefe zu werfen, aber im Gegensatz zu mir, wandte sie sich nicht gleich wieder ab.

Ich konnte dort kein zweites Mal hinunter gucken, wollte das kein zweites Mal sehen und konzentrierte mich stattdessen auf die Witterung an der Schlucht. Julica hatte Recht, auch hier roch es unnatürlich stark nach Katze, genau wie auf der Lichtung. „Der Tigerwolf war hier gewesen.“

Veith horchte auf, warf dann noch einen letzten Blick in die Tiefe und wandte sich dann ab. „Ich geh nachsehen, ob sich dieses Mistvieh hier noch irgendwo rumtreibt.“

„Warte.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus, auch wenn ich genau wusste, dass ich ihn nicht aufhalten konnte, wenn er nicht wollte, aber ich musste es wenigstens versuchen und als ich ihn an der Hand berührte, riss er sie nicht weg, sondern sah mich nur ausdruckslos an. Nervös leckte ich mir über die Lippen. „Du kannst nicht … du solltest nicht allein gehen.“ Nicht solange da draußen noch diese Bestie rumlief. „Ich will nicht … was, wenn dir etwas passiert?“

Der kalte Ausdruck in seinen Augen zog sich leicht zurück und als er mir dann auch noch über die Wange strich, wollte ich vor Freude jubeln. Er hatte sich nicht von mir abgewandt, oder? Nein, dann würde er sowas sicher nicht machen. „Mir passiert schon nichts“, waren seine einzigen Worte, dann wandte er sich ab, zog aus dem Rucksack auf meinem Rücken seinen Lendenschurz und tauchte damit in den Wald ein.

Ich biss mir auf die Lippen und verbot mir, aufzuspringen, um ihn hinterherzurennen. So ein sturer Esel! Glaubte der wirklich, dass ihm nichts passieren konnte, nur weil er es sagte? Der Wolf mit dem Tigerfell konnte genau hinter diesen Bäumen lauern und sonst was mit ihm anstellen.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Kovu leise, als könnte er meine Gedanken erraten. „Veith ist nicht leichtsinnig, er kann schon auf sich aufpassen.“

Das bezweifelte ich nicht, aber das Schicksal konnte grausam und hart zuschlagen und ich war nicht bereit an diesem Tag noch mehr Blut zu sehen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir nach diesem Tag neue Erkenntnisse haben würden, die uns helfen könnten, diese ganze Scheiße aufzuklären. Stattdessen hatten wir noch mehr Fragen, noch mehr Verschwundene, noch mehr Tote, einen Verletzten und einen Wolf im Tigerfell, der so unnatürlich nach Katze stank, dass einem davon die Sinne taub werden konnten.

Kovu berührte meine Hand. „Wirklich, du brauchst dir keinen Kopf machen.“

Wortlos zog ich meine Hand weg und erhob mich. Keinen Kopf machen? Der hatte gut reden. Wegen mir wäre er fast drauf gegangen und nun spazierte sein großer Bruder frisch fröhlich durch den Wald, als wäre das hier ein netter Sonntagnachmittag, an dem die Vögel in ihren Bäumen zwitscherten und nicht, als würde ein blutrünstiges Monster darin sein Unwesen treiben. Das war einfach … Moment. Ich stoppte meine Gedanken und spulte ein Stück zurück. Ein Monster trieb hier sein Unwesen, Es war ein Monster. Konnte es sein, dass Es der Tigerwolf war, das die dunkle Bedrohung aus meinen Träumen nun ein Gesicht bekommen hatte? Dann wäre es auch Es gewesen, der mich im Wald mit den zwei Toten überrascht hatte. Mein Geruchsinn war noch nicht gut genug gewesen, um etwas anderes, als die normalen Waldgerüche aufzunehmen, aber die anderen hatten doch gesagt, dass es dort nach Katze gerochen hatte. Dann hatten sich die beiden doch nicht gegenseitig umgebracht, aber dann passte Anwar wieder nicht ins Bild. Seit dieser Tigerwolf aufgetaucht war, rückte er immer mehr ins Abseits, aber das war falsch, ich wusste das einfach! Vielleicht war …

Ein erneutes Schluchzen von dem kleinen, weißen Wolf, zog meine Aufmerksamkeit zu Pal hinüber und jeder Gedanke an Monster und unheimliche Gestalten wurde von mir in den Hintergrund geschoben. Im Augenblick gab es einfach wichtigere Dinge.

Ich kniete mich zu Pal, strich dem großen Roten über den Kopf, zögerte aber, den Kleinen zu berühren. Immerhin wusste ich nicht, ob das willkommen und hilfreich war. „Was ist hier passiert?“

Pal schüttelte nur kurz den Kopf und schmiegte ihn dann in einer tröstenden Geste an den kleinen Wolf. „Ich weiß es nicht genau. Als Tyge und ich hier ankamen, kauerte die Kleine an der Schlucht und rief nach ihrem Großpapá. Ich hab sie mir nur gegriffen und vom Rand weggezogen. Tyge ist nach unten gekletterter, um zu gucken, ob …“ Er verstummte und zog das kleine Bündel mit seine Pfoten näher zu sich. Er brauchte den Satz auch gar nicht zu beenden, ich hatte schließlich gesehen, wie verkrümmt der weiße Wolf dort unten lag.

„Das war der Wolf, der nach Katze riecht“, kam es leise von dem weißen Fellball. Die Stimme war sehr jung, erstaunlich klar für diesen Moment. Ein Mädchen. „Großpapá folgte einer Fährte, wir hatten Hunger, da sprang der Katzenwolf aus dem Gebüsch. Großpapá hat sich erschreckt und ist einfach heruntergefallen.“ Irgendwo aus den Tiefen von Pals Brustfell, grub sich ein kleines Gesicht hervor. Zwei strahlend blaue Augen sahen zu mir herauf, Augen, wie ich sie noch nie bei einem Werwolf gesehen hatte. „Er hat keinen Ton von sich gegeben, ist nur runtergefallen und als ich dann geschrien hab, ist der Katzenwolf weggelaufen. Einfach weg und ich war allein.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. Feige Misttöle.

„Einfach runtergefallen und weg war er.“ Ein paar Tränen nässten das bereits feuchte, weiße Fell unter ihren Augen weiter auf. „Einfach weg“, murmelte sie und vergrub das Gesicht mit einem leisen Schluchzer wieder bei Pal.

Das Mädchen war völlig verstört. Kein Wunder, wo doch ihr Opa knapp außerhalb ihrer Reichweite tot auf dem Grund einer Schlucht lag. Ich sah mich nach Veith um, aber der war noch immer verschwunden. Wie lange war er nun schon weg, zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Es machte mich auf jeden Fall nervös, ihn allein dort draußen zu wissen.

Pal leckte der Kleinen über den Rücken, hob dann den Kopf und schaute Richtung Schlucht. Einen Moment später kam Tyge in Sicht, stemmte sich an dem Rand hoch und kletterte zurück auf den sicheren Untergrund. Hätte ich es nicht schon geahnt, dann würde mich spätestens der Ausdruck auf seinem Gesicht aufklären. Der Wolf war tot, da war nichts mehr zu machen.

Nun streckte ich doch die Hand aus und fuhr damit über das weiße Fell der Kleinen, auch wenn ich wusste, dass es nicht helfen würde. An meinen toten Bruder konnte ich mich nicht einmal wirklich erinnern, aber wenn ich an ihn dachte, tat es trotzdem weh. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was die Kleine in diesem Augenblick durchmachte.

Tyge kam zu uns, hockte sich neben mich und strich nun seinerseits über das weiße Fell. Behutsam versuchte er sie auszufragen, wollte wissen wo sie herkam, wie sie hieß und wo ihre Eltern waren, doch die einzigen Geräusche, die von ihr kamen, war das leise Weinen. Sie wollte nicht sprechen, wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen war und ich konnte es ihr nicht verübeln. 

Wieder ließ ich die Augen über die Umgebung gleiten, sah Julica neben Kovu sitzen und uns beobachten. Der Kleine hatte die Augen geschlossen und den Kopf leicht gesenkt, um den Schmerz in seinem Kopf so erträglicher zu machen.

Ein Bild seines großen Bruders schoss mir durch den Kopf, ein Bild, wie Veith irgendwo in diesem verfluchen Wald bewusstlos auf dem Boden lag und langsam aber sicher verblutete, weil niemand nach ihm suchte. Kam es mir nur so vor, oder war er mittlerweile schon ganz schön lange fort? Das gefiel mir nicht, ihn so allein da draußen zu wissen, bereitete mir ziemliches Unbehagen. Mit diesem Tigerwolf in der Nähe, wer wusste schon, was da passieren konnte? „Ich geh mal gucken, wo Veith ist“, teilte ich den anderen mit und erhob mich. Hier konnte ich im Moment sowieso nichts ausrichten und der Gedanke an Veith, wie er allein dort draußen war, ließ mir einfach keine Ruhe.

Keiner hielt mich auf, aber Pal bedachte mich mit einem undeutbaren Blick, als ich in den Wald entschwand.

 

°°°

 

Ich fand Veith am Rand eines kleinen Teiches, unter einem ausladenden Baum, den ich nicht zu benennen wusste. Es war gar nicht weiter schwer gewesen, seiner Fährte hierher zu folgen. Er stand einfach da und starrte auf die Wasseroberfläche, die in der abendlichen Dämmerung verwunschen wirkte. Der Wind spielte mit seinem braunen Haar, wehte ihm die Strähnen in die Augen. Wie er da stand, wirkte er einsam, verloren, nicht so gefestigt wie sonst. Ich war mir sicher, dass er mich kommen hörte, aber er regierte nicht, blieb wo er war, nahm mich einfach nicht zur Kenntnis.

Kurz war ich sogar am überlegen, ob ich mich wieder zurückziehen sollte, aber er wirkte so einsam und verlassen, dass ich es nicht übers Herz brachte, einfach zu verschwinden und stattdessen an seine Seite trat. „Alles okay?“

„Nein.“ Kurz und knapp.

„Willst du darüber reden?“

„Nein.“ Er wandte mir kurz das Gesicht zu, strich sich dann fahrig übers Kinn und sah zurück aufs Wasser, ohne wirklich etwas zu sehen. Er hatte etwas Gehetztes an sich, etwas Ruheloses, was so gar nicht seinem Wesen entsprach und ihn so anders wirken ließ, irgendwie verletzlich. „Nein, will ich nicht. Ich will nicht darüber reden.“

Ich schwieg. Ich hätte sowieso nicht gewusst was ich sagen sollte, weil ich gar nicht wusste, was ihn genau bedrückte. War es noch wegen Kovu? Oder wegen den beiden weißen Wölfen? Vielleicht kam er auch einfach nicht damit klar, dass ihm die Bestie so kurz vor dem Ziel entkommen war. Er hatte sie um Haaresbreite verpasst, hätte all dem ein Ende machen können, wenn er nur schnell genug gewesen wäre. Einen Kerl wie Veith konnte das ganz schön belasten.

„Es war nicht deine Schuld“, sagte ich leise. Wie auch? Er konnte doch nicht für die Handlungen dieses Monsters.

In der Baumkrone über mir konnte ich ein paar Vögel zwitschern hören. Der Wind flüsterte durch das Geäst. Ein paar Grillen gaben ein spätes Konzert. Hier war es … friedlich, so ganz anders als dort hinten an der Schlucht.

„Es ist einfach, ich hatte Angst. Als du geschrien hast, hatte ich Angst“, sagte er unvermittelt und brachte mich damit völlig aus dem Konzept. Er war wegen mir so?

„Veith …“

Seine Geste mit der erhobenen Hand brachte mich augenblicklich wieder zum Schweigen. „Nein, sei still!“ Er drehte sich zu mir herum, stand ganz nahe vor mir, den stechenden Blick auf mich gerichtet. Er hob die Hand, als wollte er mich berühren, ließ sie dann aber kraftlos zurück an seine Seite fallen und ballte sie zur Faust. „Du verstehst nicht. Ich habe gesagt, ihr sollt da bleiben. Ich wusste, dass da etwas im Wald war und habe euch trotzdem zurück gelassen. Und dann hörte ich dich schreien und da wusste ich, dass was passiert ist. Und ich wusste, es war meine Schuld, weil ich gesagt habe ihr sollt warten. Du hast geschrien und ich hatte Angst. Es war meine Schuld, das mit Kovu und das …“

Ohne nachzudenken stellte ich mich auf die Zehenspitzen und verschloss seinen Mund mit meinem. In diesem Moment wusste ich nicht, was mich dazu bewog, aber es erschien mir genau richtig. Es war wahrscheinlich das Falscheste was ich tun konnte, doch es ging nicht anders. Er gab sich die Schuld für etwas, wofür er nichts konnte. Er hatte Angst um mich gehabt. Deswegen war er so verstört. Und dieser Kuss war meine Art ihn zu beruhigen, wie ich es mit Worten nicht hinbekommen hätte. Er sollte einfach nur wissen, was diese Worte mir bedeuteten, welche Wärme sie in mir auslösten.

Doch es war nur ein kurzer Kuss. Ich ließ von ihm ab, als von ihm keinerlei Regung kam. Einen Moment sahen wir uns einfach nur in die Augen, forschten im Gesicht des jeweils anderen, nach dem, was wir zu erwarten hatten. Dann plötzlich drückte er mich mit seinem ganzen Körper gegen den Baum und seine Lippen lagen auf meinen, eroberten mich, gaben und nahmen. Es gab kein Zögern, keine Unsicherheit und keine Sanftheit. Es war wie ein Feuer, heiß, hungrig, erbarmungslos, das mich bis in mein Innerstes brennen ließ. Er wusste genau, was er da tat und er wusste, dass ich es wollte. Vielleicht nur in diesem Augenblick, aber der Wunsch war da – bei uns beiden.

Meine Hände vergruben sich in seinen Haaren – so viel weicher als sein Fell –, während seine forschend über meine Taille strichen, mein Rücken hinauf und hinunter fuhren und meine Haut zum Summen brachten. Mein Puls rauschte mir in den Ohren, in meinem Magen tanzten Schmetterlinge Tango. Es zählte nichts als seine nächste Berührung, wie er mit den Lippen über mein Kinn strich, hinab zu meinem Hals und dabei eine Spur aus feuriger Lava zurück ließ.

Sein Mund streifte mein Oberteil und er knurrte unwillig. „Warum trägst du dieses Ding?“

„Schamgefühl?“

Seine Finger griffen entschlossen nach dem Haken in meinem Nacken.

„Hey, was …“

Bevor ich meinen Protest beenden konnte, verschloss er meinen Mund mit seinem. Ich spürte kaum, wie er mir den Schal von der Schulter fegte, merkte erst was er getan hatte, als seine Lippen sich von meinen lösten, zu meinem Schlüsselbein wanderten und ich seine Hand an meinem Schenkel fühlte. Er zog mein Bein nach oben, drängte sich enger an mich, genau gegen meine Mitte und ich verging für einen Moment in diesem Gefühl. Es war … sowas hatte ich noch nie gefühlt, es war unglaublich.

Meine Hände entwickelten ein Eigenleben, tasteten die muskulösen Arme nach, fühlen die straffe, feste Haute und als seine Lippen über meinen Puls strichen, warf ich völlig willenlos den Kopf in den Nacken. Mehr als diesen Moment zu genießen, ihn näher an mich zu ziehen und seine Hitze zu fühlen, war einfach nicht drin.

Ohne es zu beabsichtigen, schnurrte ich plötzlich und dass er daraufhin knurrte und mir sanft, aber bestimmt in die Schulter biss, nur um die Stelle anschließend zu küssen, löste etwas sehr weibliches in mir aus. Das war einfach …

Jemand räusperte sich.

Überrascht riss ich die Augen auf und entdeckte Julica, die in ein paar Metern Entfernung stand und uns mit hochgezogener Augenbraue und aufgestellten Ohren beobachte.

Scheiße! Mehr gab es an dieser Stelle nicht zu sagen. „Veith.“ War das meine Stimme, die so rau und atemlos klang?

Er brummte und arbeite sich an meinem Hals hinauf. Seine Hand spreizte sich auf meinen Oberschenkel und setzte damit jedes Nervenende in mir in Brand. Dass wir nicht mehr allein waren, bemerkte er nicht einmal, so beschäftigt war er. Ich würde ihm ja gerne folgen und einfach wieder den Kopf abschalten, besonders als er sich noch enger gegen mich drückte und ich seine Erregung mehr als deutlich spüren konnte – aber doch bitte nicht vor Publikum!

Als seine Zähne sich sanft in meine Schulter gruben, schlossen sich mein Augenlieder flatternd, ohne dass ich etwas dagegen hätte unternehmen können. Scheiße! „Warte, halt.“

Veith dachte nicht im Traum daran, auf irgendetwas zu warten.

Mist. Ich musste das hier beenden, jetzt auf der Stelle, auch wenn alles in mir schrie, es zu lassen und Julica zu ignorieren. Sie würde schon irgendwann gehen. Veiths wandernde Hände machten die ganze Angelegenheit auch nicht viel einfacher für mich. „Veith, hör auf.“

Er tat es nicht.

Ich stieß ihm sehr nachdrücklich gegen die Brust. „Veith, Stopp!“

Er hörte auf, wenn auch sehr widerwillig und mit seinen Lippen verschwand das wohlige Gefühl. Fragend richtete er den Blick auf mich, doch er bemerkte dass ich ihn gar nicht beachtete, sondern etwas hinter ihm. Er folgte meinem Blick, ließ sich aber nicht anmerken, ob er überrascht oder verärgert über die Anwesenheit der schwarzen Wölfin war. Er rückte nicht ab, oder tat sonst was, wartete einfach.

Und dann schien Veith sich der Situation bewusst zu werden, in der wie uns befanden – er und ich und Julica, wir und der Eindringling. Langsam und sehr bedächtig atmete er aus, ließ er mein Bein zurück auf den Boden gleiten und trat einen Schritt zurück. Ich schaffte es noch im letzten Moment mein Oberteil aufzufangen, bevor es sich ganz verabschieden konnte und hakte es wieder im Nacken zusammen. War es hier so heiß, oder lag das an mir? Gott, ich musste vor Scham ganz rot angelaufen sein.

Julica versuchte erfolglos ihre Belustigung zu verbergen. „Tut mir leid euch unterbrechen zu müssen, aber Tyge möchte bald aufbrechen und ich sollte euch holen.“

„Wir kommen gleich.“ Veith, völlig ruhig und entspannt, als wäre nichts gewesen.

„Aber lass euch nicht zu viel Zeit, sonst kommt Tyge und holt euch selber, Testiculus.“ Das letzte Wort betonte sie sehr nachdrücklich und rief mir damit wieder das in Erinnerung, was Kovu einmal zu mir erzählt hatte. Er hatte das Zölibat gewählt, warum auch immer, aber es schien auch eine gewisse Pflicht damit verbunden zu sein, eine Pflicht, die dies hier verbot.

Julica drehte sich um und verschwand kurz darauf im Dickicht des Waldes.

Veith blieb einfach stehen und sah ihr nach, selbst als sie schon verschwunden war, wandte er sich nicht vom Waldrand ab, aber er wirkte jetzt deutlich angespannter, als noch … naja, vorher, wo wir jeglichen Sinn und Verstand ausgeschaltet hatten.

Dreh dich um, komm schon. Sag was, tu was, irgendwas. Er tat es und ich wünschte er hätte es nicht getan. Seine Mimik war … praktisch nicht vorhanden. So ausdruckslos wie bei unserer ersten Begegnung. Egal was gerade zwischen uns gewesen war, es war vorbei, bevor es hatte richtig anfangen können.

Er sagte nichts und so fühlte ich mich gezwungen, das Schweigen zwischen uns zu brechen, auch wenn es schmerzte, als würde ich ein Stück von meinem Herzchen mit rausreißen. „Ich … tut mir leid, da sind wohl meine Hormone ein wenig mit mir durchgegangen.“ Ich versuchte eine unbeschwerte Maske aufzusetzen, was dem Gefühl nach eher in einer Grimasse endete. „Es wird nicht wieder vorkommen.“ Eilig wandte ich mich ab und schritt davon. Erst als ich die ersten Bäume hinter mir gelassen hatte, begann ich zu rennen. Er versuchte nicht, mich aufzuhalten und das war wohl das Schlimmste daran.

 

°°°

 

Wütend wischte ich eine Träne von meiner Wange und stampfte mit einem kleinen Umweg zurück zur Schlucht. Die anderen mussten nicht sehen, in was für einem Zustand ich mich befand. Wie sollte ich das auch erklären?

Ich war wirklich dumm. Dümmer als dumm. Ein richtiger idiotischer Dummbeutel, mit einer extra Portion Dummheit obendrauf. Auf einmal stand mir alles klar vor Augen. Nach diesem Erlebnis wusste ich, warum ich in den letzten Tagen in Veiths Gegenwart ständig Herzrhythmusstörungen bekommen hatte: Ich hatte mich verknallt, ausgerechnet in Veith! Darum hatte es mich auch so gestört, dass er mich mit Pal in der Küche gesehen hatte, darum machte mein Herz immer diesen seltsamen Hüpfer, wenn er mich ansah und aus diesem Grund glaubte ich auch, dass nach seiner kalten Abfuhr in meiner Brust nichts als Scherben zurückgeblieben waren – jedenfalls fühlte es sich für mich so an.

Wie hatte das nur passieren können? Wann war es geschehen und warum ausgerechnet er? Nicht, dass ich jetzt eine Romanze gebrauchen könnte, aber da gab es noch so viele andere Kerle, allen voran Pal, aber nein, ich musste mir ausgerechnet den aussuchen, der im Zölibat lebte und schon vom ersten Moment nicht gut auf mich zu sprechen gewesen war. Zwar hatte sich unser Verhältnis in den letzten Tagen gebessert, aber sowas hätte nicht passieren sollen, nicht bei ihm! Und wie er mich angesehen hatte, dieser Blick, es tat schon weh, nur daran zu denken.

Was sollte ich den jetzt machen?

Eine weitere Träne bahnte sich ihren Weg in die Freiheit, nur um von mir mit einer ungeduldigen Bewegung weggewischt zu werden. Noch immer konnte ich seine Lippen auf meiner Haut spüren, seine Hände. Meine Nase war noch erfüllt mit seinen Geruch und das machte es nicht gerade leichter. Scheiße, das alles, diese ganze Situation war einfach nur Scheiße!

Als sich mir ein Schluchzen entrang, blieb ich stehen, vergrub das Gesicht in den Händen und gab meinen Tränen einen Moment Zeit. So konnte ich den anderen nicht unter die Augen treten. Sie würden wissen wollen, was geschehen war und das konnte ich ihnen ja wohl schlecht sagen. Klar, Julica hatte es gesehen, aber sie musste ja nicht noch mehr wissen. Ich wollte nicht, dass sie oder einer der anderen von meiner übergroßen Dummheit erfuhr. Nicht sie, nicht Pal, Tyge, oder Kovu und schon gar nicht Veith – er am allerwenigstens. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn er von meiner durchgedrehten Gefühlswelt erfuhr. Dass er nicht dasselbe empfand, war mir klar, ich hatte es in seinem letzten Blick gesehen. Für ihn war es etwas ganz anderes gewesen.

Klar, er lebte seit was wusste ich wie vielen Jahren im Zölibat und ich hatte mich ihm praktisch an den Hals geworfen, da waren die Triebe einfach mit ihm durchgegangen. Welcher Kerl konnte zu so einem Angebot schon nein sagen?

Mist, diese Gedanken machte es mir auch nicht gerade einfacher. Ich versuchte ihn und alles, was in der letzten halben Stunde geschehen war, aus meinem Kopf zu verbannen und ließ die Katze in mir raus. Die Magie lief über meine Haut, wandelte mich in ein Zwischenwesen, das es so noch nie gegeben hatte – zumindest nicht, wenn ich Gaares Worten Glauben schenkte. Zwar würde mich das Fell nicht von meinen Gefühlen befreien, aber es bot mir einen gewissen Schutz vor neugierigen Blicken. Ich konnte mich dahinter verstecken und wenn ich keinem so genau in die Augen sah, würde auch niemand merken, dass ich verheult war. Kein guter Plan, aber einen besseren hatte ich im Augenblick nicht. Ein letztes Mal wischte ich mir übers Gesicht und machte mich dann zur Schlucht auf.

Um nicht an Veith denken zu müssen, zählte ich meine Schritte. Es klappte nur mit mäßigem Erfolg. Erst als ich an der Schlucht ankam und den kleinen, weißen Wolf in Julicas Schnauze baumeln sah, konnte ich mich auf etwas anderes konzentrieren, aber nur, bis ich merkte, dass Veith noch nicht eingetroffen war – also ganze zwei Sekunden.

Tyge richtete sogleich seinen Blick auf mich. „Wo ist mein Sohn?“

Ich konnte nur hilflos mit den Schultern zucken und schnell den Blick abwenden, bevor jemand mitbekam, dass meine Augen schon wieder undicht wurden.

Tyge knurrte etwas und zog dann seinen Jüngsten auf die Beine. „Ich will, dass ihr ohne Umwege ins Lager geht.“

„Ja, das hast du bereits gesagt.“

„Keine Alleingänge.“ Er nahm seinen Sohn genau ins Visier. „Das meine ich ernst.“

„Ich habe es verstanden, schon bei den ersten fünf Malen“, grummelte der Kleine und trat zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Viel Glück.“

Etwas perplex runzelte ich die Stirn. „Ist mir irgendwas entgangen?“

„Papá schickt mich zurück ins Lager, deswegen.“ Er zeigte auf seinen verbundenen Kopf. „Julica soll den Aufpasser spielen.“

Und wieder brachen die Schuldgefühle über mir zusammen. Nur wegen mir, wurde er nun zurückgeschickt. Klar, er hätte eigentlich gar nicht hier sein dürfen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er wegen mir weggeschickt wurde. Okay, ich wusste, dass ich nicht direkt etwas für seine Verletzung konnte, andererseits waren wir nur wegen meiner Vermutungen unterwegs gewesen – die noch dazu vielleicht falsch waren. Ohne mich wäre keiner von diesen Wölfen heute hier.

„Hey, guck nicht so.“ Der Kleine zog mich in eine knochenbrecherische Umarmung und strich mir dann in einer vertrauten Geste über die Wange. „Ihr seht zu, dass ihr den Bösewicht den Arsch aufreißt und ich werde mich trollen und artig mit Julica und der Kleinen ins Lager gehen, wo ich mir meine Strafe bei Prisca abhole und mich anschließend von meinen Großmamás gesundpflegen lasse.“ Er lächelte schief. „Und nur damit du es weißt, ich glaube, du hast Recht, Anwar war es.“

Das ließ ein kleines Lächeln in meinem Gesicht entstehen, das sofort schwand, als Veith auf die Lichtung trat. Ich murmelte noch ein schnelles „komm gut nach Hause“, dann machte ich hastig kehrt und lief eilig in den Wald.

Vielleicht war es feige, dass ich mich einfach so aus dem Staub machte – was hieß hier vielleicht, ganz sicher sogar! –, aber ich konnte dem großen, bösen Wolf im Augenblick nicht unter die Augen treten, das war im Moment einfach zu viel verlangt. Nachher wieder, wenn ich mich richtig gefasst hatte, aber jetzt brauchte ich einfach ein wenig Zeit für mich allein, um über alles nachzudenken.

Ich nahm Anlauf und sprang in den nächsten Baum.

 

°°°°°

Tag 72

Die erste Sonne schickte sich bereits an, am Horizont aufzugehen und verteilte flüchtige Strahlen über die nächtliche Dunkelheit. Ich starrte in ihr schummriges Zwielicht und versuchte, in der Ruhe des Morgens Frieden zu finden – vergeblich. Mein Schädel brummte und dunkle Ringe zierten meine Augen, weil ich die ganze Nacht nicht hatte schlafen können. Daran war weniger die Tatsache schuld, dass ich hoch oben im Baum genächtigt hatte, als mehr mit dem hellbraunen Wolf dort unten, der sich in einem Knäuel neben Pal und Tyge zusammengerollt hatte. Ich hatte die Nacht einfach nicht bei ihnen schlafen können, nicht wenn ich Veith dabei wieder so nahe gewesen wäre. Dass ich nun hier oben auch kein Auge zugetan hatte, war der größte Witz an der Sache gewesen. Nicht, dass die Angst aus dem Baum zu fallen mich wachgehalten hätte, es waren einfach die Gedanken, die mir keine Ruhe ließen. Wie eine Endlosschleife kreisten sie in meinem Kopf.

Es war bereits Stunden her, ja eine ganze Nacht lag zwischen dem Kuss und dem Jetzt und trotzdem wusste ich immer noch nicht, wie ich mich Veith gegenüber nun verhalten sollte.

Natürlich hatten Tyge und Pal komisch geguckte, als ich ihnen mitteilte, dass ich nicht bei ihnen pennen würde, aber nach meiner Erklärung, dass ich nach dem gestrige Tag einfach ein bisschen für mich sein wollte, hatten sie nichts weiter dazu gesagt. Es war davon auszugehen, dass sie meine Ausrede glaubten, nur Veith wusste es besser und der hatte es einfach still akzeptiert. Was hatte ich auch anders erwartet?

Seufz.

„Talita?“

Bei Veiths leiser Stimme fiel ich vor Schreck fast aus dem Baum. Hastig griff ich nach dem nächsten Ast und verrenkte mir fast den Hals, als ich den Kopf eilig herumwirbelte. Es knackte laut, au. Das war bestimmt nicht gesund für meine Nackenwirbel.

Dort unten, neben dem Baum, stand Veith und blickte zu mir nach oben. Die anderen beiden schliefen noch, jedenfalls hatte es den Anschein. Geschlossene Augen, gleichmäßige Atmung, Tyge schnarchte sogar leise.

„Kannst du runterkommen? Ich möchte mit dir reden.“

Reden, klasse. Ich wollte nicht reden, im Moment war reden voll negativ. Was ich wollte war eine Wiederholung, die ich niemals bekommen würde. Seufz. Ich wandte den Kopf ab und blickte in meinen Schoß. „Ist schon okay, ich weiß dass es nur ein Ausrutscher war.“ Etwas das nie wieder passieren würde – leider. „Mach dir keinen Kopf darum.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln, bevor ich ihn wieder ansah und glaubte, davon einen Krampf im Gesicht zu bekommen. „Alles okay zwischen uns.“

„Nein, ist es nicht.“ Er neigte den Kopf auf eine sehr hündische Art leicht zur Seite. „Bitte komme herunter, ich möchte mit dir reden.“

Aber ich wollte nicht reden, das würde es nur noch schlimmer machen, da war ich mir sicher. Vergessen und einfach weiter machen wäre das Beste, aber nicht reden. „Veith, du brauchst dir wirklich keine Mühe geben, ich weiß, dass es nichts zu bedeuten hatte, es war einfach nur …“ Ich suchte nach dem richtigen Wort, aber da es mir nicht einfallen wollte, wandte ich einfach nur den Blick ab. „Es ist okay, wirklich.“

„Bitte, Talita, ich möchte mit dir sprechen.“

Mist, wie sollte ich ihm das ausschlagen? Sonst war er doch auch so wortkarg, bekam kaum den Mund auf, warum jetzt nicht? Das war ungerecht! Und doch erwischte ich mich, kaum eine Sekunde später dabei, wie ich mich von der Astgablung erhob und langsam herunterkletterte. Ich sah ihn nicht an, als ich unten ankam, weil ich nicht wusste, was sich in meinem Gesicht wiederspiegelte. Klar, das Fell und die katzenartigen Züge verdeckten einen Teil meiner Gefühle, aber nicht alles und ich wollte ihm auf keinen Fall zeigen, was mit mir los war, nur damit er mich dann abwimmeln konnte. Ich wusste auch so, dass mit mir etwas nicht stimmte – und damit meinte ich nicht nur meine Erinnerung und den ganzen anderen Kram.

„Komm mit.“ Veith trappe voran und ließ den kleinen Fleck, den wir uns für die Nacht ausgesucht hatten, schnell hinter sich. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Waldrand und weiter nach Sternheim, aber es war spät geworden und wir waren alle müde gewesen.

Nachdem ich noch einen schnellen Blick auf Pal und Tyge geworfen hatte, folgte ich ihm zögernd, aber die beiden schliefen immer noch den Schlaf der Gerechten. Die Glücklichen.

Ich sah Veith nicht, aber er hatte eine deutliche Fährte hinterlassen, der ich problemlos nachlaufen konnte. Der Wald war noch ziemlich ruhig, erwachte erst nach und nach zu neuem Leben. Es war noch dunkel und überall lauerten Schatten, in denen die Monster dieser Welt hockten. Ob der Tigerwolf auch noch im Wolfsbaumwald war? So genau wollte ich eigentlich gar nicht darüber nachdenken. Die Vorstellung allein war einfach … gruselig und trieb meinen Puls gleich wieder etwas höher. Nein, auf eine weitere Begegnung konnte ich wirklich verzichten.

Nicht weit entfernt fand ich Veith, wie er mit geschlossenen Augen an einem kleinen Bachlauf saß und auf die Geräusche der Natur lauschte. Irgendwie hatte ich bei seinem Anblick ein Gefühl von Déjà-vu. Das Wasser, die Bäume, Veith ganz allein. Nur war er dieses Mal ein Wolf und kein Mensch, das sollte wohl verhindern, dass ich wieder über ihn herfiel – oder er über mich.

Lautlos bewegte ich mich über den laubbedeckten Boden und ließ mich neben ihm am Bachufer nieder. Die Flüssigkeit wirkte in der Dunkelheit so schwarz wie Tinte. Ruhig und gleichmäßig floss er dahin. Der musste sich bestimmt nicht mit solchen Problemen wie ich rumplagen, wie auch, war ja nur ein Bach.

Oh Gott, ich musste wirklich an Schlafmangel leiden, wenn ich jetzt sogar schon einen Bach um seine Existenz beneidete. Ich war echt fertig mit mir und der Welt.

„Es tut mir leid, ich hätte das nicht tun dürfen“, murmelte Veith leise.

Meine Lippen drückten sich zu einer festen Linie zusammen. Ich hatte es doch gewusst, reden war der größte Käse, den die Menschheit jemals zustande gebracht hatte.

„Ich habe einen Schwur geleistet.“

„Testiculus“, flüsterte ich.

Er sah nicht überrascht aus, oder verärgert, nur nachdenklich.

„Kovu“, sagte ich, bevor er nachfragen konnte. „Er hat mir … ein paar Sachen erklärt.“

Es entstand eine kurze Pause.

„Das hätte er nicht tun dürfen“, kam es schlussendlich von Veith. „Der Testiculus gehört allein den Lykanern, keiner sonst darf von ihm wissen. Es ist …“

„Mach dir keine Sorgen, Kovu hat mir nicht gesagt, was das genau ist, sondern nur, dass du einer bist und deswegen nicht auf der Suche nach ´ner Freundin, oder nach … anderen Sachen bist.“ Pling und ich war feuerrot. Sich Veith in gewissen … Situationen vorzustellen, war nichts für einen niedrigen Blutdruck, nicht wenn ich gleichzeitig auch an den Kuss mit ihm denken musste und der hatte mir ordentlich eingeheizt. Ich riskierte einen Blick zur Seite, aber er sah mich nicht mal an. Veiths Augen waren auf den Wasserlauf gerichtet, als müsse er sich mit ein paar schweren Gedanken auseinandersetzten.

„Er hätte es dir nicht sagen dürfen.“

„Ich hab ihn dazu gedrängt.“ So mehr oder weniger.

Veith schüttelte den Kopf. „Das ist egal.“

„Keine Sorge, ich werde damit schon nicht hausieren gehen.“ Wem sollte ich es auch erzählen? Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass es dem Rest der Welt irgendwie interessierte, dass es da ein paar Lykaner gab, die aus irgendeinem Grund dem Sex entsagten und dafür auch noch ein zungenbrecherisches Wort hatten. „Ich werde es niemanden sagen, dass du keine … niemanden suchst.“

„Darum geht es hier gar nicht“, kam es grob von ihm. „Es ist nicht … es …“ Er schüttelte den Kopf, als müsste er einen lästigen Gedanken loswerden und seufzte einmal tief durch. „Talita, ein Testiculus zu sein ist sowohl eine Ehre, als auch eine Pflicht. Ich habe mich dafür entschieden, weil … weil … es ist das Richtige für mich. Was gestern geschehen ist, hätte mir nicht passieren dürfen, es ist eine Schande. Ich habe einen Weg gewählt, von dem ich nicht abweichen darf. Es ist das einzig Richtige für mich.“

Ich horchte auf. Irgendwie hörten sich die Worte eher so an, als wollte er sich selber davon überzeugen und nicht mich. Was hatte das zu bedeuten?

„Es ist das Richtige“, wiederholte er leiser. „Der Testiculus ist mein Weg und daran wird sich auch nicht ändern.“

Meine Hand zuckte, als wolle sie ihn berühren, aber ich zwang mich, sie bei mir zu behalten, wickelte sie um meine Beine, damit sie etwas zu tun hatte. Irgendwie kam es mir im Augenblick nicht richtig vor, ihn zu berühren, nicht nachdem, was zwischen uns gewesen war.

Als wenn da etwas war, spottete ein Stimmchen in meinem Kopf. Ich kniff die Lippen fest zusammen. Ein Kuss, nur ein einziger Kuss war es gewesen. Das war nicht die Welt, aber … ja, dieses Aber. Ich hätte das nicht tun sollen, wurde mir klar. Ohne diesen Kuss wären wie irgendwann einfach wieder unserer Wege gegangen, aber so? Jetzt war das nicht mehr möglich. So jedenfalls kam es mir vor. Wie sollte ich auch einfach gehen, jetzt, wo ich wusste, was mein Herz wollte?

So saßen wir eine Zeitlang da, hingen unseren Gedanken nach und beobachteten das langsame Aufgehen der ersten Sonne. Das Schweigen war … unangenehm, aber irgendwie bekam keiner von uns beiden den Mund auf. Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen? Das wäre vermutlich das Klügste gewesen, aber ich schaffte es einfach nicht, meinen Hintern vom Boden zu lösen, ihn zu verlassen, wenn auch nur, um zu den anderen zu gehen.

„Es tut mir leid, Talita, ich möchte nicht, dass sich zwischen uns etwas ändert, nicht deswegen.“

„Willst du mir damit sagen, dass du mich magst?“ Nur halt nicht so, wie ich es gerne hätte.

„Ja.“

Nur ein einfaches Wort, doch es sagte alles und gleichzeitig doch gar nichts. „Ich habe bereits gesagt, dass zwischen uns alles okay ist.“

Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite, den Blick eindringlich auf mich gerichtet. „Warum nur kann ich dir deine Worte nicht glauben?“

Wahrscheinlich weil sie erstunken und erlogen waren. „Weil du von Natur aus sehr misstrauisch bist?“ Auch ich neigte den Kopf.

Lange sah Veith mich einfach nur an und ich konnte in diesem Blick einfach nur versinken, doch ich verbot es mir – hier zu einem Häufchen Wachs zusammenzuschmelzen wäre wohl ein deutlicher Beweis gegen meine Worte. „Wusstest du, dass dein linkes Auge zuckt, wenn du lügst?“

Ähm …  nein, das war mir neu. „So, tut es das?“

Darauf bekam ich keine Antwort. Ich wollte auch keine, da es eine rhetorische Frage gewesen war. Trotzdem überkam mich mal wieder das Bedürfnis mich zu erklären – auch wenn ich dazu eigentlich überhaupt keinen Grund hatte. „Der Kuss hat mir gefallen“, gab ich zu und hoffte, dass ich nicht so rot war, wie ich mich fühlte. Hoffentlich verbarg das Zwielicht des Morgens das Meiste. „Das ist alles.“ Ich wich seinem Blick aus. Mann, warum fühlte ich mich plötzlich nackter als unter der Dusche?

„Auch mir hat er gefallen“, gab Veith zögernd zu und ich dachte mich trifft der Schlag. Veith redete über seine Gefühle? Wo war das fliegende Schwein? „Aber es wird keine Wiederholung geben.“

Ah, da hinten war es ja und stürzte gerade in halsbrecherischer Geschwindigkeit dem Boden entgegen. Heute Abend würde es wohl Spanferkel geben. „Das habe ich mir bereits gedacht.“ Ich zog meine Knie fester an mich und bettete den Kopf darauf. Alles, was er gesagt hatte, wusste ich bereits vorher. Naja, bis auf die Tatsache, dass ihm der Kuss gefallen hatte. Gegen meinen Willen schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Wenn ich nur herausbekam, was ein Testiculus genau war, wenn ich ihm zeigen würde, dass es auch noch einen anderen Weg gab und wenn ich ihn dazu bringen könnte, dass auch sein Herz ein wenig schneller schlug, wenn er mich sah, dann würde ich vielleicht … was? Ihn dazu bringen mich auch zu lieben?

Wach auf Talita, das ist nichts als ein Wunschtraum.

Wahrscheinlich. Veith würde niemand zu etwas bringen, dass er nicht auch selber so wollte. Er musste von sich aus kommen und bis das passierte, würden Schweine wirklich fliegen können.

Als Veith seinen hellbraunen Schädel an meinen Arm schmiegte, sah ich ihn etwas verdattert an. Was war denn nun schon wieder los?

„Du solltest dich hinlegen und ein wenig schlafen.“

„Ich glaub nicht, dass ich jetzt schlafen kann.“ Denn auch wenn ich die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, kreisten die Gedanken noch immer wild in meinem Kopf und ließen mich einfach nicht zur Ruhe kommen. Und mit ihm neben mir, war es auch nicht viel einfacher.

„Versuch es.“ Er stupste mich mit der Nase an. „Ich bleibe bei dir.“

Als wenn das mir helfen würde. Dennoch lehnte ich mich an Veith, als er sich neben mir lang machte, vergrub meine Hände in seinem dichten Fell, sog sein Geruch ein, als wäre es meine ganz persönliche Droge und genoss seinen Herzschlag unter seiner Wärme. Vielleicht würde ich ihm nie so nahe kommen, wie ich es mir im Augenblick wünschte, aber das hier war immer noch besser als gar nichts.

Ich schloss die Augen und mit seiner gleichmäßigen Wärme unter mir schaffte ich es wirklich noch ein paar Stunden wegzudämmern – genau wie er.

Es kam mir vor, als seien nur Minuten vergangen, als Pal uns mit einem seltsam nachdenklichen Blick weckte – dabei hatten wir mehrere Stunden geschlafen. Sogar die zweite Sonne stand schon am Himmel und die hatte immer ein wenig Verspätung.

Der Weg nach Sternheim war irgendwie bedrückt. Nicht nur zwischen mir und Veith herrschte eine seltsame Spannung – denn trotz des kleinen Gesprächs wussten wir nicht recht, wie wir miteinander umgehen sollten –, auch Pal war irgendwie komisch, viel verschlossener und zurückhaltender als sonst. Klar, er war nicht so ein aufdringlicher Scherzkeks wie Kovu, eher nachdenklich, aber nie so verschlossen. Das kannte ich von ihm gar nicht und ich mochte es nicht, aber auch nach mehrmaligen Versuchen ein lockeres Gespräch vom Zaun zu brechen, verhielt er sich nicht anders. Irgendwann gab ich es einfach auf und kehrte an der Seite der drei Lykaner zurück auf Anwars Anwesen, in der Hoffnung, dass uns irgendeine Spur in die Hände fallen würde, die uns endlich den rettenden Hinweis auf die verschwundenen Werwölfe geben könnte. Nur leider war ich mir nicht mal mehr sicher, ob der Wesensmeister von Sternheim wirklich in die Sache involviert war.

Dieser ganze Ausflug war wirklich nichts anderes als ein Griff ins Klo gewesen. Nicht nur, dass wir verwirrter denn je waren, nein, auch zwischen mir und den Wölfen hatte sich die ganze Mentalität verändert.

Das gefiel mir nicht.

Absolut nicht.

 

°°°

 

Mit dem Märchenbuch von Gaare im Schoß, saß ich bei ihm in der Bibliothek in der Sitzecke unter der Treppe und wartete darauf, dass er endlich die Plätzchen servierte, damit wir reden konnten.

Die Sache mit den Lykanern war nicht das einzige Anliegen, dass mir am Herzchen lag. Auch wenn ich in den letzten Tagen so beschäftigt war, so hatte ich keineswegs das Märchen der kleinen Hexe vergessen und auch wenn ich mir im Moment den Kopf über andere Dinge zerbrechen sollte, wollte ich unbedingt mit Gaare darüber sprechen und wissen was er dazu zu sagen hatte. Schließlich war es schon ein paar Tage her, dass wir uns gesehen hatten und bei unserem letzten Treffen war er schwer beschäftigt gewesen. Zeit genug für ihn, um etwas herauszufinden.

Hoffend und zugleich bangend, wartete ich ungeduldig. Was, wenn das wieder eine Sackgasse war? Was, wenn nicht? Eines jedoch stand jedenfalls fest, ich konnte nicht gehen, ehe die Sache mit den verschwundenen Lykanern geklärt war.

Oder doch?

Verdammt, was wenn ich nicht zurück konnte? Oder wenn es nur eine Chance für mich gab? Und warum verteufelt noch mal, taten sich mir jeden Tag neue Fragen auf, wenn ich zu den alten nicht einmal Antworten hatte? Das war doch einfach nur zum Haare raufen!

Das Leder der Couch knarzte leise, als Gaare sich schwerfällig darauf nieder ließ und den Teller mit den Plätzchen auf den Tisch stellte.

„Hast du was rausbekommen?“, fragte ich ohne weitere Umschweife. Ich musste es einfach endlich wissen. Das wäre der erste richtige Hinweis auf meiner Herkunft, ein kleines Stückchen Vergangenheit – irgendwie.

Gaare lächelte nachsichtig. „Ja, ich denke, dass ich etwas herausgefunden habe.“ Er nahm sich einen Keks und knabberte genüsslich eine Ecke davon ab, während ich hier auf heißen Kohlen saß und ihm das Ding am liebsten aus der Hand geschlagen hätte. Musste er mich so auf die Folter spannen?

„Und?“

Mit einem Bissen verschwand der ganze Keks in seinem Mund. Dann lehnte er seinen knochigen Körper gegen die gepolsterte Lehne, schlug die Beine übereinander und kaute in Ruhe, als hätte er alle Zeit der Welt. Erst als ich anfing, ihn mit Blicken zu erdolchen, bemerkte er wohl, dass ich heute nicht sonderlich geduldig war. Wie auch? Erst die missglückte Versammlung, dann das kleine Mädchen und ihr Opa und zum Schluss auch noch die Sache mit Veith. Das konnte einem alles schon ziemlich aufs Gemüt schlagen.

Gaare schluckte und richtete seinen bebrillten Blick dann auf mich. „Diese Bibliothek beherbergt nicht nur Schriften der Magier musst du wissen, auch das geschrieben Wort anderer Wesen ist hier vertreten. So auch die Schriften der Engel Raphael, Michael, Gabriel und Uriel.“

Moment, hatte ich das richtig verstanden? Meinte er wirklich diese vier Engel? „Redest du von den vier Erzengeln?“

„Erzengel?“ Er runzelte die Stirn. „Dieses Wort ist mir nicht geläufig.“

„Erzengel sind …“ Ja, was waren Erzengel eigentlich genau? „Naja, besonders machtvolle Engel, würde ich sagen. Sie haben in der Religion der Menschen einen hohen Stellenwert und sind, glaube ich, auch in der Hierarchie der Engel ziemlich weit oben. Nur Gott steht über ihnen.“

„Wer ist Gott?“

Ähm, war ich nicht eigentlich hier, um Antworten zu bekommen? „Das ist der Boss der Vier.“ Kurz und bündig, könnten wir jetzt wieder zu meinem Anliegen kommen? Bitte?

Gaare nickte verstehend. „Ihr nennt Hexen also Gott.“

„Ich … äh … was?“ Klar und deutlich. Nur Fragezeichen die um meinen Kopf schwebten, könnten meine Verwirrung noch deutlicher zeigen. Aber ich sollte das nicht zu laut schreien, hier war alles möglich.

„Raphael, Michael, Gabriel und Uriel gehörten der Hexe Enola“, erklärte Gaare. „Sie waren ihr hörig, trugen das alte Zeichen der Hexen. Daher nahmen sie ihre Macht.“

Ich wusste, dass ich nicht fragen sollte, weil wir damit noch weiter vom eigentlichen Thema abschweiften aber ich musste einfach. „Das alte Zeichen?“

Er nickte. „Du weißt, wie das Zeichen der Hexen aussieht?“

Jetzt war es an mir zu nicken. Ha, ich wusste mal was!

„Das alte Zeichen war diesem sehr ähnlich, nur das der Stern früher nur eine Zacke nach oben trug, heute sind es zwei.“

„Gut und Böse.“

Gaares Blick bekam etwas nachsichtiges, als hielte er mich für völlig plemplem. Nicht sehr nett. „Ich denke, dass es weniger mit der Philosophie ihres Lebens zusammenhing, als mehr mit der Macht. Hexen tun nichts ohne einen bestimmten Grund. Wenn sie ihr Zeichen umdrehen, kann das nur mit Herrschaft, Stärke und Einfluss kovariieren.“

Äh … „Bitte was?“ 

Gaare schmunzelte. „Einhergehen, zusammenhängen.“

Ah. „Sag da doch gleich.“

Das überging er einfach. „Wie dem auch sei. Ich besitze ein paar Schriften dieser vier Engel, verfasst von der Hexe Enola, in denen die Rede davon ist, dass sie auf Geheiß ihrer Herrin durch einen Schleier in eine andere Welt gingen. Es wird nicht erklärt, was sie hinter dem Schleier taten, noch, was sich dahinter verbarg. Die Texte sind sowieso sehr verschlüsselt und unverständlich, was daran liegen mag, das Hexen ihre Geheimnisse gerne für sich behalten, aber ich bin durch meine Erfahrung wohl in der Lage, auch zwischen den Zeilen zu lesen.“

Das glaubte ich ihm aufs Wort. „Und das heißt im Klartext?“

„Das heißt, das Enola die Engel durch ein Portal in eine andere Welt schickte. Es ist ein Synonym zu dem Märchen, Jenseits des Spiegels.“

„Damit meinst du, dass es noch mehr belegte Geschichten gibt, in denen Wesen durch dieses Portal in eine andere Welt gehen?“, fragte ich hibbelig. Hieß das, dass ich nicht die Einzige war?

„Durch diese Portale“, verbesserte er mich – Mehrzahl. „Und in eine nicht magische Welt, aber keine davon ist belegt, es sind alles nur Erzählungen.“

Meine Aufregung fiel ein bisschen in sich zusammen. „Das heißt, sie sind frei erfunden?“

„Das glaube ich nicht. Dafür habe ich einfach zu viele solcher Texte gesichtet, alle ein wenig abgewandelt, mache sehr ungenau, aber sie alle stimmen in den Kernpunkten übereinander. Ein Portal – das zum Teil direkt als Spiegel beschrieben wird – in eine andere Welt. Hexen, die die Macht dazu besitzen, es zu erschaffen und nie wird erwähnt, was die Wesen auf der anderen Seite gesehen und erlebt haben, was damit zusammenhängen könnte, dass sie ihre Erinnerungen auf der Reise zwischen den Welten verlieren.“

„So wie bei mir“, flüsterte ich, als mir klar, wurde, was er mir damit sagen wollte. Es war genau wie bei mir. Ein Portal und keine Erinnerungen, nur dass ich keine Hexe hatte, die mich auf diese Reise schickte – davon zumindest ging ich aus.

„Ich denke, die Macht ist zu stark und die Bilder der Vergangenheit werden einem beim Übergang einfach entrissen, aber warum das so ist, kann ich dir nicht sagen.“ Nachdenklich verzog er die Lippen. „Deine Ausflüge in den Korridor der Erinnerungen würden das auch unterlegen. Die Bilder, die dir das Vergangene zeigen sollten, sind alle fehlerhaft, kaputt, wenn du so willst, als wenn eine starke Macht daran gerissen und sie beschädigt hätte. Nur Bruchstücke sind davon noch übrig geblieben.“

„Weswegen wir jetzt auch hier sitzen.“

Wieder nickte er. „In den letzten Tagen bin ich alles durchgegangen, was ich zu dem Thema habe finden können und zu einem ganz einfachen Ergebnis gekommen.“

Jetzt wurde es spannend. „Und was für ein Ergebnis ist das?“

„Dass wir ein Portal finden müssen, um dich zurück nach Hause zu schicken.“

Das war alles? So einfach? Deswegen hatte er mich die ganze Zeit so auf die Folter gespannt? „Du glaubst also, es gibt noch andere Portale?“ Gott sei Dank und ich hatte schon befürchtet, den einzigen existierenden Durchgang zerstört zu haben, weil ich meinen Dickschädel reingerammt hatte. Hätte mich bei meinem Glück nicht besonders gewundert.

„Es ist zumindest sehr wahrscheinlich.“

Nur wahrscheinlich? Das hörte sich in meinen Ohren nicht ganz so gut an. „Und wo wäre deiner Vermutung nach, so ein Portal am wahrscheinlichsten zu finden?“

„Bei den Hexen, wo sonst?“

Ja, wo sonst.

„In den Kindermärchen ging es um eine Hexe, genau wie bei den Geschichten um die vier Engel und ich habe bereits vor vielen Jahren gelernt, das in allem ein Körnchen Wahrheit enthalten ist. Außerdem besitzen die Hexen durch ihr Zeichen eine Macht, von der die Magier nur träumen können. Ich denke, dass allein das Zeichen der Hexen die Macht besitzt, ein Individuum durch ein Portal zu führen.“

Wie von selbst, legte sich meine Hand auf meine Tätowierung. Das Zeichen der Hexen, ein Pentagramm. Sollte das heißen, dass ich nur durch den Spiegel gefallen war, weil ich dieses Tattoo besaß? Die Frage lag mir schon auf der Zunge, aber ich unterdrückte sie. Gaare wusste bis heute nichts von dem Bild auf meiner Schulter und ich fürchtete mich irgendwie davor, es ihm zu zeigen. Nicht, dass ich glaubte, dass er mir etwas tun würde, aber mir stand noch lebhaft vor Augen, wie die Werwölfe darauf reagiert hatten – besonders Veith.

„Ich habe mich bereits mit einem Hexenzirkel in Verbindung gesetzt“, erzählte er weiter, ohne auf meine seltsame Geste einzugehen.

Schnell nahm ich meine Hand herunter. Ich musste ihn ja nicht unnötig darauf aufmerksam machen.

„Aber bisher haben sie noch nicht auf meine Anfrage reagiert“, fuhr er fort. „Wie ich die Hexen kenne, werden sie sich erst mal beraten, aber sie sind sehr neugierig. Ich bin mir sicher, dass sie sich bei mir melden werden, um mein Anliegen in Erfahrung zu bringen.“

Mit den Fingern fuhr ich über den ledernen Einband des Märchenbuches, sah die verschnörkelten Verzierungen darauf und versuchte mir klar zu werden, was das für mich bedeutete. „Das heißt, ich kann wieder nach Hause.“ Dieser Gedanke war so unglaublich, dass ich ihn kaum in Worte zu fassen wagte. Sollte ich nun wirklich einen Weg gefunden haben, der mich zurückbrachte?

„Wenn sie ein Portal besitzen und es uns zur Verfügung stellen.“

Irgendwie wusste ich nicht, ob ich mich darüber freuen sollte, oder es doch besser war, in tiefen Depressionen zu verfallen. Nach Hause. Irgendwie hatte das für mich nicht mehr die Bedeutung, die es haben sollte. Nicht nur, dass ich mich in der Zwischenzeit hier eingelebt hatte und es mir auch gefiel – manchmal zumindest – nach Hause waren für mich auch irgendwie Fremdwörter geworden. Ich konnte mit ihnen einfach nichts in Verbindung bringen. „Würde ich meine Erinnerungen zurückbekommen, wenn ich durch ein Portal gehe?“

„Das weiß ich leider nicht.“

Natürlich nicht, woher denn auch. „Und was ist mit euch? Mit dir und den anderen?“ Mit Veith. „Würde ich euch alle vergessen?“

„Das glaube ich nicht.“ Er lehnte sich vor und stützte die Arme auf die Beine. „In dem Märchen Jenseits des Spiegels wir erzählt, dass die kleine Hexe einen Weg nach Hause suchte, nach der Welt, nach der sie sich sehnte, nach der Familie und den Freunden, die sie dort zurückgelassen hat. Sie kann sich nur nach etwas sehnen, an dass sie sich erinnern kann.“

Sollte das jetzt heißen, dass es besser wäre hier zu bleiben, weil es in der anderen Welt nichts gab, nach dem ich mich sehnte? Oder würde mich nach meiner Rückkehr in meine Welt irgendwann das Verlangen übermannen, wieder in die magische Welt zu kommen, weil ich mich an sie sehr wohl erinnern konnte?

Gaare, der mein Schweigen falsch deutete, legte mir väterlich eine Hand aufs Bein und drückte es leicht. Seine pergamentartige Haut fühlte sich irgendwie rau an. „Mach dir keine Sorgen, meine Liebe, es gibt mehr als einen Hexenzirkel. Wenn dieser hier uns abweist, werden wir einen anderen finden der uns ein Tor in deine Welt zur Verfügung stellt. Vielleicht dauert es dann ein bisschen länger, aber du wirst in deine Welt zurückkehren können.“

Wollte ich das überhaupt noch?

 

°°°

 

Den Kopf voller Gedanken, trat ich aus der Bibliothek. Die Sicherheit, dass ich jetzt wusste, woher ich kam und wie ich dorthin wieder zurückkehren konnte, war für mich im Augenblick kein Grund zur Freude. Warum eigentlich nicht? Ich sollte Luftsprünge machen, ein kleines Tänzchen aufführen und die ganze Welt umarmen, aber da waren nur Unsicherheit und die Angst vor dem Unbekannten.

Die Gesichter der Lykaner tauchten vor meinem inneren Auge auf. Das war es, was mir jetzt vertraut war, was ich nicht fürchtete und was ich behalten wollte, weil es das Einzige war, was ich kannte. Djenan, Catlin, Feriin, Erion, ja sogar Kaj – obwohl ich wegen der nicht unbedingt hier bleiben wollte. Die Wesen dieser Welt. Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich mich nach meiner Rückkehr nicht an diese Leute erinnern könnte, aber wenn sie mir im Gedächtnis blieben, würde ich sie vermissen – besonders Veith. Ich kniff die Lippen zusammen.

Vielleicht war das im Moment nicht sonderlich gescheit – ganz bestimmt sogar –, aber die Sehnsucht nach dem Vertrauten, nach etwas, dass ich nicht haben konnte, trieb mich nach oben zum Zimmer der Werwölfe. Ich klopfte nicht mal an – machte die bei mir schließlich auch nie –, ging einfach hinein, in den Raum, der nur vom Dämmerlicht des Abends erhellt war.

Tyge, Pal und Veith saßen auf ihrem Deckenlager und unterbrachen ihr leises Gespräch auch nicht, als ich zu ihnen hineinschlüpfte. Ein kurzer Blick in meine Richtung war alles, womit sie meine Ankunft bedachten.

Das war es, was ich kannte, was mir vertraut war. Wollte ich das wirklich aufgeben, um an den Ort zu gehen, wo ich zwar geboren war, ich aber möglicherweise wieder komplett von vorn beginnen musste? Ich konnte mich nur zu gut daran erinnern, wie ich meine ersten Tage in dieser Welt verbracht hatte und das war nichts, was nach einer Wiederholung schrie. Andererseits wusste ich um die Welt, aus der ich stammte, zumindest im Kern, nur mich selber kannte ich dort nicht. Was sollte ich nur tun? Die ganze Zeit hatte ich nach Hause gewollt und jetzt wo dieser Weg zum Greifen nahe war, plagten mich Zweifel. Was sollte der Scheiß?

Ich gehörte hier nicht hin, meine Heimat lag in einer anderen Welt und dort war mein Platz. Mein Aufenthalt hier, war nur ein Umstand unglücklicher Vorkommnisse, eine Abweichung von meinem eigentlichen Weg und wenn ich erst wieder an den Ort kam, an den ich gehörte, würde alles wieder seinen gewohnten Pfaden folgen. Ich würde vergessen können was geschehen war und wieder ein normales Leben führen, in dem Werwölfe, Hexen und Magier nichts weiter als mystische Wesen waren, die der blühenden Fantasieder Menschen entsprungen waren. Ich würde wieder ein ganz normaler Mensch sein, so wie jeder andere dort auch.

Irgendwie war dieser Gedanke nicht besonders verlockend.

Pal hob fragend den Kopf, weil ich mich seit meinem Eintritt nicht von der Tür wegbewegt hatte und es wohl komisch aussah, wie ich da gedankenverloren rumstand und düster vor mich hin grübelte.

Ich schüttelte nur den Kopf, wollte jetzt nicht darüber sprechen, was mich so beschäftigte und setzte mich zu ihm, direkt auf seinen Schoß. Im ersten Moment war er doch ziemlich überrascht, dass ich ihm von mir aus so nahe kam, überwand diese aber schnell, als ich mich an ihn kuschelte, einfach nur, um etwas Vertrautes zu fühlen, etwas Greifbares, dass ich kannte.

Sanft legte er seine Arme um mich und drückte mich an sich.

Ich spürte seinen Herzschlag, roch den vertrauten Geruch. Warum sollte ich das alles zurücklassen, um an einem Ort zu gehen, wo alles Fremd sein würde?

Pal neigte den Kopf so, dass es mir ins Gesicht sehen konnte. „Was ist los?“

Da ich darüber nicht sprechen wollte – zumindest nicht im Augenblick –, schüttelte ich ein weiteres Mal meinen Kopf. Dabei fiel mein Blick auf Veith, dem wieder seine typische Falte zwischen den Augenbrauen stand, als er mich musterte. Passte es ihm nicht, dass ich mich zu Pal gesetzt hatte, oder fragte er sich einfach nur, was mit mir los war? Da ersteres nur Wunschdenken war, tippte ich auf zweiteres. „Worüber habt ihr gerade gesprochen?“

„Darüber, wie wir nun weiter vorgehen werden“, antwortete Tyge. „Nach dem Treffen mit den Rudeln stehen wir wieder ganz am Anfang.“ Er rieb sich übers Gesicht und seufzte schwer. „Mit Hijas Aussage müssen wir Anwar von der Liste der Verdächtigen streichen, was ein weiteren Aufenthalt in seinem Haus völlig unnötig macht.“

„Was?“ Mein Kopf wirbelte so schnell herum, dass mein Genick knackte – nicht schon wieder. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Klar, ich hatte gewusst, dass sie früher oder später gehen würden, aber doch nicht so schnell! „Ich könnt nicht gehen, es könnte noch immer Anwar gewesen sein. Vielleicht hat Hija sich ja getäuscht. Vielleicht … vielleicht war der Angriff auf sie ja gar nicht vom selben Täter und … und …“

„Talita.“ Er legte mir seine Hand auf dem Arm und sah mich so eindringlich an, dass ich sofort verstummte. Jetzt wusste ich, woher Veith das hatte. „Du musst einsehen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass Anwar etwas mit den Entführungen zu tun hat. Von Anfang an hatten wir nur deine Aussage, die uns hierher brachte, keine Beweise, keine …“

„Glaubst du etwa, dass ich mir das Ganze nur ausgedacht habe um euch herzulocken?“, fragte ich empört. Das konnte ich kaum glauben. „Warum sollte ich sowas tun?“

„Nein, das denke ich nicht“, sagte er, ohne auf meine zweite Frage einzugehen. „Ich glaube, dass du von deinen Ansichten überzeugt bist und teilweise waren sie ja auch stimmig, sonst wären wir niemals hierher gekommen, aber du musst langsam einsehen, dass du dich getäuscht haben könntest.“

Gar nichts musste ich einsehen. Ich wusste, dass ich recht hatte. „Anwar hasst die Lykaner aus tiefster Seele und würde nichts lieber tun, als euch alle abzuknallen. Du weißt dass es stimmt, was für Beweise brauchst du noch?“

„Und was ist mit dem getigerten Wolf? Was ist mit den Spuren, die wir gefunden haben, mit dem Katzengeruch. Nichts davon könnte Anwar zustande bringen.“

„Natürlich kann er. Er ist ein Magier und Magie ist sein Spezialgebiet. Damit kann man eine Menge anstellen.“

„Aber damit kann er sich nicht in etwas verwandeln, das er nicht ist“, versuchte er mich von seinen Ansichten zu überzeugen.

Ich wollte das nicht hören, er hatte Unrecht. „Vielleicht hat der Tigerwolf ja gar nichts damit zu tun“, konterte ich. „Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass es da, wo die Lykaner verschwunden sind, stark nach Katze gerochen hat und einen Geruch kann es sehr wohl manipulieren. Das habt ihr selber bereits getan, als wir in Anwars Büro eingebrochen sind. Wir haben nach Blümchen gerochen, warum also sollte es Anwar nicht gelingen, einen Fleck im Wald nach Katze riechen zu lassen?“

Tyge kniff die Lippen zusammen. „Das ist natürlich möglich, aber …“

„Oder wie erklärst du es dir sonst, dass er alles in seiner Macht stehende versucht, damit ihr nicht erfahrt, dass es da noch mehr verschwundene Lykaner gibt?“, quatschte ich dazwischen, ohne ihn ausreden zu lassen. Ich wollte seine Argumente nicht hören, weil ich wusste, dass ich recht hatte. Ich wusste es einfach und musste ihn dazu bringen mir zu glauben.

„Sie hat recht, Papá“, kam es von Veith. Er sah mich nicht an und trotzdem konnte ich mich nicht des Gefühls erwehren, dass er mir um meiner Willen zustimmte. Vielleicht unterlag ich aber auch einfach schon wieder nur Wunschträumen. „Wir dürfen ihre Augmente nicht außer Acht lassen, nur weil im Moment alles darauf hindeutet, dass Anwar unbeteiligt ist.“

Oh, vielen Dank auch. Das hieß dann wohl, dass er auch nicht mehr an meine Theorie glaubte. Naja, genaugenommen hatte er das von Anfang an nicht getan. Was hatte er noch gesagt, als ich vor Prisca gestanden hatte, um ihr meine Vermutung mitzuteilen? Es ist unstimmig. Scheinbar hatte sich an seiner Einstellung bis heute nichts geändert.

„Anwar ist nicht unbeteiligt“, beharrte ich. „Keine Ahnung wie er es macht, aber ich weiß, dass er damit zu tun hat, ich habe es einfach im Gefühl.“

„Aber könnte es denn nicht auch sein, dass du dich irrst?“

Das kam zu meiner Überraschung von Pal. Mit vielem hätte ich gerechnet, aber nicht damit, dass er mir in den Rücken fallen würde. Dieser Einwand hatte mich so sprachlos gemacht, dass ich zwar den Mund aufklappte, aber mir kein Wort über die Lippen kommen wollte. Wie kam es nur, dass plötzlich alle glaubten, dass ich eine überaus ausgefallene Fantasiehatte? Ich machte das doch nicht, weil ich nichts Besseres zu tun hatte, oder das Leben eines unschuldigen Mannes zerstören wollte, nur weil mir seine Nase nicht passte. Ich wusste einfach, dass Anwar daran beteiligt war. Er musste es sein, es war nicht möglich, dass ich mich die ganze Zeit geirrt hatte und einem Gespenst hinterhergerannt war.

Wirklich nicht?

Scheiße!

„Okay, wie ihr meint.“ Ich rutschte von Pals Schoß und funkelte ihn böse an, als er mich nicht loslassen wollte. Sie wollten, dass ich Unrecht hatte? Bitte, von mir aus. Mit erhobener Nase richtete ich mich auf und stolzierte zur Tür. „Ihr wollt gehen und gar nicht mehr die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Anwar etwas damit zu tun haben könnte? Dann bitte, ich werde euch sicher nicht aufhalten.“ Ich riss die Tür auf und knallte sie hinter mir wieder ins Schloss. Wenn sie sich verpissen wollten, ich würde sie nicht daran hindern.

Wütend stapfte ich den Flur entlang zu meinem Zimmer, wo ich ein weiteres Mal eine Tür knallen ließ. Als mir das nicht reichte, um meinem Frust zu befriedigen, öffnete ich sie noch einmal, nur um sie erneut zuzuschlagen. Dann stampfte ich zu meinem Bett und ließ mich verärgert darauf in den Schneidersitz fallen.

Diese dummen, sturen, total verblödeten Lykaner! Warum hatte ich mir eigentlich die Mühe gemacht ihnen zu helfen? Lykaner lebten nur für sich, sie wollten keine Hilfe von außerhalb, sie mochten niemand, der nicht so war wie sie. Wie also hatte ich so blöd sein können zu glauben, dass es bei mir anders sein könnte? Ich war ins Rudel reingerutscht? Den Teufel war ich! Ich gehörte nicht zu ihnen und würde es wohl auch niemals tun. Es war einfach nur dumm von mir zu glauben, dass sich etwa geändert hatte. Veith Worte waren egal, was sie alle gesagt hatten, war egal. Reden konnte man viel, wenn der Tag lang war, nur Taten zählten wirklich und was diese Hirnis taten veranschaulicht deutlich, dass ich nichts weiter als ein Endringlig war, der nur an ihrer Seite geduldet wurde.

Und für diese Idioten hatte ich wirklich überlegt, den einzigen Weg, der mich in die Heimat bringen könnte zu ignorieren? Ich war wirklich dümmer als dumm. Zwar verlangte es mich immer noch nicht sonderlich an meinen Geburtsort zurückzukehren, weil ich einfach nicht wusste, was mich dort erwarten würde, aber ich würde mit Sicherheit nicht wegen diesen Ignoranten hier bleiben. Niemals!

In diesem Moment wurde mir klarer als jemals zuvor, dass ich nicht hier hergehörte und es auch niemals tun würde. Ich war ein Mensch und Menschen gehörten in eine Welt ohne Magie. Das hier war nichts weiter als ein Zwischenstopp auf meinem Weg und die Lykaner würden in meiner Zukunft keine Rolle mehr spielen. Klar, es gab eine Menge Dinge – oder besser gesagt Personen –, die mich hier halten könnten, aber keine davon wollte es.

Ich war ihnen egal.

Beschlossen, bei der ersten sich bietenden Möglichkeit würde ich durch ein Portal gehen und dass alles hier einfach vergessen. Im Vergessen hatte ich schließlich genug Erfahrung und dann konnten sich diese störrischen Hunde allein mit ihren Problemen beschäftigen. Das war es schließlich auch, was sie wollten, ich würde den Teufel tun und sie weiter daran hindern. Nein, nicht mit mir, ich war mit diesen Schwachmaten fertig. Sollten sie doch in ihrer eigenen Suppe kochen, schließlich brockten sie sie sich mit ihrem Verhalten ja auch selber ein.

Ich verbot mir die aufsteigenden Schuldgefühle bei diesen Gedanken. Sie wollten es schließlich so und ich war nicht dazu fähig, daran etwas zu ändern. Das machten sie mir jeden Tag aufs Neue deutlich.

Ich köchelte immer noch wütend vor mich hin, als eine halbe Stunde später die Tür zu meinem Zimmer aufging.

„Raus!“, donnerte ich, bevor ich überhaupt sah, wer da war. Es war mir auch egal, sollten sie doch bleiben, wo der Pfeffer wuchs!

Natürlich wurde ich von meinem Besucher nicht beachtet. Veith trat in den Raum, schloss die Tür leise hinter sich und kam dann zu mir ans Bett. Als er sich darauf setzten wollte, drohte ich mit Blicken, die ihn eigentlich hätten tot umfallen lassen müssen, doch auch die wurden einfach ignoriert. Die Matratze senkte sich leicht unter seinem Gewicht und mir blieb nichts anders übrig, als ans andere Ende des Bettes zu rutschen, um wenigstens etwas Abstand zu wahren.

„Wir gehen nicht“, sagte er ganz direkt.

„Mir doch egal“, erwiderte ich und verfluchte mein pochendes Herz, das es bei den drei Worten vor Freude einen Hüpfer machte – ja fast einen Salto schlug. Ich wagte es nicht den Blick zu heben, wollte mich nicht von seinem Anblick besänftigen lassen und spielte stattdessen mit einem losen Faden an meiner Decke herum, den ich in meiner Wut einfach ausrupfte.

„Ich habe mit Papá gesprochen und wir haben uns entschlossen, dass wir uns an Anwars Fersen hängen werden, denn du hast Recht. Wir können deine Argumente nicht einfach ignorieren, nur weil es im Moment den Anschein hat, dass Anwar aus dem Schneider ist.“

„Schön für euch.“ Sollten sie doch machen was sie wollten, ich würde mich da nicht mehr mit reinziehen lassen.

„Hör auf damit.“

„Womit?“ Ich riss den Faden in zwei Teile. Dummes Ding, hielt das denn gar nichts aus?

„So zu tun, als würde dich das nicht interessieren.“

Als wenn ich nur so tat. „Es interessiert mich nicht mehr, ist eure Sache. Ich halte mich ab sofort da raus.“ So würde ich wenigstens noch das letzte bisschen Würde behalten können, dass ich nach dieser Schmach besaß.

„Sieh mich an.“

Aber sicher doch.

„Sieh mich an, Talita.“

„Verschwinde aus meinem Zimmer.“ Ich hatte im Moment echt keinen Bock mehr, seine Stimme zu hören, oder irgendetwas anderes, was mit diesen dummdussligen Kötern zu tun hatte.

Plötzlich steckte er sich übers Bett, packte mich am Arm und riss mich zu sich rüber.

Ich war so überrascht, dass ich mich erst gegen ihn wehrte, als er mich schon fast auf seinen Schoß gezogen hatte. „Hey, verdammt, nimm deine Pfoten von mir oder es klatscht!“ Wütend funkelte ich ihn an. Jetzt hatte er seinen Willen, jetzt sah ich ihn an. Ich hoffte er war zufrieden mit sich.

„Wir werden Anwar morgen den ganzen Tag folgen und du wirst uns begleiten.“

Sag mal … gab der mir da gerade Befehle? Das wurde ja immer besser! „Ach ja? Warum sollte ich das tun, weil ihr mich so überaus zuvorkommend behandelt?“

„Weil ich dich darum bitte.“

Das ließ mich mit dem zappeln aufhören und einen langen Blick in seine Augen werfen, die so völlig offen vor mir lagen.

„Bitte, Talita, hilf mir.“

Mir. Er hatte mir gesagt. Nicht uns im Sinne von uns Lykanern, sondern mir, im Sinne von mir, Veith. Und warum guckte er mich jetzt so an? Er hatte mir doch erst heute Morgen gesagt, dass es zwischen uns keine Wiederholung geben würde? Warum las ich dann in diesem Moment den wortlosen Wunsch in seinen Augen?

Weil du völlig vernarrt in den Kerl bist und dir im Augenblick nichts Schöneres vorstellen kannst?

Hastig wandte ich mein Gesicht ab. Gott, ich war wirklich sowas von im Arsch. „Warum sollte ich euch helfen? Nicht nur, dass ihr glaubt, ich habe einen an der Waffel und steigere mich da in etwas hinein, nein, ihr könntet doch auch einfach ohne mich gehen.“ Das würde es uns vermutlich allen einfacher machen. Ein klarer Schnitt, jeder ging seinen eigenen Weg. Warum nur musste es so wehtun, das zu denken? Verdammt!

„Du kennst dich in der Stadt besser aus.“

Aber sicher doch. „Und was ist der wirkliche Grund?“ Ich wusste nicht genau, was ich hören wollte und trotzdem bangte ich der Antwort entgegen.

Er machte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Die kleine Falte erschien auf seiner Stirn und Stille breitete sich zwischen uns aus. Er senkte den Blick auf seine Hand, die mich immer noch am Arm festhielt, als wollte er sichergehen, dass ich mich nicht einfach aus dem Staub machen konnte. Langsam, als müsste er sich dazu zwingen, öffneten sich seine Finger, aber anstatt seine Hand wegzunehmen, glitt sie auf meinem Arm hinunter auf meine und zog dort langsame Kreise über die Haut.

Verdammt, was sollte das? Warum tat er das, wenn er doch keine Wiederholung wollte? Vielleicht war es aber auch weniger das Wollen, als vielmehr das Dürfen, dass ihn daran hinderte, mich ein weiteres Mal gegen einen Baum zu drücken. Das und die Tatsache, dass es in meinem Zimmer keinen Baum gab. Aber die Matratze war doch auch sehr bequem.

Hör auf dir selber etwas vorzumachen, er denkt nur nach!

Wahrscheinlich.

„Ich möchte dich dabei haben“, rückte er dann irgendwann mit der Sprache raus und richtete seinen Blick mit der Genauigkeit eines Lasers auf mich. „Ich bitte dich mitzukommen, weil ich dich an unserer Seite wissen möchte.“

Unserer, nicht seiner, unserer. „Warum? Ihr glaubt mir doch sowieso nicht“, sagte ich bitter.

„Bitte, Talita, tu mir diesen Gefallen.“

Scheiße! Warum nur hatte ausgerechnet er in meinem Zimmer aufkreuzen müssen? Bei Tyge oder Pal wäre es mir nach diesen Worten bestimmt einfacher gefallen abzulehnen, aber so wie er mich ansah, wie konnte ich ihm da diese Bitte nur abschlagen? „Veith, ich weiß nicht …“

„Bitte.“

Mist. Ich seufzte schwer. Wo nur war meine verfluchte Wut abgeblieben, die eben noch wie das Höllenfeuer in mir getobt hatte? Warum nur reichte ein Blick von ihm, um meine Entscheidung ins Wanken zu bringen? Blöde Frage, weil ich mich in ihn verknallt hatte, darum. Das war doch echt zum Haare raufen. Hätte es nicht ein anderer sein können, zum Beispiel Djenan, oder wahlweise auch Erion? Nein, natürlich nicht, das wäre ja viel zu einfach gewesen. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass einer von den beiden so weiche Lippen hatte wie Veith.

Wie von selbst richtete sich mein Blick auf seinen Mund und ich konnte nichts dagegen tun, dass sich mir die Bilder unseres Kusses wieder in mein Gedächtnis drangen und sich meine Lippen leicht teilten.

„Sieh mich nicht so an“, sagte er sanft. „Ich darf das nicht.“

Ich wandte mich ab und kniff die Lippen zusammen. Natürlich durfte er es nicht. Aber wahrscheinlich war das sowieso nur eine Ausrede dafür, dass er es gar nicht wollte. „Tut mir leid, er war eben einfach nur so gut“, sagte ich leichthin. „Die Hormone.“

„Talita.“ Als ich nicht reagierte, nahm er mein Gesicht in die Hand und drehte es zu sich, so dass ich ihn ansehen musste. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Seufzer. „Wenn ich dürfte, würde ich es wieder tun. Du bist eine tolle Frau.“

Na toll, damit konnte ich ja jetzt etwas anfangen. „Und warum sagst du mir das?“ Wenn er es nicht tun würde, sollte er einfach nur die Klappe halten.

„Damit du nicht denkst, dass du mir nicht gefallen würdest.“

Oh bitte, was war das denn jetzt? Sollte ich das als Kompliment nehmen? Hieß das, ich hatte Glück, dass er sich erbarmt hatte, mich an seiner Heiligkeit teilhaben zu lassen?

Also eine Liebeserklärung war das bestimmt nicht gewesen.

Oh Mann, ich konnte mich nur wiederholen, ich war wirklich sowas von am Arsch. Dass er meinen Kuss erwidert hatte, bedeutete rein gar nichts. Welcher Kerl würde sich nicht darauf einlassen, wenn man sich ihm so an den Hals warf? Ich war ja nicht gerade hässlich und mehr als willig gewesen. Warum nur hatte ich das getan? Mir hätte doch gleich klar sein müssen, was geschehen würde. Ich und Veith? Das war genauso wie mit den fliegenden Schweinen – absturzgefährdet.

„Begleitest du uns nun?“

Da ich scheinbar masochistisch veranlagt war, gab es an dieser Stelle nur eine mögliche Antwort für mich. „Ja, klar, ich komme mit.“

„Danke.“

„Bitte gehe jetzt, ich will allein sein.“

Er zögerte.

„Bitte, Veith, lass mich einfach allein.“

„Okay.“ Er drückte meine Hand. „Aber wenn du noch rüberkommen möchtest, vergiss nie, du bist immer willkommen.“

Dazu sagte ich nichts, weil ich wusste, dass es nicht stimmte. Ich war nur solange willkommen, wie sie mich brauchten und blöd wie ich war, lechzte ich geradezu nach der wenigen Aufmerksamkeit, die ich bekommen konnte.

Veith erhob sich vom Bett und ließ mich allein in meinem Zimmer, allein mit meinen Gedanken und allein mit einer Sehnsucht, die nicht gestillt werden konnte.

Liebeskummer war echt scheiße.

 

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Tag 73

Fix und fertig – nicht nur vom Aussehen her – stand ich vor dem Spiegel, zupfte den Ärmel zurecht, der mein Tattoo verdeckte und schalt mich innerlich, dass ich hier nur noch stand, um Zeit zu schinden. Pal hatte mich schon vor über einer halben Stunde gerufen, damit wir endlich los konnten, aber nach dem gestrigen Tag, scheute es mich irgendwie, mich meinen Problemen zu stellen – wovon ich ja auch nicht gerade wenig hatte.

„Nun komm schon, du hast es versprochen“, redete ich mir gut zu und fragte mich gleichzeitig, warum ich das getan hatte. Wahrscheinlich lag es wirklich nur daran, dass Veith mich so unverblümt und offen darum gebeten hatte. Bitte, Talita, hilf mir. Das waren seine Worte gewesen, auch wenn ich nicht wirklich verstand, wie ich dabei helfen sollte. So wie es momentan aussah, machte ich alles nur noch komplizierter.

Ich schloss die Augen und sammelte mich. Was befürchtete ich eigentlich genau? Noch mehr kränken konnten sie mich nun wirklich nicht, sie zweifelten ja bereits an mir.

Es klopfte an der Tür.

„Ich komm ja gleich!“, fauchte ich. Nicht nur störrisch, sondern auch noch drängelnd – das konnte ich ja leiden.

Okay, Schluss jetzt mit kneifen. Es war ja nicht so, dass ich ihnen plötzlich nicht mehr helfen wollte, es war nur … naja, ich fühlte mich von ihnen nicht mehr ernst genommen, unzulänglich. Und dann war da auch noch Veith – was wohl hauptsächlich mein Problem war. Wenn er wenigstens so abweisend und wortkarg wie am Anfang wäre, würde ich ihn verfluchen können und mir einreden, dass er mich gar nicht verdiente. Ich könnte meine beschissenen Gefühle einfach verleugnen, aber so war es nicht. Leider. Dass er es mir damit noch schwerer machte, merkte er wahrscheinlich gar nicht.

Wie denn auch? Er weiß ja gar nicht, dass du ihn in Gedanken beinahe in dein Bett zerrst!

Nur um das mal festzuhalten, das war nicht wahr.

Nein, wirklich nicht.

Wieder klopfte es an der Tür.

„Ja verdammt, ich komm ja schon!“ Gott, waren die ungeduldig. Ich straffte die Schultern und ging zur Tür, nur leider stand dahinter keiner der Wölfe, sondern Erion. Mist aber auch, ich hatte den falschen angeranzt. Hätte mir eigentlich gleich klar sein müssen, dass es keiner der Lykaner war. Wann klopften die schließlich schon einmal an? „Oh, tut mir leid.“ Verlegen strich ich mir das kurze, blonde Haar hinters Ohr. „Ich dachte du wärst jemand anderes.“

„Das habe ich mir gedacht“, schmunzelte er. Aktuell trug er eine braune Robe, die bis auf den Boden reichte. Wenn er die Kapuze noch über den Kopf zog, könnte er glatt als Mönch durchgehen. Hinter ihm an der Wand lehnte Kaj mit überkreuzten Armen und undurchdringlichen Blick. Wir waren zwar immer noch keine Freunde geworden, aber wenigstens unterließ sie es in der Zwischenzeit, mich bei jeder nur bietenden Gelegenheit zu sticheln.

Ich schlüpfte in den Flur und nickte ihr zu, bevor ich mich an Erion wandte. „Was wolltest du denn?“

„Nur Bescheid sagen, dass Kaj und ich jetzt das Haus verlassen und voraussichtlich erst heute Abend wiederkommen. Mein Vater ist auch bereits außer Haus.“

Jetzt schon? Das war aber früh. „Wo ist er denn?“

Erion verengte die Augen leicht, als wüsste er, dass ich aus mehr als höflicher Neugierde fragte. Aber mal ehrlich, woher sollte er wissen, dass ich den Aufenthaltsort seines Vaters brauchte, um zu wissen, wo ich mich an seine Fersen heften musste, damit ich ihn verfolgen konnte? Gott, wie sich das anhörte, als sei ich in irgendeinem Spionagefilm gelandet. Ich sollte mir dringend andere Freunde suchen.

„Bei einem Geschäftsfrühstück im Assindia.“

Aha, sagte mir rein gar nichts. Ihn jetzt aber auch noch nach dem Standort zu fragen, würde dann wahrscheinlich doch zu auffällig sein. „Und wo gehst du jetzt hin?“ Ich schloss mich ihm und Kaj an, als sie sich auf dem Weg Richtung Haustür machten. Ich musste da sowieso lang und außerdem war es nicht so gruselig in Gesellschaft durch diese Flure zu laufen, von deren Wänden einen die ganzen toten Augen anstarrten.

„Wenn ich Glück habe, beherberge ich bald ein weiteres Stück für meine Sammlung.“ In seinen Augen leuchte diese Begierde auf, die er immer hatte, wenn er von seinen Stücken sprach. „Kaj und ich machen uns auf dem Weg, um die … Einzelheiten zu klären.“

„Einzelheiten?“ Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu, da es mich nicht wirklich interessierte. Ich hatte einen Geruch wahrgenommen, den Duft von dem großen, bösem Wolf, der hinter der nächsten Ecke lauerte – Wortwörtlich – und alle meine Sinne hatten sich wie von selbst auf ihn eingerichtet. Das grenzte ja fast schon an Besessenheit! Und dass alles nur wegen einem blöden Kuss, der so gut war, dass ich …

Schluss jetzt!

„Ja, es gibt noch einige Probleme. Ich muss noch etwas besorgen, um es zu bekommen.“

Er musste etwas besorgen, um etwas anderes zu bekommen? Geld oder was? „Aha.“ Jetzt drang auch noch seine leise Stimme an mein Ohr. Ich verstand nicht, was Veith da murmelte, doch den Klang hätte ich überall wiedererkannt.

„Aber es wird nicht mehr lange dauern und …“

Vielleicht war es unhöflich, aber sobald wir um die Ecke bogen und ich die drei Lykaner im Flur lümmeln sah – okay, nur Pal lümmelte, Tyge und Veith waren stolze Repräsentanten ihrer Spezies, die Kaj mit Blicken aufspießten, sobald diese in Sichtweite kam –, gab es nur noch eine Sache, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Hellbraunes Haar, gelben Augen, groß, muskulös, durchtrainiert, markantes Gesicht, kantiges Kinn, lange Narbe an der Hüfte. Hatte er gestern auch schon so gut ausgesehen? Verdammt, ich entwickelte mich hier langsam aber sicher in ein waschechtes Groupie. Ich war doch vorher nicht so auf ihn abgefahren, oder?

Mist, dass konnte doch nur in die Hose gehen. Zum Glück trug ich Lendenschurz, aber die Sauerei wäre sicher die gleiche. Gott, um was sich meine Gedanken schon wieder drehten, dass konnte doch echt keiner aushalten. Zum Glück für mich war es hier niemanden möglich, in meinem Kopf zu gucken – das wäre dann wirklich peinlich.

Pal machte mit dem Finger eine Geste, die ich nicht verstand, doch sie schien nicht nett gemeint zu sein, da Kaj anfing zu knurren und er sein halbe Lächeln bekam. „Na, nicht gleich so aggressiv, Hundchen.“

Jetzt zeigte sie ihm auch noch die Zähne. „Besser ein Hund, als sich wegen einer Katze zum Affen zu machen, nur um ein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen“, knurrte sie, wandte sich ab und dann stolzierte die schlanke Gestalt mit erhobenem, blonden Kopf davon.

Neben mir schmunzelte Erion. „Ich werde mich dann jetzt auch auf dem Weg machen. Wahrscheinlich werde ich zum Abendessen noch nicht zurück sein, aber Lewis ist ja da.“

Ich nickte.

„Ach ja, bevor ich es vergesse.“ Erion wollte Kaj schon hinterher, wandte sich dann aber noch einmal den Lykanern zu. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber es war die Rede davon gewesen, dass ihr nur ein paar Tage hier bleiben wollt, um einige Besorgungen zu erledigen.“ Seine Stimme triefte beinahe vor Spott. Ahnte er etwas? „Und mein Vater wird langsam ungehalten. Ich möchte euch zu nichts drängen, aber vielleicht solltet ihr langsam darüber nachdenken, wann ihr zu gehen gedenkt.“

Tyges Miene war wie die von Veith und Pal, mehr oder weniger versteinert. „Wir haben nicht mehr vor, lange  zu bleiben.“

Genaugenommen wären sie schon weg, wenn ich nicht gewesen wäre. Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander. Das dieses Thema schon wieder aufkam, wollte mir so gar nicht passen. Ich lebte schließlich auch in diesem Haus, da konnte Erion doch nicht einfach meine Freunde vor die Tür setzen, egal was Anwar sagte. Okay, natürlich konnte er das, schließlich hatte ich hier keine Rechte, aber ich wollte nicht, dass er es konnte. Mann, war das schon wieder kompliziert.

„Das freut mich zu hören.“ Damit wandte er sich endgültig ab und folgte der bereits verschwundenen Kaj hinaus aus dem Haus. Zurück blieben drei verärgerte Werwölfe und ein verschüchtertes Kätzchen.

„Er weiß es“, sagte Tyge. „Oder mutmaßt zumindest etwas.“

Pal neigte den Kopf. „Glaubst du?“

„Auf jeden Fall will er uns nicht länger hier haben“, kam es von Veith.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, doch als ich bemerkte, dass er mich ansah, wandte ich mich schnell wieder ab. Gaaanz große klasse, als wenn das nicht auffällig gewesen wäre. „Er hat mir erzählt, dass sein Papá ein Geschäftsfrühstück im  Assindia hat“, sagte ich, um das Thema zu wechseln. Ich wollte nicht länger darüber nachdenken, dass die drei mich auch bald verließen. Kovu und Julica waren schon weg, die drei wollte ich noch ein Weilchen behalten – ja, ich wusste, dass das dem widersprach, was ich noch gestern Abend gedacht hatte. Na und? Verklagt mich doch!

Pal nahm meine Hand und drückte sie. „Na dann, auf ins Vergnügen.“

Yippie-ya-yeah!

 

°°°

 

Ins Assindia zu kommen war leichter, als morgens den Weg vom Bett zum Klo zu finden, was ich allein Djenan zu verdanken hatte – also das mit dem Assindia, nicht das mit dem Klo. Ein Anruf in seinem Laden und fünf Minuten später war ich mit Pal im Taxi auf dem Weg zu unserem Opfer. Veith und Tyge wollten sich noch einmal im Stadtarchiv umsehen, was ich sowohl mit Erleichterung, als auch mit Verärgerung maß. Warum hatte Veith mich denn unbedingt dabei haben wollen, wenn er sowieso ´nen Abgang machte? Vielleicht wollte er ja nicht, dass Pal allein durch die Stadt zog und ich sollte nun seinen Babysitter spielen. Als wenn Pal den bräuchte. Eher spielte es wohl andersherum und Veith wollte, dass jemand ein Auge auf mich hatte – warum auch immer.

Und jetzt stand ich hier – oder besser gesagt kauerte – im Assindia im Gang zu den Klos und spähte um die Ecke. Mein Magen knurrte vernehmlich, bei den vielen, leckeren Gerüchen im Lokal und ich hätte mir in den Hintern treten können, dass ich heute Morgen nicht wenigstens ein Brot in  mich reingestopft hatte.

Pal tätschelte mit mitfühlend die Schulter und beugte sich über mich um die Ecke, um Anwar im Auge zu behalten. War nur zu hoffen, dass uns niemand so sah, denn wenn wir gefragt würden, was wir hier trieben, wäre Erklärungsnot das nächste, mit dem wir uns befassen müssten.

Durch die Hintertür waren wir in diese Lokalität gehuscht und hatten Anwar auch ziemlich schnell entdeckt. Er saß hinten in der Ecke an einem Tisch. In seiner Begleitung waren zwei Engelsmänner und eine … hm, ich hatte keine Ahnung, was das war. Die Frau hatte lange, blaue Haare, Schwimmhäute zwischen den Fingern und Fischaugen. Das sollte jetzt keine Beleidigung sein, es waren wirklich Fischaugen und wenn sie sich bewegte, glaubte ich Kiemen an ihrem Hals zu entdecken. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was sie darstellte, vielleicht eine Art Nixe, nur ohne Schwanz?

„Ich kann von hier aus nichts verstehen“, flüsterte Pal. „Wir müssen näher ran.

„Und wie sollen wir das bitte anstellen?“, flüsterte ich zurück. „Ist ja nicht so, als wenn er uns nicht erkennen würde, wenn er uns sieht.“

„Ich verwandle mich und schleiche näher.“

„Hier?“ Perplex drehte ich mich zu ihm um, wo ich gerade noch mitbekam, wie er seinen Lendenschurz einfach fallen ließ. Mitten in einem Lokal! Ich konnte es kaum fassen. Hastig drehte ich mich wieder weg, obwohl das eh schon zu spät war. Ich hatte bereits alles gesehen – und mit allem, meinte ich auch wirklich alles und das nicht zum ersten Mal. Mitten in einem Restaurant, ich konnte es immer noch nicht wirklich glauben. Diesen Lykanern sollte man wirklich mal ein Mittelmaß an Schamgefühl beibringen. So was ging mal gar nicht, erst recht nicht in meiner Gegenwart, aber das hatte sie ja noch nie gestört. Eigentlich hätte ich mich mittlerweile daran gewöhnt haben müssen, aber mir war das immer noch unangenehm. Musste wohl an meiner Erziehung liegen.

Der Geruch hinter mir veränderte sich, wurde tierischer, wilder und dann drückte sich eine feuchte Nase in meinen Arm. „Bis gleich.“

„Pass auf, dass er dich nicht sieht.“

„Ich werde mich klein wie eine Maus machen.“

Aber sicher doch. Als wenn dieser große, rote Wolf zu übersehen wäre. Ich biss die Zähne zusammen und verkniff mir einen weiteren Kommentar, als Pal in geduckter Haltung losschlich und schnell unter den ersten Tisch huschte, denn er erreichen konnte. Etwa fünf Meter entfernt und zum Glück unbesetzt. Ich atmete auf, aber nur, bis ich seine Nasenspitze auf der anderen Seite entdeckte und er unter den nächsten Tisch kroch, immer auf Anwar zu. Dabei nutzte er immer die Moment, in denen niemand in seine Richtung sah.

Kaum war er unter der Tischdecke verschwunden, als ein Kellner mit einem Tablett an ihm vorbeilief. Da er nicht mit ausgestrecktem Finger auf den Roten zeigte und anfing zu schreien, hatte er ihn wohl nicht gesehen.

Okay, so weit so gut. Ein Glück für uns, dass auch dieser Tisch frei war.

Ich verlagerte mein Gewicht leicht, weil meine Beine in dieser kauernden Haltung langsam einschliefen und schielte wieder um die Ecke, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie Pal unter einen Tisch verschwand, an dem drei Harpyien lautstark miteinander schnatterten. War der lebensmüde oder was?! Der war so groß, dass er gar nicht unbemerkt bleiben könnte. Wie wollte er sich denn zwischen den vielen Beinen zurechtfinden? Das ging doch gar nicht!

Nervös leckte ich mir über die Lippe. Harpyien hatten verflixt lange und scharfe Schnäbel und von den Krallen wollte ich besser gar nicht erst anfangen. Wenn die glaubten, dass Pal ihnen unter die Röcke guckte, dann wollte ich nicht in seiner Haut stecken.

So ging das weiter. Pal huschte von einem Tisch zum anderen, einmal wurde er dabei von einem kleinen Jungen gesehen, der bei seinem Anblick vor Freude jauchzte, aber da er schon verschwunden war, als seine Mutter sich umblickte, blieb er unentdeckt. Ich glaubte, ich stand hier hinten größere Ängste aus, als er selber. Bangen und hoffen. Und hin und wieder ein Fluch, aber so unglaublich es auch klang, Pal blieb unentdeckt. Schlussendlich saß er nur einen Tisch weiter von Anwar entfernt, zu den Fußen einer Waldnymphe, die völlig vertieft in ihre Morgenzeitung war. Das war für lange Zeit das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er versteckte sich und lauschte.

Ob er etwas rausbekam? Wenn Anwar wirklich etwas mit den verschwundenen Lykanern zu tun hatte – und nach gestern war ich mir da nicht mehr ganz so sicher –, dann würde er doch sicherlich nicht in einem Restaurant darüber reden, oder? Andererseits war er der Wesensmeister der Stadt, wer sollte ihm schon etwas können, wenn er sogar die Wächter steuern konnte?

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum, beobachtete Anwar, wie er völlig in Ruhe sein Frühstück verspeiste und danach einige Papiere aus seiner Tasche zog, die er seinen Begleitern reichte. Es wurde geredet, gelacht. Freundliche, nichtssagende Gesichter. Anwar reichte dem Engel mit dem blonden Haar die Hand, im gleichen Moment, in dem die Waldnymphe stutzte, verwirrt die Stirn runzelte und sich unter den Tisch beugen wollte.

Scheiße, sie hatte etwas gemerkt!

Bevor ich überhaupt wusste, was ich da tat, stieß ich einen lauten Schrei aus. Einen einfachen, spitzen Schrei, der die Aufmerksamkeit des gesamten Lokals in meine Richtung lenkte. Na klasse, jetzt wollte die Waldnymphe zwar nicht mehr unter den Tisch gucken, dafür aber sah Anwar zum Gang mit den Toiletten. Jetzt gab es nur noch eines, was ich tun konnte: Rückzug.

Schnell, bevor jemand meine Anwesenheit bemerkte und die Leute herbeigestürzt kamen, um zu gucken, wer hier geschrien hatte, huschte ich den Gang hinunter zurück zur Hintertür, stieß dabei fast mit einer Succubus zusammen und heizte aus dem Laden. Mist, Mist, Mist, MIST! Was sollte ich den jetzt machen? Hatte das Ablenkungsmanöver gereicht? Wie sollte Pal da jetzt rauskommen? Ich hatte nicht mal daran gedacht, seinen Lendenschurz mitzunehmen, scheiße!

Okay, ganz ruhig, tief durchatmen. Ich verbot mir in Panik zu verfallen, lief zur Straße vor dem Geschäft und postierte mich so, dass ich das Lokal gut im Auge hatte, selber aber nicht gesehen werden konnte. Im Inneren herrschte ein schwacher Aufruhe – wahrscheinlich suchten sie nach der Ursache des Schreies. Was mich aber mehr interessierte, war, wo Anwar war und wo Pal sich aufhielt. Jetzt waren die durchsichtigen Glasfassaden mal zu etwas nutze. Ich hatte einen klasse Einblick.

Anwar saß noch immer an seinem Tisch und wirke verärgert, weil ihm die Aufmerksamkeit seiner Tischgesellen entgangen war, die neugierig die Hälse reckten. Pal konnte ich nicht finden, egal wie sehr ich mich anstrengte. Hockte er noch unterm Tisch? Oder vielleicht unter einem anderen?

Ich streckte den Hals, beugte mich nach links, nach rechts, aber ich konnte ihn einfach nicht entdecken. Wo war …

„Suchst du mich?“

Als ich die Stimme an meinem Ohr hörte, machte ich vor Schreck einen Satz auf die Straße. Sofort wurde ich am Arm gepackt und zurück auf den Bürgersteig gerissen, gerade rechtzeitig, bevor das graue Moob mich erwischen konnte, das da angerast kam und mir laut hupend mitteilte, was es von der Aktion hielt. Wenigstens hatte ich keinen Unfall verursacht.

„Scheiße!“ Mein Herz schlug wie wild und das plötzliche Zittern in meinem Körper wollte sich einfach nicht beruhigen. Ich wäre gerade wirklich fast überfahren worden! „Scheiße“, wiederholte ich und schlug Pal gegen den Arm. „Erschreck mich nie wieder so!“

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass du gleich einen Satz vors nächste Moob machst, um deinem Leben ein vorzeitiges Ende zu bereiten.“

„Nicht witzig.“ Ich strich mir durch die Haare und atmete einmal tief durch. Das hätte echt ins Auge gehen können. „Überhaupt nicht witzig.“

„Hey.“ Pal berührte mich am Arm. Er hatte sich wieder zurückverwandelt und trug sogar seinen Lendenschurz. Wie war er aus dem verdammten Laden gekommen? „Tut mir leid, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.“

„Schon gut, vergiss es einfach.“ Ich warf einen Blick zum Lokal, deren Gäste sich allmählich beruhigten. Anwar saß immer noch an seinem Tisch. „Hast du was rausbekommen?“

„Ja, dass Bürokratie sterbenslangweilig ist.“ Er nahm meine Hand und strich beruhigend darüber. Wahrscheinlich sah man mir meinen Schreck noch an.

„Das heißt, er hat nichts Relevantes gesagt?“

„Nichts über die verschwundenen Lykaner.“

Wäre ja auch viel zu einfach gewesen. „Dann müssen wir ihm wohl weiter auf den Fersen bleiben.“ Ich sah zu ihm hoch, in diese stechend, gelben Augen. „Wie bist du rausgekommen?“

Ein leises Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Nach deinem Schrei – der mich übrigens auch erschreckt hat, nur um das mal festzuhalten – bin ich unter einen anderen Tisch gehuscht und als die Luft soweit wieder rein war, hab ich mich zurück in den Korridor geschlichen, mich zurückverwandelt und bin durch die Hintertür abgehauen. Ganz einfach.“

So wie er das sagte, hörte es sich wirklich einfach an, doch irgendwie konnte ich mir das nicht so ganz vorstellen. „Und ich habe schon darüber nachgedacht, wie ich dich da wieder rausbekomme.“

„Du brauchst dir keine Sorgen um mich machen.“ Seine Hand legte sich an mein Gesicht und strich sanft über die Wange. Ich schloss die Augen, als sich in mir ein Gefühl der Erleichterung ausbreitete. Er war heil da rausgekommen, ohne entdeckt worden zu sein. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Anwar mit ihm gemacht hätte, wenn er seine Anwesenheit bemerkt hätte. Nur zu deutlich stand mir noch sein magischer Ausbruch vor Augen, den er gehabt hatte, nachdem er von dem Steinbachrudel aufgesucht worden war.

„Jag mir bloß nie wieder so einen Schrecken ein.“

„Versprochen.“ Und so ernst, wie er es sagte, glaubte ich ihm das auch.

Ich schmiegte mein Gesicht noch kurz in seine Hand und wandte mich dann wieder dem Lokal zu.

Jetzt hieß es warten.

 

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Der Tag ging schon auf den Nachmittag zu, als ich mich mit Pal vor dem Ratsgebäude von Sternheim wiederfand. In ihm tagten die Parlamentäre des Hohen Rats, wie mir Pal mitteilte. Und so, wie es aussah, war Anwar einer von ihnen. Kein Wunder, dass er so viel Einfluss hatte.

Da wir aber nicht hineinkamen, mussten wir draußen dumm rumstehen, was ziemlich frustrierend war – besonders da wir den Rest des Tages auch nichts Hilfreiches herausgefunden hatten. Stunden war es nun schon her, dass wir das Assindia verlassen hatten, dass wir ihm durch die halbe Stadt gefolgt waren – einmal hatten wir ihn sogar kurz aus den Augen verloren –, aber nichts hatten wir entdeckt. Nicht mal einen Strafzettel wegen falschen Parkens, oder ein benutztes Taschentuch, das er widerrechtlich einfach auf die Straße geworfen hatte. Er schien wirklich genau das zu tun, was er uns glauben ließ: seinem Job als Wesensmeister. Das war mehr als nur enttäuschend. Langsam war ich mir selber nicht mehr sicher, ob ich mich nicht vielleicht doch in etwas hineingesteigert hatte. Zweifel war echter Mist.

Leider wurde es auch nicht besser, als es auf den Abend zuging. Anwar kam mit ein paar sehr vornehmen Leuten aus dem Gebäude, quatschte mit ihnen auf der Treppe ´ne Runde und stieg dann in seinen Moob. Das war schon das spannendste an der ganzen Verfolgung. Mutlos machten wir uns auf den Rückweg.

 

°°°

 

Die erste Sonne stand bereits tief am Himmel, als ich mich unter der kleine Baumgruppe im Garten wiederfand. Pal war direkt in der Küche verschwunden, teilte mir aber im gleichen Zug mit, dass ich ja nicht zu weit wegrennen bräuchte, da er mir gleich hinterherkäme. Das hieß dann so viel wie, dass ich keine Zeit für mich zum Nachdenken bekam. Dabei gab es so viel, worüber ich mir den Kopf zerbrechen müsste. Die ganze Sache mit mir und dem Spiegel, die Spuren – oder deren Nichtvorhandensein – die uns zu den verschwundenen Lykanern führen sollten. Dann natürlich die ganze Angelegenheit mit Veith und zu allem Überfluss würden meine drei Lykaner bald auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wenn wir nicht bald eine handfeste Spur fanden. Hatte ich etwas vergessen? Wenn ja, wen interessierte das schon.

Hinten in den Zwingern begannen die Zerberus` mit einem Kläffkonzert, dass das ganze Haus zum Wackeln brachte. Ich musste nicht einmal den Kopf heben, um zu wissen, dass Ghost mal wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nachkam.

„Ach hier steckst du.“ Mit einer Schachtel voller Kräcker erschien Pal zwischen den Bäumen und ließ sich neben mir ins Gras plumpsen. „Hey.“ Er schuckelte mich mit der Schulter an. „Guck nicht so, wir schaffen das schon. Es dauert halt nur ein wenig länger. Und Tyge und Veith sind ja auch noch nicht zurück, vielleicht haben die beiden ja etwas gefunden.“

Mehr als ein Seufzen bekam er dafür nicht von mir. Ich würde ihm so gerne glauben, doch mit jeder Minute, die ich länger über alles nachdachte, verblasste meine Hoffnung zusehends zu einem Schatten. Alles hatte so gut zusammengepasst, bis Hija auftauchen musste. Und dann auch noch dieser Wolf im Tigerfell. Wie passte das nur zusammen? Verdammt, ich konnte dieses Problem solange wälzen, wie ich wollte, ich kam einfach auf keinen grünen Zweig! Irgendwo in diesen ganzen Hinweisen musste die Lösung verborgen liegen, nur ich kam einfach nicht darauf, wie sie lautete. Irgendwas hatte ich übersehen, die entscheidende Spur war einfach an mir vorbeigegangen. Das war einfach nur noch frustrierend.

Verflucht noch mal, wo waren die verschwundenen Lykaner nur? Wo war Isla, wo war Lirana aus dem Felswolfrudel und der Mann, der direkt aus seinem Bett verschwunden war? Wo befand sich der Einzelläufer, der nicht zu seinem wöchentlichen Spieleabend aufgetaucht war? Wo waren die Dutzend  aus den anderen Rudeln und die ganze Einzelläufer? Die konnten sich doch nicht alle einfach so in Luft auflösen.

„Wenn du weiter so guckst, geht dieser Gesichtsausdruck vielleicht nie wieder weg“, teilte Pal mir mit und warf sich einen ganzen Kräcker auf einmal in den Mund.

„Wie gucke ich denn?“ Okay, fassen wir zusammen, vielleicht würde ich ja auf die Lösung kommen, wenn ich alles noch mal von vorn durchdachte. Erstens: Isla war ein paar Wochen bevor ich hier aufgetaucht war verschwunden. Überall hatte es nach Katze gerochen, aber ansonsten war ihr Aufenthaltsort, oder der Fluchtweg des Entführers nicht auszumachen gewesen.

„So als wolltest du Kraft deines Willens die Erde dazu bekommen, aufzubrechen.“

„Was?“ Obwohl, es war ja eigentlich noch gar nicht nachgewiesen, das Isla entführt wurde. Was, wenn sie und die anderen Wölfe – aus welchen Gründe auch immer – freiwillig gegangen waren? Aber warum sollten sie das tun?

Hör auf zu mutmaßen und halt dich an das was du weißt. Nur Fakten zählen!

Okay, also weiter im Text. Zweitens: Anwar mochte die Lykaner nicht, wollte sich am liebsten eine Trophäe von ihnen im Speisezimmer über den Kamin hängen. Drittens: Er tat alles, um die Lykaner im Unwissenden zu lassen. Ich runzelte die Stirn noch mehr. Warum eigentlich? Was hatte er davon, wenn die Lykaner nicht voneinander wussten?

„… eigentlich zu?“

„Hm?“ Ich wandte mich ihm zu. „Hast du was gesagt?“

„Ich sehe schon, nein.“ Er seufzte. „Deine Gedanken müssen ja echt spannend sein, wenn du es sogar ausblenden kannst, dass da eine Spinne auf deinem Bein rumkrabbelt.“

Ein kurzer Blick nach unten zeigte mir, dass da keine Spinne war, sondern Pals Hand, die so tat, als hätte sie ganz viele Krabbelbeinchen. „Ich denke nur noch mal über alles nach.“

„Du brauchst mal ´ne Pause.“

Das überging ich einfach. „Sag mal Pal, was hat Anwar davon, wenn ihr untereinander nicht wisst, dass so viele von euch vermisst werden?“

„Das wir nicht auf die Idee kommen, uns zusammen zu tun und ihn zu stürzen?“

„War das jetzt ´ne Frage, oder ´ne Antwort?“

„Beides.“ Er legte seine leere Kräckerschachtel weg, lehnte sich zurück an den Baumstamm und zog mich mit, bis mein Kopf an seiner Brust ruhte. Seine Hand fand ihren Weg zu meinen Haaren und spielte dort mit einzelnen Strähnen. Das kitzelte. „Manchmal sind Magier ein wenig paranoid. Wir haben Zähne und Krallen und sie denken, dass wir nur auf einen Grund warten, sie gegen sie einzusetzen.“

„Warum?“ Unter meinem Ohr konnte ich Pals gleichmäßigen Herzschlag hören, der nach meinem Ermessen ein wenig zu schnell war.

„Naja, früher war dies alles unser Land gewesen. Unsere Territorien waren viel größer. Als die ersten Magier hier ankamen, sprachen sie noch davon das Land zu teilen, friedlich unter uns zu leben.“ Er schnaubte. „Und die Lykaner waren so blöd, das wirklich zu glauben.“

„Das habe ich schon mal gehört.“ Wie war das noch gleich gewesen? „Sie kamen in euer Land und verdrängten euch. Wie bei den Indianern.“

„Was sind Indianer?“

„Uhreinwohner. Menschen denen das Gleiche passiert ist. Sie wurden von anderen Menschen herabgesetzt und unterdrückt, weil sie die falsche Hautfarbe und die falschen Lebensweisheiten hatten. Sie waren anders und deswegen mussten sie von ihrem Land weichen, weil ein anderer es haben wollte.“ Das stimmte zumindest im Kern.

„Also genau wie bei uns.“

„Hmh.“

Pal wandte den Kopf zum Haus. „Tyge und Veith sind zurück.“

Bei dem Namen Veith beschleunigte mein Herzschlag auf ein Maß, das nicht gesund sein konnte. Verdammt, das war schon das zweite meiner Probleme. Wie sollte ich das nur alles unter einen Hut bekommen?

Zusammen mit meinem Kopfkissen beobachtete ich, wie die beiden sich uns langsam über den Gartenweg näherten. Irgendwie wirkten ihre Gestalten in dieser Umgebung völlig fehl am Platz. Wenn man Veith und Tyge sah, dachte man an eine raue Wildnis und nicht an einen Garten voller Blümchen – auch wenn diese Blümchen hübsch waren.

Im Schneidersitz ließen die beiden sich bei uns nieder. Tyge sah müde aus, Veith verstimmt.

Schon bevor ich die Frage stellte, wusste ich die Antwort, aber ich musste sie trotzdem laut aussprechen, einfach um sicher zu gehen. „Habt ihr was gefunden?“

Ein abgespannt Kopfschütteln von Tyge. „Und ihr?“

„Nur die Erkenntnis, dass ich niemals Politiker werde“, kam es von Pal.

Im Dämmerlicht der ersten Sonne wurden unsere Gesichter in lange Schatten getaucht, die unsere Gemütsverfassung widerspiegelten. Ich wusste genau, was das heißt. „Jetzt gibt es keinen Grund mehr für euch hierzubleiben“, sagte ich traurig. „Ihr werdet gehen.“ Und mich damit ein weiteres Mal verlassen. Ich kniff die Lippen zusammen und verbot mir die Tränen, die plötzlich in meinem Augen brannten.

„Wir können hier nichts weiter tun“, erörterte Tyge und hörte sich dabei noch zerschlagener an, als er aussah. „Was wir suchen, werden wir hier nicht finden, egal, wie sehr wir es uns wünschen.“

Eine Hand berührte mich an der Wange, aber entgegen meiner Erwartungen, gehörte sie nicht zu Pal.

„Nicht weinen“, sagte Veith so sanft, wie ich es noch nie bei ihm gehört habe.

Verdammt, ich hatte mir doch gerade verboten zu heulen, wie konnte die Träne es da wagen aus meinem Auge zu laufen? Und nachdem Veith sie bemerkt hatte, wurde es sogar noch schlimmer. Wenn sie gingen, würde ich nicht nur meine einzigen Freunde verlieren, sondern auch den Kerl, bei dem mein dummes Herz immer schneller schlug. Ich würde sie nie wieder sehen, das wusste ich jetzt schon. Sie waren Lykaner, sie wollten keine Gesellschaft von außerhalb und außerdem würde ich bald in meine eigene Welt zurückkehren.

„Könnt ihr mich mal mit ihr allein lassen?“ Veith Worte klangen wie eine Frage, aber es war ein eindeutiger Befehl, hauptsächlich Richtung Pal, der sich sofort merklich anspannte.

Tyge erhob sich ohne ein Wort, Pal allerdings zögerte, aber nur solange, bis Veith ihn mit diesem Blick aufspießte, bei dem einem Angst und Bange werden konnte.

„Ich werde mir in der Küche noch eine Kleinigkeit besorgen“, kam es von dem Roten. „Soll ich dir auch etwas mitbringen?“

Ich schüttelte nur den Kopf. Nach Essen war mir nicht zumute, nur nach heulen und das tat ich ja bereits.

„Okay.“ Er drückte mich leicht von sich, folgte Tyges Beispiel und zurück blieb ich: ein Häufchen Elend am Fuße eines Baumes.

„Du weißt warum wir gehen müssen“, unterbrach Veith irgendwann die Stille zwischen uns.

Ich nickte nur, da ich meiner Stimme im Moment nicht traute und wischte mir mit dem Handrücken den Schnodder aus dem Gesicht. Das war sicher kein hübscher Anblick, aber im Moment konnte mir das egal sein. sie würden gehen und ich würde ihnen nicht folgen dürfen.

„Wir werden morgen früh aufbrechen.“

So schnell schon? Plötzlich war mir sehr kalt. Ich schlang die Arme um mich, aber es wollte nicht helfen, da diese Kälte nichts mit der Temperatur zu tun hatte. Wann war es nur geschehen, dass ich diese Bande von Nichtsnutzen so in mein Herz geschlossen hatte? Wir waren doch nur knapp zwei Wochen zusammen gewesen, wie hatte das passieren können?

„Talita.“ 

Als er seine Arme um mich schlang und mich an seine starke Brust zog, war es um mich geschehen, der Damm brach richtig. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass sie gehen würden, hatte gewusst, dass es zwischen Veith und mir niemals etwas werden konnte und trotzdem tat es weh. Es war, als würde ihr bevorstehender Aufbruch ein Stück aus mir herausreißen. Ich wollte sie nicht missen, ich wollte, dass sie bei mir blieben, aber ich wusste, dass sie das nicht tun würden.

„Schhh, nicht weinen.“ Ganz sanft schaukelte er mich, legte sein Kinn auf meinen Kopf und war mir auf eine Art nah, wie niemals zuvor. Das machte es nicht gerade einfacher, die Fluten in meinem Gesicht zu stoppen. Was sollte ich nur tun? Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust, aber auch das half nicht.

„Wir haben doch noch unsere Erinnerungen. In unseren Erinnerungen können wir uns sehen.“

Ich wusste, warum er mir das sagte, weil es unwahrscheinlich war, dass wir uns nach dem morgigen Tag noch einmal gegenüberstehen würden. „Ich werde zurück in meine Welt gehen“, sagte ich schwach.

„Und ich in die meine.“ Zurück zu seinem Rudel, das Leben das er kannte und liebte.

„Du musst Kovu von mir grüßen. Und Julica. Und die Drillinge. Und …“

„Ich werde alle von dir grüßen.“

Für einen Augenblick presste ich die Lippen aufeinander. „Ich möchte nicht, dass ihr geht.“ Ganz leise, nur ein Hauch, aber seine Arme schlossen sich fester um mich.

„Unsere Plätze sind an verschiedenen Orten.“

„Nur wenn wir das zulassen“, entschlüpfte es mir.

„Talita, wir können nicht …“

„Ich weiß.“ Nur machte es das nicht wirklich besser. „Ihr müsst zurück, die verschwundenen Werwölfe finden und ich muss … warten bis ich wieder nach Hause kann.“

„Du glaubst also immer noch an die Welt Jenseits des Spiegels?“

Ein schwaches Nicken. „Ich habe gestern mit Gaare gesprochen. Er glaubt, dass ich durch ein Portal der Hexen gefallen bin – was wahrscheinlich nur wegen meiner Tätowierung möglich war.“ Das zumindest hatte ich mir dazu gereimt. „Und jetzt müssen wir nur einen Zirkel finden, der uns ein Tor zur Verfügung stellt, das ich passieren kann.“

„Dann gehst du also wirklich.“

Seine Stimme hörte sich so betrübt an, dass ich einfach aufblicken musste, aber was ich sah, war einfach nur Veith, eine undurchdringliche Festung. Hatte ich mir diesen Unterton nur eingebildet? Wahrscheinlich.

Schweren Herzens rückte ich ein wenig von ihm fort und versuchte, die Spuren meines kleinen Zusammenbruchs mit der Hand wegzuwischen. Es half nicht viel. Meine Augen fühlten sich heiß und geschwollen an und die nächste Ladung Tränen saß schon in den Starlöchern, bereit mich jederzeit wieder zu blamieren. „Tut mir leid, dass ich dich vollgerotzt habe.“ Na ganz große Klasse, darauf hatte ich ihn jetzt wirklich noch aufmerksam machen müssen.

Veith hatte nicht mal ein Blick für seine tränenfeuchte Brust übrig, seine Augen lagen die ganze Zeit auf mir. „Ich möchte dir noch danken, dass du uns helfen wolltest.“

„Naja, war ja auch nicht ganz uneigennützig, wie?“ Ich lachte abgehackt. Es war kein fröhliches Geräusch. „Ich wollte euch wiedersehen und dass schien mir Vorwand genug, damit ihr mich nicht sofort wieder abweist. Nicht, dass du jetzt denkst, ich hab mir das ausgedacht, damit ich bei euch reinplatzen kann“, fügte ich schnell hinzu. Gott, was redete ich da eigentlich für ein Müll?

„Ich weiß, sowas würdest du nie tun.“

„Sicher?“

Statt mir eine Antwort zu geben, nahm er meine Hand, strich die einzelnen Finger und Glieder nach, ohne mir in die Augen zu sehen. Meine Sinne standen sofort stramm und schickten mir jede Berührung bis runter in die Zehen. Auf seiner Stirn entstand seine typische Falte, als er den Hubel an meinem kleinen Finger nachfühlte.

„Was ist?“

„Dein Finger, er war mal gebrochen.“

„Tatsächlich?“ Ich beugte mich nach vorn.

„Ja hier, siehst du diese kleine Beule? So etwas habe ich auch.“ Er zeigte mir seinen kleinen Finger. Genau wie meiner hatte er einen kleinen Huckel, der Finger war nicht ganz gerade. „Ich hab ihn mir als Welpe gebrochen. Pal hat Kovu geärgert, da hab ich ihn verhauen. Dabei ist das passiert.“

Er erzählte mir etwas über sich. Oh mein Gott! Er erzählte mir etwas über sich. Etwas privates, ganz freiwillig und ohne Druck. Jetzt bloß keinen Fehler machen. „Du warst also schon als kleiner Junge so ein beinharter Kerl“, neckte ich ihn.

Er ließ meine Hand los und sah zum Himmel hinauf. Die erste Sonne war bereits verschwunden und die zweite schickte sich nun auch an, für die heran brechende Nacht zu verschwinden. „Es ist spät, wir sollten wieder hineingehen.“

Und er hatte wieder dichtgemacht. Seufz. Aber wenigstens hatte er mir für einen kleinen Moment Einsicht in sich gegeben. Das war doch schon mal ein Fortschritt. Wenn ich Glück hatte, würde er mich in drei Jahren nicht mehr als Eindringling betrachten und in zehn war ich vielleicht eine gute Bekannte. Obwohl, das würde niemals eintreffen, da er morgen aus meinem Leben verschwinden würde. Zusammen mit den anderen. Wenigstens würden sie sich dieses Mal nicht einfach klammheimlich aus dem Staub machen. Na, das waren doch mal nette Aussichten.

Obwohl ich noch nicht rein wollte, erhob ich mich, als er aufstand und lief schweigend neben ihm ins Haus. Veith brachte mich sogar noch zu meinem Zimmer, aber dieses Mal lud er mich nicht ins Schlaflager der Werwölfe ein. Ich verstand, wir verabschiedeten uns bereits. Jede weitere Minute mit ihnen zusammen, würde es mir nur noch schwerer machen. Und trotzdem öffnete ich nicht die Tür, als wir davor standen und uns einfach nur ansahen. Ich wollte mich vorbeugen, wie ich es schon einmal getan hatte und für einen kurzen Moment glaubte ich, dass auch er es wollte, doch dann trat er einen Schritt vor mir zurück.

„Gute Nacht, Talita.“ Er drehte sich um und verschwand langsam den Korridor hinunter.

Ich blieb stehen, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte, bis ich hörte, dass er in seinem Zimmer verschwunden war, dann ging ich in mein eigenes. Einfach unter die Decke zu schlüpfen und zu heulen, hörte sich in meinen Ohren einen Moment lang sehr verlockend an, aber ich zwang meine Schritte ins Bad. Ich ging duschen, putzte mir die Zähne, kämmte meine Haare, zog Schlafzeug an und legte mich dann in mein Bett, das mir plötzlich viel zu groß vorkam. Keine Werwölfe, die sich heimlich in mein Zimmer schlichen, um mir meine Decke streitig zu machen, niemand mehr, der einfach die Tür öffnete, ohne um Erlaubnis zu fragen. Ab morgen waren sie weg, ich wieder allein.

Ich wollte weinen, aber die Quelle war versiegt.

 

°°°°°

Tag 74

Kennt ihr das, wenn ihr noch im Delirium vom Schlaf seid und das Gefühl habt beobachtet zu werden? So ging es mir in dieser Nacht. Ich spürte diesen Blick, also öffnete ich – noch halb in meinen Träumen gefangen – einen Spaltbreit meine Augen, doch was ich da sah, ließ mich glauben, noch immer tief und fest zu schlafen.

Veith.

Er hockte vor meinem Bett und tat nichts weiter als seine Glotzerchen auf mich zu richten. Dieses Bild war definitiv in meinem Kopf entstanden.

Ich streckte meine Hand aus, legte sie auf seine Wange, auf den leichten Bartschatten. Sie fühlte sich so weich an und ich konnte einfach nicht wiederstehen, mit dem Daumen über seine Lippe zu streichen. „Bist du ein Traum?“ Blöde Frage. Der reale Veith würde hier wohl kaum den Spanner mimen. Das hatte er nun wirklich nicht nötig.

Er legte seine Hand auf meine, schloss für einen Moment die Augen und packte sie dann neben mein Gesicht zurück ins Bett. Dabei strich er mir über den kleinen Finger, der wohl einmal gebrochen war. „Nein“, sagte er dann.

Ups. Aber Moment … „Wenn du keine Ausgeburt meiner Fantasiebist, was machst du dann mitten in der Nacht an meinem Bett?“ Noch war ich nicht überzeugt davon, dass mir mein Hirn nicht doch einen Streich spielte. Ein Wunschtraum gewissermaßen. Ich meine Hallo? Welches weibliche Wesen träumte nicht davon, dass ein solches Mannsbild des Nachts an ihrem Bett auftauchte?

„Ich suche Pal.“

„In meinem Bett?“ Ich lächelte, bis mein schlaftrunkenes Hirn aufging, was Veith da genau gesagt hatte. „Ist er denn nicht bei euch?“ Dumme Frage. Ich hätte mir glatt selber gegen den Kopf schlagen können. Natürlich war er nicht bei ihnen. Wenn Pal bei ihnen gewesen wäre, würde Veith ihn mit Sicherheit nicht in meinem Bett suchen. Dann ging mir schlagartig auf, was seine Worte bedeutete. Ich fuhr hoch, so dass die Decke sich um meine Hüfte bauschte. „Pal ist verschwunden?“

„Wir können ihn nicht finden.“

Was wohl so viel wie „Ja“ bedeutete. „Wie … was …“ Okay, jetzt ganz ruhig bleiben. „Wann habt ihr ihn das letzte Mal gesehen?“

„Bevor wir beide … allein draußen waren.“ Der letzte Teil kam mit kurzer Verzögerung, als schämte er sich dafür. Ich verspürte einen kleinen Stich, aber jetzt war nicht die Zeit sich mit einem angekratzten Ego herumzuschlagen.

Also war Pal verschwunden, seit ich meine Heulattacke hatte. Verdammt. „Das ist Stunden her.“

„Wir sind eingeschlafen und haben es erst jetzt bemerkt.“

„Hab ihr ihn schon gesucht?“

Den Blick, den Veith mir auf diese dumme Frage hin zuwarf, wollte ich hier nicht weiter beschreiben. Nur so viel sei gesagt, wenn jemand mit einem Blick das Wort Idiot formulieren konnte, so hatte Veith mich gerade als einen bezeichnet. Obwohl Vollidiot wohl auch passend gewesen wäre, oder noch Schlimmeres. Jedenfalls fühlte ich mich wie einer.

„Er war nicht hier“, sagte ich überflüssigerweise und schwang die Beine über den Bettrand. Mann, das war echt nicht meine Zeit. Meinen Morgenmantel vergaß ich, so eilig hatte ich es aus dem Zimmer zu kommen. Wenn die Wölfe ihn nicht finden konnten, gab es nur eine Person in diesem Haushalt an die ich mich wenden konnte.

Veith folgte mir.

 

°°°

 

Ich klopfte an Erions Tür. Vier Mal. Ich war schon kurz davor, sie einfach zu öffnen und sein Zimmer zu stürmen, als ich endlich Bewegung aus dem Inneren hörte. Kurz darauf erschien er, einen Morgenmantel über dem Schlafanzug, vor mir.

„Talita, was …“ Er bemerkte Veith, unsere Gesichter, den Ausdruck darin. Sein Blick huschte von einem zum anderen. „Ist was passiert?“

„Ja. Ich brauchte deine Hilfe. Mein Freund Pal, er ist … wir können ihn nicht finden.“

„Was heißt, ihr könnt ihn nicht finden?“

„Seit gestern Abend hat ihn niemand mehr gesehen.“

Mehr als einen Augenblick brauchte Erion nicht, dann reagierte er– schneller als ich –, eilte aus seinem Zimmer den Korridor hinunter. „Kaj!“ Seine Stimme schallte durch das ganze Haus und hätte sicher Tote aufgeweckt – oder besser nicht, davon hingen hier viel zu viele an den Wänden, wenn auch ausgestopft.

Ich hastete an seine Seite, Veith immer in meinem Rückenwind. „Was hast du vor?“

„Ich werde Kaj das Haus nach deinem Freund absuchen lassen, sie kennt es besser, als deine Lykaner und wird einen fremden Geruch eher bemerken.“

Das glaubte ich zwar nicht, einfach weil Tyge und Veith seinen Geruch besser kannten, aber ich fand es im Augenblick einfacher, meine Meinung für mich zu behalten.

Erion blieb an der Tür zu Lewis Zimmer stehen und klopfte ungeduldig dagegen. Ja man könnte es schon beinahe Hämmern nennen – als wolle er direkt durch die Tür greifen, um den Satyr nach draußen zu zerren. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass seine Wölfin sich noch immer nicht hatte blicken lassen. „KAJ!“

Oh wow, was war ihm denn? Ich meine, ich machte mir ja auch Sorgen um Pal, aber deswegen war ich nicht voll am ausflippen – noch nicht.

Die Tür vor uns ging auf und lenkte Erions Aufmerksamkeit auf Lewis. Mit den ordentlichen Haaren und dem Morgenmantel sah er beinahe aus wie Hugh Hefner. Nur die beiden Ziegenhörner passten da nicht ganz ins Bild und natürlich fehlten die Zigarre und die ganzen Playboybunnies. Sein Blick glitt von Erion zu mir, dann weiter zu Veith und wieder zurück auf Erion. „Womit kann ich dienen?“

„Einer unserer Gäste ist verschwunden, Pal von unter den Wolfsbäumen. Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“

„Das muss kurz nach seiner Rückkehr gewesen sein.“ Er dachte einen Moment nach. „Ja. Ich ließ ihn und Frau Kleiber ins Haus und sah ihn dann in der Küche verschwinden.“

„Danach war er noch mal bei mir draußen im Garten.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Er muss danach verschwunden sein.“

Erion starrte nachdenklich auf den Boden.

„Du hast mich gerufen?“, fragte Kaj.

Alle Blicke richteten sich auf sie und sofort fiel mir ihre Aufmachung auf: Die dunkle Robe, die sie offen über ihrem Lendenschurz trug, die Augen müde, das Haar gekämmt. Egal wo sie gerade her kam, sicher nicht aus dem Bett.

„Warum reagierst du erst jetzt? Ich habe dich bereits zwei Mal gerufen!“, fuhr Erion sie an.

„Ich musste doch …“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich hatte zu tun.“

„Es ist mir egal, was du zu tun hattest, wenn ich dich rufe, hast du sofort zu kommen, das weißt du!“, ging er sie an. „Und jetzt mach dich auf die Suche nach Talitas Freund, er ist verschwunden. Ich will, dass du das ganze Haus absuchst, verstanden?“

Sie kniff die Lippen noch fester zusammen, nickte aber und wandte sich dann wortlos um.

Hm … o-kay. Ich verstand ja, warum mich die ganze Sache aufwühlte, aber nicht, warum er daraus so ein Drama machte. Er hatte mit Pal doch eigentlich gar nichts am Hut. Warum also machte er Kaj so an? Gegen meinen Willen verspürte ich sowas mit Mitleid mit ihr – ein kleinen wenig. Egal was geschehen war, es war doch nicht ihre Schuld.

Ich zog Veith ein wenig zur Seite, als Erion eindringlich auf Lewis einredete, mir war da ein Gedanke gekommen. „Es war Anwar“, flüsterte ich so leise ich konnte.

Veith zog die Augenbrauen zusammen. „Es wäre sehr dumm von Anwar, so etwas zu tun, wo wir doch ins einem Haus als Gäste sind. Anwar mag vieles sein, aber sicher nicht dumm.“

„Aber er will euch loswerden, Erion hat es gestern gesagt. Wie könnte er euch besser loswerden, als wenn er euch Angst macht?“

Der Blick, den ich darauf bekam, überdeckte sogar seine Besorgnis: Herablassung. „Wir fürchten uns nicht vor Magiern.“

„Aber vielleicht denkt Anwar das und versucht so, euch aus seinem Haus zu vertreiben“, versuchte ich ihm verständlich zu machen. Sah er das denn nicht? Das war doch logisch.

Schon bevor ich geendet hatte, schüttelte Veith den Kopf. 

„Sei doch nicht so stur!“, fuhr ich ihn an. „Lass uns zu ihm gehen und ihn zur Rede stellen!“

„Nein.“

Das kam aus ganz anderer Richtung. Tyge tauchte mit finsterer Miene im Korridor auf. Sein Supergehör hatte es ihm wohl ermöglicht, trotz meiner Flüsterstimme zu lauschen.

Ich schaute genauso finster zurück. „Aber …“

„Nein.“ Tyge kam zu uns heran. Ein kurzer Blick auf Erion, aber der war noch schwer beschäftigt. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Anwar war es. Dann würden wir ihn damit, dass wir ihn mit unserem Wissen konfrontieren, in die Enge treiben. Ich will nicht wissen, was er mit Pal und den anderen macht, falls er glaubt, aufgeflogen zu sein.“

„Aber …“

Mit einer Handbewegung schnitt er mir das Wort ab. „Zweite Möglichkeit: Anwar war es nicht und wenn wir ihn eine solche Tat vorwerfen, kann er das als Verleumdung auslegen und da wir wissen, dass er mit den Wächtern sehr gute Kontakte pflegt, könnte er uns von ihnen wegsperren lassen, damit wären wir aus dem Verkehr gezogen und könnten Pal nicht mehr helfen.“

Ich kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Keine Ahnung warum. Um zu verdeutlichen, dass ich nicht ihrer Meinung war? Um ihnen zu zeigen, dass ich das nicht hören wollte? Wir redeten hier schließlich von Pal. „Wir können doch nicht einfach in der Gegend rumstehen und nichts tun.“

„Das werden wir auch nicht.“ Tyge sah zu Erion, der gerade auf uns zukam. „Wir werden ihn suchen.“

Erion nickte Tyge zu und wandte sich dann an mich. „Lewis wird auch das Haus absuchen. Ich werde einen Aufspürzauber sprechen. Mach dir keine Sorgen.“ Er hob die Hand an mein Gesicht und strich beruhigend über die Wange. Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich bei der Berührung zusammenzuckte. Tja, von den Werwölfen angefasst zu werden, konnte ich jetzt zwar vertragen, aber andere waren da immer noch ein rotes Tuch.

„Wir werden ihn schon finden“, versuchte Erion mich aufzumuntern.

Ich nickte nur, wahrscheinlich, weil das an dieser Stelle von mir erwartet wurde.

Erion drehte ab und ging entschlossenen Schrittes zurück auf sein Zimmer – wahrscheinlich, um den Zauber vorzubereiten.

Ich wollte ihm schon folgen, da wurde ich noch einmal von Veith am Arm zurückgehalten. „Du wirst nicht zu Anwar gehen, hast du mich verstanden?“

Erst wurden meine Augen groß, dann zu Schlitzen. Das war doch jetzt nicht sein Ernst. „Versuchst du gerade, mir Befehle zu erteilen?“

„Ich meine es ernst, Talita. Wir wissen nicht mal, ob Pal einer von den anderen Verschwundenen ist.“

„Er ist aber verschwunden!“ Wollte das nicht in seinen Kopf? Natürlich war er bei den anderen, wo sollte er denn sonst sein?

„Kein Wort zu Anwar.“

Ich hielt seinem Blick stand, solange es mir möglich war, wandte ihn letztendlich dann aber doch ab. Das nahm er wohl als stille Zustimmung.

 

°°°

 

Der Tag floss zäh dahin. Natürlich machten wir uns auf, weiter nach Pal zu suchen, aber wir hatten wenig Hoffnung und das Einzige, was wir herausfanden war, dass es im Garten Ratten gab. Ich hatte sie entdeckt und mit eine erschrockenen Schrei klargemacht, was ich von diesen kleinen, ekligen Viechern hielt.

Das letzte Mahl war die einzige Mahlzeit bei der ich an diesem Tag anwesend war, auch wenn ich nichts weiter tat, als mein Essen von dem einen Ende des Tellers zum anderen zu schieben. Ansonsten verbrachte ich die ganze Zeit mit Veith und Tyge, doch wir fanden nichts heraus, was wir nicht auch schon vorher wussten.

Allein kehrte ich in mein Zimmer zurück, setzte mich aufs Bett und tat … gar nichts. Was hätte ich auch tun sollen? Alles was uns eingefallen war, wurde bereits in die Wege geleitet, aber nichts davon brachte mir Pal zurück.

Er war weg.

Draußen drückte die herannahende Dunkelheit bereits gegen die Fenster. Den ganzen Tag hatte ich nichts anderes getan, als meinen Freund zu suchen, ja wir hatten sogar die Wächter eingeschaltet, aber er blieb verschollen. Erion war immer noch sauer mit Kaj, weil sie ihn nicht hatte aufspüren können. Es war als hätte er sich in Luft aufgelöst. Überall fanden die Lykaner Geruchsfährten von ihm, aber jede einzelne führte ins Nichts und die einzige Katze, die wir hatten finden können, war ich selber gewesen. Mein Pal war verschwunden und niemand konnte sich das erklären.

Erst jetzt, als ich hier saß, wurde mir richtig klar, was das bedeutete. Pal war weg, mein Pal, der immer für einen Scherz zu haben war, das für ihn so typische halbe Lächeln im Gesicht. Er war einfach verschwunden. Wie die anderen, wie Isla, von der niemand mehr etwas gehört hatte, seit sie vor Wochen nicht mehr heimgekehrt war. Sie war tot, da war ich mir sicher. Niemand verschwand einfach für so lange Zeit, wenn ihm nicht etwas wirklich schreckliches zugestoßen war. Und nun fehlte auch noch von Pal jede Spur. Was sollte ich nur ohne ihn machen? Was wenn er auch … oh Gott, daran wollte ich gar nicht denken.

Ich schluchzte auf. Nein, Pal ging es gut, ich musste ihn nur finden.

Und was ist mit den ganzen anderen verschwunden Werwölfen? fragte eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf. Von ihnen ist auch niemand  mehr aufgetaucht.

Außer den toten Einzelläufern.

„Nein, nein, NEIN!“ Ich verbot mir solche Gedanken. „Ich muss ihn nur finden, denk nach.“ Ruhelos stand ich auf und lief im Zimmer auf und ab. Da war wieder dieses Gefühl wie gestern im Garten. Etwas passte nicht, ich hatte etwas Entscheidendes übersehen, nur was? Gott, was war, wenn ich mit meinem Verdacht doch richtig lag und Anwar etwas damit zu tun hatte? Schließlich war das hier Anwars Haus, also was wäre naheliegender? Vielleicht sollte ich einfach zu ihm gehen und ihn zum Reden zwingen. Scheiß einfach drauf, dass Veith das für keine gute Idee hielt. Scheiß einfach auf Veith, Pal brauchte mich. Er hatte mir so oft geholfen, besonders am Anfang und nun brauchte er mich und ich zögerte das Richtige zu tun, weil Veith es mir verboten hatte.

Aber was, wenn Tyge recht hat? Wenn Anwar sich in die Ecke gedrängt fühlt und etwas Schreckliches tut? Wenn ich Pal durch diesen Fehler nie fand?

Ein weiteres Schluchzen erschütterte mich. Ich konnte gar nichts tun, außer darauf zu warten, dass etwas passierte und das war ein schreckliches Gefühl. Diese mir auferlegte Ohnmacht. Das konnte ich nicht. Entschlossen schritt ich auf die Zimmertür zu, doch als ich die Klinke berührte, kam wieder das Zögern. Was, wenn ich die Situation durch meine Ungeduld nur schlimmer machte? Aber was, wenn nicht? Was wenn diese Sekunden des Wartens den Unterschied machten und ich ihn verlor, weil ich zu lange gezögert hatte? Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Soviel sprach dafür, aber genauso viel sprach dagegen. Nur ein Schritt in die falsche Richtung und ich würde alles versauern und nicht nur sein Leben aufs Spiel setzen. Aber ich konnte doch nicht … „Ich muss das tun.“ Ich riss die Tür auf und schreckte sofort zurück. Veith stand genau davor, die Hand erhoben. Nicht als wollte er klopfen, sondern als wollte er einfach reinkommen. Wölfe kannten wirklich keine Privatsphäre.

Scheiß drauf, wenn interessierte das jetzt schon!

„Ich wollte nur …“

Und wieder schluchzte ich und ehe ich es mich versah, zog Veith mich in seine Arme und tröstete mich. Dabei war er so steif wie ein Betonpfeiler, aber es war mir egal. Dieser Pfeiler war warm, war stark und vor allen Dingen, war Veith und das musste halt reichen. „Wir müssen mit Anwar sprechen“, sagte ich, sobald ich mich ein wenig beruhig hatte.

„Nein.“

„Aber …“

„Wir müssen uns an das halten, was mein Papá gesagt hat. Er hat auch schon mit Prisca gesprochen und sie ist der gleichen Meinung. Solange wir nicht sicher sind, dass Anwar die Lykaner entführt, können wir gar nichts machen. Es würde …“

„Scheiß auf Prisca und wenn du einen Grund willst, den habe ich dir bereits gegeben. Anwar will sie jagen. Das ist sein großer Traum. Sieh dich doch nur um, hier ist alles mit diesem Scheiß voll. Was brauchst du noch für Beweise?!“

„Talita, ich weiß was du fühlst. Aber nur weil du das Gefühl hast …“

„Spar dir dein beschissenes Psychogelaber!“ Ich riss mich von ihm los und all meine Verzweiflung und meine Wut über meinen Verlust bekam nun Veith ab. „Du stehst immer da, lässt nichts an dich heran. Woher willst du bitte wissen, was ich fühle? Du magst Pal doch nicht einmal. Aber ich mag ihn und ich will ihn zurück und wenn ich nicht … oh Gott, ohne mich wäre er nie hier gewesen. Ohne mich wäre er in Sicherheit beim …“ Ich konnte nicht mehr reden, als mir klar wurde, wer für sein Verschwinden wirklich verantwortlich war. Ohne mich wäre er noch in der sicheren Obhut seines Rudels. Nur wegen mir war er überhaupt hier, nur weil ich eine Heldin sein wollte.

Veith versuchte kein zweites Mal mich zu trösten, wartete nur ab, bis meine Tränen langsam versiegten, bis ich einfach nicht mehr weinen konnte, durch die Schuld, die mich von innen heraus auffraß.

„Komm, du solltest jetzt nicht allein sein.“ Ohne mich zu berühren, dirigierte er mich durch die Korridore ans Ziel.

 

°°°

 

Es war schon dunkel geworden, als ich mich ins Zimmer der Wölfe zurückzog. Veith stellte sich direkt ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus, als könnte diese ihm seine Fragen beantworten, während Tyge mit dem Vox am Ohr auf dem Bett saß und telefonierte. Ich glaubte nicht daran, dass er etwas Neues gefunden hatte, trotzdem musste Tyge wohl einen kleinen Hoffnungsschimmer in meinen Augen gesehen haben, denn er schüttelte den Kopf.

Meine Schultern sackten herab.

Wortlos ging ich zu dem Lager aus Decken und Kissen und kuschelte mich darin ein. Veith hatte Recht, diese Nacht war es besser nicht allein zu sein. Wenn ich gestern nicht so gekränkt gewesen wäre und meinen Weg hierher gefunden hätte, anstatt mutterseelenallein in meinem Kummer zu schwelgen, vielleicht hätte ich früher bemerkt, dass Pal verschwunden war. Vielleicht hätten wir dann eine Spur gefunden. Doch jetzt war es zu spät und Selbstvorwürfe halfen auch nicht – auch wenn sie gerechtfertigt waren.

Tyge setzte sich hinter mir und strich mir gleichmäßig in beruhigenden Kreisen über den Rücken. „Wir werden ihn finden.“

Das hoffte ich, auch wenn ich nicht daran glaubte. Das hoffte ich wirklich.

Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich mitten in der Nacht aus unerfindlichen Gründen erwachte. Ich lag zwischen Tyge und Veith, die beide schützend ihre Arme um mich gelegt hatten. Sie schliefen tief und fest. Alles war ruhig, also warum war ich aufgewacht? Ich wartete einen Moment, doch als nichts passierte, schloss ich wieder die Augen. Nur ein Problem entstand dabei. Jetzt war ich wach und jetzt musste ich dringend aufs Klo. Na ganz toll, das hatte mir echt noch gefehlt. Wenn ich mich nur einen Zentimeter bewegte, würden die beiden Kerle sofort im Bett stehen und nach Feinden Ausschau halten.

Ich versuchte es auszuhalten.

Eine Minute.

Fünf Minuten.

Nach sieben gab ich es auf. Ein solches Bedürfnis sollte niemand unnötig aufschieben, das würde nur zu peinlichen Konsequenzen führen. Vorsichtig zog ich einen Arm zwischen mir und Veith heraus und … er wurde sofort wach. „Ähm, ich müsste mal wohin, wenn du also so freundlich wärst, mich loszulassen.“

„Wohin?“

Gott, manchmal war er wirklich schwer von Begriff. „Ich muss mal pinkeln“, sagte ich gerade heraus. Veith zuckte nicht mal mit der Wimper, so wie immer. Er rückte lediglich von mir ab, so dass ich frei kam. Natürlich wurde Tyge davon auch wach. Beide Männer folgten mir mit ihren Blicken, bis ich die Tür zwischen uns schloss.

Eilig erledigte ich, was es zu erledigen gab und trank dann noch einen Schluck Wasser am Waschbecken. Denn Blick in den Spiegel darüber hätte ich mir besser gespart. Tiefe Augenringe hatten sich in mein Gesicht gegraben und meine Haare waren nur noch ein grausiges Nest, in den jeder Vogel gerne seine Eier gelegt hätte. Außerdem wirkte ich müde. Nicht auf die Art, ich sollte dringen eine Runde schlafen, sondern innerlich müde. Erst die miserable Rudelversammlung, die im Grunde nichts weiter gebracht hatte, als ein wenig Geknurre und Zweifel, dann der Überfall im Wald, was eine Waise zur Folge hatte und das Schlimmste von allen, Pals Verschwinden.

Wo er jetzt wohl war? Ob es ihm gut ging?

Natürlich geht es ihm nicht gut. Er wurde verschleppt, wenn nicht sogar … ich verbot meiner inneren Stimme diesen Gedanken fortzuführen. Pal ging es gut. Ich musste ihn nur finden, dann würde alles wieder in Ordnung kommen.

Isla wurde auch nicht gefunden.

Verdammt, diese innere Stimme trieb mich noch in den Wahnsinn. Ich klatschte mir Wasser ins Gesicht, trocknete mich mit dem Handtuch ab und sah zufällig aus dem Fenster, als ich es aufhing. Draußen im Garten lief eine lange, schmale Gestalt mit blondem Haar herum. Kaj. Eigentlich nichts außergewöhnliches, auch ich machte nachts hin und wieder gerne einen kleinen Spaziergang, um Luft zu schnappen, oder auf andere Gedanken zu kommen, aber etwas daran, wie sie sich bewegte, ließ mich aufmerken. Eigentlich lief sie weniger durch den Garten, als dass sie mehr schlich. Von einer Deckung in die nächste. Wo wollte sie um diese Zeit hin? Ganz allein, mitten in der Nacht. Dieses Verhalten war schon sehr auffällig, besonders wenn ich daran dachte, dass sie auch letzte Nacht unterwegs gewesen sein musste. So, wie sie an Lewis Zimmer aufgetaucht war, konnte sie kurz vorher einfach nicht im Bett gelegen haben.

Kurzentschlossen löschte ich das Licht, damit sie nicht auf mich aufmerksam wurde. Jetzt hatte ich die Wahl zwischen durchs-Haus-gehen-und-sie-aus-den-Augen-verlieren, oder den-direkten-Weg-durchs-Fenster-nehmen. Gut, eigentlich hatte ich noch eine dritte Möglichkeit, aber mich einfach hinlegen, weiterschlafen und so tun, als hätte ich nichts gesehen, kam mir gar nicht erst in den Sinn.

So leise wie es mir möglich war, öffnete ich die Fenster. Ich war schon halb auf dem Sims, als mir der Gedanke kam, dass es vielleicht ratsam gewesen wäre, Veith und Tyge Bescheid zu sagen, aber ich fürchtete, Kaj dann aus den Augen zu verlieren. Sie war in der Dunkelheit jetzt schon schwer auszumachen.

Lautlos wie eine Katze ließ ich mich in die Büsche vor dem Fenster gleiten. Zum Glück waren das keine Rosen, das hätte echt gepickt. Dann machte ich mich an die Verfolgung. Mein Jagdtraining bei Djenan kam mir nun zugute. Ich hatte es nie so perfekt hinbekommen wie er, aber für den Augenblick reichte es.

Ungesehen folgte ich ihr durch den ganzen Garten. Sie war so auf ihr Ziel konzentriert, dass sie mich nicht mal bemerkte, als ich aus Versehen auf einen Zweig trat. Ich fand dieses Geräusch ohrenbetäubend laut und ging sofort in Deckung, doch sie registrierte es nicht. Vielleicht dachte sie ja, das es eine von den Ratten waren, die hier herumschlichen.

Oh Gott, Gänsehautfaktor.

Als ich sicher war, dass sie mich nicht entdeckt hatte, kam ich hinter dem Busch hervor, hinter dem ich mich versteckt hatte. Für einen Moment dachte ich, dass ich sie verloren hatte und wollte schon fluchen, als ich eine Bewegung bei dem Beet mit dem Nachtstern wahrnahm und schon war ich ihr wieder auf der Spur.

Wo wollte sie nur hin? Ich folgte ihr durch den Garten bis zur äußeren Begrenzung. Dass magische Schutzschild, dass das ganze Anwesen umgab, flimmerte leicht. Kaj lief geradezu auf eine Stelle zwischen zwei Bäume zu. Ich konnte riechen, dass sie das schon öfter getan hatte. Der ganze Pfad roch nach ihr.

Eine Minute wartete ich, dann kam ich auf meiner Deckung und eilte zu den Bäumen. Mein Herz hämmerte in der Brust, als ich mich an den Stamm drückte und einen vorsichtigen Blick um die Ecke riskierte. Hinter den Bäumen lag die Außenmauer. Und die Fläche davor war leer. Scheiße, sie war verschwunden! Aber wie … ich hatte doch eindeutig gesehen, wie sie hier reingelaufen war. Verdammt, ich roch sogar ihre frische Spur, aber dieser Fleck vor der Mauer war eindeutig einsam und verlassen.

„Mist.“ Was nun? Zurückkehren kam gar nicht in Frage. Sie hatte sich viel zu auffällig benommen, um sie einfach so ziehen zu lassen. Vielleicht gab es hier ja eine Geheimtür, oder etwas Ähnliches.

Klar und morgen würde es Frösche regnen und ein Mann mit einem Stock teilt ein ganzes Meer.

„Würde mich auch nicht mehr wundern.“ Ganz ehrlich. Ich hatte in den letzten Wochen so viel gesehen, dass sowas für mich völlig normal gewesen wären. Diese Einstellung konnte einen richtig ängstigen. Wenn ich vor so was schon keine Angst mehr hatte, was genau konnte mich dann noch ängstigen? Naja, außer Ratten natürlich. Aber die waren ja auch wirklich …

Konzentrier dich!

Ich griff nach der Wand, um sie abzutasten, doch meine Hand ging glatt hindurch. Vor Schreck zog ich sie sofort zurück, wodurch ein leichtes Flimmern entstand. Das war keine Wand, das war eine Illusion. Verdammt, wer kam denn auf die Idee hier sowas hinzustellen? Da war ein Herzinfarkt ja bereits vorprogrammiert.

Okay, einfach tief durchatmen. Zögerlich streckte ich die Hand erneut aus. Als sie auf die Wand traf, überlief ein Kribbeln meine Haut. Noch ein tiefer Atemzug und ich schritt entschlossen hindurch, ohne zu wissen, was mich auf der anderen Seite erwartete.

Es war nicht mal annähernd so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Das Einzige, was auf der anderen Seite auf mich wartete, war ein Vogel, der bei meinem Anblick erschrocken wegflog. Kein Dimensionsportal in eine andere Welt, keine wütende Kaj, die nur darauf wartete, über mich herzufallen. Ich stand einfach nur außerhalb der Mauer. Diese Illusion war nichts weiter als ein versteckter Zugang zum Anwesen.

Weit und breit keine Menschenseele, niemand da. Ich hob den Kopf in den Wind und sog die Gerüche um mich herum tief durch meine Nase. Ein schwacher Duft von Kaj lag in der Luft. Sie hatte nicht einmal versucht ihre Spur zu verschleiern. Sie hatte  mich also eindeutig nicht bemerkt. Umso besser für mich. So gelang es mir ganz einfach, ihrer Witterung zu folgen.

 

°°°

 

Sie zu finden war nicht annähernd so schwer, wie ich befürchtet hatte, sie stand an der Straße und fummelte im Kofferraum von einem Moob herum. Von meiner Position hinter dem Baum konnte ich nicht viel sehen.

Was machte sie da nur? Es musste etwas Verbotenes sein, warum sonst sollte sie sich mitten in der Nacht klammheimlich aus dem Haus schleichen und eine Geheimtür im Garten benutzen, um das Gelände zu verlassen? Ich musste näher ran, so viel stand fest.

Vielleicht übertrieb ich etwas und interpretierte in ihr Verhalten zu viel hinein, aber sollte dem nicht so sein und ich diese Chance verstreichen ließe, würde ich mir das ewig vorwerfen.

Welche Chance worauf?

Da war ich mir selber noch nicht so ganz sicher. Aber sie hatte eindeutig etwas vor, das stand schon einmal fest.

Im Schatten meines Baumes huschte ich zum nächsten Moob am Straßenrand und duckte mich dahinter. So leise wie möglich schlich ich so näher an sie heran, bis sie direkt vor mir war. Ich müsste jetzt nur noch um das Moob herumspähen und dann könnte ich sehen, was sie da machte. Okay, ruhig Blut, jetzt bloß keinen Fehler machen. Ich schloss kurz die Augen, atmete noch einmal tief durch und dann späte ich um die Ecke …

„Glaubst du wirklich, ich wäre so dumm, dass ich nicht gemerkt hätte, wie du hinter mir herschleichst?“

Scheiße! Direkt vor mir stand Kaj. Die Hände in den Hüften und einen sehr herablassenden Ausdruck im Gesicht. Mist, Mist, Mist. „Ich wollte nur …“

„Mir hinterher spionieren.“

Naja, das schon, aber das würde ich sicher nicht zugeben. Ich war vielleicht so blöd, mich erwischen zu lassen, aber nicht so blöd, ihre Annahme dann auch noch zu bekräftigen. Da mir in dieser Haltung die Beine einzuschlafen drohten, erhob ich mich, sodass Kaj und ich auf einer Augenhöhe waren. „Und wenn es so wäre?“ Gut, das waren vielleicht nicht die gescheitesten Worte des Tages, aber so bekam ich vielleicht heraus, was sie hier draußen tat – ganz vielleicht.

Kaj schnaubte nur abfällig. „Was Erion an dir findet, werde ich wohl nie verstehen. Dass er dich nicht gleich wieder vor die Tür gesetzt hat, war einfach nur ein großer Fehler gewesen.“

„Tja, im Gegensatz zu dir, ist Erion ein netter Zeitgenosse“, gab ich etwas schnippisch zurück. Mich von ihr beleidigen zu lassen, kam ja mal gar nicht in die Tüte.

„Du kennst ihn nicht mal halb so gut wie du glaubst.“

„Ach, du aber schon?“ Hallo? Wie waren wir den bitte jetzt auf dieses Thema gekommen? Was interessierte mich im Augenblick Erion? Ich wollte wissen, was Kaj hier draußen trieb!

„Besser, als mir manchmal lieb ist“, murmelte sie und bemerkte dann meinen neugierigen Blick an ihr vorbei in den Kofferraum. „Oh nein, das lässt du.“ Sie machte einen Schritt auf mich zu und noch ehe ich reagieren konnte, hatte sie mich am Arm berührt, nur ganz leicht, nicht mehr als ein Streicheln. Ein Blitzschlag zog durch mich hindurch, von den Zehen, bis in die Fingerspitzen und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Scheiße, was war denn jetzt los? Ich versuchte einen Arm zu heben, ein Bein, meinen Mund zu bewegen, aber das war nicht möglich. Ich konnte vor Schreck nicht mal die Augen aufreißen, ich war eingefroren!

„Du hättest nicht so neugierig sein sollen“, sagte sie und fixierte einen Punkt hinter mir. Im nächsten Moment traf mich etwas Hartes am Kopf und ich sackte einfach in mich zusammen.

Black out.

 

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Tag 75

Irgendwer beackerte mein Kopf mit einem Presslufthammer. Ich stöhnte vor Schmerz.

„Beweg dich nicht. Die haben dir eine ganz schön üble Kopfwunde verpasst.“

Wie … was … „Kovu?“ Vorsichtig setzte ich mich auf und wurde dafür mit Übelkeit belohnt, die mir die Galle in die Kehle trieb. Ich stöhnte.

„Ich hab doch gesagt, dass du dich nicht bewegen sollst“, tadelte er mich, reichte mir aber gleichzeitig eine Schüssel mit Wasser. Das Gesöff roch abgestanden und die Schüssel war vieles, aber ganz sicher nicht sauber. Für Keime war es das reinste Paradies. Trotzdem führte ich sie mit Kovus Hilfe an die Lippen und trank gierig, um meine trockene Kehle zu befeuchten und das Brennen zu ersticken. Das Wasser schmeckte genauso ranzig wie es aussah und doch konnte ich nicht aufhören, es in mich hineinzuschütten. Dabei kleckerte ich so viel, das mein Oberteil völlig durchnässte.

„Besser?“, fragte Kovu, als ich die Schüssel vom Mund nahm und mir mit den Handrücken die ranzigen Reste aus dem Gesicht wischte.

„Ja. Danke.“ Ich stellte die Schüssel auf den Steinboden unter mir und begann dann damit, meine Umgebung wahrzunehmen. Ich saß in einer Zelle! Drei Wände aus Holz. Alle vier Seiten mit Gitterstäben versehen, um jeglichen Ausbruchsversuch im Keim zu ersticken. Auch die Holzdecke dieses Kabuffs war mit Eisen verstärkt worden. Selbst wenn ich die Holzwände mit einem gezielten Tritt rausbrechen könnte, an den Metallsträngen kam ich nicht vorbei. Außerdem besaß das Holz dieses zarte Flimmern, was mir verriet, dass es mit einem Schutzzauber belegt war. Keine Fenster, kein Bett, nur die paar Decken auf denen ich saß, Stroh auf dem Boden und in allen Ecken Spinnennetzte, von denen ich nur hoffen konnte, dass sie unbewohnt waren. Spinnen waren genauso eklig wie Ratten.

Gegenüber von meiner Zelle befanden sich weitere dieser kleinen Verschläge, getrennt durch einen breiten Gang, dessen Boden unter der Dreckschicht nur noch zu erahnen war. Es roch nach Stall. Pferde und Heu. Kühe und Dung. Und nach Wolf. Den Grund dafür fand ich ganz leicht heraus.

Von meinem Punkt aus konnte ich auf der anderen Seite drei weitere Zellen erkennen, die genauso gehalten waren, wie meine eigene. In ihnen allen hockten Wölfe in verschiedenen Farben und Größen. Eine von ihnen erkannte ich auf Anhieb. Julica. Ihr nachtschwarzes Fell war so einzigartig, dass nur sie es sein konnte. Aber was machte sie hier? Und was machte ich hier?

Langsam drang die Erinnerung in mein benebeltes Hirn zurück. Ich hatte Kaj verfolgt und irgendwie war es ihr gelungen, mich zu lähmen. Dann erinnerte ich mich noch an einen harten Schlag, bei dem bei mir alle Lichter ausgegangen waren und jetzt war ich hier aufgewacht. Aber, wo war hier? Ich wandte mich an Kovu – und er, was machte er hier? Was hatte das nur zu bedeuten? Er sah entkräftet aus, viel schmaler als bei unserem letzten Treffen, dunkle Ringe unter den Augen, das Haar schlaff und kraftlos. Zum ersten Mal sah ich ihn mit langen, offenen Haaren. An seiner Schulter schimmerten ein paar Kratzwunden, die dringend behandelt werden sollten, damit sie sich nicht entzündeten.

Um es kurz zu sagen, Kovu sah einfach nur Scheißeaus. „Wo sind wir?“

„Wir sind hier zu Gast in der reizenden Residenz von Erion von Sternheim. Die Unterbringung ist schlecht, das Essen noch schlechter und unterhaltungstechnisch läuft hier gar nichts.“

„Was?“

„Damit meine ich, dass es hier sterbenslangweilig ist.“

Hä? Was redete der Kleine da nur für einen Blödsinn? „Nein, das meine ich nicht. Mich interessiert der Teil mit Erion.“

Kovus gespielte Fröhlichkeit verschwand hinter einer Maske, die ich nur zu gut von Veith kannte. „Wir lagen falsch mit Anwar. Nicht er hat die Wölfe entführt, sondern sein Sohn.“

„Was?“ Wenn das ein Scherz war, dann fand ich ihn nicht sonderlich witzig. „Warum sollte Erion das tun? Er hat nichts gegen Werwölfe.“ Ganz im Gegenteil, er fand sie faszinierend, dass hatte er mir selber einmal gesagt.

Kovu zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kann dir nur erzählen, was ich weiß. Erion steckt hinter den ganzen Entführungen. Er macht die Lykaner zu hirntoten Sklaven, die nur noch seinem Befehl folgen. Aber welche Gründe er dafür hat, wollte er mir nicht verraten. Außer Befehle bellt er sowieso nichts in meine Richtung.“

„Aber das hier … was soll das alles und wie kommst du her? Tyge hat dich doch zusammen mit Julica zurück zum Rudel geschickt.“

„Dort wollten wir auch hin.“ Er warf einen kurzen Blick zu Julica hinüber, die teilnahmslos auf dem Boden lag und den Kopf auf den Pfoten gebettet hatte. Sie sah aus, als schliefe sie, aber die Bewegungen ihrer Ohren verrieten sie. Julica war wach. „Nur hatten die Betreiber dieses erstklassigen Etablissements anderes mit uns im Sinn. Kaj hat uns abgefangen und uns irgendwie paralysiert. Sie ist übrigens auch der Wolf mit dem Tigerfell, der so unnatürlich nach Katze stinkt.“ Er seufzte. „Dann tauchte Erion auf und brachte uns hierher. Aus Julica hat er sofort dieses hirntote Ding da gemacht. Mit mir ging es nicht, wegen meiner Kopfverletzung. Er muss warten, bis sie richtig verheilt ist.“

Was? – mein Wort des Tages. Ich konnte kaum glauben, was er mir da erzählte. Erion? Kaj? „Aber warum? Warum macht er das? Und was ist mit der kleinen, weißen Wölfin, die ihr mitgenommen habt?“ Erion hat sie doch wohl nicht auch verhext.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich muss mich wohl wiederholen, keine Ahnung. Kaj hat das Kind mitgenommen, wollte mir aber nicht verraten, was sie mit ihr vorhat. Ich weiß nur, dass sie nicht hier ist.“ 

Kaj? Oh Gott, sie hatte die Kleine doch hoffentlich nicht gefressen. Das war doch nicht möglich, oder? Das wollte mir alles nicht in den Kopf, mein Gehirn verweigerte einfach die Erkenntnis, die Kovus Worte mit sich brachten.

Meine Augen schweiften wieder über die Zellen und blieben an einem kleinen, rötlichen Wolf hängen, der winselnd an dem Gitter stand und etwas im Auge behielt, das ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte – vielleicht den Ausgang? „Und Pal? Ist er … was ist mit Pal?“ Hatte Erion ihn auch in seiner Gewalt? Wozu das alles?

„Er ist auch hier, genau wie Isla.“ Er presste die Kiefer zusammen. „Oder das was Erion von ihnen übrig gelassen hat.“

„Was meinst du damit?“

Er nickte rüber zu Julica. „Ich meine damit, dass sie zwar körperlich anwesend sind, dann aber doch wieder nicht. Erion hat irgendwas mit ihnen gemacht, was ihre Magie und ihre Intelligenz zerstört hat. Sie sprechen nicht, verwandeln sich nicht, denken nicht. Und sie erkennen niemanden, außer Erion.“ Kovu lachte auf. Dieses Geräusch hatte nichts freundliches an sich. „Erion hat sich zu ihrem Alpha gemacht, sich ein eignes Rudel erschaffen.“

In der Nebenzelle gab es einen Knall, als wäre ein metallener Wassernapf gegen die Wand geflogen. Knurren folgte, ein Jaulen und Fiepen, dann war es wieder ruhig.

„Aber, es sind so viele.“ Wo hatte Erion nur die ganzen Lykaner her? So viele waren in den Rudeln doch gar nicht verschwunden. Allein die, die ich sah, beliefen sich ja schon auf fast zwanzig und nach den Geräuschen waren hier noch viel mehr.

„Die meisten von ihnen sind Einzelläufer“, erklärte Kovu. „Sie waren leichter und unauffälliger zu beschaffen. Deswegen wurden in der letzten Zeit auch so viele von ihnen tot aufgefunden. Viele Einzelläufer haben einen guten Grund, allein zu leben. Sie können einfach nicht mit anderen Wölfen.“

„Weswegen sich ein paar von ihnen gegenseitig getötet haben“, ertönte da eine männliche, wohlbekannte Stimme.

Bei ihrem Klang zuckte ich zusammen und wirbelte herum – gar nicht gut, mein Kopf zollte mir das mit einem leichten Schwindelgefühl, unter dem ich Probleme hatte, meinen Blick wieder scharf zu stellen.

Erion tauchte vor unserer Zelle auf. „Aber die Verluste waren so gering, dass es sich trotzdem gelohnt hat mit ihnen zu arbeiten. Die Toten sind nur ein Bruchteil von denen, die ich mir sonst noch beschaffen konnte. Kaum der Rede wert.“

Kovu knurrte.

„Kaum der Rede wert?“, fauchte ich. Ich konnte es nicht fassen, dass das Erion war, mein Freund Erion. Er redete wie ein Fremder. Aber im gleichen Zug wurde mir auch klar, dass ich trotzdem recht behalten hatte – toller Trost –, die beiden Toten im Wald, sie gehörten zu den Entführten, hatten sich in der Enge gegenseitig umgebracht.

„Hallo Talita.“ Erion richtete seinen Blick direkt auf mich. „Ich freue mich, dass du endlich zu dir gekommen bist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass ich zu stark zugeschlagen habe.“

„Du hast mir eine übergebraten?“ Das wurde ja immer besser! Ich war kurz davor zu explodieren, einfach die Wand einzureißen und Erion an die Gurgel zu springen. Wie hatte ich mich in ihm nur so täuschen können? Das war doch einfach nicht möglich.

„Leider ja“, gab Erion etwas zerknirscht wieder. „Ich wollte es nicht, ganz ehrlich, aber du hast mir keine andere Wahl gelassen. Du warst zu neugierig. Ich konnte es nicht riskieren, dich laufen zu lassen, nicht so kurz vor meinem Ziel, du hättest alles, wofür ich gearbeitet habe, zunichtemachen können.“

„Wofür du gearbeitet hast?“ Was sollte der Scheiß?

„Ja.“ In seine Augen trat wieder dieser fiebrige Glanz, denn ich bisher immer nur gesehen hatte, wenn er von seiner Sammlung sprach. „Ich habe mir ein ganz neues Rudel aufgebaut.“

„Aber wofür?“

„Erinnerst du dich noch daran, was ich dir gesagt habe, als ich dir meine Sammlung gezeigt hatte, was ich dir von meinem Traum erzählt habe?“

Meine Augen weiteten sich im Augenblick der Erkenntnis. „Das Drachenherz“, flüsterte ich und mir schwante böses. Erions größter Traum war es, der erste Magier zu sein, der ein Drachenherz besaß. „Aber sie sind selten, weil die Drachen auch die Herzen ihrer Verstorbenen eifersüchtig hüten, um die machtvolle Magie darin zu schützen. Es ist eigentlich unmöglich, sich eines anzueignen und bisher noch niemanden gelungen, zumindest nicht, dass es bekannt wäre.“

Erion nickte lobend. „Ja.“

„Die einzige Möglichkeit, an ein Drachenherz zu kommen, ist, ihn selber zu erlegen“, fasste ich weiter zusammen, als die Erinnerung zurückkehrte und mir die ganzen Zusammenhänge nach und nach klar wurden. „Und die besten Chancen, einen Drachen zu töten, hat ein Rudel Werwölfe. Niemand kann es mit einem ganzen Rudel aufnehmen, nicht mal ein Drache.“ War es das? Konnte es das wirklich sein? Wurde er wirklich nur von der Gier getrieben?

Neben mir verengte Kovu die Augen.

„Genau, ich wusste, dass du darauf kommen würdest. Du bist sehr schlau. Das hab ich schon die ganze Zeit an dir bewundert“, sagte Erion mit vor stolz geschwelter Brust. „Mein Rudel ist zwar nicht sehr groß, aber es wird reichen, denke ich.“

Ich bekam es noch immer noch richtig zu fassen. „Du willst sie auf einen Drachen hetzten? Aber … du … was ist mit deinem Papá? Alles hat darauf hingedeutet, dass er die Wölfe entführt hat.“

Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann damit, vor dem Gitter auf und ab zu laufen. „Ja, der Hass meines Vaters auf die Lykaner kam mir in dieser Angelegenheit sehr gelegen.“

„Aber, wenn er damit nichts zu tun hatte, warum wollte er den Werwölfen dann nicht helfen?“

„Zwei Worte, Hass und Angst.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er seinen Lauf wieder fortführte. „Mein Vater fürchtet die Lykaner und darum hasst er sie. Und seine Furcht hat verhindert, dass er das Richtige getan hat. Er hat befürchtet, dass, wenn herauskommt, wie viele Lykaner wirklich vermisst werden, dass die Rudel sich dann zusammenschließen und sich gegen ihn stellen würden. Ein wenig paranoid der Gute, aber es war durchaus im Bereich des Möglichen.“

Kovu knurrte. „Wir sind keine Wilden!“

Ich legte ihm beruhigend eine Hand aufs Knie. „Und Kaj …“

„Ah, ja, Kaj.“ Erion lächelte mich an und irgendwie hatte ich das Gefühl, einen Verrückten vor mir zu haben. Irgendwas in seinem Kopf schien gerade nicht ganz richtig zu laufen. „Kaj hat mir gezeigt, wo ich die Wölfe finden kann. Es hat einiges an Überredungskunst meinerseits verlangt, denn obwohl sie von den Lykanern so schäbig behandelt wurde, wollte sie mir am Anfang nicht helfen. Doch dann hat sie eingesehen, dass sie gar keine andere Wahl hatte.“

„Du hast sie erpresst?“, fragte ich fassungslos? Verdammt, was war hier eigentlich los? Das war ja schon eine riesige Verschwörung. Hatte Kaj das damit gemeint, als sie sagte, dass sie Erion besser kannte, als ihr manchmal lieb war? Oder steckte noch mehr dahinter, von dem ich jetzt noch nicht mal etwas ahnte?

„Erpresst ist so ein schlechtes Wort. Ich sage lieber überredet. Und es war ja auch nicht so, als wäre dafür mehr als ein kleiner Schubs meinerseits vonnöten gewesen.“

Kaj? Warum hatte sie ihm dabei geholfen? Womit konnte er sie erpressen? „Und wo ist sie jetzt?“

„Draußen vor der Scheune. Sie bereitet alles vor.“

Aha, deswegen roch es hier also nach Stall. Wir waren in einer alten Scheune. „Was bereitet sie vor?“

„Die Jagd.“ Erion hielt inne und wandte sich zu mir um. In seine Augen trat ein Glitzern, das nicht nur gierig, sondern auch noch verrückt war. „Ich habe nun genug Wölfe und es ist an der Zeit die Ernte meiner Arbeit einzuholen.“

Hatte mir vorher schon böses geschwant, so machte sich jetzt ein riesiger Felsbrocken in meinem Magen breit Erion ist nicht mehr ganz zurechnungsfähig, wurde mir klar. Verdammt, er wollte Jagd auf einen Drachen machen, das war doch Irrsinn!  „Und was hast du mit mir vor?“

„Das weiß ich noch nicht.“ Er neigte den Kopf zur Seite, als würde ihm diese Frage wirklich Kopfzerbrechen bereiten. „Ich habe dich viel zu gerne, um dich zusammen mit diesen Tieren in dieser Scheune zu lassen, aber gehen lassen kann ich dich leider auch nicht. Du würdest mich sofort verraten … nein, du brauchst es gar nicht zu bestreiten, ich weiß es. Du magst die Lykaner, bist sogar mit ein paar von ihnen befreundet. Wenn ich dir die Chance ließe, würdest du sofort zu ihnen gehen.“

Da hatte er Recht, aber das würde ich ihm sicher nicht auch noch unter die Nase reiben. „Und das heißt?“

„Das heißt, wir werden sehen. Jetzt habe ich erst mal anderes zu tun.“

Ich sprang an das Gitter und umklammerte die kalten Stäbe mit den Fingern. „Du kannst mich nicht ewig hier festhalten. Veith wird mich finden. Er ist da draußen und such garantiert schon nach mir.“ Etwas anderes würde sein Beschützerinstinkt gar nicht zulassen – hoffte ich zumindest.

Erion wirkte nicht im Mindesten nervös. „Das mag sein, aber er wird dich nicht finden. Genau wie du folgt er einer falschen Spur. Weder er, noch ein anderer der Lykaner hat es in den letzten Monaten geschafft auch nur einen Hinweis darauf zu finden, wo die verschwundenen Wölfe stecken. Glaubst du wirklich, nur weil du jetzt hier bist, dass sich daran etwas ändern wird?“

Nein vermutlich nicht. Aber wie heißt es so schön? Die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt. „Veith wird uns finden und dann wird er dir den Hals umdrehen!“, schleuderte ich ihm entgegen.

Das beeindruckte den Magier nicht im Geringsten. „Darauf lasse ich es gerne ankommen. Wenn du mich nun entschuldigst. Es war mir wie immer eine Freude, mich mit dir zu unterhalten, aber die Zeit drängt.“ Damit wandte er sich von mir ab und ich konnte dabei zuschauen, wie er die Zelle mir gegenüber öffnete. Schon bevor er überhaupt die Finger am Gitter hatte, sprangen die Wölfe darin freudig auf und drängten sich an der Tür. Sie sprangen am Gitter hinauf, fiepten ungeduldig und waren regelrecht verzückt von Erions Anwesenheit.

Die Vierbeiner huschten hinaus auf den Gang, winselten um Aufmerksamkeit, freuten sich, wenn ihnen kurz das Köpfchen getätschelt wurde und wedelten mit ihren Ruten.

Kovu knurrte warnend, als einer von den Wölfen an unsere Zelle kam und weil mir der Blick von diesem grauen Vieh nicht sonderlich gefiel, wich ich besser zurück und ließ mich zurück an Kovus Seite auf die dünnen Decken gleiten.

Die nächsten Minuten verfolgten Kovu und ich, wie Erion die Zellen nacheinander aufschloss und die Wölfe hinausließ. Sie freuten sich über ihn, rieben ihre Köpfe an seinen Beinen und folgten sofort, als er ihnen den Befehl gab, die Scheune zu verlassen und draußen auf ihn zu warten. Egal was er mit ihnen gemacht hatte, jetzt waren sie ihm hörig.

Als er die Zelle links gegenüber aufschloss, in der Julica am Gitter lag und geduldig wartete, bis sie an der Reihe war, schob ich mich wieder nach vorn und rief nach ihr. Weder meine Stimme, noch ihr Name lösten bei ihr irgendeine Reaktion aus. Und als ich die Hand durchs Gitter steckte, riss Kovu mich eilig zurück. Nur eine Sekunde, bevor Wolfzähne genau an der Stelle zusammenschlugen, wo ich gerade noch meine Hand hatte. Ein gräulicher Wolf funkelte mich an und zog die Lefzen hoch.

Kovu knurrte und zeigte ihm ebenfalls die Zähne.

„Er wollte mich beißen.“ Ich war viel zu geschockt, um wirklich ängstlich zu sein. Ich war eher sauer. „Der hätte mir die Hand abgebissen!“

„Ja, hätte er“, bestätigte Kovu.

„Darum ist es besser, wenn du alle deine Gliedmaßen bei dir im Käfig behältst.“ Kaj erschien vor meiner Zelle, die Arme verschränkt und nichts als Verachtung für mich im Blick. „Außer natürlich, sie bedeuten dir nichts, dann mach nur weiter so.“

Ein weiterer Schwall Wölfe lief durch den Gang. Heiseres Bellen, Fiepsen und leises Knurren begleiteten sie, als sie Erion begrüßten. Unter ihnen entdeckte ich einen roten Riesen mit weißem Bauch, der sich an Erion lehnte und einen anderen Wolf weg biss, der versuchte ihm seinen Platz streitig zu machen. „Pal!“

Der große rote Wolf drehte seinen Kopf in meine Richtung. Er legte den Kopf schief, als versuchte er, meinen Anblick zu verarbeiten.

„Pal, ich bin´s, Talita. Pal.“

Er machte einen zögerlichen Schritt auf mich zu, aber dann gab Erion den Befehl, draußen zu warten und er gehorchte ohne Zögern.

„Nein, nein, nein!“ Ich rannte zurück ans Gitter und sah ihm hinterher. „Pal, komm zurück, PAL!“

„Er wird nicht kommen“, sagte Kaj gleichgültig. „Jedenfalls nicht, solange Erion es ihm nicht befiehlt. Er ist nichts weiter als eine hirntote Marionette mit jeder Menge Muskeln.“

„Er hat aber reagiert. Ich habe ihn gerufen und er hat darauf reagiert!“ Das hatte ich mir doch nicht eingebildet, er hatte zu mir geguckt, als ich ihn gerufen hatte, ja sogar einen Schritt in meine Richtung getan. Ich hatte es genau gesehen!

„Das ist nur, weil er noch so neu ist. Am Anfang tun sie das alle, aber das vergeht schnell.“

Was sollte das heißen? Konnte ich ihn noch retten, hatte er noch eine Chance? Und was war mit Julica? Sie hatte nicht auf ihren Namen reagiert, hieß das, dass für sie jede Hilfe zu spät kam? Klar, am Anfang mochte ich sie nicht besonders, aber ich würde nicht zulassen, dass sie in diesem Zustand verkümmerte. Egal, was Erion getan hatte, es war gegen ihren Willen geschehen. Freiwillig würde kein Werwolf einen Magier zu seinem Alpha erklären. „Erion! Komm sofort her, Erion, mach das rückgängig“, schrie ich durch die Scheune. „Lass sie frei, oder ich schwöre dir, ich werde hier rauskommen und das erste Mal in meinem Leben etwas jagen, das nicht tierisch ist! Hast du gehört? Erion, ich werde dich umbringen, ich mach dich fertig! Dein eigener Vater wird dich nicht wiedererkennen, Erion!“ Diese und noch ein paar andere Drohungen stieß ich aus, während ich am Gitter rüttelte und tobte, aber es half nichts, die Gitter waren stabil und Erion zeigte sich nicht mehr.

Meine Wut auf ihn war plötzlich so unbändig, dass ich ihm mit den Krallen durchs Gesicht gefahren wäre, wenn er mich nicht hier eingeschlossen hätte. Was er hier machte war mehr als grausam, es war wider die Natur, selbst nach magischen Regeln. Kein Wolf sollte unter der Herrschaft eines Magiers stehen. Und ganz besonders nicht Pal.

 

°°°

 

Die letzte Wolfsrute verschwand, dann wurde es in der Scheune unnatürlich ruhig. Die Wölfe waren weg, Erion war weg und ich saß hier in dieser Falle und konnte nichts dagegen tun. Nur Kaj war noch hier, um zurück zum Anwesen zu fahren. Sie sollte für Erion die Stellung halten und damit wurde sie das Ziel meiner ohnmächtigen Wut – irgendwo musste ich die schließlich abladen, um nicht zu platzen. „Wie kannst du nur seelenruhig danebenstehen, wenn er deinesgleichen so missbraucht!“, fauchte ich sie an. „Du bist eine von ihnen! Wie kannst du nur mit dem Wissen leben, sie an einen geisteskranken Magier ausgeliefert zu haben?! Das dein Rudel dich verstoßen hat, kann ich verstehen, so gestört wie du bist!“

„Sei ruhig“, knurrte sie. Ihre Gesichtsfarbe war mit jedem weiteren Wort von mir käsiger geworden.

„Warum, weil du die Wahrheit nicht vertragen kannst? Du bist nichts weiter als eine …“

„Die Wahrheit?“, spottete sie. „Keiner von euch kennt die Wahrheit!“

„Die Wahrheit ist, dass du ein Monster bist, eine Psychopathin, die sich an Welpen vergreift, damit sie sich groß fühlen kann. Dein Rudel hätte dich nicht verbannen, sondern …“

„SEI STILL!“, kreischte sie mit schriller Stimme. Ihre Brust hob und senke sich, als sei sie gerade einen Marathon gelaufen. „Du hast doch keine Ahnung, keiner von euch! Ihr nennt mich Welpenfresserin, aber fragt einer von euch Mal nach dem Warum? Nein, natürlich nicht, es interessiert ja keinen. Ihr habt euch ein Urteil gebildet und haltet daran fest, weil es bequemer ist als die Wahrheit! Niemanden interessiert es, dass diese Welpen schon siebzehn Jahre zählten, dass sie zugedröhnt waren und auf der Suche nach ein wenig Spaß. Niemand interessiert es, dass sie auf dieser Suche mich gefunden haben und dass sie … niemand war da, um mir zu helfen. Als sie fertig gewesen sind, haben sie mich liegengelassen, als sei ich nichts weiter als Dreck. Ich brauchte meine Rache. Oh ja, diese Welpen haben den Tod verdient, genau auf die Art, wie sie ihn bekommen haben. Für das, was sie getan hatten, hätten sie noch wesentlich mehr verdient. Und mit ihrem Tod hätte ich damit abschließen können, doch mein Rudel schimpfte mich Welpenfresserin, nahm mir mein Kind, mein wunderhübsches Baby und jagte mich davon. Sie sagten, mein Sohn sei nicht sicher bei mir, erzählten ihm, dass ich tot sei, versteht ihr? Sie erzählten meinem Baby, dass ich tot bin! Und niemand hat sich für mich eingesetzt. Findet ihr das vielleicht gerecht? Ist es das, was ich verdient habe?“

Dieser kleine Ausbruch verschlug mir erst mal die Sprache und das Gefühl das sich in mir breit machte, was nicht Mitleid, sondern Begreifen. Ein Begreifen, dass ich nicht näher erkunden wollte.

„Hör auf damit, Sven, ich meine es ernst, ich will das nicht!“

„Mann, dass ihr Mädchen immer so rumzicken müsst.“

„Ja, jetzt versteht ihr, ich sehe es euch an“, sagte sie abfällig. „Aber ich brauche kein Mitleid! Diese Wölfe haben es nicht besser verdient, keiner von ihnen. Niemand hat mir geholfen. Mein Rudel hat mir nicht nur mein Baby weggenommen und mich verstoßen, sie haben auch unter allen anderen Rudeln das Gerücht verbreitet, ich würde Welpen töten und fressen, damit niemand auf die Idee kommt, mich aufzunehmen. Ohne nachzufragen, haben die Rudel es akzeptiert – alle! – und mich wie ein Stück Wild gejagt. Nur Erion war für mich da, nur er hat mich aufgenommen und dafür gesorgt, dass ich nicht an Einsamkeit verrecke.“

„Und das rechtfertigt es, dass du sie Erion auslieferst? Rache? Ist dass alles, was dich motiviert?“ Hatte Erion nicht erzählt, dass er sie erpressen musste, damit sie ihm half? Womit?

Kaj presste ihre Lippen aufeinander und ballte ihre Hände an der Seite zu Fäusten. „Sie haben es nicht besser verdient.“

„Und was ist mit den anderen Wölfen?“, fragte Kovu ganz ruhig. „Welche Entschuldigung hast du für all die toten Einzelläufer?“

Sie Spießte ihn mit einem Blick auf. „Das war ich nicht, die haben sich gegenseitig umgebracht. Da musste niemand nachhelfen.“

In meinen Ohren klang das, als versuchte sie, sich vor sich selber zu rechtfertigen, trotzdem, ich wusste nicht genau warum, aber ich glaubte ihr. Und doch gab es da noch eine Leiche, von der ich ganz genau wusste, dass sie dafür verantwortlich war. „Und was ist mit dem alten Mann im Wald?“

Sie schwieg, bedachte mich mit einem abschätzigen Blick. „Ich weiß zwar nicht, was dich das angeht, aber ich kann dir versichern, dass es ein Unfall war. Ich wollte das nicht.“

Also, entweder war sie eine verdammt gute Schauspielerin, oder sie meinte es verflucht noch mal ernst, denn eine solche Reue wie ich in ihren Augen sah, empfand man als kaltblütiger Killer nicht. Dennoch gab es da noch eine Frage, die dringend geklärt werden musste – nicht dass ich sie danach von all ihrer Schuld freisprechen würde, dafür hatte sie einfach zu viel angerichtet, aber ich musste noch etwas wissen, um mir Gewissheit zu verschaffen. „Was ist mit der kleinen, weißen Wölfin? Was hast du mit ihr gemacht?“

Sie kniff die Augen zusammen. „Das geht dich nichts an.“

Auch Kovu verengte seine Augen. „Hast du sie gefressen, Welpenfresserin?“

Dafür wurde er nur angeknurrt. Ohne ein weiteres Wort wandte Kaj sich von uns ab und ging zu einer Truhe in der Ecke, die ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Nach kurzem Rumgefummel an dem Verschluss klappte sie den Deckel auf und zog ein Tigerfell aus der Kiste. Geübt, als hätte sie es schon tausendmal getan, warf sie es sich über die Schultern. Kaum, dass das Leder ihre Haut berührte, setzte die Verwandlung ein und nur wenige Sekunden später stand vor mir der Tigerwolf, der einen überwältigenden Geruch nach Wildkatze ausströmte.

Also waren meine Überlegungen wohl doch nicht so ganz aus der Luft gegriffen gewesen. Unser Täter hatte wirklich einen Helfer und der Tigerwolf existierte nur durch Magie. Leider kam diese Erkenntnis ein wenig zu spät. Ich war hier gefangen und konnte nichts mehr unternehmen.

Kaj würdigte uns keines Blickes mehr, als sie zum Scheunentor hinaus trappte. Ich konnte nichts weiter tun, als ihr hinterherzusehen und mir meiner Ohnmacht klar zu werden. Ich konnte nichts tun, ich hatte es versaut, weil ich mich so auf Anwar versteift hatte.

Wie hatte es nur so weit kommen können?

 

°°°

 

Noch lange nachdem Kaj gegangen war, saß ich da und starrte durch die Gitter auf den kalten, dreckigen Steinboden. Plötzlich sah ich ihren Hass und ihre Verbitterung mit ganz anderen Augen. Was sie erlebt hatte war … ich konnte verstehen, warum sie tun musste, was sie getan hatte. Tief drinnen kannte ich dieses Gefühl, wusste was sie bewegte und warum sie diese Welpen getötet hatte. Und das war echt unheimlich. Nur mit dem Leichenfressen hatte sie es dann doch ein wenig übertrieben – hatte sie das überhaupt getan, oder war das nur ein weiteres Gerücht?

„Ist dir kalt? Du zitterst.“

Mir war kalt, aber nicht auf die Art wie er glaubte. „Mir geht´s gut.“

Kovu rutschte hinter mich, zog mich an seine Brust und vergrub seinen Kopf in meinem Nacken. Anfangs wäre dieses Verhalten für mich unangenehm gewesen – was hieß, es war unangenehm. Solche Nähe und Vertrautheit, ja sogar Intimität teilte man nicht mit jedem, aber ich hatte in der Zwischenzeit verstanden, dass Wölfe das nicht wegen irgendwelcher sexuellen Anziehungskraft machten. Körperkontakt beruhigte sie, gab ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Es hätte auch Tyge sein können, der hier mit ihm in der Zelle saß und Kovu hätte sich nicht anders verhalten.

So war das nun Mal im Rudel und irgendwie war ich zu einem kleinen Teil in diese Gemeinschaft hineingerutscht. Glaubte ich. Es deutet zumindest viel darauf hin.  

Kovu sog tief die Luft ein und noch mal.

Ich stutze. „Sag mal, schnüffelst du an mir?“

„Ja.“

O-kay. „Gibt es dafür einen bestimmten Grund, oder war die einfach mal danach.“

„Mir war gerade danach.“

Wie ich schon sagte, Körpernähe gab einem Wolf Sicherheit und umso herumzualbern, musste man sich wirklich sicher fühlen.

 

°°°

 

Ich war halb im Dämmerschlaf, als ich hörte, wie die schwere Tür zur Scheune geöffnet wurde. Waren sie schon wieder zurück? Hatte Erion es bereits geschafft, sich ein Drachenherz anzueignen? Was würde er mit den Lykanern machen, jetzt, wo er alles hatte, was er wollte?

Ich bewegte mich nicht, wartete nur ab. Nicht, das Aufspringen und Rumschreien einen Unterschied gemacht hätte, ich kam so oder so nicht aus dieser Zelle heraus – der Kleine hatte das bereits zur Genüge versucht, wie er mir verraten hatte.

Kovu, der hinter mir lag, blieb genauso ruhig. Ich wusste, dass er wach war, merkte es an der plötzlichen Anspannung in seinem Arm, den er um mich geschlungen hatte. Und auch sein Atmen war anders. Konzentriert, ruhig.

Seine Körperwärme beruhigte mich. Und dann hörte ich ihn.

„Wo ist sie?“

Veith! Oh mein Gott, das war Veith! Halluzinierte ich? Nein, tat ich nicht, auch Kovu hatte auf seine Stimme reagiert. Er richtete sich hinter mir auf und lauschte angestrengt.

„Da vorn, in der siebenten Zelle.“ Das war Kajs Stimme. Hatte sie ihn auch erwischt? Das durfte doch einfach nicht wahr sein!

Ich wartete voller Anspannung und dann stand er plötzlich vor den Gitterstäben. Als er mich und Kovu entdeckte, glomm in seinen Augen einen kurzen Augenblick Erleichterung auf. „Sie sind hier Papá“, rief er und rüttelte Probeweise am Gitter.

„Veith!“ Mich hielt nichts mehr auf dem Boden. Nur einen Tick vor Kovu erreichte ich die Zellentür. Gleich darauf erschien Tyge neben seinem Sohn, die Hand um den Arm einer ziemlich angeschlagenen Kaj, die das Tigerfell umklammerte, als sei es ihr rettender Anker.

„Wie habt ihr uns gefunden?“, war die erste Frage, die mir über die Lippen kam.

„Kaj war so freundlich, uns über deinen Aufenthaltsort zu informieren“, sagte Veith mit tödlicher Ruhe und ruckelte erneut am Gitter, dieses Mal mit etwas mehr Nachdruck. „Dabei erfuhren wir, dass sie auch Kovu und Julica eingefangen hatten.“

„Es war nicht Anwar, es war Erion“, sagte ich. „Er hat die …“

„Wölfe entführt.“ Veith nickte. „Das wissen wir in der Zwischenzeit auch.“

„Ja, aber er ist mit ihnen bereits weg“, redete ich weiter auf ihn ein. „Er hat Pal, Julica und Isla mitgenommen. Wir müssen ihm hinterher.“

Veith knurrte und trat kräftig gegen das Gitter.

„Ohne Schlüssel geht die nicht auf“, informierte ich ihn.

Er warf mir einen bösen Blick zu. „Ich habe aber keinen Schlüssel, du etwa?“

„Mann, haben wir heute aber wieder gute Laune“, murrte ich. „Dabei bin doch ich diejenige, die hier entführt, niedergeschlagen und in einen Käfig gesteckt wurde.“

Kovu grinste. „Außerdem ist das Essen hier eine Zumutung.“

Gott, der Kerl ist manchmal eine echte Zumutung. Wie kann er jetzt nur ans Essen denken? Das musste ein  Männerding sein, dass eine Frau niemals verstand.

„Die Schlüssel trägt Erion bei sich“, verkündete Kaj mit einem hämischen Lächeln. Aus einer Wunde an ihrer Lippe tropfte ein wenig Blut. An der Stirn hatte sie eine Platzwunde und nette Kratzer zogen sich über Hals und Arme. Ich musste mich gar nicht fragen, wer das war. Veith Blick, mit dem er sie erdolchte, war mir Antwort genug. „Nur er kann die Zellen öffnen“, fügte sie überlegen hinzu, ganz nach dem Motto: „Tja Leute, Endstation.“

„Außer einer von euch kann zufällig Schlösser knacken“, sagte ich.

Veiths und Tyges Blicke sollten hier nicht weiter erläutert werden.

„War ja nur so eine Idee“, sagte ich kleinlaut.

Veith zog an dem Gitter. Seine Armmuskeln spannten sich an und …

„Das habe ich schon versucht“, sagte Kovu. „Keine Chance. Die sind extra für Lykaner konstruiert worden.“

Um seinem Frust ein Ventil zu geben, trat Veith gegens Gitter. Na toll, das war ja wieder typisch. Gab ich ihm einen hilfreichen Tipp, reagierte er mit Sarkasmus, tat Kovu das Gleiche, akzeptierte er es einfach.

Kajs Lächeln wurde breiter. „Ihr kriegt sie nicht raus.“

Und das nächste geschah so schnell, dass ich es nicht richtig mitbekam. Veith wirbelte herum, packte Kaj an der Kehle und drückte sie mit so viel Schwung gegen das Gitter meiner Zelle, dass nicht nur die Stäbe zitterten, sondern ein hohler Gong durchs Gebäude hallte. Kovu und ich machten einen überraschten Satz zurück und dann war nur noch Kajs Röcheln zu hören.

Veith sagte nichts, drückte der blonden Wölfin nur immer weiter die Kehle zu. Sie kratzte ihn durchs Gesicht und an den Armen, versuchte seinen Griff von ihrem Hals zu lösen, doch es brachte nichts, er war zu stark. Sie lief bereits blau an. In ihren Augen war die blanke Panik zu lesen.

Ich konnte mich nicht bewegen. Dieser Anblick war einerseits faszinierend und andererseits so abstoßend, dass ich, selbst wenn ich nicht eingefroren wäre, nicht gewusst hätte, was ich tun soll. Auch Tyge und Kovu machten nichts. Die beiden waren nicht, wie ich, erstarrt, sie waren nur eiskalt. Es interessierte sie einfach nicht, was mit einer Welpenfresserin geschah. Selbst Kovu nicht, trotz der Dinge, die Kaj uns erzählt hatte.

Kajs Bewegungen wurden schwächer.

Ich hielt es nicht mehr aus. „Veith, lass sie los, du tötest sie noch!“

Er ignorierte mich.

Ich trat einen Schritt nach vorn und wurde sogleich von Kovu aufgehalten, der seine Arme um mich schlang. „Nein, lass mich los, er tötet sie!“ Ich strampelte wie wild. Genauso gut hätte ich versuchen können, einen Baum aus dem Erdreich zu reißen. Es brachte einfach nichts, er ließ nicht los. „Veith, nein, tu es nicht!“, schrie ich. Klar, sie hatte Fehler gemacht, sogar einen Haufen, aber es war nicht richtig, was er da tat. Wenn er das durchzog, war er nicht besser als Erion. Und genau das sagte ich ihm auch. Aber es war egal, er ignorierte mich weiter.

Weitere Sekunden vergingen, bevor Kajs Körper einfach erschlaffte. Erst dann nahm Veith seine Hand weg, ließ sie wie ein Stück Dreck auf den Boden zu seinen Füßen fallen. Sein Blick, der war kalt – so kalt, dass es mich fror. „Du hast sie getötet“, sagte ich fassungslos. Ich hatte ihn schon ein paar Mal töten sehen, Beute auf der Jagd, aber er war niemals so empfindungslos dabei gewesen. „Du hast sie einfach erwürgt.“

„Sie ist nicht tot, nur bewusstlos“, teilte er mir ungerührt mit. „Und darüber kann sie froh sein.“

Ich konnte es nicht glauben, war fassungslos. Die Wölfe von dieser Seite zu erleben, ließ mich zurück an meinen ersten Tag beim Rudel denken. Damals hatte ich sie für Monster gehalten. Pal hatte alles versucht, um mir dieses Bild auszutreiben und irgendwie war ihm das auch gelungen, aber jetzt, nach diesem Anblick, kam alles wieder zurück. Ich machte mich von Kovu los und wich bis an die Rückwand zurück. Der Kleine wollte mir folgen, aber ich hob abwehrend die Hände. „Komm mir ja nicht zu nahe.“ Ich öffnete mich meiner Magie, ließ sie über meine Haut fließen, hieß das Gefühl der Verwandlung willkommen. Kovu verstand die Drohung dahinter, komm´ mir zu nahe und du wirst meinen Krallen spüren.

Er ließ die erhobene Hand sinken und sah hilfesuchend zu seinem Bruder und seinem Vater, doch die konnten auch nichts tun.

„Das sind wir“, sagte Veith dann leise. „Unser Wesen. Kaj hat sich am Rudel vergriffen, sie hat viel mehr als das verdient. Komm damit klar.“

„Sie war in der Unterzahl, sie war gerade keine Gefahr für dich, oder sonst jemanden in dieser Scheune. Es war unnötig.“

Veith schüttelte den Kopf. „Ich werde mich weder entschuldigen, noch verstellen, nur damit du deine rosarote Brille nicht abnehmen musst. Wir sind Tiere, Talita, begreif das endlich. Du bist nicht anders.“

Doch, ich war anderes. Ich war ein halber Mensch und das machte mich anderes auf eine Art, die er nie verstehen würde. Äußerlich konnte ich die Gestalt eines Tieres annehmen, aber innerlich blieb ich doch ein Mensch.

Veith wandte sich wieder dem Problem mit dem Gitter zu. Kovu und Tyge halfen ihm. Ich blieb am Rand stehen und beobachtete, wie sie versuchten die Gitter zu biegen, zu brechen und sich sogar einen Holzstamm von draußen holten, um die Stäbe aus dem Mauerwerk zu schlagen. Aber nichts funktionierte. Diese Käfige waren wirklich werwolfsicher.

Ich war zwar unsicher, was ich jetzt über die Wölfe denken sollte, aber hier rauskommen wollte ich trotzdem. Außerdem war Pal da draußen und brauchte meine Hilfe. Also dachte ich über alles nach, was ich übers Schlösserknacken und ausbrechen wusste – was nicht viel war. Mein Wissen bestand hauptsächlich aus Büchern und Filmen – schon ziemlich traurig.

Die drei berieten gerade über ihr weiteres Vorgehen, als mein Blick auf die Scharniere der Tür fiel und ich einen Gedankenblitz bekam. „Aber natürlich, Jack Sparrow.“ Mit drei schnellen Schritten war ich an der Tür. Beim Anblick der Scharniere hätte ich beinahe gejubelt. „Wir sind ja so blöd. Sie hat halbe Stifte!“

Tyge zog verwirrt die Stirn kraus. „Halbe Stifte?“

„Natürlich. Captain Jack Sparrow.“ Ich warte darauf, dass sie verstanden. „Fluch der Karibik? Als Jack im Kerker gelandet ist und … ach, vergesst es“, sagte ich auf ihre unverständlichen Gesichter hin. Filmische Anspielungen waren hier von Grund auf verloren. „Worum es geht, ist, dass wir die Tür ganz einfach aufbekommen, wir müssen sie nur aushebeln. Benutzt den Ast dazu. Ihr müsst … nein, schieb ihn unter die Tür, genauso und jetzt holt den Tisch, damit ihr die Hebelwirkung nutzen könnt. Ja, genauso.“ Sie folgten meinen Anweisungen und bauten alles so auf, wie ich es mir vorstellte. Dann drückten sie auf den Ast und … er brach mitten durch. Naja, in Filmen sah so etwas immer einfacher aus, als es in Wirklichkeit war.

Ein zweiter, dickerer Ast wurde herbeigeschafft und nach einigem rumprobieren gelang es Tyge und Veit wirklich die Tür aus den Angeln zu heben. Mit einem lauten Scheppern fiel sie in den Gang. Endlich konnte ich aus diesem dreckigen Käfig raus, aber noch war meine Arbeit nicht beendet. Wir mussten uns noch etwas für Kaj einfallen lassen, da wir sie ja nicht einfach hier liegen lassen konnten. Also wurde sie in unsere Zelle gesteckt und die Tür wieder eingehängt.

„Wenn die aufwacht, wird sie ganz schön dämlich aus der Wäsche gucken“, lächelte Kovu. „Wir sind nicht nur rausgekommen, nein, wir haben auch noch mit ihr die Plätze getauscht.“ Erwartungsvoll richtete er seine Augen auf mich, aber ich hatte keinen Spaß an diesem Witz.

„Lasst uns einfach hier verschwinden und zusehen, das wir Pal finden.“ Und, sobald ich ihn wiederhatte, musste ich mir dringend ein paar Gedanken machen.

 

°°°

 

Draußen vor der Scheune wartete ein grünes, wohlbekanntes Moob auf uns. „Gehört das nicht Gaare?“

„Wir haben es uns ausgeborgt.“ Veith riss die Fahrertür auf und ließ sich hinter die Steuerung gleiten. Tyge nahm den Beifahrersitz. Kovu und ich rutschen auf die Rückbank. Ich musste auf allerhand Bücher aufpassen, die ziemlich alt wirkten. Gaare würde es mir nie verzeihen, wenn ich auch nur eines davon leicht beschädigen würde. „Das heißt also, ihr hab ihn geklaut“, reimte ich mir zusammen.

„Wir brauchten dringend ein Fortbewegungsmittel“, teilte Veith mir ohne Spur von Reue mit.

„Wie habt ihr überhaupt rausgefunden, dass Kaj etwas damit zu tun hat?“ Meine Pfoten zwischen den ganzen Büchern zu sortieren, war gar nicht so einfach.

„Sie hat nach dir gerochen“, antwortete Tyge. „Du hättest sie nie freiwillig so nahe an dich herangelassen, daher haben wir geahnt, dass da etwas nicht stimmen kann. Außerdem roch sie seltsam stark nach Katze.“

Was? Das. was ich da hörte, konnte ich kaum glauben. Kaj wusste doch, dass auf Anwars Anwesen die anderen Wölfe waren und hätte damit rechnen müssen, dass sie mich an ihr riechen. Die ganzen letzten Monate war sie doch schließlich auch vorsichtiger gewesen. Aber vielleicht hatte sie es ja mit Absicht getan, damit Veith … nein, das hieße, das sie plötzlich ein Gewissen entwickelt hätte. Diese Gedanken waren müßig, deswegen schob ich sie erst mal zur Seite.

Ich stapelte die Bücher so, dass sie zwischen mir und Kovu waren. Egal, wie lieb ich den Kleinen hatte, dass, was in der Scheune geschehen war, konnte ich nicht einfach so vergessen und mit drei Wölfen in einem Moob zu sitzen, war für meine Nerven im Moment nah genug. „Sie haben Stunden an Vorsprung“, sagte ich dann und schaffte es endlich meine Beine zu ordnen. „Sie einzuholen schaffen wir nie.“ Ich hatte den seltsamen Sitzgurt kaum festgeschnallt, da raste das Moob schon los.

„Ein paar Stunden sind nicht so schlimm“, kam es von Veith. „Erion muss ein Transportermoob benutzt haben, um die ganzen Wölfe zu dem Drachengebirge zu bekommen, anders wäre es zu auffällig. Lykaner in so großer Zahl würden eine Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das bedeutet, dass er nicht schneller unterwegs sein kann als wir, vielleicht sogar noch langsamer.“

„Aber es sind trotzdem Stunden“, gab ich zu bedenken.

„Eine Drachenjagd ist nicht so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst.“ Er lenkte den Wagen auf eine unbefestigte Straße und dann gab er richtig Gas. „Das Gebirge ist hoch und sehr unzugänglich. Es wäre dem Ziel nicht förderlich, wenn er die Wölfe dort hineinschickt. Das würde ihm die Hälfte seines Gefolges kosten, noch bevor er überhaupt auf einen Drachen trifft. Er wird vor den Ausläufern des Gebirges warten müssen. Die Drachen müssen herunterkommen. Ein Drache auf Beutezug in flacher Ebene ist wesentlich einfacher zu jagen, daher wird er abwarten. Er braucht alle Wölfe, um an sein Ziel zu kommen.  Einen Fehlschlag wegen Ungeduld würde er nicht riskieren, nicht, nachdem er so lange gewartet hat.“

Keine Ahnung, ob er mich davon überzeugen wollte, oder sich selber. „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Ich lehnte mich in den Sitz zurück und hoffte, dass er recht haben würde. „Aber, ihn zu finden ist nur die halbe Rechnung. Was machen wir wenn wir ihn gefunden haben. Nichts wird Erion daran hindern die Wölfe auf uns zu hetzen.“

„Ganz einfach, wir brechen ihm das Genick und hoffen, dass sein Zauber mit ihm zusammen stirbt.“ Veith sagte das so kalt, dass ich keinerlei Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit hatte. Die Gefühlsleere in seiner Stimme ließ mich zittern. Und wieder sah ich ihn vor mir, wie er Kaj an die Stäbe presste. Nein, er war kein Monster, er war etwas viel gefährlicheres, ein Raubtier, gepaart mit der Intelligenz eines Menschen. Das waren alle Werwölfe und ich war die ganze Zeit einfach nur zu blind gewesen, das zu erkennen.

Aber eine Frage gab es da trotz allem noch zu klären. „Und was ist, wenn der Zauber nicht bricht?“

Veith kniff die Lippen zusammen, die Augen starr auf die Straße gerichtet.

„Wir sind zu viert, wie viele Werwölfe hat er? Fünfzig? Sechzig? Wir können uns niemals gegen sie alle zur Wehr setzten, wir brauchen einen Plan B, sonst kann es passieren, das wir ganz schnell am Arsch …“

„Das weiß ich doch, hältst du mich für dumm?“, fuhr er mich an. Sein Ton ließ mich verstummen. Es war der gleiche, abschätzige Ton, mit der er mich früher immer angeredet hatte, als er mich noch nicht … was? Liebte? Mochte? Als gleichgestellt ansah? Ich war immer noch einfach nur eine Katze, die zufällig die gleichen Ziele verfolgte, wie das Rudel. Ich sollte nicht immer vergessen, dass ich nach wie vor nichts weiter als ein Außenseiter war, ein lästiges Anhängsel. Und das würde sich in Veiths Augen auch niemals ändern.

„Ich weiß das doch alles“, knurrte er.

„Wenn ich vielleicht mal einen Vorschlag machen dürfte“, kam es von Kovu. „Es ist doch eigentlich ganz einfach, wir brauchen mehr Wölfe.“

„Und wo sollen wir die herbekommen?“, fragte ich bissig. „Trägst du die vielleicht bei dir in der Tasche mit herum, weil, eurem Rudel Bescheid zu sagen, hilft uns jetzt auch nicht mehr. Dafür ist das Lager einfach zu weit weg.“

Kovu sah mich gekränkt an.

Na toll, jetzt hatte ich meinen Frust an dem Kleinen ausgelassen, der nun gar nichts dafür konnte, das sein Bruder ein Arsch war. „Kovu, es tut mir leid. Ich wollte …“

„Kovu, ruf Prisca an“, fuhr Veith mir über den Mund. „Das Steinbachrudel und die Landsitzer haben in der Nähe des Gebirges ihre Territorien. Sie soll sie zur Mithilfe bewegen.“

„Die Landsitzer?“ Kovu verzog das Gesicht. „Glaubst du wirklich das …“

„Tu einfach was ich dir sage.“ Veith warf Kovu sein Vox in den Schoss. Dann wurde es im Moob ruhig. Nur Kovus Stimme, die seinem Rudelalpha die Situation und den Plan erklärte, drang durch den Innenraum. Prisca verabschiedete sich mit den Versprechen, mit den anderen Rudeln zu sprechen und sich dann noch einmal zurückzumelden. Dann wurde es für viele Stunden ruhig.

 

°°°°°

Tag 76

Als wir endlich an unser Ziel gelangten, schickte sich die erste Sonne bereits an, aufzugehen. Ich wurde wach, als das Moob langsam ausrollte – ausgleitete? – und stoppte und Kovu mich zaghaft an der Schulter wachrüttelte. „Komm schon Schlafmütze, wir sind da.“

„Was heißt hier Schlafmütze?“, grummelte ich und gähnte einmal herzhaft. „Du hast doch bereits vor mir gepennt.“

„Hey, ich hatte dafür letzte Nacht aber nur zwei Stunden Schlaf, wohingegen du die ganze Nach weggetreten warst.“

„Niedergeknüppelt zu werden zählt ja wohl nicht“, murrte ich und tat es den beiden vorn gleich. Ich öffnete meine Tür und stieg aus.

Wir waren umgeben von dichtem Wald, aber die Bäume sahen nicht mehr so aus, wie die vertrauten Riesen aus Priscas Revier. Diese hier waren kleiner, schmächtiger. Dünner eben. Und doch erinnerten sie mich an die Wolfsbäume.

Der Samen, dem sie entsprungen sind, liegt wohl noch nicht so lange unter der Erde, wie der, der in Veiths Zuhause die Bäume wachsen lässt.

Bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. Ich wollte gar nicht so genau darüber nachdenken, was genau das für ein Samen war, dafür hatte ich Pals Worte noch zu deutlich in den Ohren.

„Wenn ein Lykaner stirbt, wird er in diesem Wald gebracht. Wir vergraben ihm, geben ihn und seine Magie der Erde zurück und aus seinen sterblichen Überresten wird ein Wolfsbaum, der uns ein Zuhause und Schutz bietet.“

„Soll das heißen, ich latsche hier über einen Friedhof?“

„Nein, das hier ist kein Friedhof. Auf einem Friedhof gibt es kein Leben.“

Es stimmte, eine Gräberanlage war ein toter Ort, doch hier pulsierte das Leben. Alles war grün, in den Ästen der Bäume und Sträucher hockten die Kreaturen dieses Waldes. Vögel sangen ihre Lieder. Alles wirkte so friedvoll, als wäre die ganze Angelegenheit mit Erion nur ein weit entfernter Alptraum, der mich hier nicht berühren konnte. Aus seinen sterblichen Überresten wird ein Wolfsbaum, der uns ein Zuhause und Schutz bietet. „Na, mal sehen, ob ihr das mit dem Schutz auch jetzt hinbekommt“, murmelte ich zu den nächstgelegenen Baum und kam mir dabei fast überhaupt nicht dämlich vor.

„Hast du was gesagt?“, fragte Kovu und schlug zeitgleich mit mir die Wagentür zu.

„Was? Nein, schon gut.“ Ich umrundete den Wagen und eilte mit dem Kleinen zu Veith und Tyge, die es wohl für Zeitverschwendung hielten, auf uns zu warten. Ich konnte sie ja verstehen, um rumzutrödeln war nun wirklich nicht der passende Augenblick. So folgte ich den angespannten Männern tiefer in einen Abschnitt des Waldes, den ich noch nie in meinem Leben betreten hatte.

Übers Vox hatte Tyge sich mehr als einmal mit Prisca kurzgeschlossen, so wusste ich bereits, dass die beiden Rudel, die wir angefordert hatten, unserem Ruf gefolgt waren und so wussten wir auch, wohin wir gehen mussten. Nicht lange nach unserem Start hörte ich bereits die ersten leisen Stimmen an mein Ohr dringen. Unsere Anspannung wuchs und wurde auch nicht besser, als wir zwischen den Bäumen im Schatten eines ausladenden Himbeerstrauchs, einen dunkelbraunen Wolf entdeckten, der uns misstrauisch beäugte. Wenigstens ließ er uns ungehindert passieren und so kamen wir schon bald im Zentrum der Stimmen an.

Überall standen, saßen und lagen Wölfe und Menschen herum. Wenige von ihnen kannte ich noch von der Rudelversammlung vor ein paar Tagen – darunter auch Najat und Sinssi –, aber die meisten von ihnen waren mir fremd. Ein großer, Teddybär ähnlicher Mann hielt eine Landkarte in der Hand und zeigte den anderen etwas darauf. Viele hielten sich am Rand, nur ein paar wenige hatten sich in der Mitte zusammengefunden und auf diese Leutchen bewegten wir uns nun zielsicher zu – naja, die anderen drei taten das, ich lief ihnen einfach nur immer schön artig hinterher und versuchte, die argwöhnischen Blicke der anderen zu ignorieren. Auch Najat stand bei der kleinen Gruppe und nickte uns zu, als wir an sie herantraten.

Eine Frau mit feurig, rotem Haar, unterbrach sich mitten im Gespräch und drehte sich zu uns herum. Der Reihe nach musterte sie uns alle, blieb kurz an Kovu hängen und landete am Ende auf mir. „Ein Welpe und eine Katze.“ Ihr Blick wanderte an mir runter und dann wieder hoch und blieb dann auf meinem Gesicht hängen, das nach wie vor eine Mischung aus Katze und Mensch war. „Hat sich dein Rudel einen weiteren Mäusefänger zugelegt? Die Ratten bei euch müssen ja riesig sein.“

„Zeig ein wenig mehr Respekt“, knurrte Veith. „ Ohne Talita würde keiner von uns hier stehen. Wir würden immer noch im Dunkel tappen. Du solltest ihr dankbar sein und sie nicht verhöhnen!“

Hatte Veith mich gerade wirklich in Schutz genommen? Diesen Tag musste ich mir dringend im Kalender rot anstreichen – das war ein Grund zum Feiern!

„Versuchst du mir etwa gerade Vorschriften zu machen?“, knurrte sie zurück.

Oh oh, Lobrede hin oder her, so hatte ich mir das Zusammentreffen nicht vorgestellt. Meinungsverschiedenheiten konnten wir jetzt gar nicht gebrauchen. „Hey“, rief ich, ein Schuss ins Blaue, der auch gründlich nach hinten losgehen konnte. „Wollt ihr beiden euch weiter anknurren und gegenseitig die Köpfe einschlagen, oder können wir etwas Produktiveres tun und versuchen, den abtrünnigen Magier kräftig in den Arsch zu treten?“

Das brachte vor allem Najat zum Schmunzeln – langsam glaubte ich, der Kerl fand mich amüsant, das hatte er beim letzten Mal doch auch ständig getan. „Talita hat Recht, wir haben wichtigeres zu tun, als eine Dominanzfrage zu klären.“

„Das sagst du doch nur, weil er dich nicht herausgefordert hat, Najat“, zischte die Rothaarige.

„Das sagte ich, weil es das Richtige ist, Zita“, gab er ungerührt zurück und wandte sich dann zu einem hochgewachsenen, hageren Mann mit grauem Haar um, den ich damals in Anwars Anwesen das erste Mal gesehen habe. „Sag den anderen Bescheid, Crypos, wir brechen bald auf.“

Crypos nickte, warf mir noch einen giftigen Blick zu und dampfte dann ab. O-kay, da war wohl noch jemand, der eine natürliche Antipathie gegen Katzen hegte. Was hatten diese Wölfe nur? Wurde ihnen schon in Kindertagen ein Hassgefühl gegen Katze impliziert, oder entwickelten sie das von ganz allein?

„Nun sprecht“, wies Zita uns an.

Meine drei Wölfe wandten sich mir zu.

„Ähm … ich soll es erzählen?“ Wie kam ich denn zu der Ehre?

„Du hast mit Erion gesprochen“, sagte Tyge, „du weißt am besten Bescheid.“

Ähm … naja, wenn man es von der Seite betrachtete, hatte er wohl recht. „Naja, Erion – also der Sohn von Anwar von Sternheim – hat schon ziemlich lange den verrückten Traum, irgendwann ein eigenes Drachenherz zu besitzen …“, begann ich und erzählten den Wölfen um mich herum in allen Einzelheiten, was ich gestern von dem Magier erfahren hatte. An der Stelle mit den „Hirntoten Marionetten“ musste Sinssi weggeschickt werden, da sie sich vor Wut – vielleicht war es auch Trauer um ihr Kind – die Beherrschung verlor, sich verwandelte und nach allem schnappte, was ihr vor die Nase kam. Ich wurde von dem breitschultrigen Kerl mit sanften Augen und weißen Haaren, der die Karte gehalten hatte, aus der Gefahrenzone gerissen und ein Stück weiter abgestellte. Danach stellte er sich mir als Van, Betawolf des Landsitzerrudels vor.

Erst als Sinssi unter Najats einschüchternden Blicken davongeschlichen war, konnte ich mit meiner Erzählung fortfahren, doch aus irgendeinem Grund erwähnte ich mit keinem Wort Kajs Beteiligung. Die anderen sagten zwar auch nichts, aber bei ihnen hatte das wohl eher damit zu tun, dass sie es für einen belanglosen Nebenfakt hielten, der im Augenblick keine Bedeutung hatte. Ich dagegen hielt ihren Namen aus allem raus, weil mir noch zu gut der Ausdruck in ihrem Gesicht vor Augen stand, als sie uns entgegen geschrien hatte, was ihr angetan wurde. „… am Anfang, also die ersten Tage, scheinen sie noch nicht ganz verloren. Ich habe meinen Freund Pal unter ihnen entdeckt und er hat noch reagiert, als ich nach ihm gerufen habe, aber …“ Ich ballte die Hände zu Fäusten, als ich mich daran erinnerte, wie er sich auf einen Befehl von Erion hin von mir abgewandt hatte. „Es bleibt nicht mehr viel Zeit, wir müssen sie ganz schnell da heraus holen.“

Najat nickte. „Am besten, wir machen uns sofort auf den Weg.“

Zita stimmte zu. „Meine Späher haben Spuren von einem großen Fahrzeug gefunden, das vor kurzen durch diesen Wald gefahren ist. Sie sind ihnen gefolgt und haben ein großen Transportmoob gefunden. Er war verlassen, aber sie konnten deutliche Geruchsspuren von Lykaner und viele Abdrücke von Pfoten auf der Erde sichern.“

„Ja“, bestätigte ich. „Erion hat bestimmt an die sechzig Wölfe bei sich.“

„Wisst ihr, welche Richtung sie eingeschlagen haben?“, fragte Tyge.

„Ich war bei dem Transporter gewesen“, erzählte Van, „und weiß wohin sie gegangen sind, direkt zu den Drachenfelsen.“ Er klaubte seine Karte vom Boden – die ihm bei dem Versuch, mein Leben zu retten, runter gesegelt war – und zeigte auf ein kleines Gebiet. „Hier sind wir.“ Sein Finger rutschte auf dem Grün etwas weiter hoch. „Dort haben wir den Transporter entdeckt und da“, er deutet auf einen grauen Abschnitt, der wohl ein Felsmassiv darstellen sollte, „sind die Drachenfelsen. Da der Magier hier ausgestiegen ist, gehe ich davon aus, dass er sich in diesem Umkreis postieren wird, um auf seine Chance zu warten. Hier ist ein kleiner See, an dem die Drachen nach Fischen angeln und ihren Durst löschen. Wenn er also schlau ist, dann wird er dort auf seine Beute lauern.“

Er sah mich an, als erwartete er von  mir eine Bestätigung, die mich im ersten Moment völlig überrumpelte. „Ähm … ja klar, du hast sicher Recht“, stimmte ich rasch zu.

Er lächelte mich wohlwollend an. „Eigentlich hatte ich wissen wollen, ob du den Magier für schlau hältst.“

Oh, ach so, das ergab natürlich wesentlich mehr Sinn. „Er ist auf jeden Fall nicht dumm. Wahrsinnig? Auf jeden Fall. Nicht zurechnungsfähig? Davon sollten wir im Moment ausgehen, aber dumm ist Erion sicher nicht.“

„Leider“, fügte Kovu hinzu.

„Dann würde ich sagen, dass wir dieses Gebiet hier ansteuern sollten, dort haben wir die größten Chancen sie zu finden“, sagte Van und deutete auf einen kleinen Fleck zwischen Fels, Wald und See, der am nächsten zu dem verlassenen Transporter lag. „Hier jedenfalls würde ich warten, wenn ich einen Drachen erlegen wollte.“

Veith beugte sich ein wenig über die Karte. „Wie lange brauchen wir dahin?“

„Bei zügigem Tempo?“ Van zuckte die Schultern. „Ein bis anderthalb Stunden.“

„Solange?“, entfuhr es mir.

Zita nickte. „Aber nur, wenn wir uns beeilen. Also hopp“, – sie klatschte in die Hände – „lass uns aufhören Zeit zu verschwenden und endlich losgehen.“

Mit diesen Worten brachte sie Bewegung in die ganze Truppe und kurz darauf waren wir im strammen Schritt auf dem Weg.

„Du hältst dich immer an meiner Seite“, bestimmte Veith.

Ich machte schon den Mund auf, um zu protestieren – einfach nur aus Prinzip, weil er mir nichts zu befehlen hatte –, aber ein Blick von ihm ließ mich sofort verstummen. Dann guckte ich ihn eben einfach nur finster an, damit er wenigstens wusste, was ich von seiner Bevormundung hielt.

Tyge lief mit Kovu vorn an der Spitze, wo er sich leise mit Zita und Najat unterhielt. Auch dieser Crypos war dort, der Typ, der mir so einen finsteren Blick zugeworfen hatte. Weitgehend war es still, nur das Rascheln, das von den Füßen und Pfoten verursacht wurde, begleitete unseren Weg. Ungefähr die Hälfte der Lykaner lief bereits in der Gestalt des Wolfes. Würde das reichen? Würden wir Pal retten können? Und Julica und Isla? Würden wir alle aus Erions Klauen befreien können, waren wir stark genug dafür? Irgendwie kam es mir so vor, als wären wir zu wenig, obwohl überall, wo ich hinsah, Lykaner waren.

„Ich möchte dir danken“, kam es von links.

Überrascht wandte ich mich Van zu. War der eben schon da gewesen? „Wofür?“

„In unserem Rudel fehlt nur ein Wolf, mein Bruder Karan. Er ist direkt aus dem Bett seiner Gefährtin verschwunden und ohne dich wüsste ich wohl immer noch nicht, was mit ihm geschehen ist.“

Ich erinnerte mich, davon hatte ich in den Akten gelesen.

„Und jetzt habe ich sogar eine reale Chance, in wiederzubekommen, deswegen gebührt dir mein Dank.“

„Nichts zu danken.“ Was sollte ich dazu auch sonst anderes sagen?

An meiner rechten Hand spürte ich eine kurze Berührung, die mich mehr überraschte, als Vans Worte. Veith  hatte sie gestreift, nur ganz kurz, aber ich war mir sicher. Hatte Absicht darin gelegen, oder war es nur ein Versehen gewesen? In seinem Gesicht fand ich keine Spur, die mir eine Lösung zu diesem Rätsel gab. Wahrscheinlich interpretierte ich einfach mal wieder zu viel dort hinein.

Ich seufzte schwer und lief fortan schweigend durch den Wald.

 

°°°

 

Ein schmerzerfülltes Brüllen, angefüllt mit unerträglichem Leid schallte durch den Wald und ließ die Blätter an den Zweigen erzittern. Das Einzige, was noch schlimmer war als dieses Geräusch, war die nachhallende, tödliche Stille, die darauf folgte. Nicht einmal die Vögel wagten, sie mit ihrem Zwitschern zu durchbrechen. Es dauerte nur einen Moment, bevor das nächste Brüllen durch den Wald hallte, gefolgt von dem Geruch von verbranntem Holz, Fell und Fleisch. Ich wagte nicht daran zu denken, was das bedeutete.

Vans Kiefer spannten sich an. „Sieht so aus, als wären wir auf dem richtigen Weg.“

„Und Erion hat bereits seinen Drachen gefunden“, fügte ich hinzu. Nur einmal hatte ich ein vergleichbares Brüllen gehört, an dem Tag an den ich auf Fangs Dachboden aufgewacht war und Pal mich durchs Lager geführt hatte.

Pal …

Auf ein unsichtbares Zeichen hin, setzte sich die Meute hinter Najat in Bewegung. Vorher hatten wir uns schon beeilt, aber jetzt flog der Wald nur so an uns vorbei. Und trotz des Nachteils, dass ich nur zwei Beine besaß, schaffte ich es, mit den anderen mitzuhalten.

Ich blieb hinter Van, Veith an meiner Seite und wurde allein von dem Gedanken angetrieben, nicht zu spät zu kommen. Wir mussten es einfach rechtzeitig schaffen. Pal war so nahe, ich musste ihn retten, ich würde ihn retten.

Das nächste Brüllen drang schon lauter an meine Ohren. Der Geruch in der Luft wurde immer schlimmer und zwang mich, durch den Mund zu atmen, damit ich mich nicht ins nächste Gebüsch übergab. Verbranntes Fell, gebratenes Fleisch und Ausdünstungen von Exkrementen hingen wie eine dicke Wand in der Luft. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was uns erwartete.

Und dort ist Pal. Oh Gott, bitte lass nicht zu, dass wir zu spät kommen.

Ich setzte über eine freiliegende Wurzel hinweg, kam geschmeidig auf dem Boden auf. Neben mir setzte Van auf und …

„Talita!“

Von Veiths Ruf überrascht, blieb ich wie angewurzelt stehen und krachte den Bruchteil einer Sekunde mit dem Rücken auf den Boden, als ich von etwas großem umgerissen wurde. Mein Kopf schlug gegen einen Baum und hinter meinen Augen explodierte ein ganzes Universum voller Sterne.

Dunst vernebelte mir das Hirn, als ich den ersten Gedanken fasste. War ich bewusstlos gewesen? Ich wusste es beim besten Willen nicht zu sagen. Das Einzige, was ich mitbekam, waren die Geräusche um mich herum, die wie durch Watte in mein angeschlagenes Hirn sickerten. Kurren und Rufe, ein Schmerzensschrei. Auf mir lag etwas schweres, das mir auf die Lunge drückte und mir das atmen erschwerte. Mit meinen Augen stimmte etwas nicht, ich konnte nicht richtig fokussieren. Was war passiert?

Erst nach mehrmaligem Zwinkern konnte ich wenigstens wieder halbwegs die Schatten um mich herum erkennen. Etwas großes, auf vier Beinen, flog über mich, setzte auf dem Boden auf und war sofort wieder aus meinem begrenztem Sichtfeld verschwunden. Ein Lykaner in Wolfsgestalt.

Der Schmerz in meinem Kopf erinnerte mich an den Tag auf Fangs Dachboden, besonders als ich die Last, die mich halb erdrückte, von mir herunter schob und versuchte auf die Beine zu kommen. Das Hirn in meinem Kopf rutschte von einer Seite auf die andere und stieß dabei jedes Mal an die Schädelwand. So jedenfalls fühlte es sich an. Ich schaffte es, einen halben Schritt zu wanken, bevor die Beine unter mir nachgaben und mein Magen das wenige Essen, das ich in Erions heimischer Unterkunft runter gewürgt hatte, der Welt zurückgab. Dann lag ich erst mal keuchend auf dem Boden, die Nase im feuchten Laub, sog japsend die Luft in meine Lungen und versuchte mir einen Reim auf die Geschehnisse um mich herum zu machen. Ich hatte keine Ahnung, was hier los war und mein Kopf war für klare Gedanken gerade nicht verfügbar.

Ich atmete noch ein paar Mal tief ein, schluckte mit wunder Kehle und schlug die Augen auf …

Oh. Mein. Gott!

Ich war mir nicht sicher, ob ich geschrien hatte, oder es ein anderer war, denn ich nahm nichts mehr wahr, außer Vans Blick. Vans leeren Blick. Er war tot.  

Die Augen hatten noch einen überraschten Ausdruck, seine Kehle war … nun ja, es war nicht mehr viel von ihr übrig. Wo sie sich befinden sollte, war nichts weiter als ein großer, roter Krater. Später hatte man mir erzählt, dass Julica aus dem Unterholz geschossen war und sich sofort auf ihn gestürzt hatte. Sie hatte ihn mit einem einzigen Biss getötet und mich nur nicht erwischt, weil er mich bei seinem Fall unter sich begraben hatte. Dann hatte sie sich sofort auf den Nächsten unserer Meute gestürzt, zusammen mit einem Dutzend  anderer Wölfe, die Erion unter seine Kontrolle gebracht hatte.

Aber in diesem Moment, in dem ich Vans tote Augen sah, hatte ich keine Ahnung, was um mich herum los war. Kämpfende Wölfe zerfleischten sich gegenseitig. Freunde, Familie. Zähne und Klauen. Es war das reinste Blutbad. Ich sah Veith in Menschengestalt, wie er einen Wolf an der Rute packte, um ihn von einer Frau runterzuziehen, deren Arm schon bis auf den Knochen zerbissen war. Sah Najat als schwarzen Wolf mit weißem Ohr, wie er sich auf den Rücken eines Einzelläufers stürzte und ihm den Nacken aufriss. Kovu war in dem Getümmel untergegangen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte ihn nicht finden. Und suchen konnte ich ihn auch nicht, da mir bei jeder Bewegung sofort die Galle in den Mund schoss. Gehirnerschütterung, fuhr es mir durch den Kopf. Na toll, das war genau das, was mir jetzt noch fehlte.

Mir wurde klar, dass wir abgefangen worden waren, bevor wir Erion erreichen konnten. Diese Wölfe hatten auf  uns gelauert – oder auf jede andere Bedrohung, die Erions Pläne zum Scheitern bringen konnten – und wir waren genau in ihren Hinterhalt gelaufen.

Ein weiteres, ohrenbetäubendes Brüllen erschütterte den Wald. Noch lebte der Drache, noch hatten wir nicht versagt, obwohl die Betonung hier auf dem noch lag.

Die Wölfe starben vor meinen Augen und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Erions Wölfe waren grausam, blutrünstig und machten mit allem und jedem kurzen Prozess. Kein Zögern, kein Zaudern.

Ein paar Meter neben mir lag ein Mann, nach der Hautfarbe ein Wolf vom Landsitzerrudel. Sein Gesicht war blutig, die Schulter aufgerissen und sein Bauch … oh Gott, ich wagte es nicht so genau hinzusehen. In seinen Augen stand die nackte Panik. Er würde sterben. Nicht einmal ein Werwolf konnte mit solchen Verletzungen überleben.

Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte, aber ich konnte ihn nicht allein dort liegen lassen. Also nahm ich all meine Kraft zusammen, kroch an seine Seite und nahm seine Hand. Er drückte sie so fest, dass ich vor Schmerz beinahe gestöhnt hätte.  Aus seiner Kehle kamen gurgelnde Laute, als er versuchte zu sprechen.

Ich versuchte die Blutungen mit der freien Hand zu stillen, aber es ging nicht. „Ganz …“ krächzte ich, schluckte und versuchte es erneut. „Ganz ruhig, alles wird gut.“

Er brauchte nicht antworten, er wusste genauso gut wie ich, dass das nicht stimmte. „Alles wird wieder …“ Mir versagte die Stimme und ich merkte erst, dass mir die Tränen über die Wangen liefen, als er mit den Lippen die Worte „Nicht weinen“ formte.

Scheiße, scheiße, scheiße! Da war so viel Blut, wo kam nur das ganze Blut her? „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Super, er lag hier im Sterben und ich jammerte ihm die Ohren voll. Aber ich war völlig hilflos, konnte nichts tun, außer mit ihm zusammen auf Gevatter Tod zu warten. Er drückte meine Hand, schloss langsam die Augen und atmete ein letztes Mal rasselnd aus. Dann war da nichts mehr. Ich  hatte nichts tun können.

Weder seinen Namen, noch sein Alter kannte ich, nur das er jung war. Er konnte kaum älter als ich sein. Viel zu früh war er gestorben und so völlig sinnlos.

Ich saß einfach nur da, hielt seine Hand und ließ meinen Tränen kullern, in dem Wissen, das dieser Tod nicht hätte sein müssen. Es war meine Schuld, wie auch bei Pal. Hätte ich die Zeichen nur früher gesehen, mich nicht so auf Anwar versteift und wäre ich nicht so sehr auf Veith und seine Anerkennung aus gewesen, hätte ich vielleicht eher bemerkt, was Erion im Schilde führte. Aber so war es nicht gewesen. Ich hatte uns alle offenen Auges ins Verderben geführt. Die Wölfe hatten Recht, ich war keine von ihnen und würde auch niemals dazugehören. In dieser Gemeinschaft war kein Platz für mich.

Ich war so mit mir und meiner Schuld beschäftigt, dass ich die Stille um mich herum erst wahrnahm, als sie von einem herzzerreißenden Schrei unterbrochen wurde. Und es war auch nicht der Schrei selber, der mich wachrüttelte, sondern das Wissen um die Person, die ihn ausgestoßen hatte.

Kovu …

Er hatte sich auf Najat gestürzt und schrie und tobte, selbst dann noch, als Veith ihn vom Alpha des Steinbachrudels runter zerrte. Einen halben Meter neben ihm sah ich auch den Grund für seinen Ausbruch. Julica, tot.

Mir war sofort klar, was geschehen sein musste. Najat hatte Julicas Amoklauf auf die einzige Art beendet, die nur noch ein Leben gekostet hatte – nämlich ihres.

Kovus Schreie zerrissen mir das Herz. Veith redete auf ihn ein, aber er schüttelte nur unwillig den Kopf und versuchte, sich aus dem Griff seines Bruders zu befreien. In seinen Augen funkelte der blanke Hass. Julica war für ihn wie eine Schwester gewesen und Najat hatte sie getötet. Der Grund dafür, spielte für ihn keine Rolle. Wenn Veith ihn losließ, würde er versuchen, das Alphamännchen zu töten. Er würde es tun, ohne an die verehrenden Folgen zu denken.

„Kovu.“ Ich sprach seinen Namen nur leise, trotzdem wirbelte sein Kopf sofort zu mir herum. Ich weiß nicht, was er sah, aber der Ausdruck in seinem Gesicht wandelte sich von Hass zu Erleichterung. Julica hatte er verloren, aber ich lebte noch – welch schwacher Trostpreis. Er jedoch schien es anders zu sehen, versuchte sich wieder aus Veiths Klammergriff zu befreien und fuhr ihn an, endlich seine Pfoten von ihm zu nehmen.

Ich wusste nicht, wie genau es passierte, aber plötzlich schlossen sich seine Arme um mich. Ich weinte. Um Van und Julica und all die namenlosen Einzelläufer. Ich weinte um Pal und um den jungen Mann, bei dem ich nichts weiter tun konnte, als ihm beim Sterben zuzusehen. Und Kovu tröstete mich, die ganze Zeit. Dabei war er es doch, der jemand verloren hatte, nicht ich, noch nicht. Aber ich konnte mich einfach nicht beruhigen und er schien Trost darin zu finden, mich zu trösten.

 

°°°

 

Es war das Brüllen des Drachen, das uns aus unserer wartenden Haltung riss und uns zum Wiederaufbruch bewegte.

Najat und Zita hatten alle noch verfügbaren Kräfte zusammengesucht und führten sie nun hastig auf die Lichtung zu, die sich hinter den Bäumen bereits schemenhaft abzeichnete. Nur wenige von ihren Wölfen waren auf ewig gefallen, ein paar wenige verletzt und deswegen zurückgelassen worden, doch von den Dutzend  Wölfen, die Erion als Rückendeckung zurückgelassen hatte, lebte keiner mehr und dafür machte ich allein den Magier verantwortlich.

Ich drückte Kovus Hand fester, als der Geruch in der Luft beinahe unerträglich wurde und wir die Lichtung stürmten …

… und abrupt abbremsten. Mehr als ein Blick war nicht nötig, um mir Gewissheit zu verschaffen. Wir kamen zu spät.

Hätten mich die Geräusche über den Anblick, der uns erwartete, nicht vorgewarnt, wäre ich vermutlich einfach zusammengebrochen. Auf dem steinigen Felsboden, vor den Ausläufern des Drachengebirges, lag ein grüner Drache, der zu seinen abstehenden Gliedern immer brauner wurde. Er war kleiner als ich ihn mir vorgestellt hatte, ein junges Tier und blutete aus zahlreichen Wunden am ganzen Körper. Die Flügel waren zerfetzt, Lykaner in Wolfsgestalt sorgten dafür, dass er sich nicht bewegen konnte, hielten ihm am Boden, obwohl ich bezweifelte, dass er noch in der Lage wäre, zu fliehen. Sie hatten sich in alle Teile verbissen, die sie erreichen konnten, zerfetzten ihm bei lebendigem Leibe und fügten ihm einen Schmerz zu, der so grausam war, dass ich dafür keine Worte fand.

Überall um den Drachen herum lagen tote, aufgerissene und verbrannte Kadaver von Wölfen, die ihre erste Begegnung mit einem Drachen nicht überlebt hatte. Manche von ihnen waren nur schwer verletzt und diese versuchten alles, um wieder auf die Beine zu kommen und den Drachen erneut zu attackieren. Es war, als sei das ihr einziger Lebensinhalt, ein implizierter Gedanke, gegen den sie sich nicht wehren konnten. Grausamkeit in ihrer reinsten Form.

Vorne an der Schnauze hing ein großer, roter Wolf, der sich in den Nüstern des Drachens verbissen hatte und um keinen Preis der Welt von seinem Opfer ablassen wollte.

Wie eine höhnische Parodie dazu, lag das klare Wasser des Sees ruhig hinter diesem Bild, das eingerammt von den Wäldern einem schaurigen Gemälde glich.

Und inmitten dieses Blutbads war Erion.

Er schritt gemächlich auf den Drachen zu, einen langen silbernen Dolch in der Hand und ein triumphierendes Lächeln im Gesicht. Er würde ihn töten. Ich musste ihn aufhalten, also tat ich das Einzige, was mir in den Sinn kam. Ich öffnete den Mund. „Erion, nein!“

Entgegen aller meiner Erwartung, regierte er auf meinen Schrei, wirbelte überrascht zu mir herum. Im gleichen Moment versuchte der Drache sich aufzubäumen und traf seinen Peiniger mit einem Knochenstumpf seines Flügels. Erion wurde voll getroffen, flog ein paar Meter durch die Luft und kam direkt vor der riesigen Pranke des Drachen zu liegen. Ich sah noch das Entsetzen im Gesicht des Magiers, dann wurde er von der Pranke des Grünen zerquetscht.

Das Brechen seiner Knochen und der gellende Schrei, den er ausstieß, waren so endgültig, wie die Stille die darauf folgte.

Und dann geschahen viele Dinge zugleich. Die Wölfe fielen wie Schuppen von dem Drachen ab. Einige standen einfach nur verwirrt herum, andere verwandelten sich augenblicklich in ihre menschliche Gestalt zurück und wieder andere flüchteten eilig in den Wald. Dann gab es aber noch welche, die den Drachen nicht losließen und in dem Wahn, den Erion ihnen angehängt hatte, weiter wie wild auf das grüne Geschöpf einbissen, oder sich auf dem Trupp Lykaner stürzten, der mit mir gekommen war.

Der Drache bäumte sich unter Schmerzen auf und spie eine Flamme über alles, was er erreichen konnte, auch über Pal, der etwas desorientiert vor dem Drachen kauerte. Zusammen mit meinem Schrei jaulte der große Rote auf, als er von dem Feuer an der Schnauze und Seite getroffen wurde.

Ich riss mich von Kovu los, der noch versuchte, mich festzuhalten und stürzte nach vorn zu Pal. Der Drache stieß in seinem Todeskampf wimmernde Laute aus. Ein paar andere Lykaner rannten zusammen mit mir nach vorn, holten die verzauberten Wölfe aus der Gefahrenzone, oder rissen die verbliebenden Tiere von dem Drachen herunter.

Ich packte Pal an Rute und Hinterlauf und zog ihn weg. Mir war es egal, ob ihn das im Moment wehtat, ich wollte ihn einfach nur aus der Reichweite dieses grünen, schuppigen Riesens haben. In seiner Verwirrung versuchte er, nach mir zu schnappen, aber er kam nicht weit genug herum, ohne sich selber weh zu tun.

Mit leisen Worten, versuchte ich ihn zu beruhigen, als ich ihn an der Rand der Lichtung zerrte, um ihn aus dem Chaos rauszuhalten. Kurz vor meinem Ziel war Veith an meiner Seite. Er blutete stark aus einer Wunde am Arm, die er aber nicht weiter beachtete, als er Pals schweren Leib hochhievte und ihn das Stück bis an den Rand trug, wo er ihn behutsam zurück auf den Boden gleiten ließ.

Ich stürzte so schnell an seine Seite, dass ich mit die Knie aufschlug und sich kleine Steinchen durch meine Haut bohrten. Ich merkte es kaum, genauso wenig wie ich merkte, dass meine Magie ohne mein Zutun   von mir abfloss und sich in den Kern in meinem Inneren zurückzog. Alles um mich herum wurde ausgeblendet, ich hatte nur noch Augen für den roten Riesen.

„Wir haben dich gefunden. Bleib ganz ruhig, jetzt wird alles gut.“ Ich wollte ihm über den Kopf streichen, wusste aber gar nicht, wo ich ihn berühren konnte. Die eine Hälfte seines Gesichtes war verbrannt, da war kein Fell mehr und die Haut darunter schlug Basen. „Scheiße.“ Das sah so schlimm aus. „Bitte, mach die Augen auf, bitte.“

„Pal.“ Veith hockte sich an seine Seite und legte ihm eine Hand auf den bebenden Rücken. „Komm schon, du bist jetzt in Sicherheit.“

„Bitte, Pal.“ Meine Augen begannen zu brennen. Ich durfte nicht zu spät sein, bitte nicht. „Pal, bitte“, flehte ich, „tu mir das nicht an.“ Eine Träne fiel auf seine Nase und im gleichen Moment durchlief seinen Körper ein Zittern, das seine Verwandlung ankündigte. Nur wenige Sekunden später lag er als Mensch neben mir. Überall war Blut, sein ganzer Körper war geschunden, doch die Brandverletzungen im Gesicht und an Schulter und Arm, waren wohl das Schlimmste. Sein Atem ging schwach und er hatte Mühe, die Augen zu öffnen, aber er tat es und blickte genau in meine. In ihnen lag ein Schmerz, der mit keinem Wort beschrieben werden konnte. Gebrochen, ausgenutzt, verzweifelt.

Er sah mich einfach nur an. „Du bist hier.“

Nun fanden meinen Tränen keinen Halt mehr. Langsam, eine nach der anderen floss mir übers Gesicht und tropfte dann zu Boden. „Natürlich bin ich hier, du Dummkopf. Oder hast du etwa geglaubt, dass ich dich einfach im Stich lassen würde?

„Das ist gut“, sagte er schwach und flatternd schlossen sich seine Lider.

Eine übermenschliche Panik überkam mich. Dieser Moment erinnerte mich nur zu genau an den jungen Mann, für den ich nichts weiter hatte tun können, als an seiner Seite zu hocken und zuzusehen, wie er starb. Das durfte nicht noch mal passieren, bitte, nein. „Oh Gott, Pal, Pal! Stirb nicht, hast du verstanden?“ Ich rutschte näher heran. Meine Hände strichen fahrig über jedes Stück unversehrter Haut, die ich erreichen konnte. „Du darfst nicht sterben, ich brauche dich doch!“

Mit unmenschlicher Anstrengung hob er seine Hand an meine Wange und strich mit dem Daumen meine Tränen weg, doch es brachte nichts, da kamen immer mehr. „Wein nicht, Talita.“ Seine Stimme war schwach, viel zu schwach.

„Aber … oh Gott, du musst bei mir bleiben, du darfst mich nicht verlassen.“ Die Tränen wollten einfach nicht versiegen, nicht mal auf seine Bitte hin konnte ich sie stoppen. Ich hockte neben ihm, schluchzte und hoffte auf ein Wunder. Meine Hände waren mit seinem Blut verschmiert. Es war so viel Blut, wo kam das nur alles her?

„Du bist wunderschön, weißt du das eigentlich?“ Er lächelte verkniffen. „Schade, dass du nur Augen für diesen Idioten Veith hast.“ Er drehte den Kopf. „Nichts für ungut.“

Veith kniff die Lippen zusammen.

Wie kam er denn jetzt auf so einen Schwachsinn? „Nein, da täuschst du dich, ich sehe auch dich“, versicherte ich ihm. „Ich sehe dich und ich brauche dich. Du bist doch mein Freund. Bitte.“

„So, tust du das, siehst du mich?“

„Ja, natürlich. Wie kannst du das nur fragen?“ Verdammt, es musste ihm schlechter gehen, als ich geglaubt hatte. „Du warst der Erste, der mich nicht mit Verachtung für meine bloße Existenz gestraft hat. Du bedeutest mir so viel und deswegen darfst du nicht sterben.“

Er forschte in meinem Augen nach der Wahrheit und setzte dann wieder dieses halbe Lächeln auf, das er mir schon bei unserer ersten Begegnung im Bad gezeigt hatte. „Ja, das tust du.“

„Ja, tue ich, ich sehe dich“, versicherte ich ihn. „Und deswegen darfst du nicht sterben, hast du mich verstanden? Du musst bei mir bleiben, bitte.“

„Das tue ich, wenn du auch etwas für mich tust.“

„Alles.“

„Küss mich.“

Der Tritt kam so schnell, dass ich im ersten Moment glaubte, ihn mir nur eingebildet zu haben, doch dann stöhnte Pal vor Schmerz.

„Veith!“, schrie ich empört. Er hatte Pal getreten, einfach so. Hatte mit dem Fuß ausgeholt und ihm mit dem Fuß gegen die Schulter gekickt. Ich war fassungslos.

„Keine Sorge, alles in Ordnung mit ihm. Er simuliert nur, in der Hoffnung, damit einen Kuss bei dir abzugreifen.“

„Was?“ Das war doch wohl ein schlechter Scherz, aber dem schuldigen Blick Pals zu urteilen hatte Veith mit seiner Vermutung vollkommen Recht.

„Einen Versuch war es wert.“ War seine einzige Entschuldigung.

Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Er ließ mich in dem Glauben, sich an der Schwelle zum Tod zu befinden, nur um ein bisschen mit mir rumzuknutschen? „Du Mistkerl!“ Ich schlug ihm gegen die gleiche Stelle die Veith schon gewählt hatte – sehr doll sogar –, dann zog ich ihn so fest wie ich es wagte an mich. „Jag mir nochmal so einen Schrecke ein und du findest dich wirklich im Totenreich wieder.“

„Verstanden.“ Und auch er drückte mich an sich. Eigentlich sollte ich ihn nicht umarmen, sondern stinkwütend auf ihn sein, aber ich war viel zu glücklich darüber, dass er nicht sterben würde, als wirklich böse sein zu können. Auch wenn er mir einen riesen Schrecken eingejagt hatte. Wir lebten und das war das Einzige, was zählte. Wir hatten es geschafft.

„ISLA!“

Das war Kovus Stimme. Ich richtete mich halb auf und entdeckte den Kleinen zusammen mit Tyge in der Nähe einer Felsspalte, viel zu nahe an dem Drachen. Das sah Veith wohl genauso. Ohne ein weiteres Wort, ging er mit einem respektvollen Bogen um den Drachen herum zu dem Kleinen. Erst jetzt fiel mir auf, wie unglaublich ruhig es auf der Lichtung geworden war. Von Erions Wölfen war kaum noch einer zu sehen. Sie hatten sich davongemacht, oder lungerten verwirrt am Waldrand herum, wo sich Zitas und Najats Wölfe um sie kümmerten. Ein paar andere von ihnen waren mit festen Stricken an Bäumen gebunden, wo sie tobten, um wieder frei zu kommen. Erions Tod hatte wohl nicht alle von dem Zauber befreit. Was würde nun aus ihnen werden?

Ich warf einen Blick zu den Überresten des Täters, die halb unter dem Drachen begraben waren. Mitgefühl für die Riesenechse überkam mich. Mutterseelenallein lag der Drache dort, geschunden und verletzte, an der Schwelle zum Tod, ohne, dass sich jemand um ihn kümmerte. Dieses Bild war so schrecklich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass reine Gier dafür verantwortlich war. Noch ein Leben, das ich nicht hatte beschützen können, noch ein unschuldiges Wesen, das sterben würde, weil ich die falschen Entscheidungen getroffen hatte, weil ich zu dumm gewesen war, die Wahrheit zu erkennen.

„Hey, nicht wieder weinen.“ Pal strich mir übers Gesicht, aber diese Geste konnte mich nicht beruhigen.

Ich bekam kaum mit, wie Kovu zu uns kam, weil Veith ihn von der Spalte weggeschickt hatte, merkte nicht, dass er seine Hand auf meine Schulter legte und sie tröstend drückte. Ich hatte nur Augen für dieses arme Geschöpf, dem niemand zu nahe kommen wollte.

Vielleicht war es Dummheit, oder es hatte mir nicht gut getan, an zwei Tagen hintereinander etwas auf den Kopf zu bekommen, aber so furchteinflößend wie der Drache auch war, ich erhob mich von Pals Seite und lief mit langsamen Schritten auf ihn zu.

Nach und nach wurden die Lykaner drauf aufmerksam, wie ich mich dem großen Tier langsam näherte. Ein paar Blicken in meine Richtung, andere riefen mir etwas zu, aber ich hörte es gar nicht wirklich. Außer diese eine Stimme.

„Talita!“

Veith.

„Verdammt, was machst du da?!“

Ich beachtete ihn nicht, schritt langsam weiter, bis mich kaum noch ein Meter von der Riesenechse trennte. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Drachen von Nahem. Seine Schuppen waren so groß wie meine ganze Handfläche und wurden zur Schnauze hin immer kleiner. Er hatte geschwungene Hörner auf den Kopf und einen langen Hals. Seine klauenähnlichen Pranken waren so groß, dass er darunter locker einen Menschen begraben konnte – was er auch getan hatte – und über seinen Rücken zog sich ein Kamm aus Stacheln. Selbst jetzt noch, am Rande des Todes, zerfetzt, geschunden, zerstört, mit rasselndem Atem und gebrochenem Blick, war er das schönste Wesen, dass ich jemals gesehen hatte.

Einst mussten seine riesigen Schwingen atemberaubend gewesen sein, doch jetzt waren sie nur noch ein blutiges, zerrissenes Überbleibsel, das in ledrigen Fetzen von den Knochen hing. Die Erde um den Drachen herum war aufgewühlt und rostrot und aus zahlreichen Verletzungen sickerte unaufhaltsam das Blut. Seine Schnauze war bis auf den Knochen aufgerissen – Pals Werk, weil ich die falschen Entscheidungen getroffen hatte.

Ob es nun die Verzweiflung in mir war, die mich trieb, oder einfach nur geistige Umnachtung, ich streckte meine Hand aus und legte sie ihm in einer beruhigenden Geste zum Trost auf die Schnauze.

„TALITA!“

Wieder Veith.

Der Blick des Drachen fokussierte sich und richtete sich auf mich.

„Es tut mir so leid“, flüsterte ich und konnte nur hoffen, dass ein solches Wesen so viel Güte besaß, um mir zu verzeihen. Eine erste Träne kullerte mir wie eine Perle über die Wange. „Es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin.“

Der Drache gab einen singenden Laut von sich, der mich bis ins Herz traf, schloss die Augen und dann wich alles Leben aus ihm heraus und ich konnte nichts weiter tun, als neben ihm zu stehen und um dieses sinnlos verlorene Leben zu trauern.

Ich merkte kaum, wie mich eine vertraute Hand an der Schulter berührte und Veiths Stimme leise auf mich einredete. Ich sah nur meine Hand durch den Tränenschleier, die unablässig über das warme Schuppenkleid des jungen Drachen strich. Das war alles so sinnlos. Warum nur hatte ich nicht schon früher die richtigen Schlüsse gezogen, dann wäre alles ganz anders gekommen, dann hätten wir etwas unternehmen können und dieses Drama wäre nie geschehen. Meine Schuld, alles meine Schuld.

Ein mehrstimmiges Knurren lenkte meine Aufmerksamkeit hinüber zu den Wölfen an den Waldrand. Sie alle hatten ihre Gesichter nach oben zu den Felsenklippen gerichtet und als ich ihnen folgte, stockte mir der Atem. Dort oben am Rand, im schimmernden Licht der Mittagsonnen, saßen vier Drachen, dreimal so groß wie der Grüne auf dem Boden. Ihre Blicke waren auf den Grünling gerichtet, ganz starr, als lauerten sie auf etwas. Keiner von ihnen rührte sich, nur das warnende Grollen der Wölfe lag in der Luft. Im Hintergrund am Horizont flogen zwei weitere Drachen in unsere Richtung, glitten lautlos durch die Luft. Dieser Anblick war atemberaubend. Du musst wissen, wenn ein Drache stirbt, wird er von den anderen bewacht, bis sein Körper zu Staub wird. Dann nehmen sie sein Herz und verstecken es. Das hatte Erion einmal zu mir gesagt, deswegen waren die Drachen gekommen. Sie wollten das Herz eines Drachen beschützen.

Die Totendwache begann damit, dass einer der Riesen seinen Kopf in den Nacken schmiss und anfing zu singen. Der Ton war so durchdringend, dass er mich bis tief in mein Innerstes traf. Ein Zittern durchlief meinen Körper. Die anderen drei Drachen stiegen in den Gesang mit ein und röhrten in Tönen, die ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört hatte. Es war das schönste, was mir jemals an die Ohren gedrungen war und gleichzeitig auch das Traurigste.

Veith Griff um meine Schulter verstärkte sich. „Lass uns gehen, langsam.“

Verwirrt sah ich ihn an. Warum wollte er jetzt gehen?

Die beiden Drachen am Himmel fielen so plötzlich vom Himmel, dass ich im ersten Moment glaubte, sie würde abstürzen, aber nein, sie hatten ein Ziel. Haarscharf stürzten sie unter dem Gesang der anderen an der Felswand entlang. Einer der Riesenechsen streifte mit dem Knochenende seine Schwanzes das Gestein und haute ein paar große Felsbrocken heraus, die den Abhang hinunterrollten … genau auf Tyge zu.

Schon bevor ich den Warnruf ausgestoßen hatte, war er zur Seite gesprungen und aus der Spalte, vor der er gelauert hatte, stürmte eine cremefarbene, schlanke Wölfin, die sofort auf den Waldrand zustürmte. Veith fluchte und wollte der Wölfin nachsetzten, doch in dem Augenblick landeten die beiden Drachen vor uns.

Der Wind, den sie mit ihren Flügeln fabrizierten, haute mich einfach mal von den Socken – wortwörtlich. Ich wurde umgeweht, landete schmerzhaft auf dem Hintern und hatte plötzlich eine riesige Drachenschnauze vor der Nase. Das Wimmern das ich ausstieß, wurde nur von Veiths warnendem Knurren übertönt. Es war, als hielte die ganze Lichtung einen Moment die Luft an, als der Drachenkopf sich mir immer weiter näherte. Ich konnte schon den warmen Atem auf meiner Haut spüren. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und jetzt wusste ich ganz genau, dass es einfach nur dämlich gewesen war, zu dem Grünling zu gehen. „Es tut mir leid“, flüsterte ich, auch wenn ich nicht glaubte, dass es irgendwas bringen würde.

Als der Drache die Nüstern blähte, spürte ich wie mir der heiße Atem ins Gesicht fegte. Es roch nach … gemähtem Gras? Er stieß einen leisen, singenden Laut aus, der dem des Kleinen so ähnelte und warf dann den Kopf in den Nacken, um unter einem gewaltigen Brüllen eine Feuerfontäne in den Himmel zu schicken.

Die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf, jeder meiner Muskeln spannte sich an, als beide Drachen sich vom Boden abstießen und damit die Erde zum Beben brachten. Pfeilschnell schossen sie ihn die Höhe. Im gleichen Moment stießen sich die anderen vier Drachen von den Kippen ab. Drei von ihnen folgten den Gefährten in den Himmel, der Vierte aber, der Größte von ihnen, ließ sich mit wild flatternden Flügeln zu Boden gleiten. Nein, er landete gar nicht, flog über den kleineren Drachen und packte den Kadaver mit seinen Klauen, um sich dann durch kräftige Flügelschläge gemeinsam mit ihm in die Höhe zu schrauben.

Als sich die Pranke von dem Grünling, von Erions zerquetschten Leib löste, hörte ich ein schmatzendes Geräusch, das mich wohl bis in meine Alpträume verfolgen würde. Nicht mal das Zuhalten der Ohren brachte etwas. Wie ein Echo halte es immer und immer wieder in meinem Kopf umher, als die Drachen über das Gebirge flogen und in der Ferne verschwanden. Zurück ließen sie einen Ort des Grauens, getränkt vom Blut der Unschuldigen und meinen verzweifelten Tränen.

„Talita.“

Ich schüttelte den Kopf und als Veith mir seine Hand auf dem Arm legte, schüttelte ich sie ab. Ich verdiente keinen Trost.

„Komm schon, du musst aufstehen.“

„Nein. Geh weg.“

Am Rand des Waldes gab es eine kleine Keilerei. Tyge, der sich auf die cremefarbene Wölfin gestürzt hatte und sie zu Boden drückte, damit sie nicht entkommen konnte. Sie schnappte nach ihm und knurrte, kam aber nicht weg, da Tyge sie mit seinem ganzen Gewicht nach unten drückte.

„Das ist Isla“, erklärte Veith. „Meine Cousine.“

„Sie hat sich nicht zurückverwandelt.“

„Nein, das haben die wenigsten.“

Wieder wanderte mein Blick über diesen Ort, über all die toten Wölfe, über die mit Stricken festgebundenen Lykaner an den Bäumen, über die Meute, mit der ich gekommen war und die alles versuchten, um den Verletzten zu helfen – ob diese nun wollten, oder nicht. Ich entdeckte Sinssi, die klagend und schluchzend über dem Leib eines goldgelben Wolfes kauerte und ihr Leid zur Welt hinausschrie. Ich sah verstörte und verschreckte Gesichter von Erions Wölfen, die nicht wussten, was mit ihnen geschehen war und ich erblickte Crypos, der eine ältere Frau in die Arme geschlossen hatte und alle anknurrte, die ihr zu nahe kamen. Auch in ihren Augen lag dieser verwirrte Glanz, den alle Wölfe von Erion zeigten. Ein Meer des Schreckens, ohne Hoffnung auf ein Happy End.

„Komm“, sagte Veith wieder. Er griff nach meinen Arm und zog mich auf die Beine. Ich ließ es widerstandslos über mich ergehen, dass er mich an den Rand zu Kovu und Pal brachte – der sich in der Zwischenzeit aufgesetzt hatte – und mich zwischen die Beiden auf den Boden drückte. Dann ging er zu seinem Vater und half ihm, Isla mit einem Strick an einen Baum zu binden, damit sie nicht in den Tiefen des Waldes verschwinden konnte.

Ich sah Leute und hörte Stimmen. Alle verschmolzen zu einem Zerrbild der Realität. Najat wies die Lykaner an, in den Wald zu laufen und die flüchtigen Wölfe einzusammeln. ALLE, wie er mehr als einmal betonte. Sie dort draußen rumlaufen zu lassen, wäre zu gefährlich. Nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für das aller, die ihren Weg kreuzten. Ich lauschte Zitas Stimmte, als sie mit einem Vox am Ohr über den Platz schritt und Kisten forderte, in denen sie die Verrückten Wölfe vorerst einsperren konnten. Andere telefonierten mit verschiedenen Rudeln, um ihnen mitzuteilen, was hier geschehen war und ihre Wölfe abzuholen, weil keiner es einsah, sich mit den Problemwölfen der anderen Rudel zu beschäftigen. Vom vorigen Lagerplatz wurden Planen, Essen und andere Hilfsmittel herbeigeschafft.

Stundenlang saß ich einfach nur zwischen Pal und Kovu, die Hände fest mit den beiden verschränkt, damit sie nicht einfach verschwinden konnten, um mich in meinem Leid allein zu lassen und konnte nichts anderes tun, als zuzusehen, wie andere das in Ordnung brachten, was ich verbockt hatte.

 

°°°

 

Irgendwann fand ich mich neben Pal in einem provisorischen Zelt wieder. Während all dem Trubel war ich nicht einmal von seiner Seite gewichen. Er war nicht annähernd so schlimm verletzt, wie ich angenommen hatte. Eine Fleischwunde und Verbrennungen ersten Grades am Arm, jede Menge Schürfwunden und Prellungen und ein verstauchter Knöchel. Das meiste Blut auf seinem Körper stammte vom Drachen. Nach einer kurzen Säuberung sah er nicht mehr ganz so schlimm aus. Die einzige böse Verletzung, die er hatte, war die Brandwunde, die seine ganze linke Gesichtshälfte einnahm.

Der Heiler schmierte ihm irgendeine nach Kräutern duftende Salbe darauf und verband das Gesicht dann so, dass nur noch ein Auge frei war und das Haar an seinem Kopf unordentlich in alle Richtungen abstand. Dann teilte er ihm noch mit, dass die Wunde zwar heilen würde, aber nie ganz verschwinden würde. Mit den Worten, er wisse nicht, ob Pal sein Augenlicht auf dem linken Auge behalten würde, ließ er uns allein und setzte sich an das Lager seines nächsten Patienten.

„Dann wirst du wohl deine Zukunft als Model vergessen können“, scherzte ich in der Hoffnung, die Stimmung ein bisschen zu heben.

„Scheint wohl so.“ Er starrte auf seine Hände und wich meinem Blick aus. Seine Augen waren rot unterlaufen, von der vielen Anstrengung und den schlaflosen Nächten. Die Wangen eingefallen und die Haut blasser als sonst. Er hatte nicht genug gegessen.

Das ist alles meine Schuld, fuhr es mir durch den Kopf. Ohne mich wäre ihm das nicht passiert. „Es tut mir leid“, sagte ich dann, als ich das Schweigen nicht länger aushielt.

Überrascht sah er mich an. „Was tut dir leid?“

„Na, das alles. Wenn ich nur früher darauf gekommen wäre, das Erion es …“ Mir brach die Stimme während meine Augen anfingen zu brennen, weil die Tränen ins Freie wollten. Aber das ließ ich nicht zu. Ich hatte kein Recht zu weinen. Nicht ich war es gewesen, dem hier Leid zugefügt wurde, nicht ich würde die Narben davon tragen.

Ich versuchte stark zu bleiben und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Doch Pal konnte ich nichts vormachen. „Hey, das war doch nicht deine Schuld.“

„Natürlich war sie das!“, fuhr ich ihn an, obwohl ich eigentlich sauer auf mich war, auf meine eigene Dummheit. „Die Zeichen waren die ganze Zeit da gewesen, ich hätte sie nur richtig deuten müssen, dann wäre von all dem nichts passiert! Du wärst nicht bei Anwar gewesen, wenn ich euch nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Der Tigerwolf hätte Kovu im Wald nicht überrannt, wenn ich besser aufgepasst hätte. Und wäre er nicht verletzt worden, hätte Erion sich ihn und Julica nicht schnappen können. Nur wegen mir hat er sie in die Finger bekommen.“ Und dich, fügte ich im Stillen hinzu. Dann liefen die Tränen doch über, als ich an Julica dachte. „Ohne mich wäre sie noch am Leben. Sie war noch so jung, sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Wegen mir ist sie tot.“

Pal kniff die Lippen zusammen. Veith hatte ihm schon erzählt, wie wir im Wald in den Hinterhalt geraten waren. „Aber ohne dich wüssten wir noch immer nicht, was mit Isla geschehen ist.“

„Vielleicht nicht, aber es wären noch eine ganze Menge mehr Wölfe am Leben.“

Pal schwieg. Das war mir Antwort genug. Er dachte genauso wie ich. Ohne mich wäre vieles anders gelaufen. „Ohne dich wären noch eine ganze Menge mehr Lykaner verrückt geworden und …“

„Pal, bitte nicht. Hör einfach auf.“ Ich vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Um alle, die es nicht geschafft hatten, um jene Wölfe, die nun in ihrem Tier gefangen waren, um das Drachenkind, das der Gier eines Magiers zum Opfer gefallen war. Ich ertrug das alles nicht länger. Selbst um Kaj weinte ich. Sie hatte viele Fehler gemacht, aber es war nicht allein ihre Schuld gewesen. Auch die Wölfe hatten sich ihr gegenüber falsch verhalten. Hätten sie sie nicht ausgestoßen und verbannt, hätte sie sich nie Erion zugewandt, der ihre verzweifelte Lage zu seinen Gunsten ausgenutzt hatte.

Sie hatte das gesucht, was alle Wölfe brauchten. Halt, Zugehörigkeit, Vertrauen und Erion hatte es ihr gegeben.

Pal schlang die Arme um mich, zog mich an seine Brust und ließ mich trauern. Kein Wort kam über seine Lippen, kein Trost. Er hielt mich einfach nur, damit ich in meiner Schuld nicht völlig versank.

 

°°°

 

Am Abend wurde ich von lauten Stimmen vor dem Zelt nach draußen gelockt. Pal war eingeschlafen und lag mit vielen anderen Wölfen, die noch nicht von ihrem Rudeln abgeholt worden waren, auf Decken unter der großen Plane und versuchte, den Schrecken ein paar Stunden im Schlaf zu vergessen.

Draußen war der Wald von einigen Laternen erhellt, in dessen Licht ich die großen, aufgereihten Kisten sehen konnte, die das Landsitzerrudel gebracht hatte und in denen jetzt die Verlorenen Wölfe steckten – wie ich sie nannte – bis entschieden wurde, was mit ihnen geschehen sollte.

Aber im Augenblick interessierten mich viel mehr die aufgebrachten Stimmen ein Stück weiter. Eine kleine Gruppe von Lykanern hatte sich dort zusammengefunden und diskutierte heftig miteinander. Ich erkannte Zita und Najat. Crypos stand bei ihnen, Veith und Tyge und die beiden Alphawölfe Cui und Rojcan, die einzigen beiden Rudel, die bisher hier eingetroffen waren. Sie sahen alle fix und fertig aus. Auch sie waren von den Geschehnissen nicht unberührt geblieben.

„In diesem Zustand können wir sie nicht mit zurück ins Lager nehmen“, kam es gerade ruhig von Cui.

„Und was willst du dann tun? Sie töten?“, fuhr Rojcan sie an.

„Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht …“

„In diesen Kisten sitzen drei meiner Wölfe. DREI!“

Cui knurrte. „Pass auf was …“

„Wenn du sie auch nur anrührst, mach ich dich fertig!“, knurrte er zurück.

„Und dann sind da ja noch die Einzelläufer“, gab Najat zu bedenken. „Es sind so viele. Wer soll sich um sie kümmern?“

„Wie wäre es wenn wir sie an einen Ort bringen, in dem sie ungestört leben können?“, warf ich ein, ohne mir überhaupt im Klaren darüber zu sein, was ich da eigentlich sagte. Hallo? War ich völlig verblödet? Ich sollte mich da nicht mehr einmischen, ich hatte schon genug angerichtet, aber jetzt war es eh zu spät. „Ein eigenes Territorium, in dem es niemand gibt, der sie gefährden können und umgekehrt“, fügte ich kleinlaut hinzu. „Vielleicht, wenn sie genug Zeit haben, finden sie zu sich selber zurück.“

Alle sahen mich an, als wäre ich ein Alien.

„Und wo sollen wir bitte einen solchen Ort finden?“, fragte Crypos in gedehntem Ton.

„Weiß ich doch nicht!“, fauchte ich. „Es war nur ein Vorschlag und wenigstens versuche ich, eine Lösung zu finden, die nicht damit endet, dass ein Haufen Wölfe abgeschlachtet wird, nur weil ihr mit ihrer Existenz überfordert seid!“

Crypos zeigte mir die Zähne. „Wage es ja nicht, mir Vorwürfe zu machen, Katze! Ich …“

„Dann mach mich nicht blöd von der Seite an, nur weil dir meine Nase nicht passt, Köter!“ Wir starten uns an. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Jeder von uns wartete darauf, dass der Andere den nächsten Schritt tat.

„Hört auf damit, das bringt doch nichts“, sagte Zita. „Wir brauchen eine Lösung und nicht noch mehr Verletzte. Davon haben wir genug.“

Er hatte Recht. Ich atmete tief durch und versuchte mich ein wenig zu entspannen. Es musste doch einen Ort geben, der … aber natürlich. Gedankenblitz. „Habt ihr hier sowas wie Nationalparks?“

Najat legte den Kopf zur Seite. „Nationalparks?“

„Ein Ort, denen es Menschen … äh, Mortatia verboten ist, zu betreten, wo allein die Natur herrscht und Tiere.“ Okay, das war nicht ganz richtig.

„Du meinst ein unberührtes Stück Natur“, fasste Veith zusammen.

Ich nickte. „Wenn wir einen Ort finden, an denen wir sie unterbringen können, ohne, dass sie von äußeren Einflüssen gestört werden können, vielleicht gibt es dann ja noch Rettung für sie. Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden, also warum sollte es hier nicht so sein?“

Cui neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Sollten wir ein solches Stück Land finden, wie verhindern wir, dass die Wölfe es einfach verlassen?“

„Ein Zauber könnte sie einschließen“, sagte Kovu. Er tauchte aus den Schatten der Kisten auf und stellte sich zu mir. Wahrscheinlich hatte er an Islas Seite gewacht. Sein Blick war hasserfüllt auf Najat gerichtet. Vermutlich würde er dem Alpha seine Tat um Julica niemals verzeihen können. „Anwar hat sowas um sein Anwesen und auch Erion hat es verwendet, um uns in den Zellen zu halten. Es ist nur für die durchschreitbar, denen der Zauberer es gewährt.“

Die rothaarige Zita verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber welcher Magier würde einen solchen Zauber für uns sprechen?“

„Seid ihr alle verrückt geworden?“, wütete Crypos. „Ihr redet darüber, einen Magier um Hilfe zu bitten, einen von denen, die uns das Ganze angetan haben!“

„Nicht um Hilfe bitten“, warf Veith ein, „eine Schuld einfordern.“

Alle Blicke richteten sich interessiert auf ihn.

„Es war Anwars Sohn, der uns das angetan hat, damit steht er in unserer Schuld“, erklärte Veith schlicht.

Ein paar nickten, aber die meisten waren einfach nur misstrauisch.

„Wie könnt ihr nur glauben, dass Anwar einen solchen Zauber für uns sprechen wird?“, kam es wieder von Crypos. „Er hasst Lykaner und in seinen Augen werden wir schuld sein, dass sein Sohn tot ist. Er könnte alle möglichen Zauber über uns sprechen und keiner von euch könnte mit Sicherheit sagen, dass er uns nicht schaden wird!“

„Doch, wenn wir zum Hohen Rat gehen.“

Mit diesem kleinen Satz, hatte Kovu sich den Stab des Aliens angeeignet.

„Wenn wir unser Anliegen vor den Hohen Rat bringen, dann sind die gezwungen, uns zu helfen, da auch wir ein Teil des Codex sind“, erklärte er. „Natürlich werden sie den verpflichten, dem sie die Schuld für diese Tat zuschieben können, aber da Erion tot ist, rutscht Anwar in die Schuld seines Sohnes. Nicht nur, dass er vielleicht mitbekommen hat, was sein Sohn die letzten Monate getrieben hat, er hat uns zusätzlich jegliche Hilfe bei der Suche nach den Verschwundenen versagt und uns sogar Steine in den Weg gelegt, weil er einen persönlichen Groll gegen uns hegt. Wenn wir also keinen anderen Magier finden, der uns hilft, dann muss Anwar es tun. Er hat gar keine andere Wahl, außer er möchte sein Ansehen als Wesensmeister von Sternheim und Parlamentär des Hohen Rats verlieren und so schätze ich ihn nicht ein.“

Wow, ich hätte nicht gedacht, das der Kleine so viel im Köpfchen hat. Aber ich musste ihm zustimmen. „So könnte es funktionieren.“

„Ihr wollt Anwar von Sternheim dazu zwingen?“, fragte Crypos fassungslos.

„Wenn es sein muss“, erwiderte Tyge.

„Ich glaub es einfach nicht.“ Wie wild schüttelte Crypos den Kopf und ich fragte mich langsam wirklich, wo eigentlich sein Problem lag. „Selbst wenn wir einen Ort finden würden, an dem wir diese verrückten Wölfe …“

„Verlorene Wölfe“, warf ich ein. „Sie sind nicht verrückt.“

Er knurrte mich nur unwillig an. „Selbst wenn wir einen Ort finden sollten, an dem wir die Wölfe unterbringen können und Anwar ein magisches Schild zieht, das sie in einem bestimmten Gebiet hält, sie müssen überwacht werden und welcher Lykaner würde sich freiwillig melden, auf die Wölfe eines anderen Rudels aufzupassen? Oder auf einen nichtsnutzigen Einzelläufer, der, sobald er wieder auf den Beinen ist, die Beute aus unseren Territorien klaut?“

Darauf folgte eine Stille, die ich nicht für möglich gehalten habe. „Das ist doch nicht euer Ernst.“ Ich schaute von einem zum anderen. „An so einer Kleinigkeit wollt ihr das ganze Scheitern lassen? Weil ihr nicht auf die Wölfe von anderen Acht geben wollt?“

„Sie gehörten nicht zu unseren Rudeln“, sagte Veith schlicht.

„Aber …“

„Kapierst du es nicht, Katze? Sie gehören nicht zu uns, wir vertrauen ihnen nicht!“

„Du müsst ihnen ja auch nicht vertrauen, sondern nur eine Zeitlang zur Seite stehen, Köter!“ Langsam ging mir dieser Kerl echt auf den Sack!

Crypos schnaubte abfällig. „Warum sollte ich? Ich will sie ja nicht mal in meiner Nähe haben.“

„Das ist albern“, brauste ich auf. Ich verstand wirklich nicht, wo da das Problem lag. Manchmal waren Lykaner einfach nur … grrr!

„Wenn das so albern ist, dann mach du es doch!“, spie er mir entgegen.

„Gut, dann mach ich es eben!“

„Gut!“

„Gut!“

Wir starrten uns noch einen Moment feindselig in die Augen, dann drehte ich mich um und marschierte wütend zurück ins Zelt. Was hatte ich mir da eigentlich gerade eingebrockt? Das war doch einfach … „Ah!“

„Was ist los?“, fragte Pal  mich schläfrig.

Überrascht sah ich nach unten. „Ich wollte dich nicht wecken.“ Ich setzte mich zu ihm auf den Rand der Decke und stützte den Kopf in die Hände. „Tut mir leid.“

„Du hast mich nicht geweckt, ich war schon wach.“ Er berührte mich am Bein. „Was ist los?“

„Ich hab gerade ganz großen Mist gebaut.“ Mal wieder.

„Was hast du angestellt?“

„Mich zum Hüter der Verlorenen Wölfe gemacht.“ Dann fasste ich in kurzen Sätzen das Gespräch von draußen zusammen.

Nachdem ich verstummt war, schwieg er einen Moment, bevor er raushaute: „Vielleicht ist das gar nicht so schlecht.“

Okay, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. „Ich hab nicht gesagt, dass es schlecht ist, nur dass ich … ich weiß nicht, ob ich das überhaupt hinbekomme. Ich meine … sie … ich weiß doch nicht mal, was ich tun soll.“

„Du kannst mit Lykaner umgehen, das hast du in den letzten Wochen zur Genüge bewiesen“, lächelte er, „und da du keinem Rudel angehörst, kannst du dich ungebunden zwischen ihnen bewegen, ohne, dass sie allzu misstrauisch sind.“

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Das Wort Misstrauen ist nur für die Lykaner erfunden worden.“

„Das vielleicht schon, aber sie werden dir gegenüber nicht feindlich sein. Einem Lykaner aus einem fremden Rudel dagegen schon.“

Da war ich mir nicht so sicher. „Und wenn ich nicht damit klarkomme?“

„Du schaffst das schon.“

Sein Wort in Gottes Ohr. Vielleicht konnte ich so ja auch ein wenig wiedergutmachen leisten – wenigstens ein bisschen.

 

°°°

 

Nachdem Pal wieder eingeschlafen war, verließ ich das Zelt und ließ mir von Veith ein Vox geben. Ich hatte mir ein paar Gedanken gemacht und musste nun dringend ein Gespräch führen.

Sobald ich eine ruhige Ecke gefunden hatte, sprach ich Gaares Namen in das flache, schwarze Glas und hörte kaum eine Sekunde später ein genervtes „Ja?“

Hä, warum … auch so. „Du musst das Vox umdrehen, so kann ich dich ganz schlecht hören.“

„Talita? Was hast du gesagt? Ich versteh dich ganz schlecht.“

„Das Vox, du musst es umdrehen.“

„Was?“

Na ganz toll. „UMDREHEN! Du sprichst in die falsche Seite, dreh es um!“

„Was? Ach so.“ In der Leitung erklang ein Knistern. „Schön, dass du anrufst…“

Schön, dass ich anrufe? Hatte er gar nicht mitbekommen, dass ich verschwunden war? Typisch Gaare.

„… aber ich habe jetzt gerade keine …“ er verstummte und ich wusste genau, dass er gerade schon wieder über einem Buch hing, das viel interessanter war, als den Weltuntergang persönlich mitzuerleben. Na ganz toll.

„Gaare, bitte, es ist wichtig.“

„Oh ja, natürlich meine Liebe, du rufst bestimmt wegen …“ Und wieder wurde es still in der Leitung.

Seufz. „Gaare?“

„Was? Oh ja. Also, es tut mir leid es dir mitzuteilen, aber der Hexenzirkel hat unsere Anfrage abgelehnt, doch mach dir keine Sorgen, ich werde schon einen anderen finden, der uns …“

Okay, das ging mir langsam aber sicher wirklich auf die Nerven. „Gaare, schieb das Buch zur Seite und hör mir zu, es ist wichtig.“

Durch die Leitung war ein Grummeln zu hören. „Talita, meine Liebe, ich verstehe ja, dass dich das mit dem Portal aufregt, aber ich kann dir versichern, dass ich nicht so schnell aufgeben werde.“

„Das mit dem Portal interessiert mich im Moment gar nicht, also, natürlich interessiert es mich, aber darum geht es gar nicht. Ich rufe wegen etwas ganz anderem an.“

„Und weswegen.“

„Wegen den heutigen Ereignissen.“ Und dann erzählte ich ihm, was geschehen war, was wir tun wollten und etwas, dass ich später vielleicht bereuen würde.

 

°°°°°

Tag 77

Im angehenden morgen verließ ich das Zelt. Ich hatte nicht viel geschlafen, nur ein paar Stunden, in denen ich mich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte und brauchte jetzt dringend etwas frische Luft.

Die Lichtung glich nicht mehr dem Meer des Grauens, nur noch der rötliche Sand und die Brandstellen erinnerten daran, was hier geschehen war. Sogar Erions Leichnam hatte man bereits weggebracht und befand sich in diesem Augenblick mit ein paar Vertretern der Lykaner auf dem Weg nach Sternheim, um alles Weitere wegen den Verlorenen Wölfen abzuklären. Vielleicht waren sie sogar schon da.

Am Rande des Schauplatzes entdeckte ich Veith, wie er allein am See stand und den Blick auf die glatte Oberfläche des Wassers gerichtet hatte. Seit dem das alles passiert war, hatte ich gar nicht mehr richtig  mit ihm sprechen können. Ich gesellte mich an seine Seite, den Blick wie er auf die ruhige Oberfläche gerichtet. „Warum hast du das gemacht?“

„Was?“

„Das mit Pal. Warum hast du ihn getreten?“ Erst in meinem vergangenen Halbschlaf war mit die Bedeutung dessen, was er getan hatte, bewusst geworden. Natürlich wusste ich, dass es auch ein Wunschtraum sein konnte, aber ich konnte ja hoffen und glauben.

„Weil er simuliert hat.“

„Das hat er schon die ganze Zeit getan. Aber was mich interessiert, warum hast du erst eingegriffen, als er wollte, dass ich ihn küsse?“ Das war nämlich der Knackpunkt an dieser ganzen Geschichte.

Er schwieg einen Moment, wägte seine Worte ab. „Weil du es getan hättest …“

Mein Herz schlug schneller …

„… und zwar aus den falschen Gründen.“

… und kam stockend zu stehen. Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Das war dein einziger Antrieb?“

„Ja.“

Die Antwort kam zu schnell und wieder keimte Hoffnung in mir. „Du solltest mich nicht anlügen.“

„Ich lüge nicht.“

„Doch das tust du.“ Ich wandte mich zu ihm um. Jetzt würde ich ihn festnageln. „Du warst eifersüchtig, darum hast du es getan. Die ganze Zeit hat dich seine Show nicht interessiert, vielleicht fandest du sie sogar witzig, obwohl ich wie ein Baby geflennt habe, aber als es dann ernst wurde, hast du eingegriffen.“

Seine Schultern sackten zusammen und er seufzte. „Talita, ich weiß, das im Wald, das …“ Er kniff die Lippen zusammen. „Ich mag dich, wirklich, aber nicht so wie …“

Wie ein Stein fiel mir dieser Satz in den Magen. „Sprich es nicht aus“, quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Wenn du deine Lügenmärchen glaubst, die du dir da zusammenspinnst, weil du Angst hast, okay, aber bilde dir bloß nicht ein, dass ich sie auch glaube. Ich weiß, dass da was ist. Ich kann es dir ansehen, ich spüre es.“

Er sagte nichts, was mir Antwort genug war.

„Schön, wie du willst.“ Ich straffte die Schultern. „Du kannst dich wieder bei mir melden, wenn du erwachsen geworden bist und dir über deine eigenen Gefühle Klarheit verschafft hast. Ich werde dir nicht mehr hinterher rennen. Den nächsten Schritt musst du tun.“ Ich drehte mich um und wollte gehen, doch er hielt mich am Arm zurück. Ich wartete auf das was kommt und wartete noch etwas länger, aber es passierte nichts. Er stand einfach nur da, hielt mich fest und kniff die Lippen zusammen, als wollte er die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, daran hindern, einen Weg ins Freie zu finden. Ich konnte förmlich hören, wie es in seinem Kopf arbeitete. Nur verstand ich nicht, warum er nicht einfach zugab, dass er auch mehr wollte, dass er vielleicht sogar in mich verliebt war. War es für einen Wolf wirklich so schrecklich, eine Katze zu mögen?

Nein, beschloss ich. Das war ganz allein wieder so eine Veith-Sache. Es war doch echt mal wieder Glück, dass ich mich in den einzigen Werwolf verliebte, der nicht auf der Suche nach der Partnerin fürs Leben war.

Als immer noch nichts sagte, tat ich das Einzige, was ich tun konnte. Ich nahm seine Hand von meinem Arm und sah ihn an. „Auf Wiedersehen, Veith.“ Und dann befahl ich meinen Beinen sich zu bewegen, auch wenn ihnen das überhaupt nicht in den Kram passte.

 

°°°

 

„Du kannst erst mal bei uns im Haus wohnen. Aber glaub ja nicht, dass ich auf dem Boden schlafe, mein Bett ist groß genug für uns beide.“

„Dein Bett ist ein Einmannbett“, rief ich Pal in Erinnerung und half weiter dabei, die Plane des provisorischen Zeltes aufzurollen. Es war an der Zeit die Sachen zusammenzupacken und sich auf den Heimweg zu machen. Die meisten Rudel waren schon da gewesen und hatten die Wölfe mit nach Hause genommen, deren Zustand das zuließ. Auch wurden sie bereits von den zukünftigen Plänen in Kenntnis gesetzt. Ich würde mich gleich auf den Weg machen und zu der Gruppe stoßen, die bereits in Sternheim angekommen war, um alles weitere zu klären – vorher hatte ich aber noch einen kleinen, heimlichen Abstecher geplant – doch bis ich los musste, half ich noch ein bisschen, die Sachen zusammen zu räumen.

„Sag ich ja, groß genug für uns beide.“ Er schenkte mir ein Haifischlächeln.

„Du bist schlimm, weißt du das?“ Es war schön, Pal Witze reißen zu sehen. Selbst mit diesem Verband, der sein halbes Gesicht bedeckte. „Und so verlockend dein Angebot auch ist, ich muss ablehnen.“

„Musst du? Naja, wir werden schon einen Platz zum Schlafen für dich finden.“

Ich hielt inne und wandte mich ihm zu. „Nein, ich meine damit, dass ich euch nicht zum Rudel begleiten werde. Ich werde ich Sternheim bleiben.“

„Ach Quatsch.“ Er winkte ab, als wäre das völlig undenkbar. „Du kommst mit uns. Das ist beschlossene Sache.“

Es war so ein schönes Gefühl zu wissen, dass er mich mitnehmen wollte. Umso trauriger war es, dass ich nicht gehen konnte. Es gab mehr als einen Punkt, der gegen einen Umzug zum Rudel sprach. „Davon abgesehen, dass Prisca über dein Angebot nicht begeistert sein wird, möchte ich auch nicht in einer Gemeinschaft leben, in der ich nichts weiter als ein Außenseiter sein werde. Ich gehe nach Sternheim.“ Außerdem brauchte ich ganz dringend Abstand zu Veith, um einige Dinge zu überdenken. „Im Rudel ist zurzeit kein Platz für mich.“

Pals Lächeln fing leicht an zu wanken. „Im Rudel wird es immer einen Platz für dich geben. Und du wirst kein Außenseiter sein. Am Anfang ja, aber sie werden sich an dich gewöhnen, so wie an Domina. Du wirst schon sehen, es …“

„Du weißt selbst, dass das nicht stimmt“, unterbrach ich ihn, ließ die Plane einfach liegen und richtete mich auf. „Domina kam bereits als Kind zu euch, das ist etwas ganz anderes. Ich werde immer nur am Rande stehen.“

„Aber, wo willst du denn hin?“ Auch er richtete sich auf. Ihn mit den ganzen Verbänden zu sehen, war nicht schön. Ich hoffte nur, dass es bald verheilen würde und er diesen Alptraum wenigstens ein klein wenig hinter sich lassen konnte.

„Erst mal werde ich bei Gaare wohnen, bis ich weiß, wie es mit den Verlorenen Wölfen weitergeht.“ Das hatte ich bei dem Gespräch mit ihm gestern ausgemacht. „Er wird mir helfen, etwas Eigenes zu finden. Vielleicht werde ich mich bei Djenan um einen Job bewerben. Es war schon immer mein Traum, Haare zusammenzufegen.“ Ich wusste, es war ein lahmer Witz, aber mir fiel in dem Moment einfach nichts Besseres ein.

Pal wurde klar, dass es mir ernst war, dass ich bereits einen Plan hatte. Alles war von vorn bis hinten durchdacht, auch wenn mache Punkte auf einen eventuellen Selbstmord zusteuerten. Aber das musste ich ihm ja nicht auf die Nase binden.

„Außerdem kann Gaare gut Hilfe im Haushalt gebrauchen, er wird auch nicht jünger.“

„Aber das Rudel …“

„Ist deine Welt, nicht meine.“ Denn so sehr ich mir auch etwas anderes wünschte, die Einblicke, die ich in den letzten Tagen bekommen hatte, waren ein guter Denkanstoß für mich gewesen. „Auch wenn ich das Rudel liebe, ich würde dort nicht glücklich werden.“ Ich schwieg einen Moment, wählte meine Worte mit Bedacht. „Es ist zurzeit nicht sehr wahrscheinlich, dass ich in mein altes Leben zurückkehren kann, nicht solange ich kein Tor finde. Gerade deswegen werde ich nicht rumsitzen und auf etwas warten, das vielleicht niemals eintreffen wird. Ich muss mir etwas aufbauen, mich nützlich machen. Mein Leben leben. Außerdem sind da noch die Verlorenen Wölfe, denen ich mich verpflichtet habe.“ Ich legte meine Hand auf seine kratzige Wange. Er musste sich dringend rasieren, obwohl das mit diesen Verbrennungen wahrscheinlich noch eine ganze Zeit ausfallen dürfte. „Ich muss nach Sternheim, verstehst du?“

„Du kannst dich auch im Rudel nützlich machen.“ Ein letzter, schwacher Versuch. Er wusste, dass meine Entscheidung bereits fest stand, aber ich konnte es ihm nicht verübeln, dass er es trotzdem probierte.

„Mein Platz wird in Sternheim sein.“

„Aber du wirst uns besuchen kommen.“ Keine Frage, ein Befehl.

„Natürlich.“ Nichts anderes würde mir in den Sinn kommen. „So oft ich es einrichten kann.“

„Versprich es.“

„Ich komme euch besuchen.“

„Nein.“ Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und zog es ganz nah vor seins. „Versprich es richtig.“

Irgendwie war das ja süß. Bei keinem anderen fühlte ich mich so willkommen, wie bei Pal. Mehr als das. Für ihn zählte ich zur Familie. „Ich verspreche bei allem, was mir heilig ist, dass ich dich so oft es mir möglich ist, unter den Wolfsbäumen besuchen komme.“ Ich grinste. „Und wenn du ein liebes Wölfchen bist, werde ich dich sogar bekochen, in Ordnung?“

Zur Antwort legten sich überraschend seine Lippen auf meine. Vorsichtig, ganz sanft, womit er mir einen Schauer über den Rücken jagte und mein Herz für einen Moment aus dem Takt brachte. Ich tat nichts weiter, als einfach da zu stehen, wagte nicht, mich zu bewegen. Es war anders als mit Veith, aber auf eine gute Art anderes.

Es war nur ein kurzer Kuss, doch in diesem Moment war die Welt um mich herum ausgeblendet. Es gab nur noch Pal und seine Lippen und das Gefühl, dass er in mir weckte. Er beendete den Kuss, bevor ich auf dumme Gedanken kommen konnte – wie zum Beispiel ihn zurück zu küssen – und lehnte seine Stirn an meine. „In Ordnung.“

Ich brauchte einen Augenblick, um mich daran zu erinnern, was er damit meinte. In Ordnung? Worüber … ach ja, besuchen. Besuchen gleich in Ordnung. Gebongt.

Er streifte meine Lippen noch einmal mit seinen und trat dann zurück, das halbe Lächeln, das so charakteristisch für ihn war, im Gesicht. „Aber lass dir mit deinem ersten Besuch nicht zu viel Zeit, sonst muss ich dich holen kommen.“ Damit drehte er sich um und ging davon.

Ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt und fragte mich, was zum Teufel da gerade passiert war.  Vorsichtig fuhr ich mit den Fingern über meine Lippen. Ich konnte ihn noch fühlen. Als ich Pal mit den Augen folgte, entdeckte ich den einzigen Mensch/Wolf/Mann, den ich jetzt nicht sehen wollte.

Veith.

Er stand da, die Arme verschränkt, die Lippen zu einem festen Strich geschlossen und starrte mich an. Ich ließ die Hand sinken und sah ungewandt zurück. Er hatte seine Chance gehabt und ich würde mir von ihm jetzt kein schlechtes Gewissen machen lassen. Nein, würde ich nicht, ich … verdammt! Aber zumindest würde ich es ihn nicht wissen lassen. Außerdem hatte ich noch einen dringenden Termin, mit meiner potenziellen Mitbewohnerin, der meine ganze Aufmerksamkeit erforderte und Gaare würde sich sicher darüber freuen, wenn ich ihm seinen Wagen mit den heißgeliebten Büchern zurückbrachte – falls er überhaupt schon gemerkt hatte, das er verschwunden war. Meine Gefühlswelt konnte ich bis morgen auf Eis legen, oder naja, bis heute Abend, wenn ich allein in meinem Bett lag und mir nichts anderes mehr übrig blieb. als darüber nachzudenken. Nur nicht jetzt.

Ich drehte mich um und ging davon. Ich konnte genauso gut auch gleich aufbrechen.

 

°°°

 

Kaj saß in der Zelle in der gleichen Ecke, in der auch schon Kovu und ich gesessen hatten. Sie sah nicht auf, als ich mich vor das Gitter stellte.

„Bist du gekommen, um mich zu verspotten?“, fragte sie bitter.

„Nein, ich bin hier, weil ich dir ein Angebot machen möchte. Vorausgesetzt, du beantwortest mir zwei Fragen.“

„Was könntest du mir schon anzubieten haben?“

„Das wirst du dann schon sehen. Also, was ist nun?“

Misstrauisch verengte sie die Augen. „Was sind das für Fragen?“

„Erstens, womit hat Erion dich erpresst, dass du bei diesem perfiden Plan mitgemacht hast?“

Sie wandte den Kopf ab und kniff die Lippen zusammen, nicht gewillt, auf diese Frage zu antworten. Aber ich musste es wissen, es war wichtig.

„Bitte, Kaj, antworte mir.“

„Zuneigung“, spie sie aus und funkelte mich dann an. „Er hat mir gedroht mich wegzuschicken, wenn ich ihm nicht helfe, dabei ist er doch mein Alpha und … wen hab ich außer ihm den schon?“

Oh Mist, damit hatte ich nicht gerechnet. Sie hing wirklich an diesem Scheißkerl. Und, dass er sie mit etwas so elementaren erpresst hatte, ließ ihn noch bestialischer erscheinen, als ich es für möglicher gehalten hatte. Ich hatte nicht gedacht, dass Erion noch weiter in meinem Ansehen sinken konnte, ich hatte mich getäuscht.

„Erion ist doch alles was ich habe.“

Mist, das würde jetzt echt schwer werden. „Erion ist tot“, sagte ich leise.

Erst weiteten Kajs Augen sich und dann schien alle Kraft aus ihr zu weichen. „Tot?“

„Der Drache hat ihn getötet.“

Sie schloss die Augen. Trotzdem schaffte eine einzelne Träne es sich einen Weg ins Freie zu bahnen. Sie heulte nicht los, oder schluchzte laut, wie ich es wahrscheinlich getan hätte, sie saß einfach nur geschlagen in der Ecke und sah sich erneut vor dem Nichts. Ihr einziger Halt im Leben war weg und zurück blieben nichts als Scherben. „Du hattest noch eine Frage“, erinnerte sie mich.

Ich musste mich räuspern, weil ich plötzlich eine ganz trocknende Kehle hatte. „Was ist aus der kleinen, weißen Wölfin geworden?“

„Warum fragst du, hast du Angst, dass ich sie vielleicht wirklich verspeist habe?“, zischte sie bitter.

„Nein.“ Denn bei allen Fehlern die Kaj haben mochte, glaubte ich nicht, dass sie einem kleinen Kind etwas zu leide tun würde. Trotzdem musste ich wissen, was aus der Kleinen geworden war. „Bitte sag es mir.“

„Ihr Name ist Raissa“, begann sie nach einiger Zeit leise. „Ich habe sie zu einer Bekannten gebracht, die sich um sie kümmert, bis ich eine Wohnung außerhalb von Anwars Haus gefunden habe.“  Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie einen unliebsamen Gedanken loswerden. „Ich wollte sie mit zu mir nehmen, mich um sie kümmern. Sie hat doch sonst niemanden. Ihre Eltern sind schon lange tot, nur ihr Opapá war noch da, doch dank mir …“ Sie verstummte kurz. „Ich wollte ihr ein Zuhause geben, mich um sie kümmern, wie ich es mit meinem eigenen Baby nie hatte tun können, aber das ist jetzt sowieso alles egal.“

„Vielleicht auch nicht.“

Wieder begegnete ich diesem misstrauischen Blick. „Wie meinst du das?“

Jetzt oder nie. Wenn ich das jetzt tat, würde es kein Zurück mehr geben und wenn ich es nicht tat, würde ich kein zweites Mal den Mut finden. Außerdem würden mich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens Schuldgefühle plagen. „Freiheit.“ So, jetzt war es raus und ich voll am Arsch.

„Freiheit?“ Nun sah Kaj doch auf. „Du willst mich hier raus lassen, eine Mörderin und Welpenfresserin?“

„Ja.“

„Hast du denn keine Angst, dass ich auf die Idee komme, jemanden auf meine Speisekarte setzte, vielleicht sogar dich?“

„Nein hab ich nicht.“ Und das war die reine Wahrheit. Andernfalls würde ich gar nicht hier stehen.

Sie musterte mich, forschte in meinem Gesicht, ob ich es ehrlich meinte, oder ob ich Hintergedanken hatte. Was ich ihr nicht verübelte, ich meine, Hallo? Bei ihrer Hintergrundgeschichte, wer wäre da nicht misstrauisch? Dann lächelte sie. Es war kein nettes Lächeln. „Ah, ich verstehe, du hast Mitleid mit mir. Aber das kannst du dir sonst wohin schieben, das brauche ich nicht. Ich komme schon …“

„Nein, kein Mitleid.“

Wieder dieser misstrauische Blick. „Was ist es dann? Glaubst du ich lege Wert auf Rettung? Ich brauche keine Freiheit, ich bin genau da, wo ich hingehöre.“

Oh Mann, wie konnte man nur so melodramatisch sein? „Bist du jetzt mit deinem Bad im Selbstmitleid fertig, oder soll ich dir dafür noch ein wenig Zeit einräumen und später nochmal vorbei schauen?“ Sie funkelte mich wütend an, aber das konnte ich genauso gut. „Ich bin nicht hier, um dich vor dir selbst zu retten und nein, bevor du fragst, ich erwarte von dir keine Gegenleistung. Das Einzige, was ich von dir möchte ist, dass du bei mir wohnst. Vielleicht kannst du mir auch hin und wieder helfen. Ich bin neu in dieser Welt und verstehe noch nicht alles. Und du wirst dir natürlich einen Job suchen, ich werde dich nämlich ganz sicher nicht mit durchfüttern. Außerdem erwarte ich, dass du deine Wäsche selber wäschst, ich habe nämlich nicht vor, deine dreckigen …“

„Warum tust du das?“, unterbrach sie mich.

Für den Moment schloss ich den Mund. Ich wusste nicht, wie ich die Gefühle in meinem inneren einordnen sollte, aber seit sie mir erzählt hatte, was ihr geschehen war, verstand ich sie. Ich wusste wie es war und das machte mir eine scheiß Angst. „Weil ich dich verstehe“, antwortete ich daher einfach.

„Ach ja?“ Sie schnaubte sehr undamenhaft. „Sicher.“ 

Ich wollte nicht darüber reden, wollte mich damit nicht auseinandersetzen, doch was blieb mir anderes übrig? Sie sollte nicht für etwas büßen, das sie nicht verschuldet hatte. Es wäre am einfachsten gewesen sich umzudrehen und dieses sture Frauenzimmer einfach sich selber zu überlassen, aber das wäre feige und ich wollte kein Feigling sein. „Du fühlst dich dreckig, selbst nach all den Jahren.“ Meine Worte kamen leise aber schnell. Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen. „Und es ist egal, wie oft du dich wäschst, diese Art von Dreck geht einfach nicht weg. Du fürchtest dich vor Berührungen, zuckst bei ihnen zusammen und wünschst dir nichts anderes, als das zu vergessen, was geschehen ist, doch ich kann dir sagen, dass es nichts bringt. Selbst ohne Erinnerung versucht dein Körper, dich zu schützen.“ Das ließ ich erst mal wirken. „Ich kann mich nicht erinnern, aber ich weiß ganz genau, was du fühlst.“

„Lass bloß deine Finger von dem, Tal, der ist nicht ganz koscher.“

„Jenn hat recht, halt dich von Sven fern, der spielt nur mit dir und dann lässt er dich fallen wie einen alten Sack Kartoffeln.“

„Hör auf damit, Sven, ich meine es ernst, ich will das nicht!“

„Mann, dass ihr Mädchen immer so rumzicken müsst.“

Sie sah mich so eindringlich an, als versuchte sie das innerste meiner Seele zu erforschen. „Du weißt, was das bedeutet?“

„Ja.“ Pause. „Aber ich will nicht darüber nachdenken.“ Denn das würde es erst wirklich real machen. Die ganze Zeit hatte ich geglaubt, dass ich mich vor den Berührungen der Anderen so fürchtete, weil sie so fremdartig waren. Im Traum wäre es mir nicht eingefallen, dass es dafür einen anderen Grund geben könnte. Erst als Kaj mir von dem schrecklichen Schicksal erzählte, das sie ereilt hatte und dieses Gefühl der Verbundenheit durch mich hindurchgegangen war, kam mir überhaupt erst der Gedanke, dass es etwas ganz anderes sein konnte. Nur mein Vergessen hatte ich es zu verdanken, dass ich heute mit den Wölfen so frei umgehen konnte.

Kaj erhob sich aus ihrer Ecke und kam zu mir ans Gitter. „Sie werden mich hier nicht raus lassen. Ich bin eine Mörderin.“

„Nein, bist du nicht“, widersprach ich sofort. „Du wirst mit Sicherheit eine Strafe bekommen, wegen Kidnapping und Beteiligung, oder so …“

„Kidnapping?“

„… aber wir wissen beide, dass du keinen von den Einzelläufern getötet hast. Das mit den Welpen aus deinem alten Rudel ist verjährt und eine Sache zwischen Lykanern, daher wird es von dieser Seite aus keine Probleme geben. Gaare wird mir helfen dich hier rauszuholen, ich habe schon mit ihm gesprochen. Mit seiner Unterstützung sollte das nicht weiter schwer sein.“

„Netter Plan, aber da wäre noch eine Kleinigkeit die du übersehen hast: Was ist mit dem alten Mann im Wald? Den habe ich getötet, ob nun mit Absicht oder nicht, der Kerl ist tot.“

„Das war ein Unfall.“

„Ich weiß das und du glaubst mir, selbst ohne Beweis – was ich übrigens ziemlich naiv von dir finde –, sei es drum. Aber kein anderer wird mir glauben.“

Auch dieses kleine Detail hatte ich bedacht. Ich war halt ziemlich ausgebufft. Talita, allzeit bereit und immer eine Lösung in der Hinterhand. „Ich werde die Geschichte so drehen, dass auch diese Tat Erion zu Lasten gelegt wird.“ Den mal ehrlich, auf einen Mord mehr oder weniger kam es auch nicht mehr an, so viele Leben, wie er geopfert hatte, um seine Ziele zu erreichen.

„Aber deine kleinen Freunde …“

„Niemand weiß davon. Ich habe es für mich behalten. Der Tod des alten Mannes war wie der der Einzelläufer. Und das Mädchen ist so verwirrt, dass sie nicht einmal richtig mitbekommen hatte, was geschah. Der Mann ist tot, wie viele andere auch, warum also sollte der Täter ein anderer sein? Die Lykaner wissen nur, dass du der Tigerwolf warst und Erions Opfer angelockt hast.“ Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer werden würde, sie zu überreden, aus dieser Zelle zu kommen. Eigentlich sollte sie doch froh sein, dass ich sie hier rausholen wollte.

„Aber dein kleiner Zellengenosse kennt die Wahrheit. Er war dabei, als ich …“

„Die Nerven verloren hast, in deren Folge du all deine schmutzigen kleinen Geheimnisse ausgeplaudert hast?“

Sie grinste, obwohl es mehr einem Zähnefletschen glich. „So ungefähr.“

Und auf ein Neues. „Kovu wird den Mund halten, dafür sorge ich schon. Sonst noch irgendwelche Einwände, die ich abschmettern muss?“

„Ja, bist du dir wirklich sicher, dass du mit einer Welpenfresserin zusammen wohnen willst?“

„Nein bin ich nicht“, sagte ich ganz ehrlich.

Dafür bekam ich das erste richtige Lächeln, das ich je an ihr gesehen hatte. „Gut. Du besitzt also doch ein wenig Verstand.“

Da war ich mir nicht ganz so sicher.

 

°°°°°

 

Ende erster Teil

Imprint

Publication Date: 02-08-2013

All Rights Reserved

Dedication:
Für all die eifrigen Leser

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