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Prolog

 

Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihr Blick brannte sich in seine Seele, eiskalt und voller Hass. „Es ist vorbei“, sagte sie leise. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Raphael spürte wie sein Herzschlag sich beschleunigte und drückte sich mit dem Rücken fester an die kalte Backsteinmauer der Sackgasse. Seine Augen flogen hektisch über das Meer aus Wölfen, dass sich geifernd und knurrend um ihn herum versammelt hatte. Sie würden nicht erlauben, dass er ihnen ein weiteres Mal entkam. Sie wollten Blut sehen, sein Blut.

Seine Hand schloss sich ein wenig fester um das zerknitterte Foto.

„Dieses Mal gibt es für dich kein Entrinnen.“ Langsam ließ Cayenne ihren Blick über Raphael wandern. Sie war blass und mager. Unter ihren Augen langen dunkle Ringe und eine lange Narbe hatte sie auf dem linken Auge erblinden lassen. „Dieses Mal werde ich es beenden.“

In der vordersten Reihe stand ein blonder Wolf. Tristan hatte die Zähne gebleckt und schien nur darauf zu warten, von Cayenne die Erlaubnis zu bekommen, seinen Bruder in Stücke zu reißen zu dürfen.

Resigniert schloss Raphael die Augen. Er hatte versucht vor ihr davon zu laufen, nachdem die Lykaner ihn in dem abgebrannten Haus entdeckt hatten, aber sie waren überall gewesen und hatten ihn in diese Sackgasse getrieben. Es gab kein Entkommen.

„Du hast mir alles genommen.“ Als sie direkt vor ihm zum Stehen kam, verstummten die Wölfe um sie herum. „Alles woran ich einmal geglaubt habe, wurde zerstört. Du hast alles zerstört.“

Nur langsam öffnete er die Augen und begegnete ihrem Blick. Dort war nichts mehr von der Zuneigung, die sie einmal für ihn empfunden hatte, nur noch kalte und grausame Berechnung. „Du hast mich zerstört“, erwiderte er genauso leise und spürte wieder diesen Schmerz, der seine Seele in tausend Stücke zerriss.

„Ich?!“ Sie packte ihn am Krangen seines Hemdes und knallte ihn mit dem Kopf gegen die Wand. Es tat weh, doch er wehrte sich nicht. Die Monate auf der Flucht hatten ihn geschwächt und sie war noch immer Cayenne. Er hatte sie noch nie verletzten können. „Ich habe dir die Hand gereicht, du blutsaugender Parasit, und was bekam ich zum Dank?! Du hast den wichtigsten Menschen in meinem Leben getötet!“ Ihr Griff wurde in kleinen wenig fester, während die Wölfe um sie herum unruhig wurden. Knurrend streiften sie an ihren Beinen entlang. Ein besonders mutiger biss in Raphaels Richtung, doch er wagte es nicht ihn zu verletzten, das war das Privileg der Königin. „Du bist ein Mörder.“

Ja, das war er. Aber es war nichts im Gegensatz zu dem, was sie getan hatte. „Und du bist ein Monster, das tausende von Unschuldigen auf dem Gewissen hat.“

Ihre Züge verhärteten sich. „Besser ein Monster, als ein Vampir.“ Sie stieß ihren Arm so ruckartig nach nach vorne, dass er nicht mehr reagieren konnte. Ein unsagbarer Schmerz fuhr Raphael in den Körper und ließ ihn nach Luft schnappen. Einen Moment verstand er nicht was geschehen war, doch als sie ihren Arm zurück riss, bemerkte er das blutige Messer in ihrer Hand.

Ungläubig sah er an sich herunter und entdeckte noch mehr Blut. Warm und dickflüssig quoll es aus der Stichwunde in seiner Brust. Es färbte sein Shirt rot und lief warm über seine Haut. Plötzlich wurde ihm schwindelig und eiskalt.

Sie hatte es wirklich getan. Bis zu diesem Moment hatte er es nicht glauben können. Irgendwo war da noch ein kleiner Rest Hoffnung gewesen, dass sie ihm vielleicht verzeihen würde, dass sie im Augenblick der Rache scheiterte, weil sie es einfach noch über sich bringen konnte. Doch nun stand sie da, die blutige Klinge in der Hand und schien rein gar nichts zu fühlen. Keine Träne, keine Reue, keine Zuneigung.

„Ich verfluche den Tag, an dem ich dir begegnet bin“, sagte sie kalt und trat einen Schritt von ihm zurück. Das Messer fiel klappernd zu Boden und blieb zwischen Unrat und Müll liegen.

Langsam verließ Raphael die Kraft. Er schaffte es nicht mehr sich auf den Beinen zu halten und sackte an der Wand in sich zusammen. Seine Atmung wurde schwerer. Er hatte das Gefühl eine riesige Last drückte ihm mit aller Macht auf die Brust.

Während er seine Hände auf die blutende Wunde drückte, richtete er seinen Blick ein letztes Mal auf ihr Gesicht. „Ich liebe … dich“, flüsterte er schwach und spürte wie sein Körper taub wurde. Er nahm noch einen letzten, rasselnden Atemzug, dann wich das Leben aus seinem Körper und ließ nichts als eine gebrochene Hülle zurück.

Sein Arm rutschte zur Seite. Die Hand öffnete sich und das zerknitterte Foto fiel blutverschmiert auf den Boden. Es zeigte Cayenne in jungen Jahren. Das Gesicht war mit weißer Farbe verschmiert und ihre Augen funkelten den Fotografen empört an, weil er es wagte, sie in diesem Zustand zu photographieren. Raphael hatte dieses Foto geliebt – genau wie sie.

„Geht“, sagte Cayenne leise, ohne den Blick von dem Leichnam zu nehmen. „Tötet sie alle. Kein Vampir darf überleben. Und wenn sich euch jemand in den Weg stellt, tötet auch ihn.“

Die Wölfe warfen ihre Köpfe in den Nacken und heulten. Dann setzten sie sich wie ein einziges Wesen in Bewegung, um die Hölle über die Welt zu bringen.

 

°°°°°

 

Trauriger Mann

 

Ich schlug die Augen auf und blinzelte ein paar Mal, um die Schatten der Vision zu vertreiben. Leider ließen die Bilder sich nicht so einfach verbannen. „Hört auf damit“, schimpfte ich und zog meine Vorderpfoten dichter unter meine Brust. Dabei versuchte ich die Dunstgebilde um mich herum zu ignorieren, aber sie kamen näher und hüllten mich ein.

Das darf nicht geschehen, flüsterte eine Stimme und verblasste dann im Nebel.

Ein Windhauch streifte durch mein schwarzes Fell. Er muss aufgehalten werden.

Als wenn mir das nicht bewusst wäre. Die Geister zeigten mir diese Bilder schließlich schon seit Jahren und jedes Mal musste ich tatenlos mit ansehen, wie er und alle um ihn herum starben. Immer wieder fühlte ich seinen Schmerz, seine Verzweiflung und die unendliche Einsamkeit. Er tat mir leid. Und doch kauerte ich nun auf der nasskalten Erde unter diesem Strauch am Straßenrand irgendwo in Frankreich und wartete auf ihn.

Der stetige Regen und die dunkeln Wolken tauchten diese schicksalshafte Nacht in tiefe Finsternis. Die Morgendämmerung konnte nicht mehr allzu fern sein, doch die tiefhängenden Wolken würden es ihr nicht gestatten, den Tag einzuläuten.

Fröstelnd kauerte ich mich noch ein wenig zusammen. Die Nacht verbarg mich. Als Panther konnte ich in ihr unsichtbar werden. Mir war kalt und mein nasses Fell klebte mir am Körper, während über mir der Donner grollte. In der Ferne zuckte ein Blitz am Himmel. Ängstlich duckte ich mich ein wenig tiefer in das Gebüsch. Ich mochte Regen nicht, aber was ich noch viel weniger mochte, waren Gewitter. Sie machten mir Angst.

Sehnsüchtig schaute ich nach oben zu dem Hotel, in dem ich die letzten Tage gelebt hatte. Im Moment war es kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit. Dort war es trocken und warm und wahrscheinlich würde es auch etwas zu Essen geben, aber ich musste hier bleiben. Die Geister hatten mir eine wichtige Aufgabe anvertraut.

Ich wollte das nicht tun.

Ara. Sanft strich dieses Wort durch meinen Geist. Einen kurzen Moment verlor ich mich in dem Klang der Kinderstimme. Hab keine Angst, ich bin bei dir.

„Ich habe vor gar nichts Angst“, murmelte ich trotzig und richtete meinen Blick auf die schmale Zufahrtsstraße des Hotels. Mika hatte mir gesagt, er würde hier vorbei kommen und er würde nicht bis zum Morgen warten, nicht nachdem die Entscheidung gefallen war.

Direkt vor mir hing ein nebliger Fleck in der Luft. Im Dunst zeichneten sich die verschwommenen Konturen eines kleinen Leoparden ab, kaum mehr als ein Kätzchen. Sie war gerade mal neun gewesen, als sie starb. Du tust das Richtige.

„Ich weiß.“

Außer mir war niemand hier draußen. Naja, außer mir und den Geistern, wie die Meisten sie nennen würden. Dabei waren sie so viel mehr, als die Seelen der Toten. Sie waren Wissen. Sie waren Glaube und Erinnerung. Sie waren das was war und das was sein würde. Und als Ailuranthrop konnte ich sie nicht nur sehen, sondern auch mit ihnen sprechen. Obwohl es mir manchmal ganz recht wäre, wenn sie Mal den Mund halten würden.

Als es direkt über mir grollte, versuchte ich nicht hinzuhören. „Ich muss mich nicht fürchten“, sagte ich mir selber. „Es ist alles in Ordnung.“

Mit einem Mal wurden die Dunstgebilde um mich herum unruhig. Sie begannen zu wirbeln und zu flüstern und übertönten damit sogar den strömenden Regen.

Er ist auf dem Weg.

Todbringer!

Halte ihn auf.

Er kommt.

Töte ihn!, schallte der Befehl durch meinen Geist. Töte den Todbringer!

Er muss sterben.

Töte ihn, bevor es zu spät ist!

Wieder grollte der Donner.

Widerwillig kroch ich unter den Zweigen des Strauchs hervor. Vom vielen Regen war der Boden so aufgeweicht, dass ich mit den Pfoten ein paar Mal wegrutschte, bevor ich es heraus schaffte. Augenblicklich wurde der Regen stärker.

Ein Wagen kam die Straße vom Hotel herunter. Das Licht seiner Scheinwerfer zerschnitt die Nacht.

Du schaffst das, Ara. Wie eine Liebkosung streifte mich der Geist meiner toten Schwester Lalamika. Lass ihn nicht länger leiden, lass ihn nicht zum Todbringer werden.

Nein, das würde ich nicht.

Ohne den sich nährenden Wagen aus den Augen zu lassen, trat ich mitten auf die Fahrbahn und setzte mich dort auf meinen Hintern. Mein Fell juckte, von dem Matsch und dem Dreck. Nicht mal der Regen konnte etwas dagegen tun und das, obwohl er mich bereits bis auf die Haut durchnässt hatte.

Die Scheinwerfer des Wagens krochen unaufhaltsam über den Asphalt. Ich ließ sie keinen Moment aus den Augen. Näher und näher kamen sie auf mich zu. Der Regen prasselte um mich herum auf den Straßenbelag. Wieder grollte der Donner, aber ich zwang mich nicht darauf zu reagieren. Er war laut, ja, aber er konnte mir nichts tun. Niemand konnte mir mehr etwas tun, denn zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich frei und auch stark genug, mir diese Freiheit zu bewahren.

Als die Lichtkegel mich erfassten, verharrte ich genau wo ich war. Reifen quietschten, der Wagen kam auf dem nassen Asphalt ins Schlingern. Plötzlich brach er zur Seite aus. Der hintere Teil rutschte weg und dann … stand der Wagen.

Einen Moment geschah gar nichts, dann wurde die Fahrertür aufgestoßen und ein großer Mann mit langen, schwarzen Haaren stieg eilig aus dem Wagen. „Bist du völlig bescheuert?!“, fauchte er mich an. In seinen hellblauen Augen lag der Schreck. Nein, sie waren nicht hellblau, sie hatten die Farbe von Eis, blass, fst durchscheinend und sie funkelten wütend mich an. „Wolltest du überfahren werden?!“

„Nein.“

„Und warum sitzt du dann bitte mitten auf der Straße?!“ Bei dem letzten Wort waren seine langen und dünnen Reißzähne zu sehen. Dieser Mann war viel mehr, als man auf den ersten Blick erahnen konnte, er war ein Vampir.

„Weil ich auf dich gewartet habe.“

Das schien ihn für einen Moment zu verdutzen. Doch dann machte sich eine spürbare Verärgerung bei ihm breit. „Los, kusch, mach das du da wegkommst.“ Er wedelte mit dem Arm, als wollte er ein lästiges Hündchen verscheuchen.

Von wegen. Ich neigte den Kopf nur ein wenig zur Seite. „Wo willst du denn hin?“

„Weg“, war seine ganze Antwort. Und dann sah ich, wie er schluckte. Dieses eine Wort bedeutete so viel mehr, als es ausdrückte.

Todbringer. Die Stimme streifte meinen Geist.

Jetzt ist er verwundbar.

Töte ihn!

Tu es jetzt!

Langsam erhob ich mich auf die Beine und machte einen Schritt auf ihn zu. Ich wusste was ich zu tun hatte und es wäre nicht das erste Mal in dieser Nacht, dass ich es tun würde. Doch dann bewegte er sich ein Stück und ich sah hinter der steinernen Fassade das Schimmern in seinen Augen.

Er war traurig.

Plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich hatte seinen Kummer gespürt. Immer wenn die Geister mir Visionen über ihn geschickt hatten, konnte ich all das fühlen, was auch er in diesen Momenten der Zukunft gefühlt hatte. Seine Trauer, seinen Schmerz und seine Einsamkeit. Die Geister wollten, dass er starb und das nur, weil er liebte.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt vor ihm zurück.

Was tust du da, Ara? Der Schatten meiner Schwester bewegte sich unruhig. Du darfst nicht zögern.

„Hast du etwas an den Ohren?“ Der Mann machte einen drohenden Schritt auf mich zu. Die Leute in seinem Leben nannten ihn Ryder, doch sein Name war Raphael. „Verschwinde!“

Nein, ich durfte nicht verschwinden. Aber ich konnte ihn auch nichts tun, nur weil er traurig war. „Darf ich mitkommen?“ Die Worte waren raus, bevor ich mir überhaupt bewusst war, was sie bedeuteten. Und dann wusste ich selber nicht, was ich davon halten sollte.

„Was?“ Er schaute mich an, als sei mir ein zweiter Kopf gewachsen. „Du spinnst wohl.“

Die Geister um mich herum begannen unruhig zu werden. Sie schäumten und zürnten, aber ich ignorierte sie einfach. Ich konnte ihn nicht einfach töten, das fühlte sich falsch an.

Aber es ist nicht falsch. Tu es, Tarajika, töte den Todbringer.

Nein. Nein, ich würde es nicht tun.

„Los, verschwinde endlich.“

Das konnte ich auch nicht tun. Wenn ich ihn allein ließ … die Folgen ließen sich kaum in Worte fassen. Darum machte ich ein paar Schritte auf ihn zu und sprang auf seine Motorhaube. Ich konnte nicht erlauben, dass er alleine wegfuhr.

Einen Moment schaute er mich an, als fragte er sich, was das werden sollte. Als ich mich dann auch noch hinlegte und einfach ausstreckte, schien er einfach nur noch verärgert. „Was soll der Mist? Geh da runter, ich will weiterfahren.“

„Nimmst du mich mit?“

„Nein, ich nehme dich nicht mit!“

„Dann bleibe ich hier liegen.“

Zusammen mit meiner für ihn unsichtbaren Schwester, schaute ich dabei zu, wie sein Gesicht sich langsam verdüsterte. „Warum sollte ich dich mitnehmen?“

„Weil ich dich sonst nicht von hier weg lasse.“ Ganz einfach.

Einen Moment schaute er mich an und dann schnaubte er, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. „Willst du mich verarschen?“

„Nein.“

Er wird gleich einfach wegfahren, egal ob du auf dem Wagen liegst, warnte mich Lalamika.

Ach ja? Na das sollte er ruhig mal versuchen. Bevor er noch mal den Mund öffnen konnte, erhob ich mich und sprang genau auf ihn zu. Vor Schreck machte er einen Satz zurück. Das war meine Gelegenheit.

Ich hatte kaum den Boden berührt, da wirbelte ich auch schon herum und kletterte eilig durch die noch offene Wagentür auf den Beifahrersitz. Wenn er jetzt weg wollte, musste er mich mitnehmen.

Raphael stand draußen, klitschnass und völlig durchweicht vom strömenden Regen und schien einen Moment nicht zu wissen, was er tun sollte. Dann verhärteten sich seine Züge. „Das kannst du vergessen.“ Entschlossen kam er zum Wagen und griff über den Fahrersitz nach mir.

„Das lässt du!“, fauchte ich und drohte ihm mit meinen Zähnen.

„Dann steig aus dem verdammten Wagen aus!“

„Nein.“

Er schaute mich an, kletterte dann wieder aus dem Wagen heraus und umrundete ihn. Als er dann auch noch nach der Beifahrertür griff, drehte ich mich kurzerhand um und kletterte eilig auf den Rücksitz.

„Verdammt, was soll das?!“

„Draußen ist es nass.“

Gleich würde ihn der Schlag treffen. „Du kannst nicht mitkommen.“

„Warum?“

„Weil ich das sage.“ Er schlug die Tür zu und öffnete die zum Rücksitz. Als er dieses Mal seine Hand nach mir ausstreckte, schlug ich sie mit meiner Pfote weg. Aber ich war artig, die Krallen blieben drin.

„Ich bleibe“, verkündete ich und nahm die Nase ein wenig hör.

Oh, wenn Blicke töten könnten. „Steig aus dem verdammten Wagen.“

Das tat ich nicht. Stattdessen blieb ich wo ich war und schaute dabei zu, wie er immer nasser wurde. Das Shirt an seiner linken Schulter war blutig. Ich sah ein kleines Loch, unter dem ein inzwischen nasser Verband durchschimmerte.

Plötzlich verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. „Okay, bitte, wie du willst.“ Er knallte die Wagentür zu, umrundete das Auto und setzte sich dann hinter das Steuer. Auch diese Tür schloss er mit einem Knall, bevor er den Motor startete und langsam losfuhr.

Bedeutete das, ich hatte gewonnen?

Nein Ara, er will dich unterwegs einfach zurück lassen. In dem verregneten Fenster erschien die verzerrte Spiegelung meiner Schwester. Er will zum Flughafen. Ins Flugzeug kannst du ihm nicht folgen.

Wenn ich ehrlich war, dann wollte ich das auch gar nicht. Ich war schon zwei Mal mit einem Flugzeug geflogen und beide Male war mir schlecht geworden.

Es gibt nur einen Weg um das zu verhindern.

Ich funkelte meine Schwester an. Wenn sie jetzt wieder damit kam, dass ich ihn töten sollte, würde ich sie nicht mehr beachten.

Sie seufzte. Siehst du seine Tasche? Sie liegt neben dir im Fußraum.

Ich schaute in de Zwischenraum hinter den Sitz.

In der Seitentasche ist sein Reisepass. Mach ihn kaputt, dann kann er nicht fliegen.

Und mich nicht zurücklassen. Verstanden.

Ich warf einen wachsamen Blick nach Vorne und stellte fest, dass er stur durch die Windschutzscheibe schaute. Gut. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, angelte ich mit meiner Pfote nach der Reisetasche. Leider schien sie irgendwie festzustecken. Na dann eben anders.

Ich fuhr die Krallen aus und kratzte damit über die Seite, bis sich der Reißverschluss öffnete. Der Regen und der Donner waren zum Glück laut genug, um jedes Geräusch von mir zu übertönen. An den Reisepass zu kommen, war dagegen schwerer. Da steckten noch andere Papiere drin und ich hatte keine Ahnung, was davon ein Reisepass war.

Das dünne Heft mit dem roten Umschlag.

Ah, da. Um das herauszubekommen, musste ich allerdings meine Zähne benutzen. Es dauerte einen Moment, aber dann bekam ich ihn zu fassen und zog ihn heraus. Ob es wohl reichte, wenn ich einfach auf ihm herumkaute?

Nein, mach ihn richtig kaputt.

Na gut. Also kaute ich erstmal ein wenig darauf herum und begann dann ihn leise in seine Einzelteile zu zerlegen.

„Was machst du da?“

Ertappt. „Nichts.“ Ich spuckte die Reste eilig aus, drehte mich dann ganz unschuldig herum und setzte mich einfach mit meinem Hintern darauf. Ich war ein Panther und damit war mein Hintern groß genug, alles zu verbergen. „Wo fahren wir hin?“

Durch den Rückspiegel konnte ich sehen, wie er die Augen leicht verengte. „Ich schwöre dir, wenn du …“

Sein Handy begann zu klingeln.

Er funkelte mich noch einmal an, griff dann in seine Hosentasche und zog das kleine Gerät heraus. Ein kurzer Blick darauf ließ seine Lippen schmaler werden. Trotzdem nahm er den Anruf an. „Ja.“

Ich spitzte die Ohren. Die Stimme am anderen Ende war leise, doch ich kannte sie. Es war sein Bruder und er schien ziemlich aufgebracht zu sein.

Meine Familie war auch immer sauer auf mich gewesen und das nur, weil ich lebte.

„Auf dem Weg zum Flughafen.“

Aber seine Familie war nicht so.

„Vivien brauch mich nicht, Romeo ist bei ihr und … nein, ich brauche einfach, keine Ahnung, Abstand schätze ich.“

Seine Familie hatte ihn lieb.

Ach Ara.

„Nein, ich verschwinde nicht wieder von der Bildfläche.“

Draußen vor dem Fenster wurden die Bäume spärlicher und wechselten sich mit großen Weiden und Feldern ab. In der Ferne zuckte eine Blitz über den Himmel und erleuchtete einen Moment ein paar Kühe, die dicht zusammengedrängt das Unwetter ertrugen.

„Nein Tyrone, ich … nein, ich will nicht darüber sprechen.“

Interessiert stand ich auf und ging näher an das Fenster heran. Dabei musste ich mit dem Schwanz rudern, um auf dem weichen Poster das Gleichgewicht halten zu können.

„Wenn du … verdammt, nimm deinen Schwanz aus meinem Gesicht!“

Ich warf ihm nur einen kurzen Blick zu, als er an meinem Schwanz zupfte und rückte dann näher an das Fenster heran, doch es war so dunkel, dass ich kaum etwas sehen konnte. Die Kühe blieben in der Dunkelheit verborgen. Als dann auch noch der Schatten meiner Schwester auf der Scheibe erschien, wurde es noch schwieriger.

Was soll das werden, Ara?

„Nein, egal, ist nicht wichtig.“

Ich versuchte an Lalamika vorbeizuschauen. Als das nicht funktionierte, drehte ich mich herum und begann auf den Beifahrersitz zu klettern.

„Nein, das ist … verdammt, was soll das werden? Hey, willst du, dass wir einen Unfall bauen?!“ Er schubste mich zur Seite, als ich mit dem Bein gegen ihn stieß. „Setz dich hin, bevor wir noch in einem Graben landen!“ Er warf mir einen bösen Blick zu, bevor er zu dem Gespräch mit seinem Bruder zurückkehrte. „Ja, ich bin noch dran und … egal. Tyrone, ich lege jetzt auf. Ich sitze am Steuer. Ja, gut. Ich melde mich.“

Während ich versuchte die Kühe in der Dunkelheit wiederzufinden, legte er auf und schob seine Handy zurück in die Hosentasche. Dabei verzog er das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

„Sag mal, bist du eigentlich noch ganz dicht?“

„Ich sehe die Kühe nicht mehr.“

Sein Mund öffnete sich, doch alles was rauskam, war ein Schnauben.

Enttäuscht setzte ich mich auf meinen Hintern. Dabei stellte ich fest, dass der Sitz wirklich eng war. Sollte ich versuchen mich zusammenzurollen, würde ich halb im Fußraum hängen.

Ein paar Minuten fuhren wir einfach still dahin. Der Leopard, den ich jetzt in der Spiegelung der Scheibe sah, war ich selber. Genaugenommen war ich ein Panther. Ein Panther, der so dünn war, dass man jeden Knochen einzeln sehen konnte. Mein Fell war stumpf und ungepflegt und das lag nicht nur daran, dass es dreckig und nass war. Trotzdem sah man die Rosetten, die meinen ganzen Körper wie schattenhafte Gebilde überzogen.

„Könntest du dich wenigstens verwandeln? Die Menschen sind Großkatzen als Beifahrer nicht gewohnt.“

Verwandeln?! War er verrückt? Allein bei dem Gedanken daran, wollte ich ihm die Zähne zeigen. „Nein.“ Ich hatte mich schon seit Jahren nicht mehr verwandelt. Ohne Zähne und Klauen war ich … schwach. Ich wollte nie wieder schwach sein.

So wie Raphael mich anschaute, glaubte er wohl sich verhört zu haben. „Du verarschst mich doch.“

„Warum sollte ich das machen?“

Einen Moment ließ er die Fahrbahn aus den Augen und schaute mich an. Dann gab er ein Geräusch von sich, das wohl eine Mischung aus Unglaube und Belustigung war. Dabei sah er überhaupt nicht erheitert aus. „Und wenn die Menschen dich sehen, was erzähle ich denen dann?“

„Keine Ahnung.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du kannst doch deine Zauberaugen benutzen. Ich weiß, das Vampire sowas das haben.“

„Das sind keine Zauberaugen, dass nennt man Repression, die Fähigkeit schwache Geister durch einen Blick zu Hypnotisieren.“

„Sag ich doch, Zauberaugen.“

Er funkelte mich an. „Und nur weil wir das können, müssen wir das nicht bei sich jeder bietenden Gelegenheit tun.“

Hm, da hatte er Recht. „Dann sag doch einfach, ich bin ein großer Hund.“

So wie er mich daraufhin anschaute, zweifelte er wohl an meinem Verstand. „Du siehst nicht im Entferntesten wie ein Hund aus.“

„Und wenn ich belle?“

„Warum verwandelst du dich nicht einfach?“

Weil ich nicht mal wusste, ob ich es überhaupt noch konnte. Ich hatte es seit meinem elften Lebensjahr nicht mehr getan und das lag schon viele Jahre zurück. Aber das wollte ich ihm nicht erklären. Ich wollte diese Zeit einfach nur vergessen.

In diesem Moment fing mein Magen sehr vernehmlich an zu knurren. Kein Wunder, hatte ich meine letzte Mahlzeit doch vorhin im Wald ausgekotzt, nachdem ich meinem Peiniger die Kehle herausgerissen hatte, um diesem ganzen Alptraum endlich ein Ende zu setzen. „Ich habe Hunger.“

Raphael schaute mich nicht mal an. „Nicht mein Problem, würde ich sagen.“

Nicht sein Problem? Das war eine Kampfansage. Ich fuhr die Krallen aus und hieb meine Pfote in das Polster des Sitzes. Es war wohl die Bewegung, die ihn dazu veranlasste, mir nun doch ein wenig seiner Aufmerksamkeit zu schenken und sobald er schaute, zog ich meine Pfote zurück.

Der Stoff gab ein reißendes Geräusch von sich und im nächsten Moment quoll die Füllung heraus.

„Scheiße, was machst du da? Das ist nur ein Leihwagen!“

Was auch immer das hieß. „Ich habe Hunger.“

„Ja aber deswegen kannst du doch noch einfach den Sitz zerfetzen!“, fuhr er mich an.

Natürlich konnte ich, ich hatte es doch gerade getan.

„Nicht nur, dass du stinkst und alles dreckig machst, jetzt ruinierst du auch noch das Innenleben!“

„Doch nur, weil ich etwas zu Essen haben möchte.“

„Und du glaubst, dass ist der richtige Weg?“

Das würde sich jetzt zeigen. Ich kniff die Augen leicht zusammen und erhob meine Tatze erneut.

„Hey! Halt! Okay, ich besorge dir etwas zu essen, aber nur wenn du aufhörst den Wagen zu zerlegen!“

Na ging doch, warum nicht gleich so? „Danke.“ Ich zog die Krallen ein und stellte meine Pfote ganz artig zurück auf den Sitz.

Raphael sah aus, als wollte er mich am liebsten aus dem Auto schubsen – bei voller Fahrt. Während er das Lenkrad mit der rechten Hand umklammerte, mahlte er mit den Kiefern. Das war bestimmt nicht gut für seine Zähne.

„Bekomme ich Hühnchen?“

Uh, der konnte aber wirklich böse gucken.

„Hühnchen ist lecker. Im Schloss habe ich immer Hühnchen gegessen.“

Etwas an diesen Worten ließ seine Lippen schmaler werden. Doch dann warf er mir aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu und plötzlich lag darin ein Glitzern, beim dem sich mir fast die Nackenhaare aufgerichtet hätten. „Hühnchen möchtest du also?“

Ich nickte.

Er begann zu lächeln. „Dann sollst du auch Hühnchen bekommen.“

Das war ja einfach gewesen. „Danke!“ Ich stellte meine Vorderpfoten auf das Armaturenbrett und hielt Ausschau nach dem Federvieh, aber da waren nur Bäume. „Woher bekommen wir die Hühnchen?“

„Du musst dich schon wein wenig gedulden. Es ist gerade mal sieben Uhr morgens und wir befinden uns auf irgendeiner Landstraße. Wir müssen erst in die nächste Ortschaft fahren.“

„Und da gibt es dann Hühnchen?“

„Oh ja.“ Die helle Farbe in seinen Augen wurde ein kleinen wenig dunkler. „Dieses Hühnchen wird für dich unvergesslich werden.“

Er hat nichts gutes im Sinn, warnte mich Lalamika.

Ich beachtete sie nicht. Sie war doch nur sauer, weil ich nicht auf die gehört hatte.

Das ist nicht wahr, Ara.

Ob es wahr war oder nicht, war mir egal. Er hatte mir Hühnchen versprochen und jetzt wollte ich Hühnchen. Leider dauerte es noch eine ganze Weile, bis wir in die nächste Ortschaft führen. Mein Magen knurrte mittlerweile so laut, dass man meinen könnte, da säße noch ein Wolf mit uns im Wagen. Aber wenigstens hatte der Regen stark nachgelassen und es gewitterte auch nicht mehr.

Raphael kurvte den Wagen eine ganze Weile durch die Stadt. Sie hieß Nancy und lag irgendwo in Frankreich. Zum Glück war Hunger für mich kein neues Gefühl. Trotzdem freute ich mich, als er endlich ein rotes Schnellrestaurant mit den drei großen Buchstaben anfuhr. Ich konnte sie nicht lesen, ich hatte es nie gelernt, aber sobald mir der Geruch in die Nase stieg, begann mein Magen wieder auffordernd zu grummeln.

„Geh auf den Rücksitz und legt dich hin“, befahl Raphael, bevor er in die Auffahrt einbog. „Mach dich ganz flach, dich darf niemand sehen.“

„Okay.“ Ich kletterte wieder auf den Rücksitz. Dieses Mal passte ich aber auf, dass ich ihn nicht wieder trat. Dabei fielen ein paar Schnipsel von seinem zerfetzen Pass auf seine Reisetasche. Zum Glück war es im Auto so dunkel.

„Und kein Wort.“

„Ich bin ganz still“, versprach ich.

Erst nach einem letzten Kontrollblick, fuhr er das Restaurant an.

Es war noch früh und dementsprechend kaum etwas los. Er stieg auch gar nicht aus, sondern fuhr mit dem Wagen direkt an den Laden heran.

Aufgeregt beobachtete ich, wie er das Fenster herunter ließ und dann mit jemanden sprach. Ich war noch nie in einem Schnellrestaurant gewesen und wenn ich ehrlich war, ging es nicht wirklich schnell. Ich musste noch immer ewig warten. Doch dann wurde ihm ein großer Pappeimer durchs Fenster gereicht, aus dem es herrlich duftete.

Er stellte ihn neben sich auf den Beifahrersitz und wechselte dann noch ein paar Worte mit dem Mann, der ihm das Essen gegeben hatte.

Ungeduldig wartete ich darauf, dass er wieder losfuhr. Aber das dauerte zu lange. Vielleicht konnte ich mir ja schon unauffällig ein Hühnchen holen.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff ich mit der Pfote zwischen den Sitzen nach dem Eimer. Leider schien er das zu bemerken. Ich hatte mein Bein noch nicht mal richtig ausgestreckt, da bekam ich von ihm schon einen unauffälligen Klaps auf meine Tatze.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Das war nicht nett gewesen.

Als Raphael dann endlich das Fenster schloss und wieder anfuhr, wollte ich mich sofort erheben.

„Nein, bleib noch liegen.“ Durch den Rückspiegel warf er mir einen wachsamen Blick zu. „Hier sind zu viele Leute. Ich muss erst ein ruhiges Plätzchen suchen.“

Noch länger warten? Ich knurrte unwillig. „Ich hab aber Hunger.“

„Du bekommst ja auch gleich was zu essen“, murmelte er und bog in eine ruhige Seitenstraße ein.

Ich musste mich weitere fünf Minuten gedulden, bevor er den Wagen anhielt und nach dem Eimer griff. „So, jetzt kannst du …“

Ich war sofort auf den Beinen und sprang wieder nach vorne auf den Vordersitz.

„Hey!“, schimpfte er und hielt mir den Eimer vor die Nase. „Ich hätte dir die Teile auch nach hinten gegeben.“

Ich schnupperte an dem Hühnchen. Sie rochen lecker, aber auch irgendwie … ich wusste kein Wort dafür. „Das riecht irgendwie seltsam.“

„Das sind die Gewürze.“ Auf seinen Lippen lag ein kleines Lächeln. „Keine Sorge, du kannst das gefahrenlos essen.“

Nein Ara, tut das nicht, das ist nicht gut für dich!

Ich kniff die Augen leicht zusammen, als er den Eimer zwischen die Sitze klemmte. Warum sollte ich das nicht essen?

Weil das Essen scharf ist!

Ich hatte schon scharfes Essen gegessen.

Ja, aber nicht so.

Aber ich hatte Hunger!

Tarajika, tu das nicht!

Doch. Vorsichtig leckte ich über so ein Hühnchen … und zuckte sofort davor zurück. Aua! „Das brennt!“

„Das ist gut für die Durchblutung“, erklärte Raphael und stellte das Radio an.

Argwöhnisch schaute ich zwischen ihm und den Eimer hin und her. Meine Zunge tat weh.

„Du willst nicht? Okay, dann esse ich sie eben.“ Raphael griff nach dem Eimer, doch bevor er sie berühren konnte, schlug ich nach ihm und zeigte ihm die Zähne.

„Das sind meine“, grollte ich.

„Na dann iss sie auch und mach hier nicht so ein Theater, nur weil ich etwas geholt habe, was du noch nie gegessen hast.“

Nein, Tarajika, tu das nicht. Das wird dir nicht bekommen.

Aber ich hatte doch solchen Hunger. Wenn ich sie nur schnell genug herunter schlang, dann würde ich sie ja auch nicht schmecken müssen. Früher hatte das Essen ja auch nie geschmeckt. Man musste es einfach nur schnell schlucken.

Das ist eine ganz dumme Idee.

„Was ist nun?“, wollte Raphael wissen.

Ohne darauf zu antworten, schnappte ich mir einen Flügel und schlang ihn eilig herunter. Wieder begann meine Zunge zu brennen. Aber ich wollte das essen. Und er hatte es ja auch extra für mich gekauft. Es wäre gemein von mir, wenn ich es nicht essen würde. Also aß ich es, obwohl es so komisch schmeckte.

Mehr als einmal keuchte ich deswegen und begann immer wieder zu hecheln, um das Brennen auf meiner Zunge zu lindern. Zwischendurch stiegen mir deswegen sogar die Tränen in die Augen. Einmal überlegte ich, aufzuhören, aber Raphael sah so zufrieden aus. Er fand es gut, dass ich aß und irgendwie wollte ich ihn nicht enttäuschen.

Als der Eimer dann leer war, brannte mein ganzes Maul und es wurde auch durch mein Hecheln nicht besser. Ich hätte gerne etwas getrunken, doch mein Magen gab so seltsame Geräusche von sich.

„Bist du jetzt satt?“

Ich nickte und senkte den Kopf ein wenig. Mir war übel und es wurde noch schlimmer, als er den Motor wieder startete und wieder losfuhr.

Du hättest das nicht essen sollen, schimpfte Lalamika mit mir. Warum hast du nicht auf mich gehört?

Ich ignorierte sie und konzentrierte mich darauf, das Essen bei mir zu behalten. Nicht mal nach dem Verzehr von dem schimmligen Essen, das Pandu, mein Meuteführer mir früher immer gebracht hatte, war es mir so schlecht gegangen.

Über uns brach die Wolkendecke ein wenig auf. In der Zwischenzeit war es hell geworden und der Regen hatte aufgehört. Aber irgendwie ging es mir immer schlechter. Speichel sammelte sich in meinem Maul. Mein Magen schmerzte und mir wurde richtig übel.

Es war wohl mein Stöhnen, das Raphael auf mich aufmerksam machte. „Was ist mit dir?“

Ich kauerte mich auf meinem Platz zusammen und schluckte angestrengt. „Mir ist schlecht.“ Mein Atem wurde immer schwerer.

Von der Seite bekam ich einen kritischen Blick. Dann runzelte Raphael plötzlich die Stirn. „Was ist das?“, fragte er und griff nach etwas auf dem Sitz. Es war ein roter Schnipsel. Im ersten Moment schien er nichts damit anfangen zu können, doch dann weiteten sich auf einmal seine Augen.

Ich brauchte einen Moment länger, um zu erkennen, was er in seiner Hand hielt. Es war ein Stück von seinem Reisepass.

„Verdammt, was …“, begann er und in diesem Moment hielt ich es nicht mehr länger aus. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und begann zu würgen.

„Scheiße!“, rief Raphael erschrocken und schnitt ausversehen einen anderen Fahrer. „Du musst doch nicht kotzen, oder?“

Speichelfädchen liefen mir aus der Schnauze. Ich versuchte noch das Essen bei mir zu behalten, doch es wollte unbedingt wieder raus.

Raphael begann hektisch am Lenkrad zu drehen. Ein anderer Wagen hupte ihn an und in dem Moment geschah es.

Ich stöhnte. Meine Kehle brannte und dann erbrach ich das Essen in den Fußraum des Wagens. Sofort verbreitete sich im Wagen ein unangenehmer Geruch.

„Verdammter Mist“, schimpfte Raphael und brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Er warf einen Blick in den Fußraum und funkelte mich dann an. „Hättest du nicht Bescheid sagen können, wenn du dich übergeben musst? Wer macht denn die Scheiße jetzt weg?!“

Tränen stiegen mir in die Augen. „Tut mir leid“, flüsterte ich und senkte den Kopf. Dabei versuchte ich, nicht noch mal zu brechen. Ich wollte nicht, dass er böse auf mich war.

Einen Moment funkelte er mich noch an. Dann seufzte er und rieb sich über die Augen. „Egal, vergiss es, das ist nicht so schlimm.“

Nicht schlimm?

Er griff nach dem Türgriff. „Kletter auf den Rücksitz, damit ich das wegmachen kann.“

„Okay.“ Langsam, um meinen Magen nicht noch weiter zu reizen, kam ich seiner Aufforderung nach. Mein Maul brannte noch und mein Magen wollte sich nicht recht beruhigen. Ich fühlte mich so elend.

Hättet du mal auf mich gehört.

„Wenn du noch mal kotzen musst, sag mir rechtzeitig Bescheid, ich will keine weitere Schweinerei im Wagen haben.“

Ich nickte nur und kauerte mich dann auf dem Rücksitz zusammen. Dabei versuchte ich die Übelkeit durch Atmen im Schach zu halten. Es war nicht mehr ganz so schlimm wie vorher.

Raphael warf mir noch einen misstrauischen Blick zu, bevor er ausstieg und zum Kofferraum ging.

Ich hörte ihn dort herumkramen und spürte seinen Blick, während er ein paar Sachen herausnahm und damit dann zum Beifahrersitz ging. Vielleicht wäre es ja doch besser gewesen, einfach zu hungern. Irgendwann hätte das Magenknurren aufgehört. Das tat es immer.

Ein paar Minuten kam ich durch gleichmäßiges Atmen gegen die Übelkeit an, doch dann drehte mein Magen sich plötzlich einfach um.

Ich sprang so schnell über den Beifahrersitz nach draußen auf die Straße, dass ich fast noch Raphael über den Haufen gerannt hätte und erbrach mich dort noch einmal. Ich würgte und würgte und selbst als ich nichts mehr im Magen hatte, würgte ich noch weiter. Mein Bauch krampfte sich zusammen, meine Kehle brannte und in meinen Augen standen Tränen. Es tat so weh.

Als ich plötzlich eine Berührung im Nacken spürte, zuckte ich vor Schreck zusammen und riss die Augen auf, doch es war nur Raphael.

„Ist schon gut“, sagte er sanft und strich mir vorsichtig über den Nacken. Dabei schien er bereit, seine Hand jeden Moment wieder zurückzuziehen.

Ich begann zu zittern. Das letzte Mal, dass mich jemand so vorsichtig angefasst hatte, lag schon viele Jahre zurück und ich wusste nicht, wie ich das finden sollte. Sonst waren immer alle grob und gemein zu mir gewesen, besonders die Männer.

Aber er schien mir nicht wehtun zu wollen. Geduldig hockte er neben mir und strich mir immer wieder beruhigend über mein Fell. Selbst als das Würgen endlich nachließ.

Er hat Schuldgefühle, erklärte Lalamika. Sie schwebte knapp neben mir auf dem Bürgersteig und funkelte ihn wütend an. Er dir die scharfen Hähnchenteile gegeben, weil er gehofft hat, dich damit loszuwerden. Und jetzt sieht er, wie schlecht es dir deswegen geht und bereut es.

Das wundert mich nicht. Die Leute waren schon immer gemein zu mir gewesen, warum also sollte es bei ihm anders sein? Noch dazu wollte er mich gar nicht bei sich haben. Niemand wollte mich haben. Wenn er wüsste, wer ich war, würde er es wahrscheinlich auch nicht bereuen.

Ach Ara.

„Geht es wieder?“, fragte Raphael vorsichtig.

Ich nickte nur und rückte ein wenig vor dem Erbrochenen zurück.

„In Ordnung. Warte kurz, ich hole dir etwas Wasser.“ Er erhob sich und ging zurück zum Wagen. Sein Ziel war wohl seine Reisetasche, doch sobald er die hintere Wagentür öffnete, erstarrte er für einen Moment. Dann griff er in den Wagen hinein und holte das heraus, was noch von seinem Reisepass übrig war.

Ungläubig schaute er von den zerkauten Resten in seiner Hand zu mir und plötzlich war sein ganzes Mitgefühl verschwunden. Seine Züge verhärteten sich vor Wut. „Warum zur Hölle hast du das gemacht?!“, fauchte er mich an.

Ich kauerte mich ein wenig mehr zusammen, wagte es aber nicht den Blick abzuwenden. Vor verärgerten Männern musste man sich in Acht nehmen, das wusste ich schon seit ich ein kleines Kind war.

„Erst drängst du dich mir auf und jetzt … scheiße!“ Wütend schleuderte er die Reste zurück auf den Rücksitz. „Wie soll ich den jetzt hier wegkommen?!“

Ich wusste es nicht und ich war mir auch nicht sicher, ob er darauf eine Antwort haben wollte, also schwieg ich.

„Am liebsten würde ich dich …“ Er drückte seine Lippen aufeinander und funkelte mich an, doch dann ging ihm auf einmal einfach die Kraft aus. Einen Moment stand er einfach nur da und schien nicht zu wissen, was er nun tun sollte. Doch dann verhärtete sich der Ausdruck in seinem Gesicht wieder.

Er knallte die hintere Wagentür zu und setzte sich zurück auf den Fahrersitz.

Schnell!, rief Lalamika, er will wegfahren!

Ich sprang sofort auf die Beine, doch bevor ich die Beifahrertür erreichen konnte, hatte er sie schon von innen zugezogen und mich ausgesperrt. „Nein!“

Er warf mir noch einen wütenden Blick durch das Fenster zu und startete dann den Wagen.

In dem Moment rauschte Lalamika in das Innere des Autos und begann Raphael mit ihrem Geist zu umschließen. So konnte sie nicht nur seine Gedanken lesen, sondern sie auch ein wenig beeinflussen. Er durfte nicht ohne mich weggehen.

Aber auch wenn sie seine Wut nicht besänftigen konnte, so fuhr er nicht los. Er saß einfach nur hinter dem Lenkrad. Zumindest noch einen kurzen Moment. Dann stieß er die Fahrertür wieder auf und stieg erneut aus. „Warum hast du das gemacht?!“

Ich zog den Kopf ein.

Sag ihm, du wolltest nicht zurückgelassen werden, befahl Lalamika. Sag ihm, du hattest Angst vor dem Alleinsein.

Vorsichtig schaute ich zu ihm auf. „Ich wollte nicht allein sein“, sagte ich leise. „Ich wollte nicht zurück bleiben.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen strich.

Sag ihm, du hattest Angst.

„Ich hatte Angst.“

Zuerst schien ihm das völlig egal zu sein, doch dann schloss er resigniert die Augen und seufzte leise. „Ich bin nicht für dich verantwortlich“, erklärte er leise. „Und du kannst nicht einfach meine Sachen kaputt machen.“

Sag ihm, dass du nicht wusstest, was du machen solltest.

„Aber … ich wusste nicht … ich hab doch niemanden.“

Ob das in seinen Augen eine gute Erklärung war, wusste ich nicht. Jedenfalls kam sein Ärger nicht zurück.

„Es tut mir leid.“ Und das tat es wirklich. Ich wollte ihm doch nichts Böses.

„Okay“, sagte er dann leise und ging wieder an die hintere Wagentür. Er bückte sich nach seiner Tasche und holte eine Wasserflasche heraus. „Komm her.“

Ich zögerte. Auch wenn Lalamika seine Gedanken ein wenig beeinflusst hatte, so war ich mir nicht sicher, was ich nun zu erwarten hatte.

„Los, komm her, ich tu dir nichts.“

Nur langsam setzte ich mich in Bewegung und blieb dann trotzdem ein Stück von ihm entfernt stehen. Erst als er die Flasche aufschraubte und dann in die Hocke ging, kam ich näher. Er formte mit der Hand eine kleine Schüssel und ließ das Wasser darin laufen.

Augenblicklich wurde mein Mund trocken.

Ich behielt ihn wachsam im Auge und begann zu trinken. Leider war seine Hand nicht sehr groß und so verlegte er sich schon nach kurzer Zeit darauf, mir das Wasser direkt in die Schnauze zu kippen. Dabei landete die Hälfe zwar auf dem Boden, aber wenigstens ließ dieses furchtbare Brennen endlich ein wenig nach.

„Besser?“, fragte er, als ich die Flasche fast geleert hatte und nach Luft schnappend zurück trat.

Ich nickte. „Ja.“

Er schraubte die Flasche wieder zu und verstaute sie dann auf dem Rücksitz. Dann schaute er mich einen Moment nur an. „Gibt es irgendwo jemanden, bei dem ich dich absetzen kann? Einen Freund, oder jemand aus deiner Familie?“

Ich legte die Ohren an. „Ich bleibe bei dir.“

„Du kannst nicht bei mir bleiben“, widersprach er sofort.

Ach nein? Dann sollte ich ihm wohl mal zeigen, dass er sich irrte. Nur ein paar Schritte, dann hatte ich ihn umrundet. Ich schaute ihn kurz an, dann hüpfte ich zurück in den Wagen und setzte mich wieder auf den Beifahrersitz.

Mit einem leicht genervten Seufzen folgte er mir zur offenen Wagentür. „Nur weil du wieder ins Auto springst, ändert es nichts an den Tatsachen. Du kannst nicht mit mir kommen.“

Ich schaute ihn nur stumm an.

„Deine Familie vermisst dich sicher.“

Fast hätte ich geschnaubt. „Ich habe keine Familie.“ Nicht so wie er. Die Frau die mich geboren hatte, war wegen mir tot und der Vater meiner Schwester war nicht mein Vater.

Ara. Wie eine liebliche Liebkosung glitt Lalamika über mein Fell. Wir sind eineiige Zwillinge. Natürlich ist er auch dein Vater.

Aber er wollte nicht mein Vater sein. Niemand wollte mich haben, niemand außer Jegor und den hatte ich getötet.

Einen langen Moment schaute Raphael mich einfach nur an. Dann schlug er er hintere Wagentür wieder zu und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. „Tarajika ist dein Name, richtig?“

Ich nickte. „Mika hat ihn mir gegeben.“ Für die Leute in meinem Rudel war ich immer nur ein Dirus gewesen. „Sie hat immer gesagt, ich sehe aus wie eine Tarajika.“

„Mika?“

„Lalamika, meine Schwester.“

„Du hast also doch Familie.“

Ich schaute zu meiner Schwester, die draußen auf der Motorhaube saß und mich beobachtete. Ein Stück hinter ihr schwebte ein weiterer Geist. Er hatte weder Form noch Kontur, das hieß, er war schon sehr alt. Ich mochte die alten Geister nicht besonders. „Mika ist tot“, erklärte ich leise.

„Das tut mir leid“, sagte er genauso leise.

„Es ist lange her.“ Nicht dass es das besser machte, aber wenigstens war sie noch bei mir.

Seufzend griff Raphael an mir vorbei und ließ das Fenster mit der Kurbel herunter. Das wiederholte er auch auf seiner Seite. Dann startete er wortlos den Wagen.

 

°°°

 

„Okay, du wartest hier, ich bin gleich wieder da.“ Raphael zog die Handbremse an und griff nach dem Hebel an der Tür, doch bevor er sie öffnen konnte, saß ich auch schon halb auf ihm drauf und drückte ihn zurück in den Sitz.

„Uff“, machte er überrascht und blinzelte mich dann missmutig an. „Was soll das?“

„Du willst mich nur wieder alleine lassen.“

„Nein, ich will in diesem Hotel nur ein Zimmer mieten. Dank dir komme ich hier ja vorläufig nicht weg und ich bin müde. Aber wenn ich dich mit an die Rezeption nehme, bekomme ich hier kein Zimmer, deswegen musst du im Auto warten.“

Meine Augen wurden ein wenig schmaler.

Er gab ein äußerst genervtes Geräusch von sich. „Glaubst du mir, wenn ich meine Tasche bei dir im Wagen lasse?“

Ich war mir nicht sicher, aber er sah wirklich müde aus. Und er schien Schmerzen zu haben.

Lass ihn gehen, Ara, er kommt gleich wieder.

Na gut, wenn Lalamika das sagte, konnte ich es auch glauben. Meistens. „Aber du bist gleich wieder hier“, versicherte ich mich und setzte mich zurück auf meinen Platz.

„Ja, ich besorge uns nur schnell ein Zimmer.“

„Mit einem Bett?“

„Ja natürlich, oder glaubst du, ich will auf dem Boden schlafen?“ Als er ausstieg, schüttelte er den Kopf, als sei das die dümmste Frage, die er jemals gehört hatte. Dabei war sie gar nicht dumm. Ich war achtzehn Jahre alt und siebzehn Jahre davon hatte ich auf dem Boden verbracht. Aber ich mochte Betten und ich freute mich schon darauf, wieder in einem schlafen zu können.

Neben mir auf dem Beifahrersitz materialisierte sich Lalamika. Wir müssen uns unterhalten, verkündete sie ohne Umschweife und bedachte mich mit einem strengen Blick.

Ohje. „Ich habe nichts Falsches gemacht.“

Doch, das hast du und das weißt du ganz genau.

Als ich meine tote Schwester nur trotzig anstarrte, seufzte sie.

Ara, er ist der Todbringer. Wenn wir ihn nicht aufhalten, wird er die Welt ins Unglück stürzen. Verstehst du das nicht?

„Er ist nicht böse.“ Jegor war böse gewesen. Er hatte mich als kleines Kind zu seiner Belustigung in einen Käfig gesteckt und hatte seinen Tod verdient. Wären die Krieger der Königin nicht gekommen, würde ich dort wohl heute noch drinnen sitzen.

Aber sie waren gekommen. Sie waren gekommen und hatten mich freigelassen und deswegen hatte ich Jegor für all das was er mir angetan hatte, töten können. Er würde nie wieder ein kleines Mädchen in einen Käfig sperren können. „Er ist nicht wie Jegor, er hat nichts Böses getan, er ist nur … traurig.“

Das weiß ich, aber diese Trauer hat das Potential einen Krieg heraufzubeschwören, der nicht nur Milliarden von Leben kosten wird. Er wird die Welt auf eine Art ins Unglück stürzen, von der sie sich nie wieder erholen wird, darum müssen wir ihn aufhalten.

Ich richtete meinen Blick durch die Windschubscheite nach draußen. Direkt vor der Motorhaube schwebte der Geist von einem alten Mann und schaute mich streng an. Neben ihm hing ein heller Nebelfleck in der Luft, ein alter Geist. Je älter sie waren, desto weniger Kontur hatten sie. Die wirklich alten waren nur noch eine Essenz.

Tarajika, Raphael muss sterben.

„Aber ich will ihn nicht töten.“

Dann willst du es einfach geschehen lassen?

„Nein, aber …“ Ich senkte den Blick zu Boden. „Es muss doch auch anders gehen.“

Um mich herum begannen Stimmen zu flüstern. Viele. Und sie sprachen so schnell, dass ich nichts als ein Rauschen wahrnahm. Die Geister waren erzürnt. Sie wollten, dass ich mich ihrem Willen beugte. Ihre Begehren drückte gegen meinen Geist.

Hört auf! Meine Schwester Lalamika fauchte. Ihr tut ihr weh!

Ich versuchte den Druck abzuschütteln. Ich mochte es nicht, wenn sie das taten. „Ihr könnt mich nicht zwingen.“

Niemand will dich zwingen, aber du musst doch einsehen, dass wir recht haben. Du hast es doch gesehen.

Ja, das hatte ich. Die ganzen Visionen in den letzten Jahren waren nicht schön gewesen. Wenn ich nichts unternahm, würde Raphael etwas Schreckliches tun. Im Moment wusste er es wahrscheinlich noch gar nicht, aber es würde geschehen. Und das nur, weil er Cayenne, die Königin der Lykaner liebte. Doch Cayenne liebte einen anderen und das konnte er nicht verkraften.

Bitte Ara, das ist der einzige Weg.

Nein, widersprach ich meiner Schwester im Geiste, das wollte ich einfach nicht glauben. Es gab sicher noch eine andere Möglichkeit.

Ja, aber dies ist das einzig sichere, um diese Zukunft abzuwenden. Sie schwebte direkt vor mich. Ara, du musst einsehen, dass es nur so geht.

„Und was soll ich tun? Mich einfach auf ihn stürzen?“

Es wäre das Beste, sonst wird sein Schmerz zum Schmerz der Welt.

Ich wandte mich von ihr ab und schaute hinüber zum Hotel. „Und wenn ihr euch alle irrt?“

Dann kostet es nur ein Leben und nicht das von Millionen.

„Aber er ist doch nur ein trauriger Mann.“ Noch dazu einer, der in seinem Leben schon viel Gutes getan hatte. „Was kann er schon groß tun?“

Er? Nicht viel, aber die Folgen aus seiner Tat werden sehr weitreichend sein. Als sie sich neben mir niederließ, gab sie kein Geräusch von sich. Weißt du noch, was du der Königen vor vielen Jahren gesagt hast?

Natürlich wusste ich das. „In der Stunde der Entscheidung, wird er sich verlieren und damit zur Offenbarung des Verborgenen.“

Die Entscheidung ist gefallen. Sie hat den Wolf erwählt.

Das wusste ich, auch wenn ich nicht verstand warum. Sydney war so … großspurig, irgendwie neunmalklug, so ein richtiger Besserwisser. „Er hat sich verloren.“

Ja.

Na dann war die Sache doch ganz einfach. „Ich muss ihn nur wiederfinden.“

Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Du kannst das nicht verstehen, weil du noch nie so geliebt hast, nicht so wie er. Diese Gefühle können einem viel Freude bringen, doch in seinem Fall sind sie ein Fluch, denn er kann sich nicht gegen sie wehren.

„Du kannst Gefühle beeinflussen.“

Aber nicht so stark. Ich kann ihnen nur einen Schubs geben. Die Gefühle die ihn antreiben, brauchen Jahre um zu vergehen. So viel Zeit haben wir nicht.

„Wie viel Zeit haben wir den?“

Ich weiß nicht.

Um uns herum begannen die Geister wieder zu rumoren. Keiner von uns beachtete sie.

Vielleicht ein paar Wochen, wenn überhaupt so viel. Du musst verstehen, er wird allein sein wollen, darum will er dich auch loswerden. Doch die Einsamkeit wird es noch verschlimmern.

„Und wenn wir einfach zu Königin gehen und es ihr sagen?“

Sie würde es als Unfug abtun. Sie vertraut ihm und würde niemals glauben, dass er ihr wehtun könnte.

Nein, wahrscheinlich nicht. Jedenfalls nicht bis es zu spät war.

Lalamika drängte ihren Kopf gegen meinen, als wollte sie sich an mich schmiegen. Ich konnte es nicht spüren. Ich weiß, dass du das nicht tun möchtest und ich würde es auch nicht von dir verlangen, wenn es nicht so wichtig wäre, aber so wie die Dinge liegen, bleibt uns gar keine andere Wahl.

Aber dann war die Lösung doch ganz einfach. „Dann müssen wir die Dinge eben ändern.“

Dafür reicht die Zeit nicht.

„Wer behauptet das?“

Wie zur Antwort begannen die Geister um uns herum zu flüstern und drängten wieder näher.

Ich schlug mit der Pfote nach ihnen, um sie zu verscheuchen, doch sie lösten sich nur einen Moment auf und setzten sich dann wieder zusammen. Das Murmeln wurde lauter. Jetzt hatte ich sie verärgert. Sie mochten es nicht, wenn ich das tat.

Beeil dich!

Handle!

Lass ihn nicht entkommen!

Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Nein.“

Er muss sterben!

Töte ihn!

Töte den Todbringer!

„Nein, das tue ich nicht!“ Fauchend schlug nach den Geistern. Als sie sich regenerieren wollten, schlug ich noch mal nach ihnen und noch mal. Der Pelz auf meinem Rücken sträubte sich.

Ara, hör auf.

Das tat ich nicht. Ich machte weiter, bis auch der letzte von ihnen verstand, dass sie mich in Ruhe lassen sollten. Dann fauchte noch einmal warnend, damit sie auch ja wegblieben. Ich konnte ihnen zwar nicht wirklich etwas tun, aber es war sicher trotzdem kein tolles Gefühl, wenn ich mit meinen Krallen durch sie hindurch fuhr. „Ich werde es nicht tun!“

Lalamika seufzte. Damit zögerst du das Unvermeidliche nur heraus.

Das konnte sie nicht wissen, nicht mit Sicherheit.

Ja, Geister waren in gewisser Weise allwissend. Nicht so junge wie Lalamika, aber es gab alte, wirklich alte Gespinste, die schon seit tausenden von Jahren auf dieser Welt wandelten. Sie waren immer um uns herum, zu jeder Zeit, an jedem Wort. Sie hörten zu, beobachteten und blickten in uns hinein. Sie hatten schon so viel gesehen und gehört, dass sie auf alles eine Antwort hatten, weil alles schon mal irgendwie geschehen war. Und diese Geister waren es auch, die mich dazu bringen wollten, Raphael zu töten, weil er sonst die Welt, wie wir sie kannten, zerstören würde.

Aber das würde nicht passieren, nicht wenn ich bei ihm blieb. Dann musste er nicht sterben, nur weil er liebte.

Ach Ara, er ist nicht wie du. Du kannst dich nicht mit ihm vergleichen.

Das tat ich doch gar nicht.

Und warum willst du ihn dann so unbedingt retten?

Weil ich gefühlt hatte, was er fühlte.

Ara. Wenn du nur …

„Nein“, fauchte ich. „Ich will das nicht tun und ich werde es auch nicht. Jegor war grausam und gemein. Er hat mir viele Jahre wehgetan, aber Raphael ist nicht wie Jegor.“

Dann ist die Katastrophe unvermeidlich.

„Nein, ist sie nicht. Ich muss nur bei ihm bleiben und auf ihn aufpassen. Dann kann er nichts Dummes tun.“

Du müsstest Tag und Nacht bei ihm sein.

„Dann mache ich das eben.“

Das ist nicht möglich Ara, das wird er nicht erlauben.

„Ich muss es ja nur solange machen, bis er nicht mehr traurig ist.“

Nein, du verstehst nicht. Es gibt Orte, an die du ihn nicht begleiten kannst.

„Du meinst die Toilette?“

Um nur ein Beispiel zu nennen.

Na dann war es doch ganz einfach. „Dann musst du mir helfen. Wenn er auf die Toilette geht, musst du bei ihm bleiben und wenn er was Dummes tun möchte, sagst du mir Bescheid und ich halte ihn auf.“

Lalamika seufzte. Das wird nicht funktionieren.

Doch, das würde es. Ich musste nur daran glauben.

Der Glaube hilft nicht immer.

„Wir machen es so“, beschied ich und wandte dann demonstrativ den Kopf ab. Dabei bemerkte ich Raphael, der gerade Hotel verließ und mit langen Schritten über den Parkplatz zurück zum Wagen lief. Er wirkte fertig und das nicht nur wegen des Schlafmangels. Ich würde das ändern. Zwar wusste ich noch nicht genau wie, aber ich würde ihn nicht im Stich lassen.

Als er den Wagen erreichte und hinter das Lenkrad rutschte, zog er den Wagenschlüssel heraus und startete den Motor.

Verwundert neigte ich den Kopf zur Seite. „Gehen wir doch nicht in das Hotel?“ Dabei hatte ich mich schon so auf das Bett gefreut.

„Doch, aber so wie du bist, kann ich dich nicht einfach durch den Vordereingang hinein bringen.“ Er parkte den Wagen aus der Lücke und fuhr dann langsam zwischen den anderen Autos entlang. „Du gehst nämlich nicht unbedingt als Kuscheltier durch.“

Das Stimmte schon, aber es war ja auch nicht so, dass ich die Leute fressen würde, nur weil ich sie sah. „Menschen sind schon seltsam.“

„Nicht nur die“, murmelte er und fuhr den Wagen über den Parkplatz zur Rückseite des Hotels. Hier standen viel weniger Autos, dafür aber ein großer Laster, an dessen Ladefläche drei Männer beschäftigt waren.

Als Raphael den Zündschlüssel vom Schloss abzog, nahm er die drei sehr genau in Augenschein. Dann richtete er seinen Blick auf die Rückwand des Gebäudes. „Okay, wir machen das folgendermaßen: Du steigst aus und versteckst dich in den Büschen unter dem Fenster.“ Er zeigte auf das karge Gestrüpp, hinter dem sich nicht mal eine Maus hätte verstecken können. „Ich gehe ganz normal rein und mache das Fenster dann von innen auf, dann kannst du reinklettern.“

Er wollte, dass ich den Wagen verließ und dann einfach hier sitzen blieb? „Nein.“

„Nein?“

„Nein.“

Sein hellen Eisaugen wurden ein wenig schmaler. „Und warum nicht?“

„Weil du mich dann einfach zurücklässt.“

„Nein, das tue ich nicht“, widersprach er mir.

„Ich glaube dir nicht.“

Dann nannte man wohl einen finsteren Blick. „Und wie sollen wir es dann machen? Da du dich nicht verwandeln willst, kann ich dich ja wohl schlecht durch die Vordertür mit reinnehmen.“

Ich hatte nie gesagt, dass ich nicht wollte, ich … traute mich nicht es zu versuchen. Was wenn es nicht klappte, oder dann etwas schlimmes geschah? Jegor war schließlich nicht das einzige Monster, dass es dort draußen gab. „Können wir nicht zusammen durchs Fenster klettern?“

Er schaute mich an, dann schüttelte er den Kopf und stieg aus dem Auto.

Ich verrenkt mir beinahe den Hals, als ich dabei zusah, wie er an den Rücksitz ging, um seine Tasche zu holen. Mit ihr in der Hand kam er dann um den Wagen herum zu mir und öffnete meine Tür. „Hier hast du meine Tasche und jetzt steig aus.“

Wenn ich seine Tasche hatte, würde er mich sicher nicht zurück lassen, denn die wollte er bestimmt behalten. Na gut. Ich nahm die Henkel in die Schnauze und sprang dann aus dem Wagen.

Raphael warf einen wachsamen Blick zum Lastwagen hinüber. „Bleib in Deckung. Ich will nicht, dass dich jemand sieht.“

Das musste er mir nun wirklich nicht sagen, ich war ja nicht blöd und wusste, dass Menschen sich komisch benahmen, wenn sie einen Panther sahen. Darum duckte ich mich und schlich dann flinken Fußes hinter das Gebüsch.

Erst als ich mich dort ganz klein zusammenkauerte, machte Raphael den Wagen dicht und verschwand mit einem letzten Blick auf mich über den Parkplatz.

Ich spuckte die Henkel aus. „Bleib bei ihm“, forderte ich Lalamika auf.

Sie nickte und war schon in der Sekunde darauf … hm, man könnte wohl sagen, in ihm. Sie schlüpfte einfach in ihn hinein. Dann war von ihr nur noch ein leichtes Dunstgebilde zu sehen, das Raphael wie eine Aura umgab. Danach hieß es für mich warten.

Das war nicht schlimm. Ich war schon immer sehr geduldig gewesen. Das war etwas, das man sehr schnell lernte, wenn man nichts anderes tun konnte, als zu warten. Auf den Morgen warten, auf den Abend, auf die nächste Mahlzeit. Und dabei immer hoffen, dass man nicht vergessen wurde.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen war ich vor Einsamkeit nur nicht verrückt geworden, weil die Geister bei mir waren, damals, als Kind, als ich noch in der kleinen Hütte bei meiner Meute gelebt hatte.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, daran wollte ich nicht denken. Diese Zeiten waren vorbei. Pandu und die anderen waren weit weg und hatten die Suche nach mir sicher schon aufgegeben. Wahrscheinlich glaubten sie, dass ich in der Zwischenzeit tot war. Und das war auch gut so.

Als ich über mir am Fenster ein Geräusch hörte, schaute ich auf. Doch erst als Raphael den Kopf aus dem Fenster im Erdgeschoss steckte, erhob ich mich von der nassen Erde.

„Gib mir die Tasche“, verlangte er.

Ich schnappte mir die Henkel und stellte mich dann an der Wand auf. Trotzdem musste Raphael sich halb rausbeugen, um daran zu kommen. Dann verschwand er einen Moment vom Fenster.

„Und jetzt du“, sagte er, als er wieder auftauchte.

„Geh zur Seite.“ Sobald er wieder weg war, trat ich ein paar Schritte zurück und nahm Maß. Es war nicht wirklich hoch, aber auch nicht gerade niedrig. Darum nahm ich all meine Kraft zusammen, bevor ich einen Satz nach vorne machte und sprang.

Ich flog vielleicht eine Sekunde durch die Luft, bevor ich das Fensterbrett zu fassen bekam. Meine Krallen fuhren aus, damit ich nicht wieder abrutschte. Dann stieß ich mich mit den Hinterbeinen ab und kletterte in das kleine Zimmer dahinter.

Sobald ich drinnen war, eilte Raphael wieder ans Fenster und warf noch einen schnellen Blick hinaus, um sicher zu gehen, dass mich auch niemand gesehen hatte, dann trat er wieder zurück. Das Fenster jedoch ließ er offen.

Ich schaute mich in der Zeit in dem Zimmer um. Zwei Türen. Die eine war offen und führte ins Bad. Durch die andere konnte man wahrscheinlich das Zimmer verlassen.

Der Raum selber war hell und ziemlich gemütlich. Da gab es eine lange Kommode mit einem Fernsehgerät. In der Ecke stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Stuhl, doch was mich wirklich interessierte, war etwas ganz anderes. „Bett!“, rief ich begeistert und sprang direkt auf das große Doppelbett zu.

„Nein, stopp!“, rief Raphael, gerade als ich zum Sprung ansetze.

Verwunderte schaute ich mich nach ihm um. „Warum?“

„Warum? Ganz einfach. Du bist dreckig, du stinkst zum Himmel und ich habe kein Interesse daran, dass du deine Flöhe zwischen den Laken verteilst.“

Jetzt war er es, der den finsteren Blick bekam. „Ich habe keine Flöhe.“

„Ist mir egal.“ Er nahm seine Tasche und stellte sie auf die Kommode. Mit einem Handgriff öffnete er den Reißverschluss und begann etwas im Inneren zu suchen. „Du siehst aus, als hättest du dich in einer Schlammgrube gewälzt. Bevor du nicht duschen warst, wirst du in diesem Zimmer überhaupt nichts tun.“

Duschen? Ich hatte noch nie geduscht. Als Kind hatte ich manchmal im Fluss gebadet und bei Jegor wurde ich immer mit einem Schlauch abgespritzt. Aber zu duschen, war bestimmt lustig. „Okay“, sagte ich und trottete in das Badezimmer.

Es war nicht sehr groß, aber sauber. Über dem Waschbecken hing ein großer Spiegel, direkt daneben war die Toilette. Die Dusche befand sich rechts. Ich trat an sie heran und schaute sie mir erstmal an.

Wo das Wasser rauskam, war nicht schwer zu erraten. Auch nicht wo ich es aufdrehen musste. Aber da waren zwei Brausen. Eine oben und eine zum abnehmen. Kam das Wasser aus beiden heraus? Hm. Am Besten ich probierte es einfach mal aus.

Doch bevor ich überhaupt an die Wasserhähne heran kam, stellte sich mir bereits das erste Problem. Da war eine durchsichtige Tür davor und die mit meinen Pfoten zu öffnen, war gar nicht so einfach. Ich musste die Krallen ausfahren und ein paar Mal daran kratzen, bis sich ein schmaler Spalt auftat, in den ich meinen Kopf schieben konnte, um die Tür aufzudrücken. Dann hüpfte ich in die Duschwanne und rutschte erstmal weg.

„Wah!“, machte ich und wäre wohl auf der Nase gelandet, wenn mir nicht vier Beine zur Verfügung gestanden hätten. Das war ja rutschig.

Hm.

Ich trat wieder aus der Dusche heraus, schaute mir die Wanne einen Moment und sprang dann voller Elan erneut hinein. Schade dass es so klein war, sonst würde es sicher noch mehr Spaß machen.

Okay, aber jetzt zur Dusche.

Um an den Hahn für das Wasser zu kommen, musste ich mich auf die Hinterbeine stellen. Allerdings ließen sie sich mit meinen Pfoten nicht drehen. Ich versuchte es mehrere Minuten, aber da es nicht klappte, biss ich zum Schluss hinein und versuchte ihn so zu drehen.

„Warum zur Hölle sabberst du die Amateuren voll?“

Überrascht drehte ich mich herum und wäre fast wieder weggerutscht. Raphael stand mit gerunzelter Stirn halb in der Badezimmertür. „Ich brauche Wasser.“

„Und du glaubst nicht, dass es einfacher wäre, wenn du dich verwandelst?“

Ich legte die Ohren an. Vermutlich hatte er recht, aber: „Ich verwandle mich nicht.“

„Ja, das hast du bereits ein paar mal erwähnt. Leider entgeht mir noch immer der Grund.“

„Ohne Krallen und Zähne kann man sich nicht wehren.“

Verstehen machte sich bei ihm breit. Natürlich, er wusste ja, dass ich, genau wie seine Schwester Vivien, eine Gefangene des Sklavenhändlers Markis Jegor Komarow gewesen war. Was er allerdings nicht wusste war, dass ich mich seit acht Jahren nicht mehr verwandelt hatte.

„Mir bleibt aber auch gar nicht erspart“, murmelte er seufzend und zog sich dann einfach sein Shirt über den Kopf.

Meine Schnauze formte ein O. Zwar hatte ich bereits Männer ohne Hemd gesehen, aber er war wirklich hübsch. Doch dann bemerkte ich wie der das Gesicht verzog. Seine linke Schulter war dick bandagiert und die Bewegung schien ihn zu schmerzen. Um seinem Hals baumelte eine Kette, an dem ein Plastikring hing.

Als er das Shirt dann achtlos auf die Toilette warf und auf mich zukam, wurde ich misstrauisch. „Was machst du?“

„Dich duschen.“ Er trat an die Dusche heran und nahm die untere Brause zur Hand. Dann drehte er den Hahn auf, hielt die Brause aber so, dass das Wasser gegen die Wand spritzte. „Und wehe du kratzt mich.“

Ich war mir nicht sicher, wie ich das finden sollte, aber als er den Strahl dann vorsichtig an meine Flanke hielt und mit der Hand begann den Dreck aus meinem Fell zu massieren, hielt ich ganz still.

Es war nicht unangenehm, es war nur … seltsam. Außer Lalamika hatte mich nie jemand angefasst, besonders nicht so sanft und vorsichtig. Meine Meute hatte es immer vermieden, mir zu nahe zu kommen und das Jahr das ich alleine gelebt hatte … naja, die Menschen mochten keine Straßenkinder. Und auch keine Panther.

Sehr langsam arbeitete Raphael sich über meinen Rücken von hinten nach vorne. Es war okay und irgendwie kitzelte es ein bisschen. Das Wasser zu meinen Füßen war dreckig und braun und schäumte am Abfluss.

„Nimm den Kopf hoch und mach die Augen zu.“

Sofort versteifte ich mich ein wenig. „Ich soll die Augen zumachen?“

„Ja“, sagte er geduldig. „Damit du kein Wasser in die Augen bekommst.“

Das klang schon sinnvoll, nur irgendwie widerstrebte es mir ihn aus den Augen zu lassen.

„Komm schon Tarajika, ich tue dir nichts.“

Diese Worte hatte ich in meinem Leben schon zu oft gehört, um sie noch glauben zu können. Darum nahm ich den Kopf zwar hoch, ließ die Augen aber offen.

Er sagte nichts dazu.

Das Wasser zu meinen Füßen wurde nach und nach klarer, doch als er das Wasser abstellte, war er noch nicht fertig mit mir. Er nahm eine Flasche und drückte mir das Zeug ins Fell.

Ich verzog die Nase. „Was ist das?“

„Shampoo.“ Vorsichtig begann er mir das Zeug ins Fell zu reiben. Dabei entstand ganz viel Schaum. Ein bisschen was davon fiel in die Duschwanne.

Einen Moment beobachtete ich es nur, dann platschte ich mit der Pfote darauf und kicherte. Das machte Spaß, also tat ich es nochmal.

Als Raphael mich vom Kopf bis zur Schwanzspitze eingeseift hatte, griff er wieder nach der Brause und begann mich ein weiteres Mal abzuduschen. Das kitzelte und mein Fell begann zu zucken.

„Wage es nicht dich zu schütteln“, warnte er mich mit einem wachsamen Blick.

Ich schaute ihn nur ganz unschuldig an.

Als der ganze Schaum weg war, begann er mit der Prozedur noch einmal von vorne. Das Wasser in der Wanne war nun richtig sauber. Und dann berührte er eine kitzlige Stelle an meinem Bauch. Ich wollte es nicht, wirklich, aber ich begann mich kichernd zu schütteln.

„Ah!“, machte er und riss die Arme hoch. Dabei fiel ihm die Brause aus der Hand und er spritzte sich selber nass.

Ich gab ein Kicksen von mir, als mir Wasser ins Auge spritzte. Meine Pfoten rutschten auf dem glitschigen Untergrund weg und dann fiel ich mit einem lauten Platschen in die flache Wanne.

Blinzelnd schaute ich zu Raphael, der fast genauso nass war wie ich. Er sah nicht sehr glücklich aus. „Das hat gekitzelt“, rechtfertigte ich mich.

Er schloss für einen Moment die Augen und atmete einmal tief ein. Dann nahm er die Brause wortlos wieder zu Hand und setzte seine Arbeit fort. „Nicht schütteln“, sagte er noch einmal streng und gab mir mit einem Handzeichen zu verstehen, wieder aufzustehen.

Zehn Minuten später stellte er das Wasser ab und schnappte sich eines der Handtücher, die neben dem Waschbecken standen.

Das Abtrocknen schien für ihn wegen der verletzten Schulter ein wenig anstrengend zu sein und wenn ich ehrlich war, wurde ich dadurch nicht wirklich trocken. Es juckte mich, mein Fell richtig auszuschütteln, doch sein Blick warnte mich davor, etwas in diese Richtung zu unternehmen.

„Komm“, forderte er mich dann auf und ging mit einem weiteren Handtuch in den Nebenraum. Er breitete es vor der Kommode auf dem Boden auf und zeigte dann darauf. „Da legst du dich hin, bis du trocken bist.“

„Auf den Boden?“ Mein Blick glitt zum Bett. „Aber ich will …“

„Nein“, fuhr er mir über den Mund. „Solange du nass bist, gehst du bestimmt nicht ins Bett. Da drin will ich schlafen.“

Aber das wollte ich doch auch. „Wenn ich mich schüttle, werde ich schneller trocken.“

„Aber du wirst dich hier drin nicht schütteln. Es reicht mir schon, dass ich das Badezimmer sauber machen darf, ich will hier nicht auch noch putzen.“

Ah, okay, wenn das so war. „Dann schüttle ich mich draußen.“ Bevor er noch etwas dagegen tun konnte, sprang ich zum offenen Fenster.

„Was zur …“, begann er, aber da saß ich bereits auf dem Fensterbrett. Im nächsten Moment sprang ich raus auf den Parkplatz.

„Scheiße, was machst du da?!“

Ich schaute zum Fenster hoch.

„Komm sofort wieder hier rein, oder willst du dass dich jemand …“

Bevor er seinen Satz beenden konnte, hörte ich hinter mir den Schrei eines Mannes.

Ich wirbelte herum und musste feststellen, dass nicht weit von mir entfernt ein Mann stand, der mich aus weit aufgerissenen Augen anstarrte.

Oh oh.

 

°°°°°

Der einzige Weg

 

„Verdammt!“, fluchte Raphael, während der Mann langsam mit erhobenen Händen vor mir zurück wich und immer wieder „braves Kätzchen“ murmelte.

Ich zeigte ihm die Zähne. Ich war kein Kätzchen, ich war ein Panther!

Das hatte zur Folge, dass der Mann ein Wimmern ausstieß und eilig zurückwich. Dabei stolperte er auch noch über seine eigenen Beine und landete auf seinem Hintern.

Das sah so lustig aus, dass ich kicherte.

Plötzlich gab es neben mir einen dumpfen Aufprall, der mich so sehr erschreckte, dass ich einen Satz zur Seite machte. Doch es war nur Raphael, der mir durch Fenster gefolgt war.

Er beachtete mich nicht. Seine Beine trugen ihn eilig an mir vorbei zu dem Mann, doch noch immer wimmernd vor mir zurück wich.

Als der Kerl Raphael auf sich zukommen sah, versuchte er eilig auf die Beine zu kommen, um wegzulaufen, doch er kam keinen Schritt weit, bevor Raphael ihn am Arm packte und zu sich herumwirbelte.

„Nein!“ Der Mann schlug nach Raphael, erwischte ihn aber nur am Arm. Daraufhin packte Raphael ihn am Kragen und zog ihn ganz nahe vor sein Gesicht.

„Still“, befahl er und der Mann wurde augenblicklich ruhig. „In Ordnung und jetzt holen sie einmal tief Luft und beruhigen sich.“

Ich trat vorsichtig näher. Ich wusste was er da tat. Vampire konnten Menschen durch einen Blick ihren Willen aufzwingen. Er benutzte seine Repression, oder auch Joch, wie sie es nannten, aber bisher hatte ich noch nie gesehen, wie sie das machten.

Raphael schaute dem Mann tief in die Augen. Die Farbe seiner Pupillen hatte sich verändert. Sie waren nicht länger von einem hellen Eisblau, sie waren jetzt tiefblau, wie der Ozean.

„Und jetzt hören sie mir zu. Da ist kein Panther, da ist nur eine süße, kleine Katze, die ganz harmlos ist und niemanden etwas tut. Haben sie das verstanden?“

„Ja, da ist nur ein süßes Kätzchen.“

„Genau. Es gibt also keinen Grund Angst zu haben. Und jetzt gehen sie nach Hause, hier gibt es nicht mehr zu sehen.“

„Ja, ich gehe nach Hause.“

„Gut.“ Raphael ließ von dem Mann ab und trat zurück. Die Farbe seiner Augen hellte sich wieder auf und als er einmal blinzelte, waren sie wieder ganz normal.

Der Mann wandte sich ab und ging über den Parkplatz davon.

Als Raphael dann zu mir herumfuhr und mich verärger anfunkelte, duckte ich mich.

„Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!“, fuhr er mich an. „Du bist ein verdammter Panther! Du kannst nicht einfach am helllichten Tag in einer Stadt voller Menschen herumwandern!“

Warum regte er sich denn so auf? Es war doch gar nichts passiert.

„Das war das einzige Mal, dass ich dir geholfen habe, das nächste Mal kannst du allein zusehen, wie du deine Haut rettest und jetzt geh wieder ins Zimmer, sonst kannst du sehen wo du bleibst!“

Ich legte die Ohren an. Er brauchte nicht so zu schimpfen, ich war ja schließlich nicht taub. „Du bist gemein“, warf ich ihm vor und sprang zurück zum Fenster. Ein Satz nach oben und schon war ich wieder im Zimmer. Erst dann fiel mir auf, dass ich mich gar nicht geschüttelt hatte. Toll, jetzt durfte ich wieder nicht ins Bett.

Verärgert knurrte ich und legte mich dann auf das blöde Handtuch, auf den blöden Boden. Dann konnte ich dabei zuschauen, wie Raphael auf die gleiche Weise das Zimmer betrat. Er wirkte dabei nur etwas unbeholfen und verzog das Gesicht, als hätte er schmerzen.

Natürlich, seine Schulter, an die hatte ich gar nicht gedacht. Auf einmal tat es mir leid, dass er wegen mir hatte aus dem Fenster springen müssen. Er hätte es nicht tun müssen, aber er hatte es getan. Hatte er mir wirklich helfen wollen, oder hatte er einfach befürchtet, dass es auf ihn zurückfallen würde, wenn er mir nicht half?

Eigentlich war es auch egal, er hatte mich einfach nicht anzuschreien – egal warum.

Aber er hat recht. Neben mir materialisierte sich Lalamika und bedachte mich mit einem strengen Blick aus ihren farblosen Augen. Es war dumm von dir gewesen.

Ich drehte den Kopf weg und beobachtete, wie Raphael demonstrativ das Fenster schoss und dann wieder im Bad verschwand. Mit einem Knall schlug die Tür hinter ihm zu, öffnete sich durch die Wucht aber wieder einen Spaltbreit. Er bemerkte es nicht.

Seufzend legte ich meinen Kopf auf die Pfoten.

Ara. Lalamika trat näher. Ihre Schritte machten auf dem Teppich kein Geräusch. Vielleicht solltest du deine Entscheidung noch mal überdenken. Das hier kann auf Dauer nicht gutgehen, das musst du doch einsehen.

Gar nichts musste ich einsehen. Mein ganzes Leben lang hatten andere mich eingesperrt und über mein Leben entschieden. Jetzt war ich endlich frei und würde mir von niemanden etwas vorschreiben lassen.

Ja, ich hatte meinen Peiniger Jegor getötet. Nachdem er mich acht lange Jahre in einen kleinen Käfig gesperrt und immer wieder fast hatte verhungern lassen, hatte er auch nichts anderes verdient. Dabei hatte ich es noch halbwegs gut getroffen. Die anderen Sklavinnen, die er sich gehalten hatte, mussten viel schlimmere Dinge tun. Dinge, wegen denen sie oft geweint hatten.

Ich hatte nie geweint. Nicht weil ich nie traurig gewesen wäre, es war nur nichts neues für mich gewesen. Ich war achtzehn Jahre alt. Siebzehn davon war ich eine Gefangene gewesen, die man am liebsten einfach vergessen hätte.

Als ich plötzlich in Summen aus dem Badezimmer hörte, zuckten meine Ohren. Was machte er da?

Ich wusste nicht, ob es klug war, aber ich war neugierig und deswegen erhob ich mich und schlich auf leisen Pfoten hinüber zum Bad. Der kleine Spalt reichte, um einen Blick ins Innere zu riskieren.

Raphael stand am Waschbecken vor dem Spiegel. In seiner Hand hielt er ein kleines Gerät, das er sich langsam über den Kopf schob. Seine Haare lösten sich von seinem Kopf und fielen einfach zu Boden. Er rasierte sich die Haare ab.

Langsam schwebte Lalamika direkt durch die Tür. Er scheint sich von Vergangenem lösen zu wollen.

War das gut?

Nein, denn damit trennt er sich von dem einzigen Halt, den er noch hat.

Er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte?

Jeder braucht etwas, an dem er sich festhalten kann. Besonders dann, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Sie trat durch das Holz der Tür und setzte sich auf die weißen Fliesen. In dem Moment, als Cayenne ihm sagte, dass sie den Wolf liebt, ist tief in ihm etwas zerbrochen, etwas das nur sehr schwer wieder heilt.

Als Raphael sich auch das letzte bisschen Haar vom Kopf entfernt hatte, griff er nach dem Verband an seiner Schulter und begann ihn abzuwickeln. Dabei streifte er mit der Hand die Kette an seinem Hals. Einen Moment hielt er inne, dann griff er nach ihr und riss sie sich mit einem Ruck vom Hals. Anschließend stand er einfach nur da und starrte sie an.

Seine Gefühle für sie sind so stark, flüsterte Lalamika. Er liebt so tief.

Und sie hatte ihm einfach der Herz aus der Brust gerissen.

Das war nicht ihre Absicht gewesen, belehrte Lalamika mich. Niemand kann etwas für das, was er fühlt und sie hatte es in ihrem Leben nicht einfach gehabt.

Das stimmte zwar, aber deswegen musste ich sie noch lange nicht mögen.

Plötzlich wurde der Ausdruck in Raphaels Gesicht verbissen. Er holte aus und schleuderte die Kette in den Mülleimer neben dem Waschbecken. Dann stützte er die Hände auf das Waschbecken und starrte einfach nur ins Leere.

Dabei wirkte er nicht nur verloren und gebrochen, er war … unerreichbar, als sei er nicht mehr länger Teil von dieser Welt. Jemand musste ihn an die Hand nehmen und ihn führen, so wie Lalamika es damals bei mir getan hatte. Jemand musste ihm den Weg aus der Dunkelheit zeigen.

Das ist nicht möglich.

Das konnte sie nicht wissen, nicht wirklich, schließlich hatte es noch niemand versucht.

Nein, ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber die Chance ist verschwindend gering.

Verschwindend gering bedeutete aber, dass es durchaus vorhanden war. Ich wollte einfach nicht sehen, die das Leben aus diesen schönen Augen wich und ich wollte schon gar nicht dafür verantwortlich sein.

Auf einmal hob Raphael den Blick und bemerkte durch den Spiegel den Türspalt. Und auch, dass ich dahinter lauerte.

Oh oh.

Als er verärgert zu mir herumwirbelte, wich ich hastig ein paar Schritte zurück. Im nächsten Moment knallte die Tür zu und wurde von innen verschlossen.

Lalamika spazierte langsam durch die Tür nach draußen. Er möchte mit seiner Trauer allein sein.

Aber das würde nicht geschehen. Wenn ich ihn allein ließ, würde er etwas Schreckliches tun und das durfte ich nicht erlauben. Ob er wollte oder nicht, ich würde bei im bleiben und vielleicht konnte ich ihm helfen, seinen Schmerz zu überwinden.

Als Lalamika meine Gedanken hörte, seufzte sie leise. Ich beachtete sie nicht weiter, denn ich kannte ihre Meinung zur Genüge. Stattdessen wandte ich mich ab und legte mich zurück auf das Handtuch. Es war nicht so bequem wie das Bett, aber es war trocken, warm und sauber. Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich viel schlimmer genächtigt.

Der Boden in dem Käfig, in dem Jegor mich gefangen gehalten hatte, war ein Gitter gewesen. Zwar hatte ich ein paar alte Decken und Tücher gehabt, aber sie waren nicht sehr dick gewesen. Manchmal hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben, jemals wieder aus diesem Käfig herauszukommen, doch dann, eines Nachts, hatten die Geister mir eine Vision geschickt. Darin war ein Mann mit einer krummen Nase in das Haus eingedrungen und hatte für mich diesen Käfig geöffnet. Das war in der Nacht geschehen, in der mein Peiniger die Königin der Lykaner gekidnappt hatte. Jahre zuvor hatte ich die erste Vision von Raphael gehabt.

Anfangs waren sie noch sehr verschwommen und undeutlich gewesen, formlose Gestalten in einem Meer aus Blut und Schmerz. Doch mit den Jahren waren sie immer deutlicher und klarer geworden. Besonders oft hatte ich Raphaels Verzweiflung gespürt.

Ich hatte so oft von ihm geträumt, dass er zu einem Teil meins Lebens geworden war. Vielleicht fiel es mir deswegen so schwer, dem Willen der Geister zu folgen. Abgesehen von Lalamika war er seit Jahren das einzig Beständige in meinem Leben. Ich hatte ihn … gern.

Es dauerte lange, bis Raphael mit nichts als einem Handtuch um die Hüfte das Badezimmer verließ. An seiner Schulter klebte nun ein großes Pflaster. Er beachtete mich nicht, als er zu seiner Tasche ging und ein paar Kleidungsstücke herausholte, mit denen er erneut im Bad verschwand.

Dieses Mal brauchte er nicht so lange, um wieder heraus zu kommen. Doch wieder ignorierte er mich. Er ging einfach zum Bett, legte sein Handy auf den Nachttisch daneben und schlüpfte dann ohne ein Wort unter die Decke. Aber er schlief nicht ein. Lange Zeit lag er einfach nur da.

Ich war nicht besonders empathisch, aber ich konnte spüren, wie der Schmerz in Wellen von ihm ausging. Das Cayenne ihn verlassen hatte, war erst einen halben Tag her und die Wunde, die sie dabei hinterlassen hatte, würde wohl nicht mal die Zeit richtig heilen können.

Als Raphael Atem irgendwann ruhiger wurde, war mein Fell schon fast trocken und ich begann selber mich langsam zu entspannen. Meine Augen wurden schwerer. Wir hatten beide seit fast eineinhalb Tagen nicht mehr geschlafen, doch als ich begann langsam wegzudriften, hörte ich, wie er sich im Bett unruhig hin und her wälzte.

Ich öffnete die Augen wieder und sah Lalamika, die neben ihm im Bett saß und ihn traurig beobachtete. Nicht mal im Schlaf findet er Ruhe.

Weil er sie noch immer liebte.

Wie es wohl war, von einem Mann so geliebt zu werden? Mich hatte nie jemand geliebt, mich hatten alle immer nur verflucht.

Das ist nicht wahr Ara, ich hab dich lieb.

„Ich weiß.“ Aber sie war die Einzige und unsere gemeinsame Zeit war nur sehr kurz gewesen.

Als Raphael sich unruhig auf die Seite wälzte, erhob ich mich von meinem Handtuch und schlich leise zum Bett. Ohne seine Haare sah er ungewohnt aus. In all meinen Visionen hatte er langes Haar gehabt. Vielleicht war das ja ein Zeichen, vielleicht hatte meine Anwesenheit ja schon etwas verändert und wir steuerten nicht mehr auf diese grausame Zukunft zu.

Das ist Wunschdenken. Lalamika bedachte mich mit einem strengen Blick aus ihren kindlichen Augen. Du weißt, dass wir nicht jede Kleinigkeit vorhersagen können. Unsere Ahnungen der Zukunft, kommen von unseren Erfahrungen. Es hat sich nichts geändert, nur weil er jetzt kein Haar mehr hat.

Aber vielleicht würde es das noch.

Als Raphael ein leises Geräusch von sich gab, zogen seine Augenbrauen sich zusammen. Selbst im Schlaf wirkte er unglücklich.

„Beruhige seinen Geist, Mika“, bat ich meine Schwester. „Lass ihn friedlich schlafen.“

Sie schaute mich an, seufzte dann und löste sich in weißen Nebel auf, der langsam in ihn hinein sickerte. Es dauerte einen Moment, aber dann entspannten sich seine Gesichtszüge ein wenig und sein Atem wurde wieder ruhiger.

Einem Impuls folgend, stieg ich vorsichtig ins Bett. Dabei bewegte ich mich ganz langsam, um ihn nicht zu wecken. Er gab nicht mal ein Geräusch von sich, als ich mich neben ihm ausstreckte und vorsichtig an ihn heran rückte.

Ich wusste nicht genau, was ich da tat. Ich hatte noch nie neben jemand geschlafen, aber selbst im Schlaf sah er so traurig aus, dass ich ihn nicht allein lassen wollte.

Vorsichtig streckte ich meine Pfote aus und legte sie ihm auf die Hand. „Keine Angst“, flüsterte ich und begann leise zu schnurren. „Ich passe auf dich auf, Ys-oog.“ Solange ich bei ihm war, würde er sicher sein.

 

°°°

 

„Ah!“

Verschlafen schreckte ich auf und sah gerade noch, wie Raphael rückwärts aus dem Bett fiel. Es gab einen dumpfen Aufschlag und dann hörte ich nur noch sein Stöhnen.

Hm …

Neugierig kroch ich an die Bettkante und schaute nach unten auf den Boden. In nichts als Boxershorts lag er auf dem Rücken und rieb sich mit der Hand über die Augen.

„Was machst du da? Das sah lustig aus, soll ich das auch machen?“ Ich hab ihm gar nicht erst die Gelegenheit etwas darauf zu antworten. Ich rollte mich einfach ein Stück zur Seite und fiel dann auch aus dem Bett – genau auf ihn rauf.

„Uff“, machte er und griff nach mir, als wollte er mich runterschubsen, doch dann ließ er einfach seinen Kopf zurückfallen, schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Warum zum Teufel liegst du in meinem Bett und erschreckst mich mit deinen riesigen Zähnen halb zu Tode?“

Was war das denn für eine dumme Frage? „Ich kann meine Zähne ja wohl schlecht rausnehmen.“

Seine Lippen verzogen sich und dann stieß er ein belustigtes Schnauben aus. „Würde es dir etwas ausmachen von mir herunter zu gehen? Du bist nicht gerade ein Federgewicht.“

Bevor ich ihm antworten konnte, gab mein Magen ein sehr forderndes Knurren von sich. „Ich hab Hunger.“

„Und ich Sauerstoffmangel.“ Er schlug die Augen wieder auf. „Wenn du nichts dagegen hast, dann würde ich gerne aufstehen.“

„Hast du etwas zu Essen?“

Er gab ein Geräusch von sich, dass wohl seinen Unglauben ausdrücken sollte. „Ich kann etwas besorgen. Aber nur, wenn du von mir runter gehst.“

Darüber dachte ich einen Moment nach. „Aber kein Hühnchen“, sagte ich dann und sprang wieder zurück ins Bett. Das war so schön weich und gemütlich, dass ich mich erstmal auf den Rücken drehte und alle Viere von mir streckte. „Hühnchen finde ich nicht mehr gut.“

Draußen stand die Sonne bereits tief am Himmel. Ein paar vereinzelte Wolken zogen an ihr vorbei, doch wie es schien, war der Regen vorerst vorbei.

Als Raphael mühevoll auf die Beine kam, warf er mir einen reumütigen Blick zu. „Keine Sorge, sowas gebe ich dir nicht noch mal“, murmelte er und ging wieder zu seiner Tasche. „Ich werde dann auch gleich den Wagen wegbringen, es kann also ein wenig dauern, bis ich wieder da bin.“

„Das ist nicht schlimm.“ Ich war gerne unterwegs. Wenn er wollte, könnten wir auch stundenlang einfach nur rumlaufen.

Direkt auf der Kommode erschien Lalamika und steckte den Kopf in die Tasche. Raphael bemerkte es nicht. Ich glaube nicht, dass er das so gemeint hat, murmelte sie.

„Natürlich hat er das.“

Fragend schaute Raphael sich nach mir um. „Was?“

Mist. „Was?“

„Du hast doch gerade etwas zu mir gesagt.“

„Hab ich nicht.“ Ich ließ mich auf die Seite kippen und schaute ihn ganz unschuldig an.

Er runzelte die Stirn. „Ich habe es doch gehört.“

„Was hast du gehört?“

„Na das du ...“ Er unterbrach sich selber. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder seiner Tasche zu.

Lalamika kicherte leise.

Tief einatmend legte ich meinen Kopf auf meine Pfoten. Es war nicht gut, wenn die Leute wussten, dass man mit Geistern sprach. Wenn sie nicht glaubten, hielten sie einen für verrückt und wurden gemein. Wenn sie glauben wollten, aber blind waren, dann steckten sie einen in einen Käfig und verlangten etwas über die eigene Zukunft zu erfahren. Aber sie verstanden nicht, dass Geister kein Orakel waren. Und wenn sie nicht bekamen was sie wollten, dann taten sie einem weh.

Nein, es war besser, wenn Raphael nicht wusste, dass ich mit Geistern sprechen konnte. Darum schaute ich einfach still dabei zu, wie er sich eine Hose, Socken und ein Shirt anzog. Als er sich dann auf die Bettkante setze, robbte ich an den Rand und beobachtete, wie er sich die Schnürsenkel zuband. Ich hatte noch nie Schuhe getragen und verstand den Sinn davon nicht ganz.

„Lass die Einrichtung heile“, sagte Raphael, als er sich erhob und nach seinem Handy griff. Er scrollte durch sein Adressbuch und hielt es sich dann ans Ohr.

Ich richtete mich ein wenig auf. „Was meinst du damit?“

Den Blick den er mir daraufhin zuwarf, stempelte mich als dumm ab. „Das ich keine Lust habe, die Einrichtung zu bezahlen, weil du sie aus was-weiß-ich für Gründen zerlegst und … Mama? Ja, ich bin es.“ Er wandte sich von mir ab und ging direkt zur Zimmertür. „Ich bin hier irgendwie in Nancy an der Grenze zu Frankreich gestrandet und bräuchte jemand, der mich hier abholt.“

Als er nach der Türklinke griff, eilte ich aus dem Bett, rannte quer durch den Raum und sprang gegen die Tür, damit er sie nicht öffnen konnte. „Ich komme mit!“

Raphael runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Ja, ich bräuchte jemand, der mich nach Berlin bringt und …“

„Ich bleibe nicht hier!“

„Warte mal einen Moment, ich rufe dich gleich noch mal an.“ Er beendete das Gespräch und funkelte mich an. „Du kannst nicht mitkommen, du bist ein Panther.“

„Du darfst aber nicht alleine gehen.“ Ich setzte mich direkt vor die Tür. So würde er nicht rauskommen.

Ungeduldig stemmte Raphael die Hände in die Hüfte. „Ich bin ein erwachsener Mann, ich darf hingehen, wohin ich will.“

„Aber nicht ohne mich.“

Er griff sich an die Stirn, als müsste er sich selber zur Ruhe zwingen. „Tarajika, du möchtest etwas zu Essen haben und ich muss den Wagen wegbringen, aber ich kann dich weder zum Autoverleih noch in einen Laden mitnehmen, nichts solange du dich weigerst, dich zu verwandeln. Ein Panther, auch wenn er so ein Klappergestell wie du ist, würde unter den Menschen eine Panik auslösen.“

„Dann bleibe ich eben im Auto.“

„Das Auto werde ich aber jetzt zurück bringen. Dann habe ich kein Auto mehr.“

Ich hab dir gesagt, dass er dich nicht mitnehmen möchte. Lalamika sprang leichtfüßig von der Kommode und schritt gemächlich auf uns zu. Und damit fangen die Probleme an.

Ich ignorierte sie. „Ich lasse dich aber nicht raus, wenn du mich nicht mitnimmst.“

Einen Moment musterte er mich. Dann schnaubte er und griff wieder nach der Türklinke.

Fauchend machte ich einen Satz nach vorne und trieb ihn damit von der Tür weg. „Ich meine es Ernst“, grollte ich und machte noch einen drohenden Schritt auf ihn zu.

Raphael behielt mich wachsam im Auge. „Was an meinen Worten verstehst du nicht? Du bist eine Raubkatze, du kannst nicht einfach auf der Straße herumlaufen.“

„Dann darfst du nicht gehen.“

„Und wie kommen wir dann bitte an etwas zu Essen?“

Wie auf Befehl begann mein Magen wieder zu knurren. „Ich weiß nicht, aber ich will nicht, dass du alleine gehst.“ Nein, das war nicht richtig, er durfte nicht alleine gehen und deswegen würde ich es auch nicht erlauben.

Als Raphael meinen unnachgiebigen Blick bemerkte, gab er ein genervtes Geräusch von sich. „Warum willst du nicht, dass ich alleine gehe?“

Weil dann schreckliche Dinge passieren könnten. „Du willst mich zurücklassen, aber ich will bei dir bleiben.“

Er schüttelte ganz leicht den Kopf. „Du kannst nicht ewig bei mir bleiben.“

Das sah ich aber ganz anders.

„Na schön“, sagte er dann, ging zu seiner Tasche und stellte sie vor mich auf den Boden. „Das sind meine Sachen. Und hier.“ Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und holte zwei Karten heraus, die er auf die Tasche legte. „Krankenkarte und EC-Karte. Ich lasse die Sachen hier bei dir und glaub mir, allein um die wiederzubekommen, tauche ich wieder hier auf.“

Unentschlossen schaute ich von den Sachen zu Raphael und dann weiter zu Lalamika, die abwartend direkt neben ihm saß. Ich wusste nicht ob es stimmte, was er sagte, weil ich nicht wusste, wie wichtig die Sachen für ihn waren. Was wenn er das Zeug nicht brauchte und nicht zurück kam?

Lass ihn gehen, sagte Lalamika. Er wird wiederkommen.

Wirklich? Waren die Sachen so wichtig?

Ja.

„Und du lässt mich nicht zurück?“, versicherte ich mich nochmal.

Raphael schüttelte den Kopf. „Nein, nicht heute.“

Die Anspielung verstand ich sehr wohl, aber ich sah erstmal darüber hinweg. „In Ordnung, dann darfst du gehen.“ Ich schnappte mir die Tasche an den Henkeln und sprang mit ihr aufs Bett. „Und vergiss das Essen nicht, ich habe großen Hunger.“

Seiner Lippen verzogen sich zu einem halben Lächeln. Er schien nicht recht glauben zu können, was hier gerade geschah. „Ich werde daran denken“, versicherte er mir kopfschüttelnd und ging wieder an die Tür. Bevor er das Zimmer jedoch verließ, drehte er sich noch mal zu mir um. „Und du bleibst hier drinnen, verstanden? Keine Ausflüge, die Das Hotelpersonal erschrecken könnten.“

„Ich werde artig sein“, versprach ich.

Ob er mir nun glaubte oder nicht, mit einem letzten Blick auf mich, verließ er das Zimmer und schloss die Tür von außen ab.

Ich wartete bis ich ihn nicht mehr hörte, dann sprang ich aus dem Bett und rannte zum Fenster. Das Auto stand noch draußen auf dem Parkplatz. „Mika, geh mit ihm und pass auf ihn auf.“

Nein.

Verwundert drehte ich mich zu ihr um. „Aber er darf nicht alleine gehen.“

Die anderen Geister behalten ihn im Auge. Wir beide müssen uns unterhalten.

Ihr Ton gefiel mir nicht.

Ara, genau das ist es, was ich dir bereits gesagt habe. So wie du bist, gibt es nur wenig Orte, an die du ihn folgen kannst. Selbst wenn ich ihn begleite und dir Bescheid sage, wenn er im Begriff ist etwas Dummes zu tun, wirst du nur in den wenigsten Fällen eingreifen können.

Ich zeigte ihr die Zähne. „Ich werde ihn nicht töten.“

Du kannst es doch aber auch nicht so belassen, wie es im Moment ist. Wenn du nichts tust, sind wir gezwungen einen anderen Ailuranthropen einzuweihen. Willst du das? Willst du in seiner Nähe sein, wenn ein anderer Ailuranthrop bei ihm auftaucht? Pandu? Hisham? Papa?

Das war gemein. Allein diese Namen zu hören und mir vorzustellen, dass sie mich finden konnten, ließ eine alte Angst in mir erwachen.

Ich will dir keine Angst machen, aber genau das wird geschehen. Lalamika erhob sich von ihrem Platz und kam ein paar Schritte auf mich zu. Ihre geisterhafte Katzengestalt wurde noch deutlicher. Die noch viel zu großen Pfoten für den kleinen Körper, die süße Schnauze. Nur in ihren Augen war zu erkennen, dass sie schon lange kein Kind mehr war. Ja selbst für eine Achtzehnjährige war sie schon viel zu erwachsen. Die einzige Lösung ist sein Tod.

„Nein!“, fauchte ich. „Ich werde ihm nicht wehtun und ihr werdet keinen Ailuranthropen herholen. Ich kümmere mich darum!“

Du hat gar nicht die Möglichkeit dazu, nicht solange du ein Panther bist!

„Dann verwandle ich mich halt!“

Damit hatte ich Lalamika verblüfft. Doch sie verdaute die Überraschung sehr schnell. Du hast Angst davor.

Ja, aber noch mehr ängstigte mich der Gedanke, Raphael etwas anzutun.

Als ich hörte, wie sich draußen ein Motor gestartet wurde, schaute ich wieder aus dem Fenster. Raphael fuhr den Wagen gerade rückwärts aus der Parklücke.

„Ich werde ihm helfen und wenn ich mich dazu verwandeln muss, dann werde ich das tun.“ Das schwor ich mir.

Und wenn du das nicht schaffst?

„Ich werde es schaffen. Früher konnte ich es ja auch.“ Ich nahm die Vorderpfoten wieder vom Fensterbrett. „Du selber hast mir vor nicht allzu langer Zeit noch versichert, dass ich dazu fähig bin.“

Ja, die Fähigkeit dazu hast du, aber du hast auch Angst. Sie schaute mir direkt in die Augen. Vergiss nicht, dass ich dich kenne Tarajika. Vielleicht kannst du dir selber etwas vormachen, aber nicht mir. Deine Angst hält dich in deinem Pelz und darum wird dir die Verwandlung nicht gelingen.

„Doch, das wird sie. Und jetzt geh weg, ich will davon nicht mehr hören.“ Schwanzpeitschend wandte ich mich zum Bett um.

Es wird sich nichts an den Tatsachen ändern, nur weil du mich wegschickst. Es ist …

„Lass mich!“, fauchte ich sie an. Ich wollte das nicht mehr hören. Nichts von dem was sie sagte, würde mich umstimmen, aber um mich zu verwandeln brauchte ich Ruhe. Ich hatte das seit Jahren nicht mehr gemacht und das Lied der Venus war nur noch eine Ferne Erinnerung, die ich schon vor langer Zeit unter meinen Gedanken begraben hatte. Es war nicht hilfreich, wenn sie mir immer wieder sagte, dass ich das nicht konnte.

Mit dem was du da tust, zögerst du das Unvermeidliche nur heraus, sagte Lalamika leise und begann zu verblassen. Es wir nichts ändern.

„Doch. Solange ich glaube, kann alles passieren.“ Das hatte sie mir selber beigebracht. Ja, vielleicht gab es nur eine sehr kleine Chance, aber sie war da und solange diese Hoffnung noch nicht gestorben war, würde ich nicht aufgeben. Ich hatte nie aufgegeben und nur deswegen hatte ich überlebt.

Aber solange ich wütend war, würde mir gar nichts gelingen, deswegen sprang ich ins Bett, streckte mich darauf aus und versuchte mich ein wenig zu entspannen. Dabei atmete ich Raphaels Geruch ein. Er hing im Bett, als würde er noch immer hier liegen. Ich mochte seinen Geruch.

Langsam legte ich mich auf die Seite, vergrub die Nase in seinem Kissen und atmete einfach. Es dauerte nicht lange, bis ich spürte, wie mein Herzschlag sich beruhigte, doch Lalamika hatte Recht. Mein Fell abzulegen, bedeutete angreifbar zu sein und darum dauerte es über eine Stunde, bis ich bereit war, diesen Schritt in Angriff zu nehmen. Wenn ich ein Mensch war, würde Raphael mich nicht mehr wegschicken. Wenn ich ein Mensch war, würde ich ihm helfen können.

„Für Ys-ogg“, flüsterte ich, schloss die Augen und erinnerte mich daran, was für ein Gefühl es gewesen war, seine Gestalt zu verändern. Ich holte das Lied der Venus, tief aus meinen Gedanken, diesen Klang, der eigentlich gar keiner war und doch in jeder meiner Faser widerhallte.

Es verging ein wenig Zeit, in der ich nichts anderes tat, als zu atmen, aber dann war es auf einmal da. Ich konnte es fühlen, wie schon lange nicht mehr, ein Kribbeln, direkt unter der Haut, genau wie dieses wohlig warme Gefühl.

Als ich noch klein gewesen war, hatte ich mich rein aus Langeweile immer und immer wieder hin und her verwandelt. In der kleinen Hütte mit dem vergitterten Fenster hatte es keine andere Beschäftigung für mich gegeben – außer Käfer ärgern, oder mit meinem Stock Bilder in den Boden zu ritzen. Naja, bis Pandu mir meinen Stock weggenommen hatte.

Ein weiterer tiefer Atemzug. Ich versuchte in dem Klang der Venus abzutauchen. Meine Pfoten kribbelten und meine Nase juckte. Meine Muskeln zuckten. Dann ließ ich einfach los und plötzlich war alles vorbei.

Ich schlug die Augen auf und sah eine große Tatze mit scharfen Krallen. „Nein.“ Ich hob den Kopf um meinen restlichen Körper zu kontrollieren, doch ich war kein Mensch, ich war noch immer ein Panther. „Nein!“ Ich hatte mich nicht verwandelt, ich hatte es nicht geschafft. „Warum?“

In Ordnung, jetzt nur nicht aufregen, das war nur der erste Versuch gewesen und bis auf die Tatsache, dass es nicht den gewünschten Effekt hatte, hatte es sich richtig angefühlt. Ich musste nur geduldig sein, ich hatte es schließlich schon seit Jahren nicht mehr getan, da war es doch ganz logisch, dass es beim ersten Mal nicht gleich klappte.

Leider funktionierte es aber auch nicht beim zweiten oder beim dritten Versuch. Ich lag da, konzentrierte mich auf meinen Willen und es geschah rein gar nichts.

Verbissen drückte ich die Zähne aufeinander. Meine ganze Haut prickelte, mein Körper vibrierte geradezu und ich spürte kleine Veränderungen, doch es hielt nicht. Sobald meine Konzentration nur ein kleinen wenig nachließ, wurde ich wieder zum Panther.

Mit der Zeit begann es zu schmerzen. Ich stöhnte und drückte meine Krallen in die Matratze. Der Schweiß brach mir aus. Ich konnte fühlen, wie mein Körper sich verformte. Aus meinen Pfoten wurden Hände, nur um gleich wieder zu Pfoten zu werden.

Komm schon, komm schon. Ich strengte mich noch ein wenig mehr an. Mein Atem wurde immer schwerer. Meine Muskeln krampften sich zusammen und das Lied der Venus verzerrte sich zu einer grauenhaften Abstraktion, die mir in den Ohren schmerzte. Wenn das …

Eine plötzliche Berührung an der Schulter schreckte mich so sehr auf, dass ich mit der Pfote fauchend nach vorne schlug und gleichzeitig einen Satz nach hinten machte, wodurch ich fast vom Bett fiel. Dann schaute ich aus angstgeweiteten Augen in das überraschte Gesicht von Raphael.

„Ganz ruhig“, sagte er leise und hob die Hände, als wollte er mir zeigen, dass ich nicht von ihm zu befürchten hatte. Er stand direkt vor dem Bett. Ein Stück hinter ihm auf dem Boden stand eine Tüte, aus dem der Geruch von Essen an meine Nase drang und die Tür selber war noch einen Spalt offen, so als sei er kaum dass er das Zimmer betreten hatte, direkt zu mir geeilt.

Ich hatte es nicht mitbekommen. Ich war war so auf die Verwandlung konzentriert gewesen, dass ich nichts anderes bemerkt hatte und zu allem Überfluss, war ich noch immer eine Panther. „Es funktioniert nicht!“, fauchte ich und schlug meine Krallen wütend in das Kissen. Es segelte quer durch den Raum und klatschte gegen die Wand, wo es leise zu Boden fiel. „Ich kann mich nicht verwandeln! Warum kann ich mich nicht verwandeln?!“

Ohne mich aus den Augen zu lassen, ging Raphael zur Tür und drückte sie in den Rahmen. „Du hast versucht dich zu verwandeln?“

„Ja!“ Mein Schanz peitschte aufgebracht hin und her. „Aber es geht nicht!“

Einen Moment musterte er mich nur. „Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber vielleicht solltest du dich etwas beruhigen. Wenn du dich so aufregst …“

„Ich war ruhig!“, fauchte ich ihn an und sprang vom Bett. Was wenn Mika recht hatte? „Ich muss mich verwandeln.“

Er widersprach nicht. „Aber vielleicht solltest du nicht versuchen es zu erzwingen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass …“

„Nein, du verstehst das nicht“, unterbrach ich ihn. „Ich habe mich seit Jahren nicht mehr verwandelt! Als ich bei Jegor war … ich durfte es nicht.“ Ich hatte gesehen, was er mit den Frauen in seinem Haus getan hatte – mit jeder von ihnen. Meine Krallen hatten mich davor bewahrt, dass er mir zu nahe kam.

Begreifen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Du hast dich die ganze Zeit bei dem Markis nicht einmal verwandelt.“

Ich blieb stehen und senkte den Blick. „Ich konnte nicht“, sagte ich leise.

„Wie lange bist du schon ein Panther?“

Zu lange. „Acht Jahre.“

Seine Augen wurden ein wenig größer. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.

„Mika sagt, ich habe Angst und deswegen kann ich mich nicht verwandeln.“ Mit einem tiefen Seufzen setzte ich mich auf meinen Hintern. „Ich glaube sie hat Recht.“

„Deine tote Schwester?“

Aufgeschreckt schaute ich ihn an. Ohje.

Als ich nicht antworte, wurden seine Lippen ein wenig schmaler. „Okay, weißt du was? Lass uns erstmal essen. Dann hast du Zeit dich zu beruhigen und wer weiß, vielleicht funktioniert es mit vollem Magen ja besser.“

„Und wenn nicht?“

„Dann überlegen wir uns etwas. Ich denke, es ist wichtig, dass du nichts überstürzt. Wenn du dir selber Druck machst, ist das sicher nicht gut.“

„Aber ich muss mich verwandeln.“ Sein Leben hing davon ab.

„Ich habe ja nicht gesagt, dass du aufgeben sollst.“ Er griff sich die Tüte vom Boden und setzte sich damit auf die Kante vom Bett. „Nur … lass es etwas ruhiger angehen. Okay?“

Ich hatte aber nicht die Zeit für Ruhe.

„Und jetzt komm her, sonst wird das Essen noch kalt und ich habe es umsonst geholt.“

Es duftete schon sehr lecker. Und als er es neben sich aufs Bett stellte und die Tüten von den Aluschalen entfernte, begann mir das Wasser im Mund zusammenzulaufen. „Ist das alles für mich?“, fragte ich hoffnungsvoll und sprang hinter ihm ins Bett.

Er schnaubte und legte etwas neben sich, dass in Alufolie eingewickelt war. „Tut mir leid deine Träume zu zerstören, aber ein bisschen was will ich auch essen.“

Enttäuscht musterte ich die beiden Schalen. Das war nicht wirklich viel.

„Nun guck nicht so, du wirst schon nicht verhungern. Hier, das ist für dich.“ Er nahm eine der Aluschalen und begann sie von dem Deckel zu befreien.

Ich streckte währenddessen langsam die Pfote nach dem aus, was er neben sich gelegt hatte und zog es vorsichtig zu mir heran. Da er selber knisterte, hörte er nicht, wie ich mich an dem anderen Teil zu schaffen machte. Ich behielt ihn genau im Auge, als ich die Folie zerpflückte. Darin kamen fünf kleine, runde Brote zum Vorschein. Ich brauchte nur Sekunden, um sie zu inhalieren.

Gerade als ich mir mit der Zunge die letzten Reste aus den Zähnen pulte, drehte er sich zu mir um und runzelte die Stirn.

„Was isst du da?“

Ich schaute so unschuldig drein, wie es mir nur möglich war. „Gar nichts.“

Die Falte auf seiner Stirn wurde ein wenig tiefer. Dann fiel sein Blick auf die zerrupfte Alufolie. „Wo sind die Brote?“

„Keine Ahnung“, sagte ich ungerührt und leckte mir die letzten Krümel von den Lefzen.

Er nahm die Reste der Folie in die Hand und funkelte mich verärgert an. „Du hast sie gegessen.“

„Das musst du erst mal beweisen.“ Ich reckte meinen Hals nach der Schale in seiner Hand. Reis und Gemüse?

„Hier, da hast du deinen Beweis“, sagte er und heilt mir die Reste vor die Nase.

„Das könnte jeder gewesen sein.“

Raphael öffnete ungläubig den Mund. Zwei Mal. Erst dann, bekam er ein Wort heraus. „Hallo, außer uns beiden ist hier aber niemand.“

„Dann hast du sie wohl selber gegessen.“

Er gab ein Geräusch von sich, dass seine Fassungslosigkeit widerspiegelte, schien aber nicht zu wissen, was er dazu noch sagen sollte.

Mir ging es da ganz anders. „Bekomme ich jetzt etwas zu essen?“

Seine Antwort bestand in einem Schnauben. Dann stellte er die Aluschale mit einem eindrucksvollem Knurren auf den Boden. „Bon Appetit.“

Leichtfüßig sprang ich herunter und schnupperte an dem Essen. Das war wirklich nur Reis mit Gemüse und ein wenig Soße. „Da ich gar kein Fleisch.“

„Ich weiß.“ Er griff sich die zweite Schale und öffnete auch dort den Deckel. „Das ist Schonkost, gut für deinen Magen. Ich habe keine Lust noch mal deine Kotze wegzuwischen.“

„Aber da ist kein Fleisch“, wies ich ihn noch mal darauf hin.

Er hielt einen Moment inne. „Wenn du es nicht möchtest, dann lass es stehen. Etwas anders wird es für dich nicht geben.“

Das trug nicht unbedingt zur Besserung meiner Laune bei. Nicht nur das da kein Fleisch war, die Portion war auch noch klein. Davon würde ich niemals satt werden.

„Na gut, wenn du nicht willst.“ Als Raphael sich nach meinem Essen bückte, zeigte ich ihm warnend die Zähne und stürzte mich auf meine Mahlzeit. Sie schmeckte … nach gar nichts. Aber ich hatte schon schlimmeres gegessen. Das hier war wenigstens nicht verschimmelt.

Ich brauchte nicht mal fünf Minuten, bis ich die Schale geleert hatte und mir die letzten Reisreste von den Lefzen leckte. Ich hatte immer noch hunger, doch es war nur noch das Essen von Raphael da und das aß er gerade selber.

Es roch viel besser als meines und wenn meine Nase mich nicht täuschte, war da auch Fleisch drin. „Was ist das?“

„Geschnetzeltes mit Gnocchi und Pestorahm.“ Er spießte etwas auf seine weiße Plastikgabel und steckte es sich in den Mund.

Ich rückte ein wenig näher. „Schmeckt das?“

„Mir schon.“

„Was ist Gnocchi?“

Gerade wollte er sich seine Gabel ein weiteres Mal in den Mund stecken, aber dann seufzte er und ließ etwas in meine leere Schale fallen. „Das sind Nocken oder auch kleine Mini-Klöße.“

Ich kauerte mich neben meine Schale und schaute es mir an. Das sah komisch aus, irgendwie wie Raupen im Teigmantel.

„Keine Sorge, du kannst das essen.“

„Ich machte mir keine Sorgen.“ Nur ein Happen, dann war das Essen weg. Oh, sowas hatte ich noch nie gegessen, aber das war lecker! Davon wollte ich noch mehr. Aber Raphael würde mir sein Essen sicher nicht überlassen. Naja, zumindest nicht freiwillig. Ich überlegte mir, wie ich ihn dazu bekommen konnte, mir noch mehr zu geben, doch währenddessen aß er immer mehr. Sicher wäre die Aluschale gleich leer, wenn ich mir nicht schnell etwas einfallen ließ.

Kurzerhand sprang ich nach vorne, biss in die Schalle und riss sie ihm aus der Hand. Dann machte ich mich aus dem Staub, bevor Raphael seine Überraschung verdaut hatte.

„Was verdammt … gib dir wieder her!“

Nach zwei Schritten stoppte ich wieder, weil mir klar wurde, dass ich nirgends hin konnte. Da war nur dieses kleine Zimmer und das noch kleinere Bad.

„Was soll das werden?!“, schimpfte er und wollte nach mir greifen.

Ich duckte mich, rannte dann eilig um das Bett und kauerte mich dahinter. Als er mir auch dahin folgte, sprang ich über das Bett und flüchtete in das Badezimmer.

„Tarajika!“ Gerade als er mir ins Bad folgte, sprang ich in die Dusche. Ich legte die Schale da rein, kauerte mich darüber und fauchte ihn warnend an.

„Mein Essen“, teilte ich ihm grollend mit.

Er sah aus, als würde er mir den Kopf abreißen wollen. „Was soll das? Ich habe dir etwas anderes mitgebracht!“

„Ich habe noch hunger.“

„Ach, und das gibt dir das Recht einfach meine Essen zu klauen?!“ Er hob die Hände, um … keine Ahnung, denn nach einem verärgerten Blick in meine Richtung, winkte er ab, warf mir noch einen wütenden Blick zu und stürmte dann wieder aus dem Bad.

Ich bleib wo ich war und lauschte. So wie es sich anhörte, lief er nebenan aufgebracht hin und her. Aber nur einen Moment. Dann hörte ich, wie er an seine Tasche ging. Das Bett knarzte und dann ging der Fernseher an. Gut, er hatte also aufgegeben.

Zufrieden machte ich mich über die Gnocchis her. Hm.

Neben mir wurde gekichert, dann erschien auf dem geschlossenen Klodeckel ein junger Leopard. Auch wenn ich Lalamika nicht sah, sie war immer da. Wir gehörten zusammen. Und du glaubst, dass ist die beste Methode, um in seiner Nähe bleiben zu dürfen?

Da sie scheinbar nur da war, um zu stänkern, reagierte ich nicht darauf. Stattdessen leckte ich die Reste aus der Schale und setzte mich dann auf. Natürlich war das nicht sehr schlau gewesen, aber ich hatte Hunger und das Leben hatte mich mehr als einmal geleert, dann zu essen wenn es möglich war, weil ich nie wusste, wann ich das nächste Mal etwas bekommen würde.

Doch jetzt saß ich hier und war mir nicht ganz sicher, was ich machen sollte. Ob er wirklich böse war, dass ich sein Essen geklaut hatte? Er war jedenfalls nicht weggegangen, um sich Neues zu holen, oder mich gar hier zu lassen.

Als ich aus dem Nebenraum über die Geräusche des Fernsehers weg ein Knistern vernahm, spitzte ich neugierig die Ohren.

Unentschlossen machte ich einen Schritt aus der Dusche raus und versuchte durch die offene Tür ins Nebenzimmer zu schauen, doch aus diesem Winkel sah ich nur die Kommode mit dem angeschalteten Fernseher. Das Bett stand an der gegenüberliegenden Wand.

Wieder knisterte es. Dann hörte ich ihn kauen. Hatte er etwa noch etwas zu Essen?

Langsam und so leise, dass er es nicht hören konnte, schlich ich zur Tür und späte in den Raum dahinter. Raphael lag ausgestreckt auf dem Bett. In den Rücken hatte er sich ein paar Kissen geschoben und in der Hand hielt er eine bunte Tüte, auf der Kekse mit Schokolade abgebildet waren. Meine Nasenflügel blähten sich. Ich wollte auch einen Keks haben.

Geduckt schlich ich zum Bett. Weiteres Knistern. Ich hob wachsam den Kopf und spähte über den Rand der Matratze. Entweder er bemerkte es nicht, oder er ignorierte mich. Ich rutschte ein wenig näher und streckte den Kopf in seine Richtung. Es roch so lecker.

Als ich die Nase noch etwas hob, legte er die Tüte mit den Keksen auf seinen Bauch. Das bedeutete dann wohl, dass er mir nichts abgeben wollte. Aber vielleicht, wenn ich ganz lieb war, würde er seine Meinung ändern. Also kletterte ich zögernd am Fußende ins Bett.

Sein Griff um die Kekse verstärkte sich.

Ich wartete einen Moment, ob er etwas sagen oder tun würde. Als das nicht geschah, kroch ich langsam ans obere Ende des Bettes und wartete wieder einen Moment. Dabei griff er erneut in die Tüte und schmiss sich einen weiteren Keks in den Mund.

Ich kroch ein wenig näher und als er dann noch immer nicht reagierte, beugte ich mich über sein Gesicht. „Bekomme ich auch einen Keks?“

Einen Moment schaute er mich nur verblüfft an. „Erst begehst du praktisch Mundraub und dann fragst du nach einem Keks?“

„Ja.“

Sein Mundwinkel zuckte ein Stück nach oben und er begann leise zu lachen. „Du bist wirklich einmalig.“

War das gut? „Heißt das, ich bekomme einen Keks?“

„Ja“, schmunzelte er und fischte einen Keks aus der Tüte, den er mir vor die Nase hielt. „Ja, du bekommst auch einen Keks.“

Super! Ich nahm ihn ihm vorsichtig aus der Hand und ließ ihn mir dann genüsslich auf der Zunge zergehen. Es war das dritte Mal in meinem Leben, dass ich Schokolade aß. Sie war sooo lecker. Und nachdem ich mir die letzten Reste aus den Zähnen gepult hatte, schaute ich ihn erwartungsvoll an. „Bekomme ich noch einen?“ Schließlich waren da ja noch einige in der Tüte.

Grinsend schüttelte er den Kopf. „Du bist niedlich“, sagte er und gab mir noch einen Keks. So kam es, dass wir nebeneinander im Bett lagen und uns bei einem Abenteuerfilm seine Kekse teilten. Immer einen für ihn und einen für mich.

Als die Tüte leer war, wurde es draußen gerade dunkel und ich lag satt und zufrieden neben ihm und schaute dabei zu, wie mehrere Autos in halsbrecherischen Tempo über die Autobahn rasten und dabei jede Menge Explosionen auslösten. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Autofahren so gefährlich sein konnte.

Das sind nur Fiktionen, erklärte Lalamika. Sie hatte sich am Fußende zusammengerollt und schnurrte leise. Du darfst nicht alles glauben, was du im Fernseher siehst.

Das wusste ich.

Eine vorsichtige Berührung am Kopf ließ mich nicht nur aufschrecken, sie versetzte auch mein Herz in Panik. Ich konnte mich gerade noch so daran hindern, mit der Pfote zuzuschlagen.

„Hey“, sagte Raphael sanft. „Keine Sorge, ich bin es nur.“

Ja, aber es war trotzdem seltsam, angefasst zu werden. Früher hatten Berührungen immer Schmerz als Folge gehabt. Selbst bei Lalamika hatte ich damals mehrere Wochen gebraucht, bevor ich in ihrer Nähe nicht mehr zusammengezuckt war.

Raphael begegnete meinem Blick nur ruhig. Durch seine Arbeit bei den Themis – eine Gruppe, die den Sklavenhändlern das Handwerk legte – hatte er viel Erfahrung, was den Umgang mit Sklaven betraf. „Ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast.“

„So?“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was habe ich denn gesagt?“

„Das du Angst hast und dich deswegen nicht verwandeln kannst.“

Ach das.

„Dein Fell gibt dir Sicherheit.“

„Meine Krallen geben mir Sicherheit.“ Ich fuhr sie demonstrativ aus. „Niemand wagt sich an mich heran.“

Darauf ging er nicht ein. „Du befürchtest, dass dir etwas passiert, wenn du wieder zum Mensch wirst. Dein Unterbewusstsein hindert dich daran, dich zu verwandeln und ich denke, dass genau da das Problem liegt.“

Leider half mir diese Erkenntnis nicht weiter.

„Willst du dich denn wirklich verwandeln? Wenn ja, dann habe ich vielleicht eine Idee.“

Das ließ mich hellhörig werden. „Eine Idee?“

Er nickte. „Es ist nur eine Vermutung und ich kann dir nicht versprechen, dass es funktioniert, aber ich denke, einen Versuch wäre es wert.“

Ich setzte mich auf. „Was für eine Idee?“

„Hypnose.“ Auch er richtete sich auf. „Ich weiß nicht wie empfänglich du für mein Joch bist, aber wenn du möchtest, konnte ich versuchen dir deine Angst auf einer unterbewussten Ebene zu nehmen. Vielleicht kannst du dich dann wieder verwandeln.“

Misstrauisch verengte ich die Augen. „Du willst mir deinen Willen aufzwingen?“

Noch bevor ich geendet hatte, schüttelte er bereits den Kopf. „Nein. Wenn du es erlaubst, würde ich nur versuchen, deine Angst zu entfernen. Natürlich würde das nur gehen, wenn das Joch bei dir überhaupt funktioniert.“

Das war eine gute Idee, aber eine schwere Entscheidung. Wenn ich das zuließ, würde ich mich ihm damit völlig wehrlos ausliefern. Nicht dass ich glaubte, er würde mir etwas tun wollen, doch … naja, da war halt dieser kleine Funke Furcht, der mich zurückschrecken ließ.

„Es ist deine Entscheidung“, sagte Raphael geduldig.

Er war nicht wie Jegor, oder die Meute, in die ich hineingeboren worden war. Wenn er wüsste, wer ich war, würde er mir das wahrscheinlich gar nicht anbieten, aber im Moment war ich die Einzige, die ihn beschützen konnte.

Ich schaute zu Lalamika. Sie hatte mit dem Schnurren aufgehört und beobachtete mich ruhig. Es könnte funktionieren, sagte sie leise.

Und wenn es nicht funktionierte, wäre nichts verloren, oder? Was wenn er mir befahl, wegzugehen? Wenn man erstmal unter dem Joch stand, konnte man sich nicht mehr dagegen wehren.

Ich bin in seinen Gedanken. Er will dir wirklich helfen.

Das mochte schon stimmen, trotzdem fiel es mir nicht ganz leicht die nächsten Worte zu sagen. „Wenn ich glaube, kann ich sein.“

Das schien ihn zu verwirren.

„Das hat mir Mika beigebracht, als wir noch ganz klein waren. Wenn ich nur daran glaube, dann wird es so sein.“

„Das heißt … wenn du glaubst, dass ich dich hypnotisieren kann, dann kann ich es?“

Ich nickte.

„Glaubst du daran?“

Das war die Frage. Wenn ich es tat, gab es kein zurück mehr. Aber was hatte ich denn für eine Wahl? Ich hatte es bereits alleine probiert und das Ergebnis war niederschmetternd gewesen. „Okay“, sagte ich dann vorsichtig. „Versuchen wir es.“

„In Ordnung.“ Er veränderte seine Position, bis er direkt vor mir saß. Als er mir dann aber in die Augen sah, spannte ich mich ganz automatisch an. „Ganz ruhig. Schließ die Augen und versuch dich zu entspannen.“

Augen schließen? „Aber ich dachte du musst mir dafür in die Augen schauen.“

Das ließ ihn ganz leicht lächeln. „Das ist richtig.“ Langsam hob er die Hand und begann mich vorsichtig am Hals zu kraulen. „Aber jetzt gerade bist du einfach nur angespannt. Mach die Augen zu, atme ruhig ein und aus und wenn du so weit bist, dann machst du sie wieder auf.“

In Ordnung. Ich atmete noch einmal tief ein, dann schloss ich meine Augen.

„Achte nur auf deinen Herzschlag“, sagte er leise und fuhr mir mit den Fingern immer wieder durch mein Fell. Es war … okay. „Atme ruhig ein und aus.“ Seine Stimme war leise und sanft, als wollte er mich damit einlullen. „Genau so, ganz ruhig.“

Ich hörte ihm zu. Seine Finger wirkten beruhigend und machten mir keine Angst. Ich spürte, wie ich ruhiger wurde und begann zu glauben, dass er mir wirklich helfen konnte. Wenn ich die Augen öffnete, würde er dafür sorgen, dass ich mich verwandeln konnte und dann würde ich auf ihn aufpassen können. Niemand würde ihm wehtun.

Von diesem Gedanken beflügelt, schlug ich die Augen auf und sah direkt in seine. Sie waren von einem tiefen Blau.

„Ruhig“, befahlt er sanft. Dieses eine Wort drang tief in meine Seele ein. „Entspann dich einfach, ich werde dir nichts tun, vor mir hast du nichts zu befürchten.“

Nein, er würde mich nichts tun, bei ihm war ich sicher.

„Dir kann nichts mehr passieren. Der Markis ist tot, er kann dir nie wieder zu nahe kommen, du brauchst also keine Angst mehr haben. Verstehst du das?“

„Ja.“ Ich versank geradezu in diesem Blau. Es war, als würde es über meinen Geist streicheln und all meine Ängste davon spülen.

„Niemand wird dir etwas tun. Du bist ein Ailuranthrop, jeder hat Respekt vor dir, es gibt keinen Grund mehr, sich unter diese, Fell zu verstecken. Du bist frei und sicher.“

Niemand konnte mir etwas tun, nicht Jegor und auch nicht Pandu.

„Bist du entspannt? Möchtest du dich verwandeln?“

„Ja.“

„Dann tu es.“ Die Farbe in seine Augen wurde noch intensiver. „Verwandle dich. Jetzt.“

Plötzlich vibriere das Lied der Venus durch meinen Körper. Mein Kopf fiel in den Nacken und dann geschah es: Mein Körper formte sich neu. Ich spürte, wie mein Rücken sich bog und meine Beine länger wurden. Meine Schultern wanderten nach außen und mein Fell zog sich unter meine Haut zurück. Meine Nase verschob sich, meine Augen nahmen eine andere Form an und meine Schnauze wurde zu einem Mund.

Ich gab ein Stöhnen von mir, während mein Körper noch vom Nachhall der Metamorphose summte. Dann schlug ich die Augen auf.

 

°°°°°

Eine ganz neue Welt

 

Langsam hob ich die Arme und hielt mir meine Hände vor mein Gesicht. Es waren wirklich Hände. Lange Finger mit kaffeebrauner Haut. Immer wieder drehte ich sie erstaunt vor meinem Gesicht hin und her. Und Arme, ich hatte richtige Arme. Und Beine. Und … bei allen Geistern, ich hatte mich wirklich verwandelt!

Nur langsam begann ich das zu begreifen, doch dann breitete sich eine unvergleichliche Freude in mir aus. „Ich habe es geschafft“, murmelte ich erstaunt und hob den Blick dann zu Raphael. Die Farbe in seine Augen war wieder verblasst, doch er wirkte irgendwie … überrascht. Ich beachtete es gar nicht. „Ich hab es wirklich geschafft!“, freute ich mich und fiel ihm um den Hals. Dabei begegnete ich Lalamikas Blick, die mich zufrieden beobachtete.

Ich war kein Panther mehr, ich war ein Mensch, ein richtiger Mensch!

„Äh … Tarajika …“

„Ich hab mich verwandelt!“ Überschwänglich ließ ich von ihm ab und begann mich selber abzutasten. Meine Arme, meine Beine, meine Brust. Nachdenklich nahm ich die etwas genauer in Augenschein. „Das letzte Mal waren die aber noch nicht da gewesen“, murmelte ich. Auch meine Arme und Beine waren jetzt länger als früher.

Raphael saß einfach nur da und starrte mich mit großen Augen an. Jedenfalls ein Moment. Dann schloss er sie und schien kurz in sich gehen zu müssen. „Würdest du dir bitte etwas anziehen?“

„Was? Nein, ich muss das erst sehen.“ Ich sprang aus dem Bett und fiel erstmal auf die Nase. „Nichts passiert“, erklärte ich und arbeitete mich wieder auf die Beine. Ich musste mich konzentrieren und meine neue Körpermitte ausbalancieren, bevor ich einen vorsichtigen Schritt wagte. Ich hatte doch tatsächlich vergessen, wie man auf zwei Beinen lief.

„Tarajika …“

„Moment.“ Ein Schritt und noch ein Schritt. Na bitte, war doch gar nicht so schwer. Als ich die Tür zum Bad erreichte, brauchte ich mich nicht mal mehr an der Wand abstützen. Barfuß und nackt trat ich auf die kalten Fliesen des Badezimmers und eilte dann zum Spiegel über de Waschbecken – naja, was man im Moment halt noch unter eilen verstehen konnte. Dann starrte ich mich einfach nur an.

Ich war nicht sehr groß. Raphael würde ich wahrscheinlich gerade mal bis zur Schulter reichen, aber ich war deutlich gewachsen, seit ich das letzte Mal ein Mensch gewesen war. Besonders meine Brüste. Früher hatte ich keine gehabt. Das fand ich so aufregend, dass ich noch mal ins Zimmer lief und sie ihm zeigte. „Guck dir mal meine Brüste an, die sind echt groß!“ Und so weich.

„Würdest du dir jetzt bitte etwas überziehen?“ Auch er stand auf.

„Nein, noch nicht.“ Noch hatte ich nicht alles gesehen, also verschwand ich wieder im Bad und stellte mich erneut vor den Spiegel. Ich war mager. Man konnte meine Rippen sehen und auch mein Gesicht wirkte eingefallen. Meine Hüftknochen stachen ziemlich scharf hervor und meine Schultern wirkten einfach nur knochig, aber ich war ein Mensch!

Fasziniert fuhr ich meine Konturen auf dem Spiegel nach. Ich hatte eine Stupsnase, einen kleinen Mund und Augen von einem sehr dunklen Braun. Meine Haut war so dunkel wie schwarzer Kaffee und meine Haare waren kurz und krausig, dunkelbraun mit schwarzen Rosetten darin.

Während ich noch jede Einzelheit von mir zu erfassen versuchte, hörte ich Raphael nebenan in seiner Tasche kramen und dann entdeckte ich es. „Ys-oog!“, rief ich erschrocken. „Da ist noch Fell!“ Verwandelte ich mich wieder zurück? Aber das Fell sah komisch aus.

Von meinem Ruf alarmiert, stürmte Raphael ins Bad, blieb aber wie angewurzelt stehen, als ich mich zu ihm herumdrehte und mit beiden Händen in meinen Schritt zeigte. „Warum ist da Fell, da gehört keines hin, früher war da nichts! Und auch hier.“ Ich hob die Arme und zeigte ihm meine Achseln. „Da ist auch Fell.“

„Also, entweder ist Gott sehr grausam, oder sehr gnädig“, murmelte er und schloss einen Moment die Augen. In seiner Hand hielt er eines seiner Shirts.

„Hörst du mir eigentlich zu?“, fragte ich vorwurfsvoll. Ich wollte mich nicht wieder verwandeln.

Als er seine Augen daraufhin wieder öffnete, war auf seiner Stirn eine kleine Falte. Doch er schien mich nicht zu sehen, es war eher so, als schaute er durch mich hindurch, weil er mit einem Gedanken beschäftigt war. „Das ist kein Fell“, sagte er langsam.

„Natürlich ist das Fell. Was soll es denn sonst sein?“

Das Runzeln vertiefte sich. Dann glitten seine Augen auf meine Brust und er wandte eilig den Blick ab. „Anziehen“, befahl er und hielt mir das Shirt vor die Nase.

Etwas unsicher schaute ich das Kleidungsstück an. War das nicht wein wenig groß für mich? Und was war mit dem Fell?

Als ich das Hemd nicht nahm und er meine Ratlosigkeit bemerkte, seufzte er gequält. „Mir bleibt aber auch wirklich gar nichts erspart.“ Kurzerhand trat er näher und zog mir das Shirt selber über den Kopf. Es war so groß, dass es mir bis zu den Knien reichte. „Arme rein“, befahl er und hielt mir die Ärmel offen.

Ich gehorchte. „Aber was ist mit dem Fell?“

„Das ist kein Fell, dass ist Intimbehaarung“, murmelte er und wich dabei meinem Blick aus. „Das bekommen alle Frauen, wenn sie in die Pubertät kommen.“

„Aber früher war das nicht da.“ Daran würde ich mich doch erinnern.

„Das bekommt man, wenn man erwachsen wird und …“ Er stockte und musterte mich auf einmal mit anderen Augen. Dann fragte er sehr langsam und wachsam: „Tarajika, wie alt bist du?“

„Achtzeh.“

Damit hatte er nicht gerechnet. Auf einmal wirkte er einfach nur geschockt. „Achtzehn?“, fragte er nach, als sei er sich nicht sicher, ob er mich richtig verstanden hatte.

Ich nickte.

„Du bist erst achtzehn? Dann wurdest du mit zehn Jahren …“ Er verstummte.

„Ja, ich war zehn, als die Fängerin mich erwischte und an Jegor verkaufte.“

„Oh Gott, du bist noch ein Kind.“

Wirklich? Ich hatte geglaubt, mit achtzehn sei man Erwachsen. „Das heißt, das Fell ist nicht schlimm?“

„Nein“, sagte er geistesabwesend und musterte mich noch einmal von Neuem. „Achtzehn“, murmelte er und rieb sich dann mit beiden Händen übers Gesicht. „Das erklärt so einiges.“

„Was denn?“

Er öffnete den Mund, schüttelte dann aber den Kopf, ohne ein Wort zu sagen. Dabei schaute er mich an, als könnte er es noch immer nicht fassen. „Was mache ich jetzt nur mit dir?“

„Was meinst du?“

Darauf antwortete er nicht. Stattdessen schüttelte er nur noch mal den Kopf und verließ dann das Bad, um sich auf den Bettkante zu setzen und den Kopf in die Hand zu stützen.

Was war denn nun los? Ich folgte ihm nur zögernd und blieb an der Tür zum Bad stehen. Irgendwie wirkte er plötzlich verloren. „Hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich leise.

„Nein“, sagte er mit einem tiefen ATemzug und ließ die Hand auf sein Knie fallen. „Aber …“ Er drückte die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus. „Tarajika, du kannst nicht bei mir bleiben.“

Was? „Aber ich bin doch jetzt ein Mensch.“

„Das hat damit gar nichts zu tun.“ Er erhob sich wieder, als könnte er nicht still sitzen. „Ich bin nicht für dich verantwortlich und das will ich auch gar nicht. Ich will den ganzen Scheiß hinter mir lassen, aber ich kann dich auch nicht einfach irgendwo auf der Straße aussetzen. Warum nur … warum bist du nicht einfach bei … ihr geblieben?“

„Ich mag Cayenne nicht, nicht wirklich.“

Als er den Namen hörte, spannte sich sein ganzer Körper an. Seine Hände ballten sich zu Fäuste und er wich meinem Blick aus. „Ich bin nicht für dich verantwortlich“, wiederholte er, als hätte ich es beim ersten Mal nicht gehört.

„Ist mir egal.“ Denn ich war für ihn verantwortlich.

Er beachtete mich gar nicht. Seine Gedanken schienen auf Hochtouren zu laufen. „Okay“, sagte er dann und zog sein Handy aus der Hosentasche. „Ich rufe Murphy an und sage ihm, er soll dich abholen. Er wird dich sicher irgendwo unterbringen, damit du …“

„Ich bleibe bei dir“, sagte ich stur und streckte das Kinn herausfordernd vor.

Er sah es nicht mal. „Nein, du wirst nicht bei mir bleiben.“ Er tippte auf seinem Handy herum, doch bevor er irgendjemanden anrufen konnte, war ich bei ihm und riss es ihm aus der Hand. „Hey!“

„Ich gehe mit niemand anderem mit“, erklärte ich mit fester Stimme.

„Doch, dass wirst du, wenn du nicht auf der Straße landen möchtest.“ Da wollte er nicht mit sich reden lassen.

„Aber ich mag dich. Du tust mir nichts.“ Das wusste ich. Er hatte es mir unter seinem Joch gesagt. „Bei dir bin ich sicher.“ Und bei mir war er sicher.

„Aber … Gott!“ Seine Hände öffneten und schlossen sich wieder. Dann schaute er mich plötzlich ganz komisch an. Der Blick gefiel mir nicht. „Okay“, sagte er dann. „Du bleibst bei mir. Bis morgen. Heute ist es sowieso schon zu spät, noch etwas …“

„Ja!“, rief ich und fiel ihm um den Hals. Das war nicht ganz einfach, weil er größer war als ich. „Du wirst sehen, alles wird gut.“ Ich drückte ihn ganz fest an mich.

„Ähm … du hast schon verstanden, dass ich gesagt habe, du …“

„Pssst“, machte ich und drückte ihm einen Finger auf den Mund, der ihn verstummen ließ. Dann schaute ich ihm ganz fest in die Augen und sagte: „Klopf Klopf.“ Das war ein Spiel, dass mir Nikolaj beigebracht hatte, als ich damals zu ihm kam. Er war Jegors Sohn gewesen.

Raphael runzelte nur die Stirn.

„Kopf Klopf“, wiederholte ich und wartete.

Er nahm mich am Arm und zog meine Hand aus seinem Gesicht. „Wer ist da?“

„Ein Mensch.“

„Ein Mensch?“

„Ein Mensch auf zwei Beinen.“ Ich kicherte, machte mich von ihm los und sprang aufs Bett. „Ich bin ein Mensch“, lachte ich und begann auf der Matratze auf und ab zu hüpfen. Dann ließ ich mich auf alle Viere fallen und grinste ihn an.

Raphael schaute mich äußerst seltsam an, kam dann zum Bett und riss mir hastig das Shirt über den Hintern. Es war beim Hüpfen hochgerutscht. „Bitte“, sagte er sehr nachdrücklich. „Sorge dafür, dass du bedeckt bleibst.“

„Warum?“

„Aus dem Grund, dass du das erst fragen musste.“ Seufzend setzte er sich neben mich auf die Matratze und stützte sein Gesicht in seine Hände.

War er wieder traurig? Ich krabbelte an ihn heran, kniete mich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ist es schlimm, dass ich das frage?“

Zuerst sagte er nichts. Dann ließ er die Hände sinken und wandte mir das Gesicht zu. „Nein, es ist nicht schlimm. Aber du solltest dir merken, dass Frauen nicht nackt vor Männern herumlaufen.“

„Warum?“

Er gab ein halb belustigtes und halb gequältes Geräusch von sich und ließ sich dann rücklings aufs Bett fallen.

Als er nicht antwortete, hielt ich sein Handy über sein Gesicht. „Möchtest du das wiederhaben?“

Wortlos nahm er es mir ab und legte es sich auf den Bauch.

„Bist du müde?“

Sein Kopf bewegte sich. Erst nach links, dann nach rechts.

„Ich auch nicht. Aber ich hab Hunger. Weißt du, was ich jetzt gerne essen würde?“

„Nein, das weiß ich nicht.“

„Gnocchis.“ Ich grinste.

Raphael gab ein schnaubendes Lachen von sich. „Du bist schon so ein Gnocchi.“

„Ich bin ein Gnocchi?“ Das musste ich mir erstmal durch den Kopf gehen lassen. Dann begann ich wieder zu lächeln und ließ mich neben ihn auf den Rücken fallen. „Ich bin ein Gnocchi.“

Irgendwas daran ließ ihn lächeln. „Ja, du Gnocchi.“

Ich mochte wie das klang.

Als das Handy auf seinem Bauch klingelte, griff er danach und hielt es sich ohne aufs Display zu schauen ans Ohr. „Ja?“

Ich hörte eine männliche Stimme und egal was sie sagte, sie ließ das Lächeln auf seinen Lippen verschwinden.

„Ich habe dafür jetzt keine Zeit“, sagte er mit einem harten Unterton in der Stimme und legte wieder auf. Doch das Handy begann fast sofort von neuem zu klingeln.

Ergeben schloss er die Augen und hielt es sich noch mal ans Ohr. „Tyrone, ich will nicht …“ Er verstummte, während der Anrufer ohne Punkt und Komma auf ihn einredete. Dabei wirkte er von Sekunde zu Sekunde elender.

Ich richtete mich auf und legte ihm eine Hand auf die Brust. Als er daraufhin die Augen aufschlug, sah er nicht glücklich aus. Es war der gleiche Blick, den er hatte, als er letzte Nach fluchtartig das Hotel verlassen hatte. Dieser gehetzte Blick mit all dem Schmerz, der seine Seele in Stücke riss.

Egal was sein Bruder zu ihm sagte, es verletzte ihn und das gefiel mir nicht.

Er wirkte hilflos. Doch dann veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. „Wenn sie der Meinung ist sich selber verletzen zu müssen, bitte, es geht mich nichts mehr an.“ Und damit legte er erneut auf. Er wollte wohl versuchen kalt zu sein, doch ich sah wie weh es ihm tat, sich abzuwenden. Wahrscheinlich ging es um Cayenne.

Ich war mir nicht sicher, wie ich ihn trösten sollte. Und dann wandte er auch noch das Gesicht ab. Er zog sich vor mir zurück. „Ich bin auch manchmal traurig“, sagte ich zu ihm, doch bevor er darauf etwas erwidern konnte, klingelte das Handy schon wieder.

Wütend fuhr er auf und hielt es sich noch mal an Ohr. „Seit wann …“, begann er, brach aber sofort wieder ab, als ihn eine zornige Frauenstimme ins Ohr keifte, die sogar ich verstehen konnte.

Wag es ja nicht wieder einfach so aufzulegen! Mir ist egal wo du bist, und was du für einen Film schiebst, aber wenn du deinen schäbigen Hintern nicht wieder hier her bringst, dann …“

Ohne sich ihre Drohungen zu Ende anzuhören, legte er einfach auf und strich sich dann mit der Hand über die Glatze.

Als es dann noch ein viertes Mal klingelte, seufzte er einfach resigniert und begann vor sich ins Leere zu starren.

Das gefiel mich nicht. Eben noch hatte er gelächelt und gelacht und jetzt hatte er wieder diesen Ausdruck in seinem Gesicht, der von einer Zukunft sprach, die ich nicht erlauben durfte. Und das nur, weil sein Handy einfach nicht aufhörte zu klingeln. Das machte mich sauer. Verstand sein Bruder denn nicht, was er ihm damit antat? Vielleicht sollte ihm das mal jemand sagen?

Mein Blick fiel auf das kleine Gerät in seiner Hand. Vielleicht sollte ich es ihm ja mal sagen. „Wie funktioniert ein Handy?“

„Was?“

Als das Telefon aufhörte um Aufmerksamkeit zu betteln, nahm ich es ihm aus der Hand und hielt es ihm vor die Nase. „Auf welchen Knopf muss ich drücken, um mit jemanden sprechen zu können?“ Ich hatte zwar schon oft gesehen, wie die Leute Handys benutzten, aber ich hatte es noch nie selber getan.

Da er mich nur verständnislos anschaute, hielt ich es ihm ein wenig nachdrücklicher vor die Nase. „Wie spricht man mit jemanden?“

„Du meinst, wenn man angerufen wird?“

Ich nickte.

„Wenn das Hand klingelt, musst du auf den grünen Knopf drücken.“ Er zeigte ihn mir. „Dann …“

Es begann von neuem zu klingeln.

Okay, grüner Knopf. Ich drückte darauf und hielt es mir ans Ohr.

„Ich schwöre dir, wenn du wieder einfach auflegst, dann werde ich dich holen und deinen verdammten Hintern zurück zum Hotel treten!“, keifte mir eine leicht cholerische Frauenstimme ins Ohr.

Nett. „Du weißt ja gar nicht wer ich bin.“

Was folgte war ein Moment des Schweigens. „Wer ist da?“

Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Als ich bei Jegor in diesem Käfig saß, hatte ich viel von dem gehört, was unter seinem Dach vorgegangen war. Genau wie ich war auch Raphaels Schwester Vivien eine Sklavin in seinem Haus gewesen und sie hatte ein Kind gehabt.

Einmal als Jegor nicht Zuhause gewesen war, hatte sie mit ihrem Sohn in der Küche gesessen und ihm aus seinem Märchenbuch vorgelesen. Auch ich hatte zugehört und musste mich jetzt an die Geschichte erinnern. „Drei Tage sollst du haben. Wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.“

„Was?“

Neben mir sah ich, wie Raphael aufschaute und ich könnte schwören, dass sein Mundwinkel ganz leicht nach oben zuckte.

„Ich sagte: Drei Tage sollst du haben. Wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.“

Am anderen Ende wurde geknurrt. „Gib mir Ryder.“

Ah, jetzt wusste ich, wer da anrief. Das war die Lebenspartnerin von Raphaels Bruder, sie hieß Lucy. „Ich kenne keinen Ryder.“

„Hör zu du Truller, ich habe keine Zeit für diesen Blödsinn. Gib mir sofort diesen verdammten Vampir an den Apparat!“

„Aber du hast doch noch gar nicht meinen Namen erraten. Und nur damit du es weißt, es lautet nicht Rumpelstilzchen.“

Dieses Mal klang ihr Knurren richtig bedrohlich. „Ich schwöre dir, wenn du das Handy nicht sofort an diesen selbstverliebten Idioten weitergibst, dann …“

„Was?“, unterbrach ich sie. „Du weißt nicht wer ich bin, du weißt nicht wo ich bin und du weißt auch nicht wo er ist. Du weißt nur, dass du gar nichts weißt und ich mag es nicht, wenn man mir droht. Außerdem sind wir gerade beschäftigt und deswegen würde ich mich freuen, wenn du aufhören könntest, uns zu stören.“

„Es ist mir ziemlich egal, was du kleines Flittchen möchtest, gib mit das Arschloch, ich muss mit ihm sprechen!“

Ich runzelte die Stirn. „Arschlöcher können aber nicht sprechen, die können nur Pupsen.“

Raphael gab ein halb ersticktes Lachen von sich.

Durchs Handy drang ein sehr wütendes Geräusch an mein Ohr. Dann hörte ich nur noch ein Tuten. „Hallo?“

Niemand antwortete.

Ich ließ das Handy sinken. „Irgendwas stimmt nicht, ich höre ihre Stimme nicht mehr.“

Raphael schüttelte belustigt den Kopf. „Gnocchi, du bist die Beste.“

Ach wirklich? Ich schüttelte das Handy und hielt es mir dann wieder ans Ohr, doch ich hörte weiterhin nur das Tuten. „Ich glaube es ist kaputt“, sagte ich und schlug es einmal auf die Kante vom Nachttisch. Ich hatte mal gesehen, wie Vivien auf ein Radio gehauen hatte, weil es nicht richtig funktionierte, vielleicht klappte das ja auch bei dem Handy. Doch als ich es mir wieder ans Ohr hielt, hörte ich gar nichts mehr. Ich drückte noch mal auf die grüne Taste, aber es blieb still. „Ja, es ist kaputt“, sagte ich und hielt es Raphael wieder hin.

Er schaute mich an, schaute dann sein Handy an und ließ sich dann wieder auf den Rücken fallen, um sein Gesicht hinter seinen Händen zu verbergen.

„Was hast du?“, fragte ich ehrlich neugierig und beugte mich über sein Gesicht.

„Es war nicht kaputt“, murmelte er hinter seinen Händen, bevor er sie zur Seite fallen ließ. „Sie hatte das Telefonat beendet.“

„Ach so?“ Das war doch gut.

„Ja“, grummelte er. „Aber da du es auf die Kante gehauen hast, ist es jetzt kaputt.“

Oh wirklich? „Naja, du wolltest ja sowieso nicht mehr von ihr angerufen werden.“

„Ja, aber man kann ein Handy auch einfach ausschalten“, merkte er an.

„Wirklich?“

Seine Antwort bestand aus ein paar gemurmelten Worten, die ich nicht verstand.

 

°°°

 

Ein dumpfes Pochen an der Zimmertür, riss mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Ich brauchte einen Moment, um mir klar darüber zu werden, wo ich mich befand und warum ich beim Blinzeln eine Hand und keine Pfote sah. Ach ja, ich hatte mich verwandelt.

Unter mir regte sich ein warmer, fester Körper.

Noch trunken vom Schlaf, wurde mir bewusst, dass ich auf Raphaels Rücken lag. Die Decke hing halb vom Bett und durch das Fenster schien das Licht des Tages. Aber ich wollte noch nicht aufstehen. Also kuschelte ich mich etwas enger an meine Wärmequelle und begann leise zu schnurren. Hier fühlte ich mich wohl.

Als es erneut an der Tür klopfte, gab Raphael ein genervtes Seufzen von sich. „Du müsstest mal von mir runter gehen“, nuschelte er in sein Kissen.

Ich schnurrte nur lauter. Ich war nicht gewillt, mich auch nur einen Mikromillimeter von meinem Platz wegzubewegen.

„Gnocchi.“

Der Name ließ mich lächeln. Ich fand ihn lustig, aber aufstehen würde ich deswegen noch lange nicht. Also begann ich mit den Fingern über seinen Arm zu streicheln. Lalamika hatte das früher immer bei mir gemacht und vielleicht würde er so noch mal einschlafen. Dann konnte ich hier einfach liegen bleiben.

Raphael bekam eine Gänsehaut. Dann rollte er sich einfach herum und warf mich damit ganz automatisch von seinem Rücken auf die Matratze.

„Hey“, schimpfte ich und blinzelte ihn verschlafen an, als er sich aufrichtete.

An der Wange hatte er vom Schlaf ein paar Knitterfalten. Irgendwie gefiel mir dieser Anblick.

Sein verschlafener Blick richtete sich auf mich und einen Moment sah er einfach nur zufrieden aus. Doch dann wurde sein Blick ein wenig klarer und ein Seufzen fiel über seine Lippen. Er streckte die Hand nach mir aus und zupfte an meinem Shirt, bis es mir praktisch bis an die Füße reichte.

Ich gähnte nur, schloss die Augen und drehte mich auf die andere Seite. Wir hatten gestern Abend noch so lange fern geguckt, dass ich jetzt einfach nur noch schlafen wollte.

Es klopfte ein drittes Mal an die Tür, wodurch Raphael sich wohl genötigt sah, sich zu erheben und noch halb schlafend in seinen Boxershorts durch den Raum zu schlürfen.

Als er die Tür öffnete, öffnete auch ich meine Augen einen kleinen Spalt.

„Spatz“, rief eine etwas ältere Frau, fiel Raphael um den Hals und drückte ihn an sich.

Neugierig hoben meine Lider sich ein wenig mehr. Die Frau war schlank und fast so groß wie Raphael. Ihr schwarzes Haar hatte sie sich zu einem langen Pferdeschwan an den Kopf gebunden und ihre Augen waren von der gleichen Farbe wie die seinen.

Nach nach paar Sekunden hielt sie ihn eine Armlänge von sich entfernt und musterte ihn kritisch. In ihrer Hand hielt sie eine gefüllte Papiertüte, die dabei knisterte.

Ich hob die Nase ein wenig. Da war Essen drin.

„Du bist schmal geworden. isst du nicht richtig?“ Beinahe schon vorwurfsvoll schüttelte sie den Kopf. „Du solltest besser auf dich achtgeben.“

„Ja, Mama.“

Schmal? Ich fand ihn eher sportlich und muskulös.

„Und deine Haare, wo sind die?“

Ganz automatisch griff er sich an seinen Kopf, als müsste er nachschauen, was genau sie meinte. „Nebenan im Mülleimer.“

Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Will ich wissen, was hier los ist, oder …“ Als sie mich entdeckte, verstummte sie abrupt.

Raphael ließ seufzend seinem Kopf zur Seite fallen. „Das ist nicht das wonach es aussieht“, verteidigte er sich sofort. „Sie läuft mir hinterher und ich werde sie einfach nicht los.“

Seine Mutter hob eine geschwungene Augenbraue hoch. Die Skepsis stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Wirklich. Sie ist einfach in meinen Wagen gesprungen und hat sich dann geweigert wieder auszusteigen. Und dann hat sie auch noch mein Essen geklaut. Wenn du mir nicht glaubst, frag sie selber.“

Als die beiden sich zum mir umdrehten und die Frau damit begann mich sehr kritisch zu mustern, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Papiertüte. Ich wollte das Essen haben.

„Sie ist ein Ailuranthrop“, sagte sie dann überrascht.

„Ist mir aufgefallen“, bemerkte Raphael trocken.

Dafür bekam er einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf. „Nicht in diesem Ton“, mahnte sie und schloss die Zimmertür. Die Tüte mit dem Essen legte sie auf den Schreibtisch und begann dann damit verschiedene Backwaren herauszuholen. „Wer hat Hunger?“

„Ich!“ Ich war so schnell auf den Beinen, dass ich fast kopfüber aus dem Bett purzelte. Es waren meine schnellen Reflexe, die dafür sorgte, dass ich auf den Beinen und nicht auf dem Gesicht landete. In der nächsten Sekunde war ich auch schon beim Schreibtisch und schnappte mir etwas, dass wie ein gebackener Knoten aussah. Nachdem ich kurz daran gerochen hatte, stellte ich fest, dass da Schokolade drin sein musste und biss herzhaft hinein. „Hm“, machte ich.

Raphael schüttelte nur den Kopf. „Ich geh mal schnell duschen“, erklärte er und holte sich ein paar Sachen aus seiner Tasche, mit denen er gleich darauf im Bad verschwand.

Ich schob mir währenddessen den Rest in meinen Mund und griff noch kauend nach einem weiten Knoten.

Seine Mutter beobachtete mich einen Moment. Dann sank sie wortlos auf den Schreibtischstuhl und zog ihre Handtasche auf den Stuhl. „Hallo, ich bin Marica.“

Ich stockte mitten beim Kauen. Dann schluckte ich herunter. „Raphaels Mutter, ich weiß.“

Neben ihr auf dem Boden erschien Lalamika und schnupperte neugierig an ihrem Bein.

Marica lächelte. „Und du bist?“

Ich musterte sie misstrauisch, weil ich nicht wusste, was ich von ihr halten sollte. Und wie sie mich ansah. Einen Moment überlegte ich, ob ich zu Raphael ins Bad gehen sollte, aber ich hatte gehört, wie er die Tür verschlossen hatte. Da würde ich nicht durchkommen.

„Keine Sorge, er ist gleich wieder da.“

„Ich weiß.“ Ich nahm mir noch zwei von den Knoten und setzte mich damit dann neben dem Tisch auf den Boden.

„Und wie heißt du nun?“

„Tarajika.“ Mit einem Bissen, verschlang ich die Hälfte von meinem zweiten Knoten.

„Die Croissants schmecken dir wohl.“

Croissant, so hießen diese Knoten also. Gut zu wissen, das musste ich mir merken.

„Du scheinst ziemlich hungrig zu sein.“

„Man muss essen, wenn man die Gelegenheit hat.“

„Du hast in der letzten Zeit wohl nicht fiel zu Essen bekommen, hm?“

Ich schüttelte den Kopf. „Das war Jegors Strafe, weil ich nicht gemacht habe, was er wollte.“

Bei dem Namen versteifte sie sich ein wenig. „Jegor?“, fragte sie vorsichtig und wurde etwas aufmerksamer. „Markis Jegor Komarow?“

Nickend schluckte ich meinen Bissen herunter.

Ein Hauch von Mitgefühl erschien in ihrem Gesicht. „Du warst auch seine Sklavin?“, fragte sie vorsichtig. „So wie Vivien?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Keine von uns war wie Vivien. Jegor hatte sie gerne. Mich nicht, mich hat er zu seiner Belustigung in einen Käfig gesperrt.“ Das dritte Croissant landete in meinem Magen.

Ein paar Minuten schaute sie mir schweigend beim Essen zu. Dann fragte sie: „Wie lange warst du bei ihm?“

„Acht Jahre.“ Ich richtete mich auf meinen Knien auf um mir noch ein Croissant vom Tisch zu nehmen. Die waren echt lecker. „Ich war zehn, als mich eine Frau in Abuja mit etwas zu Essen in ihren Wagen lockte. Ich hatte seit Tagen nichts gegessen und fürchterlichen Hunger. Dann hat sie mir irgendwas gespritzt, hier hin.“ Ich zeigte auf eine Stelle an meinem Hals. „Ich bin eingeschlafen und als ich wieder aufwachte, befand ich mich mit dreißig Vampiren und Lykanern in einem Container. Sie sagten mir, wir befänden uns auf einem Schiff und würden nach Europa gebracht. Ich hatte fürchterliche Angst.“

Der Ausdruck in ihrem Gesicht war geradezu schockiert. Lalamika dagegen schaute nur etwas verwirrt.

Warum erzählst du ihr das?

Das war eine gute Frage und wenn ich ehrlich war, hatte ich keine Antwort darauf. Vielleicht weil sie Raphael so ähnlich war?

Oh nein, sagte Lalamika und erhob sich auf ihre Pfoten. Das muss mit der Hypnose zusammenhängen. Raphael hat dir gesagt, dass du vor nichts mehr Angst haben musst und nun glaubst du das.

War das schlimm?

Ich weiß nicht.

„Und so bist du zu Jegor gekommen?“, fragte Marica, ohne zu ahnen, dass Lalamika an ihren Füßen stand.

Ich schüttelte den Kopf, zögerte aber dieses Mal mit der Antwort. Hatte Mika Recht? „Die Fängerin hat mich an einen Sklavenhändler verkauft, bei dem ich mehrere Wochen im Keller gesessen habe. Der Mann war … böse. Er hat mir wehgetan. Deswegen habe ich mich in einen Panther verwandelt. Erst danach tauchte Jegor auf und kaufte mich.“

„Das ist ja schrecklich.“

Ich verputze den Rest von meinem Croissant. „Am Anfang hat er mich oben in ein Zimmer gesperrt. Nachdem ich ihn einmal gekratzt hatte, wurde ich an die Wand gekettet. Hier.“ Ich zeigte auf meinen rechten Fuß. Direkt über dem Knöchel waren noch die alten Narben von der Fußschelle. „Als er gemerkt hat, dass ich mich nicht verwandeln würde, hat er mich in einen Käfig gesperrt. Ich war schon zwei Jahre bei ihm gewesen, als Vivien kam. Aber dann kamen die Leute der Königin und befreiten mich aus meinen Käfig.“

War sie vorher schon schockiert gewesen, so wirkte sie jetzt einfach nur fassungslos. „Und warum bist du bei Raphael? Möchtest du nicht nach Hause?“

„Ich habe kein Zuhause, ich war ein Straßenkind.“

Der Blick, denn ich daraufhin bekam … es sah aus, als wenn gerade ihr Herz brach. „Hast du keine Familie, die dich vermisst?“

Das mit Sicherheit nicht. „Nein. Aber ich hab Ys-ogg. Ich mag ihn.“

„Ys-oog?“

Ich zeigte auf die Badezimmertür. „Ys-ogg.“

Als hätte er seinen Namen gehört, öffnete sich in dem Moment die Tür zum Bad. „Ich pack nur noch schnell meine Sachen zusammen, dann können wir gehen.“

Marica schien ihren Sohn gar nicht zu hören. Ihre Stirn schlug Falten. „Und was wirst du jetzt tun?“

„Ich bleib bei Ys-oog.“

Dazu schien ihr erstmal nichts mehr einzufallen. Nachdenklich schaute sie von mir zu ihrem Sohn, der gerade seine letzten Sachen in seine Tasche stopfte und dann den Reißverschluss zuzog. „Weißt du was das arme Mädchen in den letzten Jahren durchgemacht hat?“

Er brauchte in paar Sekunden, bis er kapierte, dass seine Mutter ihn gemeint hatte. „Ähm“, machte er. „In groben Zügen.“

„Und was hast du jetzt vor?“

Während er mir einen schnellen Blick zuwarf, nahm ich mir das vorletzte Croissant.

„Sie bleibt hier. Ich werde einen Freund benachrichtigen, der sie abholt und sich um sie kümmert.“

„Nein“, sagte ich und schüttelte bereits den Kopf, bevor er fertig war. „Ich bleibe bei dir.“

Er seufzte genervt. „Ich habe dir bereits gesagt, dass das nicht geht. Ich werde …“

„Aber warum denn nicht?“, unterbrach seine Mutter ihn und drehte sich auf dem Stuhl herum. „Sie hat niemanden mehr.“

Für mehrere Sekunden schaute er sie nur wortlos an. Dann sagte er ziemlich kalt: „Das ist nicht mein Problem und wage es ja nicht, es zu deinem zu machen. Gnocchi ist erwachsen, sie muss nicht von dir bemuttert werden.“

Langsam verschränkte Marica die Arme vor der Brust. „Versuchst du mir gerade Vorschriften zu machen? Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich deine Mutter bin.“

„Nein, ich versuche dir keine Vorschriften zu machen“, erklärte er geduldig. „Ich versuche dich vor einem Fehler zu bewahren. Ich weiß ganz genau, was in deinem Kopf vor sich geht, es steht dir ins Gesicht geschrieben. Du hast etwas gehört und jetzt hast du Mitleid mit ihr, aber du kannst sie nicht einfach mitnehmen.“

„Und warum nicht? Mein Haus ist groß genug, ich habe die Zeit und es gibt sonst niemanden, zu dem sie gehen kann. Raphael.“ Sie ließ die Arme wieder sinken und sah ihn eindringlich an. „Sie ist ein Opfer von diesem Widerling, der uns auch Vivien weggenommen hat. Du kannst sie doch nicht einfach so abschieben.“

„Ich schiebe sie doch gar nicht ab“, rechtfertigte er sich sofort. „Ich sorge doch dafür, dass sie gut untergebracht wird. Nur eben nicht bei dir.“

Sie musterte ihren Sohn und wandte sich dann an mich. „Möchtest du uns begleiten?“

„Nein“, schritt Raphael ein, bevor ich dazu etwas sagen konnte. „Das möchte sie nicht, also hör jetzt bitte damit auf.“

„Doch, möchte ich“, widersprach ich ihm, zupfte ein Stück von dem Croissant ab und steckte es mir in den Mund.

Er warf mir einen Blick zu, der mich davor warnte, den Mund noch einmal aufzumachen. „Mama, sie ist wie ein kleines Kind, sie brauch die Betreuung von Speziallisten, damit sie irgendwann ein eigenständiges Leben führen kann.“

„Ach und du glaubst, dass ich ihr nicht helfen kann?“

„Nein, nicht so wie sie es braucht. Sie hat sich gestern zum ersten Mal seit acht Jahren verwandelt und auch nur, weil ich sie unter mein Joch genommen habe. Das Shirt das sie trägt, musste ich ihr anziehen, weil sie nicht wusste wie das geht.“

„Das ist nicht wahr“, unterbrach ich ihn. „Ich hab mich nur gewundert, weil es so groß ist.“

Er ignorierte mich einfach. „Sie hat sich in den letzten sechsunddreißig Stunden dermaßen stark auf mich fixiert, dass ich nicht mal das Zimmer verlassen kann, weil sie Angst hat, dass ich nicht zurück komme. Ja, es klingt vielleicht grausam, aber aufgrund dessen was sie erlebt hat, ist sie nicht ganz zurechnungsfähig und du bist Buchhalterin. Du hast weder die Ausbildung, noch die Erfahrung, um dich um so ein Mädchen zu kümmern. Sie kommt nicht mit.“

„Doch, das werde ich.“

„Nein, du bleibst hier und wartest auf Murphy.“

„Nein.“

„Spatz“, schaltete sich seine Mutter wieder ein. „Ich verstehe deine Sorge, aber …“

„Nichts aber. Sie ist wie ein kleines Kind, dem man alles erst beibringen …“

„Raphael Jeremiel Steele, du wirst jetzt den Mund halten und mir zuhören.“ Sie wartete einen Augenblick, bis er auch wirklich den Mund geschlossen hatte. „Ich verstehe deine Sorge, aber ich habe bereits ein Kind groß bekommen und es auch geschafft, es zur Selbständigkeit zu erziehen. Du magst recht haben mit dem was du sagst, aber eine häusliche Unterbringung ist noch immer besser, als in einem Krankenhaus oder eine ähnliche Einrichtung und genau da wird sie landen, wenn du sie an eine offizielle Stelle abgibst. Was glaubst du, wie es Vivien gegangen wäre, wenn sie nach all den Grausamkeiten nicht nach Hause gekonnt hätte?“

„Sie ist aber nicht Vivien, sie gehört nicht zur Familie und darum ist sie nicht unser Problem.“

Irgendwas an diesen Worten schien seine Mutter fürchterlich zu verärgern. „Habe ich dich so erzogen?“, fragte sie mit einem herausfordernden Ton in der Stimme. „Ist das Leben von anderen nichts wert, nur weil sie nicht zur Familie gehören?“

„Das habe ich nicht gemeint und das weißt du ganz genau.“

„Gut, dann haben wir das ja geregelt. Tarajika isst noch auf und dann können wir fahren.“

Raphael schien nicht glauben zu können was hier gerade geschah. „Hast du irgendwas von dem gehört, was ich in den letzten Minuten zu dir gesagt habe? Sie ist ein Ailuranthrop und noch dazu …“

„Hör jetzt auf protestieren, es ist entschieden“, fuhr sie ihm über den Mund. „Du kannst dich damit abfinden, oder leise vor dich hinschmollen, aber sie kommt mit und ich möchte von dir jetzt nichts mehr zu diesem Thema hören.“ Sie nahm das letzte Croissant und reichte es mir. „Hast du eigentlich Kleidung?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Aber Raphael hat in seiner Tasche sicher noch eine Hose, die die er dir geben kann.“

Während Raphael die Lippen zusammenpresste, als wollte er so verhindern seine Mutter anzufauchen, saß ich da und fragte mich, was hier eigentlich gerade passierte. Raphael wollte mich nicht mitnehmen, seine Mutter dagegen schon. War das gut?

Ich schaute zu Lalamika, doch die zuckte auch ratlos nur mit den Schultern.

„Mama …“

„Ich hoffe deine nächsten Worte drehten sich um eine Hose“, sagte sie mit einem warnenden Unterton in der Stimme und nahm die leere Tüte vom Tisch, um sie zusammenzuknüllen.

Egal was er hatte sagen wollen, es wäre bestimmt nicht um die Hose gegangen, aber nach diesen Worten warf er seine Tasche zurück auf das Bett und riss den Reißverschluss mit übertriebener Gewalt wieder auf. „Schön, bitte, von mir aus, wir machen es so wie du es möchtest.“ Er kramte in seiner Tasche und zog dann eine Jeans heraus, in die ich sich drei Mal reingepasst hätte. „In ein paar Tagen wirst du schon einsehen, dass ich recht habe und das hier ein Fehler ist.“

Sie schaute ihn ziemlich seltsam an. „Wir kennen uns, oder?“

Dazu sagte er nichts mehr. Er warf nur die Hose aufs Bett, setzte sich daneben und warf seiner Mutter einen bösen Blick zu. Er sah wirklich aus, als würde er schmollen.

Ich aß noch in Ruhe das letzte Croissant auf und widmete mich dann der Hose. Leider war sie so groß, dass sie mir immer wieder vom Hintern rutschte, aber nur solange, bis Raphael genervt den Haltegurt von seiner Tasche abnahm und ihn mir als Gürtel um die Hüfte band. Schuhe allerdings gab es keine für mich, aber das war nicht schlimm. Ich hatte in meine ganzen Leben noch nie Schuhe angehabt. In der Hütte hatte ich keine gebraucht und danach … auch nicht.

Als ich dann endlich so weit war und Raphael mich hinter seine Mutter aus dem Zimmer schob, wirkte er äußerst unzufrieden. „Ich bring nur noch schnell den Schlüssel weg“, teilte er uns mit.

„Wir gehen schon mal zum Wagen“, erklärte Marica und wollte mir die Hand auf den Rücken legen, doch ich entwand mich der Berührung und eilte an seine Seite. Ich würde ihn ganz sicher nicht aus den Augen lassen.

Raphael warf seiner Mutter einen vieldeutigen Blick zu und machte sich dann auf den Weg. Zehn Minuten später kletterte ich auf den Rücksitz von Maricas Wagen und schaute mich darin neugierig um. Es war ein älteres Auto. Vorne am Rückspiegel hingen kleine Schuhe und sobald Raphaels Mutter den Wagen startete, sprang auch das Autoradio an.

Raphael selber saß auf dem Beifahrersitz und schaute stur aus dem Seitenfenster.

„Ach jetzt hör auf beleidigt zu sein“, mahnte seine Mutter und fuhr vom Parkplatz. „Du kannst mir nicht sagen, dass das Mädchen dir völlig egal ist. So bist du nicht, das weiß ich.“

Er antwortete nicht.

„Er ist nicht beleidigt“, sagte ich und setze mich in die Mitte, damit ich vorne durch die Scheibe schauen konnte. „Er ist traurig.“

Diese drei Worte, hatten zwei überraschte Blicke zur Folge, aber nur Raphael wandte seinen eilig wieder ab.

„Hör auf Mist zu erzählen“, murmelte er und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.

Marica jedoch beobachtete mich durch den Rückspiegel. „Warum glaubst du, dass er traurig ist?“

„Ich glaube das nicht, ich weiß das.“

Sie beobachtete mich noch einen Moment, schaute dann aber zu ihrem Sohn. „Es ist wegen dieser Frau, oder?“, fragte sie sanft. „Die, die du mir nie vorstellen wolltest.“

Seine Lippen wurden eine Spur schmaler.

„Ach Spatz, das tut mir leid.“ Sie legte ihm eine Hand aufs Bein und drückte es mitfühlend. Dann lenkte sie den Wagen auf die Straße. „Wenn wir hinter der Grenze sind, will ich noch einkaufen gehen. Tarajika brauch ein wenig Kleidung.“

Das ließ ihn aufhorchen. „Du willst shoppen gehen? Mit ihr?“

„Ich kann sie ja wohl schlecht in deiner Kleidung lassen und sie ist zu klein, als dass ich ihr etwas von mir geben könnte.“

„Aber …“

„Fang jetzt gar nicht an mit mir zu diskutieren“, mahnte sie ihn. „Ich habe dich nicht um deine Erlaubnis gefragt, ich habe es dir meine Entscheidung nur mitgeteilt.“

Er gab ein entgeistertes Geräusch von sich und schien nicht glauben zu können, was sie da sagte.

„Und du könntest auch mal ein paar neue Schuhe gebrauchen.“

„Ich bin erwachsen und selbständig, ich kann mir meine Sachen alleine kaufen.“

„Aber das heißt noch lange nicht, dass du das musst.“ Als sie an einer Ampel hielt, warf sie ihm einen Blick zu. „Du hast mir gefehlt, Spatz.“

Diese Worte reichten, um ihn zu entwaffnen. Er seufzte ergeben und fügte sich in sein Schicksal. Aber dabei wirkte er nicht sehr glücklich. Darum rückte ich näher und berührte ihn zögernd an der Schulter.

„Bist du mir böse?“, fragte ich leise.

Einen Moment schien es, als wollte er nicht antworten, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Gnocchi, es ist alles in Ordnung.“

„So ist es richtig“, murmelte seine Mutter und konzentrierte sich dann auf die Straße.

Die nächsten zwei Stunden klebte ich praktisch am Fenster, um mit die vorbeiziehende Landschaft anzuschauen. An der Grenze ging es ein wenig langsamer und Marica musste einen der Beamten unter ihr Joch nehmen, da ich keinen Ausweis hatte, aber danach ging es ohne weitere Zwischenfälle zügig weiter.

Gegen Mittag fuhr Marica den Wagen auf einen großen Parkplatz, auf dem es vor Menschen nur so wimmelte. Er gehörte zu einem kleinen Einkaufscenter, an dem viele bunte Schilder hingen.

„Du bleibst bei mir“, befahl Raphael, als seine Mutter in eine Parklücke fuhr. „Ich habe keine Lust, dich da drin zu suchen. Hast du das verstanden?“

Ich nicke. „Keine Angst, ich lasse dich nicht alleine.“

„Als erstes sollten wir in ein Schuhgeschäft gehen“, meinte Marica, als sie den Motor abstellte. „Sonst muss sie die ganze Zeit Barfuß rumlaufen und fängt sich noch einen Pilz ein.“

„Als erstes?“ Raphael stöhnte. „In wie viele Geschäfte willst du denn?“

„Jetzt hab dich mal nicht so, so ein kleiner Einkaufsbummel wird dir schon nicht schaden.“

„Das behautest du“, murmelte er und stieg aus dem Wagen.

Fünf Minuten später befand ich mich in einer ganz anderen Welt. Wow, sowas hatte ich noch nie gesehen. Nicht nur die unzähligen Menschen, die hier ein und aus gingen, es gab hier so viele Geschäfte, dass man sie übereinander gestapelt hatte.

Mehr als einmal blieb ich stehen, um mir die Sachen in den Schaufenster anzuschauen. Vor einem Restaurant nahm Raphael mich sogar an die Hand, weil die leckeren Gerüche es mir schwer machten, weiterzugehen. Nur drei Geschäfte weiter betraten wir einen Laden, der bis unter die Decke mit Schuhen gefüllt waren. Es roch komisch.

Marica ließ ihren Blick durch die Regale wandern. „Ich denke, ein paar einfache Turnschuhe wären für sie am Besten geeignet.“

„Hm“, machte Raphael und zog mich zur Seite, als ich nach ein paar Stiefeln mit sehr hohen Absätzen greifen wollte. „Sowas bekommst du nicht.“

„Ich wollte sie mir ja nur anschauen“, sagte ich schmollend.

„Raphael, lass das Mädchen los.“

Hinter der Kasse stand ein junger Mann, der konzentriert einen Kunden abkassierte. Den Älteren Mann, der direkt neben ihm stand und mit ihm schimpfte, bemerkte er nicht. Genau wie die durchscheinende Frau, die im Schaufenster immer hin und her schwebte, als könnte sie sich nicht entscheiden, welche der Schuhe ihr am Besten gefielen. Niemand bemerkte sie. Die Menschen waren so blind für Geister.

Marica führte uns zu seinem seitlichen Regel, der bis obenhin mit Schuhen und Kartons gefüllt war. Sie sah sich die Auslagen einmal an, wandte sich dann aber an mich. „Welche Schuhe gefallen dir?“

„Ich darf mir welche aussuchen?“

Das ließ sie lächeln. „Natürlich, du musst sie ja schließlich tragen.“

Oh! Aber welche sollte ich nehmen? Ich hatte mir noch nie etwas aussuchen dürfen und einen Moment überforderte mich das ein wenig. Da waren pinkfarbene mit Streifen an den Seiten und welche mit orange und grün. Und die Roten. Und da, da waren welche mit Glitzer. Und …

„Hier“, Raphael hielt mir ein paar Schwarze vor die Nase. „Probier die.“

Enttäuscht schaute ich die Schuhe an. Sie waren wirklich nur schwarz. Die Bunten fand ich viel hübscher.

„Spatz, die möchte sie nicht.“ Marica nahm ihm das Paar wieder aus der Hand und stellte sie zurück in das Regel. „Lass sie selber etwas aussuchen.“

Als Raphael ein äußerst genervtes Geräusch von sich gab, war ich kurz versucht, doch die Schwarzen zu nehmen, aber dann schob Marica mich wieder vor die bunten Schuhe und die sahen nun mal viel hübscher aus.

Ein paar Minuten stand ich einfach nur vor dem Regal und schaute mir einen Schuh nach dem anderen an. Da waren welche, die waren voller Flecken und bunt wie ein Regenbogen. Aber die Lilaschuhe mit dem Glitzerstreifen gefielen mir auch.

Da ich mich nicht entscheiden konnte, nahm ich sie beide. Mann brauchte schließlich für jeden Fuß einen Schuh. „Hier“, sagte ich und drehte mich mit meiner Beute zu den beiden um. „Die möchte ich.“

„Ein Paar“, sagte Raphael sofort. „Nicht zwei.“

„Aber du hast doch auch zwei.“ Anklagend zeigte ich auf seine Füße.

„Ja, zwei Schuhe vom selben Paar, nicht von zwei verschiedenen.“

„Ach, das ist schon in Ordnung“, sagte Marica und schob ihren Sohn zur Seite. „Dann setz dich mal hin, wir müssen ja erstmal schauen, welche Größe du hast.“

Das machte sie mit so einem komischen Gerät, in das ich erstmal meinen Fuß stellen musste. Dann gab Raphael mir noch ein paar Wegwerfsocken, die ich anziehen sollte.

Es war ein komisches Gefühl, sich etwas über die Füße zu ziehen und als ich dann die bunten Schuhe anzog, mussten wir feststellen, dass ich keine Ahnung hatte, wie man Schleifen band, aber Marica versprach mir, dass das nicht schwer war und sie mir das schon beibringen würde. Trotzdem nahmen wir nur die Lilaschuhe mit dem Glitzer. Die anderen fühlten sich an meinen Füßen so schwer an und drückten unangenehm.

Als sie dann bezahlt waren und ich mit ihnen an den Füßen den Laden verließ, hüpfte ich immer wieder auf und ab. Nicht nur weil ich mich so freute, es war irgendwie lustig. Nicht mal von Raphaels Ermahnung ließ ich mich stören.

Der nächste Laden in den wir gingen, war voll mir Kleidung. Sie hatten hier so viel, dass sie manche Teile sogar großen Puppen angezogen hatten. Anfangs durchsuchen wir die Kleiderständer noch gemeinsam und jedes Mal wenn mir oder Marica etwas gefiel, legte sie es Raphael über den Arm.

„Ich komme mir vor, als sei ich ein besserer Einkaufswagen“, beschwerte er sich nach dem vierten Ständer.

Seine Mutter beachtete ihn nicht weiter. Sie hielt gerade ein Oberteil vor mich, als ich ein grünes Kleid bemerkte, dass mit Blättern bedruckt war. Ich ging hin und nahm es mir. Und das blaue Kleid daneben auch. Und das Shirt. Und die Bluse. Und die kurze Hose.

Nach ein paar Minuten hatte ich so viele Klamotten im Arm, dass sie mich bei meiner Suche behinderten. Also legte ich sie alle auf den Boden und begab mich erneut auf auf die Suche. Und immer wenn ich etwas fand, dass mir gefiel, brachte ich es zu meinem Stapel. Dabei warf ich immer mal wieder einen Blick zu Raphael, der einfach nur gelangweilt wirkte.

An einem Ständer fand ich eine gepunktete Hose, die ich mir nahm. Da entdeckte ich an dem Ständer daneben einen grünen Pullover. Ich trat zu der Kleiderstange und ignorierte die Frau in dem geblümten Kleid, die dort stand. Aber dann nahm sie sich den grünen Pullover.

Ich schaute sie an. „Den wollte ich haben.“

Sie warf mir einen äußerst abschätzenden Blick zu, musterte dann meine Kleidung abfällig und schnaubte dann, während sie sich den Pullover etwas genauer anschaute. „Geh besser zurück zu deinen Baumwollfeldern, Bimbo.“

Bimbo? Oh, dass hätte sie nicht sagen sollen. Ich versetzte ihr einen heftigen Stoß.

Sie stieß einen überraschten Schrei aus und fiel direkt in den Kleiderständer.

„Das ist meiner!“, teilte ich ihr mit, riss ihr den Pullover aus der Hand und flüchtete mit meiner Beute zu meinem Haufen. Das Wort Bimbo hatte ich schon lange nicht mehr gehört, aber ich wusste was es bedeutete und darum interessierte mich ich empörtes Geschimpfe auch nicht.

Leider konnte die Frau sich nicht einfach geschlagen geben. Sobald sie wieder stand, kam sie direkt auf mich zugeschossen, doch bevor sie mich erreichen konnte, trat Raphael ihr in den Weg und fixierte sie mit seinem Blick.

„Drehen sie sich einfach um und verlassen sie den Laden. Mit dem Mädchen gibt es kein Problem, also gibt es für sie kein Grund hier eine Szene zu machen, verstanden?“

„Ja, ich habe verstanden“, sagte sie mit leicht benebelter Stimme.

Ha, das hatte sie davon.

Zufrieden drehte ich mich herum und entdeckte ein glitzerndes Kleid. Oh, das war schön.

Ich ging durch den Laden, nahm es mir und bestaunte es.

„Gefällt dir das?“

Als ich mich umdrehte, stand Marica hinter mir.

Ich nickte. „Das funkelt so schön.“

„Gnocchi!“, rief Raphael quer durch den Laden.

Ich hob die Hand und winkte ihm zu, nur irgendwie schien ihn das zu verärgern.

„Komm“, sagte Marica und nahm mich an die Hand. „Lass uns mal ein paar von den Sachen probieren.“ Sie brachte mich in den hinteren Teil des Ladens zu den Umkleidekabinen, wie sie es nannte und schob mich hinein. „Schau das mal durch und guck, was dir davon passt. Dann entscheiden wir, was wir kaufen.“

„Okay.“

„Gut, ich warte vor dem Vorhang. Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich einfach.“

Ich nickte und schaute mir dann an, was sie für mich ausgesucht hatte. Es war so viel, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Okay, am Besten zog ich erstmal die Sachen von Raphael aus. Als ich dann nur noch meine Schuhe trug, nahm ich mir ein Top, dass zwei Engelsflügel hatte. Ich war mir nicht ganz sicher, wie es angezogen wurde, also streifte ich es so über, dass die Flügel vorne waren. Das sah hübsch aus.

Darüber zog ich eine gelbe Bluse und eine kurze, rote Hose. Sie war breit genug, damit ich meine neuen Schuhe nicht ausziehen musste.

Zufrieden schaute ich in den Spiegel.

„… nicht so streng mit ihr, gib ihr etwas Zeit, sie versteht das alles noch nicht“, sagte Marica gerade auf der anderen Seite des Vorhangs, als ich danach griff.

„Es ist egal was sie durchgemacht hat“, erwiderte Raphael. „Sie darf keine Menschen angreifen, nur weil sie ihr die Klamotten streitig …“

Ich zog den Vorhang zurück. „Wie sehe ich aus?“

Über die Schulter hinweg warf Raphael mir einen Blick zu und seine Augen wurden sofort eine Spur größer. „Mach verdammt noch mal den Reißverschluss zu, wenn du schon keine Unterwäsche trägst“, sagte er sofort.

Marica schmunzelte nur. „Das sieht schon nicht schlecht aus, aber komm, ich helfe dir ein bisschen.“

Mit ihrer Hilfe lernte ich nicht nur, wie man die einzelnen Teile richtig anzog, wir schafften es auch eine Auswahl zu treffen, die wir fast eine Stunde später an der Kasse bezahlten. Und ja, auch der grüne Pullover war dabei. Bevor wir das Geschäft jedoch verließen, schob Marica mich noch einmal in die Umkleide, damit ich die Sachen von Raphael gegen das weiße Top mit den Engelsflügen – die gehörten auf den Rücken – und eine lockere Cargohose austauschen konnte.

Danach gingen wir in einen Laden, bei dem Raphael an der Schwelle abrupt stehen blieb. „Das kannst du vergessen, ich gehe in keinen Dessousladen.“

Marica verdrehte nur die Augen. „Wir brauchen doch aber auch eine männliche Meinung bei der Auswahl.“

„Vergiss es, dass ist ein Geschäft für Frauen und ich bin nicht daran interessiert, Gnocchis Unterwäsche mit auszusuchen.“

„Ach jetzt hab dich nicht so.“ Sie nahm ihn wie einen ungezogenen Jungen an die Hand und zog ihn in den Laden.

Ich hüpfte freudig hinter den beiden her.

Was mich hier erwartete war Unterwäsche aus feinster Seide und Spitze.

Die Sachen waren hübsch, aber alle irgendwie gleich, doch Raphael weigerte sich mir bei der Auswahl zu helfen. Seine einzigen Kommentare waren: „Hm“ und „Mir egal.“ Darum wählten Marica und ich rund ein Dutzend Sets aus, mit denen ich dann in die Umkleidekabine verschwand.

Als ich dann rauskaum, um den beiden zu zeigen, wie ich darin aussah, drehte Raphael mir abrupt den Rücken zu. „Ich brauche noch ein neues Handy“, murmelte er und floh dann aus dem Laden.

„Wir treffen und in dem kleinen Restaurant an der Ecke“, rief Marica ihm noch hinterher.

Verwundert schaute ich hinter ihm her.

„Ach, mach dir nichts draus“, sagte Marica und musterte meinen Aufzug. „Das sieht hübsch aus.“

„Dann kann ich das haben?“

„Natürlich.“

„Danke.“ Ich fiel ihr um den Hals und drückte sie an mich. Nicht nur weil ich mich so freute, ich war wirklich dankbar. Noch nie in meinem Leben hatte ich so schöne Sachen gehabt. Und so viele. Eigentlich hatte mir noch nie jemand etwas geschenkt und das fand ich einfach nur toll von ihr.

„Ach Mäuschen, dafür brauchst du dich doch nicht bedanken, dass ist doch nur eine Kleinigkeit“, sagte sie und tätschelte mir den Rücken.

Nein, das war es nicht, nicht für mich.

Als ich mich wieder von ihr löste, schaute ich unsicher zum Eingang. „Wir sollten zu Raphael gehen.“

„Keine Sorge, wir treffen ihn nachher wieder.“

Aber eigentlich sollte ich ihn doch nicht aus den Augen lassen. Es war einfach nicht gut, wenn er allein war, da konnte zu viel passieren. Darum schaute ich auch zu Lalamika, die mich wortlos verstand. Ihr Blick teilte mir unmissverständlich mit, was sie von all dem hielt. Trotzdem schwebte sie aus dem Laden, um sich an Raphaels Fersen zu heften.

Marica war aber noch lange nicht mit mir fertig. Nach dem Dessousladen ging es in ein weiteres Geschäft, wo ich Socken bekam und mir an der Kasse sogar ein Armband aussuchen durfte, an dem ein kleines Herz hing. Und ich bekam auch einen kleinen, bunten Rucksack.

Das war wohl der schönste Tag in meinem ganzen Leben. Nicht wegen all der Geschenke und tollen Sachen die ich sah. Auch nicht, weil ich zu ersten Mal seit Jahren absolut keinen Hunger hatte, oder sie mich wirklich wie einen Menschen behandelte. Es war für mich, als würde man mir endlich erlauben zu leben und das war toll. Das wollte ich nie wieder verlieren. Darum konnte ich nur darum beten, dass sie niemals erfuhr, wer ich wirklich war.

 

°°°

 

„… zwar ziemlich voll, aber das kriegen wir schon hin. Da steht sowieso nur altes Gerümpel drin. Raphael wird es ausräumen und dann die Wände neu streichen, nicht wahr, Spatz?“

„Hm“, machte er nur. Er schien seiner Mutter gar nicht richtig zuzuhören. Sein neues Handy war wohl interessanter.

Ich schnitt mir ein weiteres Stück von meinem Schnitzel ab und schob es mir in den Mund. Dabei spähte ich auf Raphaels Teller. Er hatte das gleiche wie ich bekommen, bisher aber noch keinen einzigen Bissen davon gegessen.

Wir saßen in dem kleinen Restaurant, an dem wir ganz am Anfang vorbeigelaufen waren und sprachen über das kleine Zimmer, dass ich bei Marica beziehen sollte. Vor fünf Minuten war das Essen gekommen, Raphael war erst kurz vorher mit einer kleinen Tüte aufgetaucht, in der sein neues Handy gesteckt hatte. Er hatte kaum etwas gesagt und schien sowohl mich, als auch seine Mutter mit voller Absicht zu ignorieren.

Ich hatte das Gefühl, er war wegen irgendetwas verärgert, aber ich wusste nicht warum. Wahrscheinlich ging er nur einfach nicht gerne einkaufen.

„Du wirst sehen, das wird ganz toll“, erklärte Marica und stach ein Stück Tomate aus ihrem Salat auf ihre Gabel. Das Lalamika direkt neben ihrem Teller saß und sich putzte, bekam sie gar nicht mit. „Dann besorgen wir dir noch ein paar Möbel, mit denen du es dir richtig gemütlich machen kannst. Du wirst sehen, in Arkan ist es zwar ruhig, dafür aber sehr schön und man kann seine Kinder gefahrenlos auf der Straße spielen lassen. Es ist wirklich ein Traum.“

Ich schluckte meinen Bissen herunter. „Arkan?“

„Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Pforzheim, der nur von Lykanern und Vampiren bewohnt wird, Menschen gibt es dort keine. Sie verirren sich selten dorthin und wenn sie es doch mal tun, sorgen wir Vampire dafür, dass sie den Ort ganz schnell wieder vergessen. Nicht wahr, Spatz?“ Sie griff über den Tisch und tätschelte Raphaels Arm.

Er sah verwirrt von seinem neuen Spielzeug auf. „Hm? Hast du was gesagt?“

Sie schüttelte nur wohlwollend ihren Kopf. „Schon gut, nicht so wichtig.“

Ich beugte mich über Raphaels Arm, um herauszufinden, was an seinem Handy so interessant war.

„Lass ja deine Finger bei dir, du handymordende Katze“, mahnte er und warf mir kurz einen warnenden Blick zu.

Damit spielte er wohl darauf an, dass ich sein anderes Handy kaputt gemacht hatte. „Es sieht anders aus, als das andere.“

„Ja, es ist noch ganz.“

Diese Anspielung ignorierte ich. „Es hat gar keine Tasten.“

„Doch, aber die sind hier im Display, hier siehst du?“ Er drehte das Handy ein wenig, sodass ich einen besseren Blick darauf bekam. Auf dem Bildschirm waren lauter bunte Bildchen und auch Zahlen. „Es funktioniert alles mit Berührung. So.“ Er tippte auf das Display und das Bild darauf veränderte sich.

„Das ist ja toll.“

Dafür bekam ich von ihm ein kleines Lächeln. Als ich mich allerdings noch näher zu ihm beugte, um besser sehen zu können, verrutschte es ein wenig.

„Würdest du bitte aufhören, mir so auf die Pelle zu rücken?“

„Warum?“

„Weil sich das nicht gehört.“

„Ach Spatz“, schmunzelte Marica. „Schau nicht so verbissen.“

„Ich schau gar nicht verbissen.“

„Doch das tust du. Aber keine Sorge, sobald wir Zuhause sind, wird alles besser. Dann kannst du zur Ruhe kommen.“

Lauernd schaute er von seinem Handy auf. „Ähm, wenn du von Zuhause sprichst, dann meinst du Berlin, richtig?“

Ich setzte mich wieder manierlich vor meinen Teller und machte mich daran, den Rest von meinem Schnitzel zu vertilgen.

„Natürlich nicht“, erwiderte Marica. „Ich rede von Arkan, dort bist du Zuhause.“

Diese Antwort schien ihm nicht zu gefallen. „Ich wollte aber nach Berlin, erinnerst du dich? Ich hatte dich angerufen und gebeten mich nach Berlin zu bringen. Da habe ich eine Wohnung.“

Sie winkte ab, als handelte es sich dabei nur um eine unbedeutende Kleinigkeit, die nicht weiter nennenswert war und gar keiner Beachtung bedarf. „Das war noch gewesen, bevor ich von Tarajika wusste. Jetzt brauch ich dich in Arkan, davon reden wir doch schließlich die ganze Zeit. Da kann ich mich wenigstens ein wenig um dich kümmern. In Berlin bist du viel zu allein. Ich möchte meinen Sohn einfach mal wieder bei mir haben, kannst du dass nicht verstehen?“

Kauend schaute ich zwischen den beiden hin und her. Wenn Raphael sich weigerte mich nach Arkan zu gehen, würde auch ich nicht dort hin können. Dabei wollte ich das so gerne. Ich wollte ein eigenes Zimmer mit eigenen Möbeln. Und außerdem hatte Marica mir heute so viel geschenkt. Es wäre gemein, wenn ich nicht mit ihr ging. Aber ich wollte Raphael auch nicht im Stich lassen.

„Ich will nach Berlin, Mama“, meinte Raphael in einem sehr geduldigen Tonfall, der einem das Gefühl gab, er würde mit einem kleinen Kind sprechen. „In Arkan ist es langweilig und da gibt es auch keine Arbeit für mich. Aber ich brauche Arbeit. Mit Arbeit kann man Geld verdienen und Geld brauch man zum Leben.“

Klang einleuchtend. Ich schob den Rest von meinem Schnitzel in mein Mund und schaute zu Raphael auf den Teller. Er hatte seines noch immer nicht angerührt. Hatte er denn gar keinen Hunger?

„Blödsinn, in Arkan gibt es genug Jobs, du kommst mit mir.“

Da Raphael sein Essen noch immer nicht beachtete und nicht so aussah, als würde er es noch wollen, nahm ich mich seiner an. Die beiden funkelten sich so sehr an, das keiner von ihnen merkte, wie ich vorsichtig danach griff und es auf meinen Teller zog.

„Mama, ich habe keine Lust bei Enzo und May im Laden Regale einzuräumen, oder bei Beatrice im Friseursalon Haare zusammenzufegen. Ich bin erwachsen, ich weiß was ich will und jetzt gerade möchte ich nicht nach Arkan.“

Sie warft die Hände in die Luft, als könnte sie nicht glauben, was sie da hörte. „Und über was bitte haben wir dann die ganze Zeit gesprochen? Du hast zugestimmt, das kleine Zimmer auszuräumen und es zu streichen und jetzt willst du einfach so nach Berlin? So habe ich dich nicht erzogen!“ Ihr ausgestreckter Finger zeigte anklagend auf ihn, als bedeutete er das Unheil der Welt. „Du hast mir ein Versprechen gegeben und daran wirst du dich auch halten. Ende der Diskussion, du kommst mit nach Arkan.“ Sie nahm ihre Gabel in die Hand, erstach ein Salatblatt und schob er sich in den Mund.

Auch wenn er ihr nicht mehr widersprach, wirkte er absolut nicht zufrieden. Missmutiger denn jäh, legte er sein Handy zur Seite und griff nach seinem Besteck. Als er sich dann jedoch seinem Teller widmete, fand er statt einem schönen, saftigen Schnitzel, nur noch Gemüse und Beilagen vor. „Ich glaub mein Schwein pfeift, Gnocchi!“

Während ich ein Stück von meinem Schnitzel abschnitt, schaute ich mit all der Unschuld die ich aufbringen, konnte zu ihm auf.

„Du hast es schon wieder getan!“, warf er mir vor.

„Was?“, fragte ich ganz schuldlos.

„Du hast mein Essen geklaut!“

„Das war ich nicht.“ Seelenruhig steckte ich mir das abgeschnittene Stück in den Mund.

Raphael sah aus, als würde er gleich explodieren. „Willst du mich verarschen? Natürlich warst du es, außer dir ist doch niemand so dreist!“

Ich zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Das kannst du nicht beweisen.“

„Oh nein, auf dieses Spielchen lasse ich mich kein zweites Mal ein. Du hast schon das Frühstück allein verputzt.“ Er griff nach meinen Teller, doch bevor er ihn zu fassen bekam, stach ich mit der Gabel zu. Es war rein instinktiv und ich erwischte seine Hand nur nicht, weil er so reaktionsschnell war.

„Scheiße!“, fluchte er und schaute mich erschrocken an.

Ich verengte meine Augen warnend und zog meinen Teller näher an mich heran. „Das ist meins.“

Das machte ihn sprachlos. Empört wandte er sich an seine Mutter. „Willst du dazu nicht auch mal was sagen?“

„Nein“, sagte sie und führte seelenruhig ihre Gabel zu ihrem Mund. „Klärt das mal unter euch.“

Das war wohl nicht das, was Raphael sich erhofft hatte. Er schaute seine Mutter an, als würde er sie nicht wiedererkennen. Dann wurde der Ausdruck in seinem Gesicht entschlossen.

Er griff sich eine handvoll Pommes von seinem Teller, drehte sich damit zu mir herum und warf sie nach mir. Ein paar landeten auf meinen Haaren, aber die meisten fielen auf den Tisch und auf den Boden. Und auch in meinem Schoß.

„Raphael!“, empörte sich seine Mutter, während Lalamika zu lachen anfing.

Ich blinzelte einmal und wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. „Du hast mich mit Essen beworfen.“

„Du hast mein Essen doch unbedingt haben wollen. Hier hast du noch mehr.“ Er griff erneut zu und eine weitere Ladung landete auf meinem Kopf.

Okay, wenn er sie nicht haben wollte. Grinsend nahm ich mir eine Fritte, die auf dem Tisch gelandet war und steckte sie mir in den Mund. Hm, lecker.

„Spatz, was soll das? Könntest du das bitte unterlassen? Wir sind hier in einem Restaurant, das gehört sich nicht.“

Er ignorierte sie. Stattdessen versuchte er mich mit einem Blick zu erdolchte, während ich nur lächelnd kaute.

Und wenn er schon mal dabei war: „Bekomme ich den Rest auch noch?“ Er wollte es ja scheinbar nicht.

„Bekommst …“ Er schnaubte, als könnte er die Frage nicht glauben, doch dann breitete sich auf einen Lippen ein Lächeln aus und er begann leise zu lachen.

Als er mir dann seinen Teller wirklich zuschob, gab ich vor Freude einen Geräusch von mir und fiel ihm um den Hals. „Danke“, freute ich mich und drückte ihn kurz an mich. Dann nahm ich seine Reste und schüttete sie auf meinen Teller und begann voller Enthusiasmus wieder zu essen.

„Wo isst du das nur alles hin?“, murmelte er und gab unserer Kellnerin ein Zeichen, dass er noch etwas bestellen wollte.

Da ich den Mund voll hatte, konnte ich ihm nur mit einem Schulterzucken antworten.

Marica griff über den Tisch und tätschelte Raphael die Hand.

„Du bist ein guter Junge.“

„Vor allen Dingen bin ich ein hungriger Junge“, teilte er ihr mit und bestellte sich ein neues Schnitzel, sobald die Kellnerin da war. Als es dann kam, passte er wie ein Wachhund auf sein Essen auf, dabei hatte ich gar kein Interesse daran ihm sein Essen wegzunehmen. Als er mir dann allerdings zwei Pommes hinhielt, sagte ich nicht nein.

Zum Nachtisch gab es dann noch ein Eis. Zwei Kugeln Banane für Raphael und einen Monsterbecher mit sechs Kugeln, Erdbeersoße, einem Berg Schlagsahne und bunten Streusel obendrauf für mich. Ich verdrückte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Inklusive Dekorwaffel versteht sich.

Als wir das kleine Einkaufscenter verließen und Raphael die vielen, bunten Tüten im Kofferraum abstellte, war es schon Nachmittag. Dieses Mal jedoch rutschte Raphael auf den Rücksitz und ich durfte vorne mitfahren. Natürlich erst, nachdem ich mich ordentlich angeschnallt hatte.

Laut Marica standen uns noch rund drei Stunden Fahrt bevor, die ich damit verbrachte aus dem Fenster zu schauen, um auch nichts zu verpassen.

Ich war glücklich darüber, dass Raphael jetzt doch mit zu seiner Mutter ging. Ich mochte Marica, sie war nett.

Wir waren schon eine Weile unterwegs, als ich auf einem Feld ein Reh entdeckte, doch als es plötzlich auf dem Rücksitz knisterte, drehte ich den Kopf, um zu schauen, was Raphael da machte.

In seiner Hand hielt er ein kleines Tütchen, in das er immer wieder hinein griff und sich den Inhalt dann in den Mund steckte. Es roch wie Schokolade, aber es waren kleine, bunte Kugeln.

Wie in Trance folgte ich jeder seiner Bewegungen. Ein Griff in die Tüte und dann ab in den Mund. Noch ein Griff in die Tüte und wieder ab in den Mund. Einmal, zweimal, dreimal und immer ging mein Kopf mit.

Raphael schmunzelte.

„Bekomme ich auch eine?“, fragte ich dann.

„Wo isst du das eigentlich alles hin?“, wollte er wissen. „So viel wie du heute schon in dich hineingestopft hast, sollte man doch meinen, dass du bereits platzen müsstest.“

„Spatz, sei nicht so gemein und gib ihr auch ein paar ab. Sie braucht das.“

Ja genau, ich brauchte das. Also löste ich den Gurt und machte mich daran auf den Rücksitz zu klettern, bevor Raphael noch die Möglichkeit bekam zu widersprechen. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und fiel mit dem Gesicht voran in Raphaels Schoß.

„Hey“, schimpfte er. „Rück mit bitte nicht so auf die Pelle.“

Als ich mich aufrichtete, stieß ich ausversehen gegen sein Kinn.

„Ah! Verdammt, Gnocchi, ich hätte dir doch welche nach vorne gegeben!“

Das behauptete er jetzt. Ich hockte mich neben ihn, stützte mich mit den Händen auf seinen Beinen an und fixierte die kleine Tüte in seiner Hand.

Seufzend schob Raphael mich neben sich auf den Sitz, nahm dann meine Hand und schüttete mir dann die halbe Tüte hinein. Es waren wirklich kleine, bunte Kugeln. Auf der Seite war ein Buchstande gedruckt, aber ich wusste nicht welcher, oder wie man ihn aussprach. Ich hatte nie Lesen und Schreiben gelernt.

Eine der kleinen Kugeln wanderte in meinen Mund und, oh, die waren so süß. Ich schloss genießerisch die Augen und ließ mir den Geschmack auf der Zunge zergehen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel zu Essen bekommen wie heute.

Als Raphael leise lachte, öffnete ich die Augen und neigte den Kopf zur Seite. „Was ist so lustig?“

„Nicht lustig“, sagte er und schüttelte ganz leicht den Kopf. „Du bist einfach nur einmalig.“

Das hatte er schon mal gesagt, aber ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Darum fragte ich auch ganz direkt: „Bist du auch einmalig?“

Das ließ ihn erst recht grinsen. „Oh ja, mich gibt es nur einmal.“

Dann war es wohl etwas Gutes. Ich aß noch eine von den Kugeln. Dabei bemerkte ich, dass meine ganze Hand bunt war. „Schau mal.“ Ich hielt sie Raphael unter die Nase.

„Sie sind in deiner Hand geschmolzen. Leck es einfach ab.“

Das tat ich dann. Sehr ausgiebig.

Raphael verzog das Gesicht und ließ sich von seiner Mutter ein Feuchttuch geben, mit dem ich mir die Hand sauber wischen konnte.

„Weißt du“, sagte ich und machte es mir auf der Rückbank ein wenig bequemer, indem ich mich so gut es eben ging neben ihn legte und meinen Kopf auf sein Bein bette. „Das ist der tollste Tag in meinem ganzen Leben.“

„Wir waren doch nur einkaufen.“

„Aber ich war noch nie einkaufen. Ich hab zwar schon Geschäfte von außen gesehen, aber ich war noch nie in einem drinnen gewesen, weil ich kein Geld hatte.“ Die wenigen Monate, die ich in Freiheit gelebt hatte, hatte ich das gegessen, was ich gefunden hatte. Deswegen war es der Fängerin damals auch so leicht gefallen, mich zu fangen.

Lalamika hatte mich gewarnt, ja sogar angeschrien, dass ich nicht in das Auto steigen sollte, aber ich hatte solchen Hunger gehabt.

„Das tut mir leid für dich“, sagte Marica. „Aber du brauchst keine Angst haben, du wirst nicht mehr auf der Straße landen, nicht solange ich hier bin.“

„Aber ich bleibe bei Ys-oog.“ Das musste einmal klar gestellt werden. So lieb sie auch war, ich würde da sein, wo er war. Zumindest solange, bis sein Schmerz verheilt war.

„Ys-oog, was soll das eigentlich heißen?“, wollte Raphael wissen.

Ich schaute zu ihm auf. „Eisauge.“ Ich hob die Hand und strich ihm vorsichtig am Auge entlang. „Deine Augen sind wie Eis. Aber nicht wie das aus dem Restaurant, sondern wie Eiswürfel.“

„Eiswürfel.“ Er schnaubte, nahm meine Hand aus seinem Gesicht und legte sie auf meinen Bauch. „Das habe ich ja auch noch nicht gehört.“

Ich gähnte einmal sehr ausgiebig. „Es gibt viele Dinge, die du noch nie gehört hast“, erklärte ich dann.

Er schnaubte. „Und das kommt ausgerechnet von dir?“

Ich wusste viel mehr, als er glaubte, weil ich mit denen sprechen konnte, die Wissen aus Jahrhunderten mit sich herumschleppten. Nicht dass diese Geister sich für mich interessierten, oder sehr mitteilsam waren. Außer wenn sie etwas von mir wollten. Aber das war bisher nur ein einziges Mal geschehen und das was sie wollten, konnte ich nicht tun.

Als ich wieder gähnte, hob Raphael die Hand und strich mir einmal vorsichtig über den Kopf. „Mach ruhig die Augen zu und schlaf ein bisschen. Wir fahren noch ein Weilchen.“

Diese Idee ließ ich mir einen Moment durch den Kopf gehen, schüttelte den selbigen dann aber. „Nein, ich will nicht schlafen. Ich muss doch auf dich aufpassen.“

„Du brauchst nicht auf mich aufpassen, dass bekomme ich schon ganz gut alleine hin.“

Nein, das tat er nicht. Jetzt gerade ging es ihm vielleicht ganz gut, aber auch nur, weil er nicht an Cayenne dachte. Doch ich hatte heute mehr als einmal gesehen, wie seien Gedanken zu ihr abgeschweift waren. Es war sein Blick, er wirkte dann immer so verloren. Ich mochte diesen Blick nicht. Er gefiel mir viel besser wenn er lächelte. Leider hatte er das in meinen Visionen nie getan. Wenn man es genau nahm, hatte es da auch nie viel zu lächeln gegeben.

Es dauerte noch fast zwei Stunden, bis wir in die kleine Ortschaft Arkan hinein fuhren. Es waren viele Häuser mit Gärten, die sanft gebettet zwischen Hügeln und kleinen Wäldchen lagen. Als wir durch die fast leeren Straßen fuhren, entdeckte ich sogar einen See, der von vielen Bäumen umschlossen war.

„Hier haben Raphael und seine Freunde früher immer gebadet“, erklärte Marica und lenkte den Wagen von dem See weg. „Es gab Tage, da hab ich ihn gar nicht von dort wegbekommen.“

„Oh, da will ich auch baden“, sagte ich und drückte mir die Nase an der Scheibe platt.

„Raphael geht mit dir sicher mal dort hin“, sagte sie. „Aber dazu muss es erstmal etwas wärmer werden. Noch ist es zu kalt zum Baden.“

„Danke dass du meine Freizeit verplanst, Mama.“

„Bitte.“ Vor einem kleinen Haus wurde sie langsamer und bog dann in die Einfahrt ein, wo sie den Wagen ganz abstellte.

„Hier wohnt ihr?“, fragte ich aufgeregt.

Es war ein rechteckiger Flachbau. Die blaue Farbe an Holzverkleidung war mir den Jahren so verblasst, dass sie jetzt grünlich wirkte und die Umzäunung an der Veranda brauchte auch dringend einen neuen Anstrich. Der Garten war ziemlich verwildert und dort hinten in der Ecke: „Ich habt ja eine eigene Schaukel.“

„Die benutzt schon seit Jahren niemand mehr“, erklärte Raphael und stieg auf seiner Seite des Wagens aus.

Ich folgte ihm und schaute mich neugierig um. Hier war es so ganz anders, als da wo ich herkam. Keine üppigen Pflanzen und Bäume, die so dicht standen, dass man den Himmel nicht sehen konnte. Das Gras wirkte eher vertrocknet als grün und in den Beeten wuchsen keine Blumen. Es wirkte … verkommen. Ich hatte wohl nie etwas schöneres gesehen.

Auch Marica verließ den Wagen. „Raphael, bringst du bitte die Tüten rein? Ich zeige Tarajika alles.“

„Wow, ich bin schon wieder der Packesel.“

„Ach, jetzt hab dich nicht albern, oder möchtest du, dass ich die Wehenkarte ausspiele.“

Erst schaute er entsetzt, dann fügte er sich grummelnd seinem Schicksal.“

„Wehenkarte?“, fragte ich neugierig, als sie mich an die Hand nahm und auf die Veranda führte. Hier gab es sogar einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen.

„Ach, Raphaels Geburt war ein wenig anstrengend gewesen. Ich lag damals sechsundzwanzig Stunden in den Wehen und wenn er frech wird, dann halte ich ihm das vor.“ Aus ihrer Handtasche zog sie einen Schlüssel und öffnete damit die Haustür. „Na komm.“

Ich zögerte. Raphael war noch am Kofferraum beschäftigt.

„Keine Angst, er kommt gleich nach.“

Da war ich mich nicht so sicher, aber Lalamika war bei ihm und wenn er weggehen würde, würde sie mir das sofort sagen. Also folgte ich Marica in einen länglichen und schmalen Korridor.

„Hier ist das kleine Bad“, erklärte sie und zeigte auf einen kleinen Raum, der direkt links neben dem Eingang lag. Gegenüber war die Küche mit einem großen, runden Tisch in der Mitte und das Wohnzimmer war rechts daneben. Am anderen Ende des Flurs lag Maricas Schlafzimmer.

„Du und Raphael, ich schlaft unten im Souterrain.“

„Wo?“ Das hörte sich irgendwie nicht nach einem Bett an.

„Im Souterrain“, wiederholte sie schmunzelnd. „Das ist ein ausgebauter und bewohnbarer Keller.“

Das Wort Keller, ließ mich abrupt stehen bleiben. „Ich muss in den Keller?“ Ich erinnerte mich noch gut an den letzten Keller, in dem ich wochenlang mit anderen Sklaven eingeschlossen gewesen war.

Marica schien meinen Stimmungsumschwung sofort zu bemerken. „Keine Sorge, dass ist nicht so ein Keller. Das ist eine unterirdische Etage. Raphael hat sein Zimmer auch dort unten.“

Trotzdem fühlte ich mich plötzlich unwohl.

„Keine Angst. Komm, ich zeige es dir, dann wirst du sehen, dass es nichts Schlimmes ist.“

Ich zögerte. Marica war zwar nett, aber noch immer eine Fremde. Erst als Raphael, vollgepackt mit Tüten und seiner Reisetasche das Haus betrat und mit den Sachen im Wohnzimmer verschwand, folgte ich ihr über die Treppe am Ende des Flurs nach unten ins Souterrain.

Auf den ersten Blick sah es nicht viel anderes aus, als oben.

An der Treppe, direkt unter Maricas Schlafzimmer, lag das große Bad, in dem es nicht nur eine Dusche, sondern auch eine Badewanne gab. Daneben, also unter dem Wohnzimmer, lag der Hobbyraum. Dort gab es eine Couch mit einem kleinen Fernseher und ein paar vollgestellte Regale. In der Ecke entdeckte ich noch ein großes Spiel, dass sich Kicker nannte.

Links neben dem Hobbyraum war Raphaels Zimmer. Es war ziemlich groß. In der Mitte stand ein Doppelbett. Er hatte eine große Schrankwand und einen Schreibtisch mit Computer und einer überfüllte Pinnwand in der Ecke. Über dem Bett hing ein Poster von einer halbnackten Frau und daneben hatte er noch ein Regal voller Bücher und Krimskrams. Alles war ordentlich und aufgeräumt.

Das hier war wirklich nicht wie der Keller, in den man mich gesperrt hatte. Die Fenster waren zwar nur halb so groß wie die oben, aber sie ließen genug Licht herein.

„So, und jetzt kommen wir zu deinem Zimmer.“ Marica wandte sich nach links zur letzten Tür und öffnete sie. Dahinter erwartete uns das reine Chaos.

Der Raum war nicht sehr groß und fast bis unter die Decke mit Kisten und altem Gerümpel gefüllt. In der Ecke entdeckte ich eine Gitarre, die keine Seiten mehr hatte und aus einem Karton neben der Tür quollen alte Kleidungsstücke.

„Wir haben den Raum bisher als Abstellraum genutzt.“

Ich trat hinein und schaute mich ein wenig genauer um. Das sollte mein eigenes Zimmer werden? Der Gedanke zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.

„Wir werden das ganze Zeug ausräumen und dir dann ein paar Möbel hineinstellen. Aber das machen wir erst morgen, heute Nacht musst du noch im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.“

„Besser als ein Käfig“, murmelte ich und zog aus einem der Kisten eine Kinderzeichnung. Darauf war ein seltsames Tier mit einem Regenbogen und einem Baum gemacht worden. Das musste von Raphael sein.

Als ich auf dem Flur Schritte hörte, schaute ich raus. Raphael kam mit seiner Tasche die Treppe herunter und wurde von Marica herangewunken, bevor er in seinem Zimmer verschwinden konnte.

Er seufzte genervt, stellte dann seine Tasche bei seiner Tür ab und trat zu seiner Mutter.

„Schau mal“, sagte sie und deutete in das Zimmer. „Die Sachen müssen alle rausgeräumt werden. Das könnt ihr beide morgen machen. Ich fahre los und besorge Möbel.“

Raphael schaute seine Mutter sehr seltsam an. „Sag mal hast du in letzter Zeit im Lotto gewonnen, ohne mir Bescheid zu sagen, oder warum kannst du dir das alles plötzlich leisten?“

„Rede nicht so einen Stuss, Spatz, natürlich habe ich nicht so viel Geld. Ich werde im Gemeindehaus vorbeifahren und am schwarzen Brett gucken und dann werde ich noch zu Thomas fahren und der wird mir sicher ein gutes Angebot machen.“

„Thomas?“, fragte ich und legte das Bild zurück.

„Er ist Antiquitätenhändler und besitzt hier in Akarn einen eigenen Laden“, erklärte Marica.

„Das hier ist ein kleines Dorf“, fügte Raphael noch hinzu. „Hier kennt jeder jeden.“

Marica beachtete ihn nicht weiter. „Vielleicht hat Oliver ja auch noch ein altes Bett, du weißt doch, der kann nichts wegschmeißen“, überlegte sie und tippte sich mit dem Finger ans Kinn. „Am besten ich gehe gleich mal rüber und frage ihn. Er müsste in der Zwischenzeit auch schon aus dem Hof zurück sein. Du kannst in der Zeit in die Küche gehen und für dich und Tarajika eine Kleinigkeit zum Abend machen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, kehrte sie uns den Rücken und verschwand nach oben.

„Aber natürlich, Mama, wie du möchtest, Mama. Wie könnte ich auch nein sagen, wenn du mich so liebenswürdig darum bittest.“

„Sie hat dich gar nicht darum gebeten“, bemerkte ich.

Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und stöhnte. „Folge mir, du Sirene.“

„Sirene?“ Ich heftete mich an seine Ferse.

„Sirenen sind Frauen, die Männer verzaubern.“

Aha. „Aber ich habe doch gar keinen Mann verzaubert.“ Sowas konnte ich gar nicht.

„Nein, kein Mann, aber du scheinst meine Mutter verhext zu haben.“ Er stampfte die Treppe nach oben.

Was? „Nein, das habe ich nicht, das schwöre ich.“

Er warf mir nur einen kurzen Blick über die Schulter zu, schüttelte dann den Kopf und ging in die Küche.

„Wirklich“,, versicherte ich ihm noch mal, nachdem ich ihm in den Raum gefolgt war. Daran würde ich mich doch erinnern.

„Das ist nichts Schlimmes, Gnocchi. Und jetzt setz dich hin, ich mache dir etwas zu essen.“

„Ja!“ Ich saß schon lange auf dem Stuhl, bevor er den Kühlschrank erreichte und ihn auf seinen Inhalt überprüfte. Dann nahm er ein paar Sachen heraus und stellte sich mit denen an den Herd.

Ich reckte den Hals, um zu schauen, was er da machte. Eier in eine Schüssel, dann ein paar Scheiben Brot dazu, die er in der Pfanne mit Speck anbriet.

Die Küche war bereist mit leckeren Gerüchen gefüllt, als Marica wiederkam. Sie legte ihre Tasche auf den Tisch und ging dann direkt an einen der Unterschränke.

„Oliver hat noch einen alten Schrank von Amber, den wir uns holen können“, begann sie auch sogleich. „Ein alter Schreibtisch mit Stuhl müsste von ihr dort auch noch rumstehen und von Tristan steht im Keller wohl irgendwo noch das alte Hochbett herum, dass er mit dreizehn ausrangiert hat.“

„Aha“, machte Raphael nur und stapelte die gebratenen Brote neben dem Herd auf einem Teller.

„Wir müssen dann nur noch Farbe besorgen. Und eine Lampe, wir brauchen in dem Zimmer unbedingt eine manierliche Lampe.“ Sie nahm einen Stapel Teller heraus und begann dann sie auf dem Tisch zu verteilen.

„Ich höre immer wir, aber das sind nicht wir, das seid ihr, oder besser noch, du.“ Er stellte den Herd aus und kam mit dem Essen zum Tisch. Mir lief sofort das Wasser im Mund zusammen. „Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Wäre es nach mir gegangen, wäre sie jetzt bei Murphy.“

„Lass es endlich gut sein, Spatz, ich will davon nichts mehr hören.“

Er murmelte etwas Unverständliches, verteilte dann das Essen auf die drei Teller und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

Hm, das fand ich zu weit weg. Also nahm ich meinen Teller, ging mit ihm um den Tisch herum und setzte mich neben ihn.

Er beachtete mich gar nicht, als er das Besteck von seiner Mutter entgegen nahm und mit dem Essen begann. Sein Teller war kaum leer, als er sich mit der Erklärung er sei müde, für diesen Abend verabschiedete.

„Soll ich dir frische Laken aufs Bett machen?“, fragte seine Mutter, doch er schüttelte nur den Kopf und verschwand zur Küche hinaus. Dabei hatte er wieder diesen Blick, der mir verriet, dass er mit seinen Gedanken an Orten war, die ihm nichts als Schmerz brachten.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Marica zu mir. „Es geht ihm bald wieder besser.“

Ihr war es also auch aufgefallen. „Sie hat ihn verletzt.“

Marica wurde ein wenig aufmerksamer. „Du weißt was passiert ist?“

„Ich war nicht dabei.“ Ich hatte auch schon tage bevor es geschehen war davon geträumt. „Er liebt sie.“ So sehr.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. „In Ordnung, belassen wir es dabei.“

„Aber ich möchte ihm helfen.“

„Dann bleib in seiner Nähe und lenke ihn ein wenig ab. Ich glaube, es tut ihm ganz gut, wenn er etwas hat mit dem er sich beschäftigen kann.“

„Ja, weil er dann nicht an sie denkt.“

„Genau. So, aber jetzt genug davon. Ich machte jetzt den Abwasch und dann zeige ich dir wo du schlafen kannst.“ Und genau das geschah dann. Sie bereitete mir für die Nacht mein Lager auf der grauen Couch im Wohnzimmer. Sie war schon ein wenig älter, aber sauber und bequem.

Dann fiel ihr auf, dass sie vergessen hatten mir einen Schlafanzug zu kaufen und gab mir eines von Raphaels alten T-Shirts zur Nacht. Es war nicht ganz so groß wie das von letzter Nacht, aber es roch noch nach ihm und das gefiel mir.

Danach ging es noch zu einer abendlichen Wäsche ins Bad und ich musste mir zum ersten Mal in meinem Leben die Zähne putzen. Das war lustig, nur die Zahnpasta schmeckte widerlich. Bäh. Selbst nachdem ich mir fünfmal den Mund ausgewaschen hatte, bekam ich den komischen Geschmack nicht von der Zunge. Marica versprach mir eine geschmacklose Zahnpasta zu besorgen und steckte mich dann ins Bett.

Als im Haus dann alle Lichter aus waren und ich allein in dem Wohnzimmer lag, schloss ich die Augen und erinnerte ich mich noch mal an alles, was heute passiert war.

Was machst du hier eigentlich, Ara?

„Schlafen.“

Das habe ich nicht gemeint. Du baust nicht nur eine Beziehung zu ihm und seiner Mutter auf, du planst bei ihnen zu leben.

Langsam öffnete ich die Augen. Vor mir auf dem Tisch saß ein kleiner Leopard und bedachte mich mit einem strengen Blick.

Das wird kein gutes Ende nehmen und das weißt du.

„Sie haben mich eingeladen.“

Ich weiß, aber anstatt es dir hier gemütlich zu machen, solltest du nach unten gehen und tun, was getan werden muss.

Mit einem Schlag war meine ganze Entspannung verflogen. „Ich habe dir gesagt, ich will nichts mehr davon hören. Ich werde ihm nicht wehtun.“

Sie schaute mich an, als überlegte sie, wie sie mich umstimmen konnte. Deine Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt. Du …

„Nein, sind sie nicht. Marica hat es doch gesagt, wenn ich in seiner Nähe bleibe, wird es ihm bald besser gehen.“

Seine Mutter weiß nicht, worum es hier geht. Als ich sie nur stur anschaute, seufzte sie. In Ordnung, du willst mir nicht glauben. Dann beantworte mir nur eine Frage. Sollte es nicht funktionieren, was willst du dann tun? Je länger du bei diesen Leuten bist, desto mehr wirst du dich an sie gewöhnen. Mit jedem Tag den du es hinauszögerst, wird es dir schwerer fallen deine Aufgabe zu erledigen. Und dann erst seine Mutter. Meinst du, sie wird dich noch immer so herzlich willkommen heißen, wenn du ihren Sohn tötest?

„Es ist nicht meine Aufgabe ihn zu töten, ich bin hier, um ihm zu helfen.“

Nein, du …

„Schluss jetzt“, unterbrach ich sie und schlug die Decke zur Seite. „Ich will nichts mehr davon hören. Du kennst meine Meinung. Entweder du unterstützt mich dabei oder du hältst ab sofort den Mund.“ Damit erhob ich mich vom Sofa und ging nach unten.

Ich wollte nicht mehr hören, dass ich ihn töten sollte, sowas hatte er nicht verdient. Sie sollte mich damit in ruhe lassen. Ich war hier, ich würde bei ihm bleiben und dafür sorgen, dass niemand sterben würde. Ganz besonders nicht er.

Als ich die unterste Stufe der Treppe erreicht hatte, war ich noch immer verärgert. Warum konnte sie nicht endlich aufhören, mich zu drängen? Es brachte doch …

Abrupt blieb ich stehen. Da, direkt vor Raphaels offener Zimmertür stand ein fremder Mann und starrte in den Raum hinein.

 

°°°°°

Patchworkfamilie

 

Nein, korrigierte ich mich, das war kein Mann, jedenfalls nicht mehr, es war ein Geist. Durch die Dunkelheit konnte ich nur erkennen, dass er groß und sehr schlank war. Seine Konturen waren noch nicht verblasst, er konnte also höchstens seit hundert Jahren tot sein.

„Wer sind sie?“, fragte ich und trat einen Schritt auf ihn zu.

Überrascht wirbelte er zu mir herum und in der nächsten Sekunde war er verschwunden. Ähm … okay, das war seltsam. Normalerweise lösten Geister sich nicht auf, wenn sie mich bemerkten. Die meisten ignorierten mich einfach, in seltenen Fällen unterhielten sie sich mit mir – meist die jüngeren, so wie er.

Er konnte jedenfalls nicht zu den Geistern gehören, die mich auf Raphael angesetzt hatten. Bis auf Lalamika waren die alle bereits so alt, dass sie nur noch eine Aura waren, die längst vergessen hatten, wie sie zu Lebzeiten einmal ausgesehen hatten.

Ich wusste selber nicht, warum mir dieser Geist so seltsam vorkam, es gab sie schließlich überall. Erst vorhin hatte einer durchs Küchenfenster geschaut. Aber dieser hier … es war wohl die Art, wie er in das Zimmer geschaut hatte, die mir nicht gefiel. Hoffentlich kam er nicht wieder.

Ich schüttelte das seltsame Gefühl ab und schlich zu Raphaels Zimmer.

Der Raum war dunkel. Durch die flachen Fenster drang nur ein wenig Licht. Zwar hatte es heute nicht mehr geregnet, aber ein paar Wolken hielten sich noch immer eisern am Himmel und dämpften das Licht von Mond und Sterne. Ein Glück für mich, dass ich selbst in der Dunkelheit noch sehr gut sehen konnte.

Raphael lag mit dem Rücken zu mir in seinem Bett und schien zu schlafen. Die Decke bedeckte ihn gerade mal bis zur Hüfte, wodurch ich das Pflaster an seiner Schulter sehen konnte. Ein Skhän hatte ihn dort angeschossen, gleich nachdem Cayenne ihm erklärt hatte, dass sie diesen Wolf liebte. Zum Glück heilten Vampire so schnell.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich wieder nach oben gegangen wäre, um mich dort auf die Couch zu legen. Stattdessen schob ich mich leise in sein Zimmer hinein und schlich zu seinem Bett. Als er sich im Schlaf bewegte, ging ich sofort in Deckung. Er wäre sicher nicht glücklich, wenn er mich hier sehen würde, aber ich wollte nicht allein sein.

Ein paar Minuten hockte ich einfach nur neben seinem Bett. Erst als ich mir sicher war, dass er nicht aufwachen würde, spähte ich vorsichtig über die Kante, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich schlief. Sein Atem war ruhig und gleichmäßig und er regte sich auch nicht.

Langsam erhob ich mich und stieg dann vorsichtig zu ihm ins Bett. Die Matratze senkte sich ganz leicht unter meinem Gewicht. Er merkte es nicht. Trotzdem blieb ich einen Moment wachsam neben ihm hocken, bevor ich seine Decke wegschob und mich hinter ihm ausstreckte.

Dieses Mal regte er sich doch. Er drehte sich auf den Rücken, legte dabei einen Arm über seinen Kopf und schmatzte leise.

Fast hätte ich gekichert. Stattdessen aber kuschelte ich mich an seine Seite und bettete meinen Kopf auf seiner Brust. Dann atmete ich einmal tief ein. Ja, hier war es besser, als allein auf der Couch.

Zufrieden schloss ich meine Augen und ließ mich vom Schlaf in eine andere Welt führen. Leider träumte ich nicht vom heutigen Tag, oder die vielen schönen Sachen, die ich bekommen hatte. Mein Geist brachte mich ins Zentrum einer kleinen Stadt.

Auf einem Brunnen saß ein kleiner Spatz neben einen halb aufgegessenen Döner und pickte an den Resten herum. Es wirkte, als hätte jemand das Essen in aller Hast von sich geworfen. Der Inhalt war über den ganzen Brunnenrand verteilt.

Die Straße war menschenleer, doch in der Ferne ertönten eine Reihe von Schüssen. Das Knallen ließ den Vogel erschrocken wegfliegen. So wichtig war ihm seine Mahlzeit dann doch nicht.

Der panische Schrei einer Frau, schalte zwischen den Hochhäusern umher. Ein Mann brüllte vor Wut und dann wurden wieder Schüsse abgegeben.

Plötzlich bogen rund dreißig völlig verängstigte Menschen um die Ecke. Die Hälfte von ihnen trugen Waffen, Gewehre und Flinten bei sich. Sie rannten als sei der Teufel hinter ihnen her. Ein Frau klammerte sich krampfhaft an die Hand ihres Mannes, um ihn nicht verlieren, eine andere weinte bitterliche Tränen.

„Schnell!“, schrie ein Mann in vorderster Reihe und winkte die anderen hinter sich her. In seiner Hand hielt er eine schussbereite Waffe. „Beeilt euch, schneller!“ Er wartete nur einen kurzen Moment, dann folgte er seinem eigenen Befehl und rannte so schnell es ihm möglich war. Er war jedoch noch nicht sehr weit gekommen, als seine Verfolger um die Ecke hetzten.

Es waren Wölfe. Knurrend und geifernd jagten sie die Menschen und holten immer weiter auf. Sie hatten ihre Beute direkt vor Augen und sie wollten sie nicht entkommen lassen.

Die weinende Frau geriet ins Stolpern und schlug der Länge nach hin. Sie stieß einen Schrei aus und bettelte um Hilfe, während sie versuchte zurück auf die Beine zu kommen, aber keiner ihrer Gefährten wartete. Sie alle hatten zu große Angst, um der Frau zu Hilfe zu eilen.

Gerade als sie es geschafft hatte wieder auf die Beine zu kommen, holten die Wölfe sie ein. Zwei rannten einfach an ihr vorbei, der dritte jedoch sprang ihr direkt in den Rücken und schleuderte sie ein weiteres Mal auf den Boden. Sie schrie auf, als ihr Kopf auf den harten Asphalt knallte und sich scharfe Zähne in ihre Schulter bohrten. In ihrer Panik schlug sie nach der Schnauze des Wolfes, doch er knurrte nur und begann sie zu schütteln. Ein zweiter Wolf hechtete heran und verbiss sich zielsicher in ihrer Kehle.

Der Schrei der Frau brach ab, während die anderen Wölfe sich auf die restlichen Menschen stürzten und einen nach dem anderen zu Boden rissen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie hatten auf die Wölfe geschossen und deswegen würde keiner von ihnen die nächsten Minuten überleben.

Nicht weit entfernt stand eine Gruppe von vier Wölfen und beobachtete das grausige Schauspiel mit distanziertem Interesse. Diese Leute waren an ihrem Schicksal selber Schuld. Sie waren losgezogen, um Jagd auf die Lykaner zu machen, doch das Rudel der Könige konnten sie nicht auslöschen. Die Wölfe wollten Blut sehen und niemand würde sie an ihrer Rache hindern.

Wir gehen zurück“, beschloss der braune Rüde an der spitze der Vierergruppe. Sein Name war Miguel und er hatte keinerlei Mitleid mit den Menschen dort unten, nicht nachdem was sie gerade versucht hatten. „Denn Rest schaffen sie alleine.“

Die anderen drei nickten und heftete sich an seine Fersen, als er sich abwandte und die Straße hinunter liefen, um zurück zu Cayenne zu kommen.

Ein zweiter brauner Wolf, nur etwas größer als Miguel, schloss zu ihm auf. „Wie haben sie uns gefunden?“

Ja, das würde Miguel auch gerne wissen, noch dazu, weil es nicht das erste Mal war, dass sie so überrascht wurden. „Vielleicht hat uns jemand beobachtet, als wir in die alte Fabrik eingedrungen sind.“

Und wenn nicht?“

Ohne aus dem Tritt zu geraden, warf Miguel seinem Halbbruder Murphy einen kurzen Blick zu. „Wenn nicht, dann haben wir einen Verräter in unseren Reihen und deswegen will ich unbedingt zurück zu Cayenne.“ Er würde es nicht erlauben, dass irgendjemand noch mal dem Rudel der Könige auf so bestialische Art schadete. Besonders nicht jetzt, wo sie nach monatelanger Suche endlich eine Spur hatten, die sie zu dem Mörder führen konnte.

Aber er war nicht so dumm, einfach auf offener Straße herumzulaufen. Seit die Menschen wussten, dass es Vampire und Lykaner gab, waren sie ein wenig nervös. Cayenne hatte ihnen die verborgene Welt offenbart, um ihnen zu erklären, wie leicht es war einen Vampir zu erkennen.

Eine Welle des Todes war gefolgt, kein Vampir war mehr sicher und genau das war ihr Ziel gewesen. Leider hatten sie Ryder bis heute nicht finden können. Die Ratte hatte sich in irgendeinem Loch verkrochen, doch nun war ihnen ein Trumpf in die Hände gefallen, der alles ändern konnte.

Miguel führte seine Gruppe durch Schatten und Gassen, bis sie das alte Fabrikgelände erreicht hatten, wo die Frau sich mit einem Dutzend anderen Vampiren versteckt hatten. Menschen begegneten sie keinen, genau wie die Vampire bevorzugten die meisten von ihnen es, sich zu verstecken und zu hoffen, dass dies alles nichts weiter als ein grauenhafter Alptraum war.

Durch eine aufgebrochene Tür gelangten die vier in das Innere der alten Fabrik, in der bis vor ein paar Monaten noch Holzmöbel für einen großen Möbeldiscounter hergestellt worden waren. Die Offenbarung der verborgenen Welt hatte vieles geändert. Selbst das Militär und ähnliche Einrichtungen hatten nicht viel gegen die Macht des Rudel ausrichten können, da die Lykaner sich in ihren eigenen Reihen befanden und jeglichen Schlag gegen die Königin sabotiert hatten. In dem Moment, als Cayenne beschlossen hatte, etwas gegen die Plage der Vampire zu unternehmen, waren die Menschen ihnen bereits völlig ausgeliefert gewesen.

Die vier Wölfe gelangten über eine seitliche Treppe in die hochgelegenen Büroräume, in denen die flüchtigen Vampire sich die letzten Wochen verkrochen hatte. Bereits auf dem Korridor hörte er die wütende Stimme seiner Königin und das lag nicht nur an den zerbrochenen Fenstern der Büroräume. Ihr Zorn stachelte den seinen an und so war sein Fell gesträubt, als er zu dem Büro kam, vor dem sechs Lykaner in ihrer menschlichen Gestalt Wache hielten.

Eine von ihnen war die Wächterin Victoria, die die Tür öffnete, sobald die vier nahe genug herangekommen waren und sie so direkt in das Büro reinlaufen konnten.

Der Raum war groß genug, um sechs große Schreibtische bequem unterzubringen. Diese jedoch hatte man an die Seite geschoben, um Platz für die Schlafsäcke und Habseligkeiten der Flüchtlinge zu schaffen.

Ein Wächter hockte an der Seite und durchsuchte die Sachen der Vampire auf Hinweise. Die Vampire selber lagen tot am Boden, alle, bis auf eine und vor dieser stand Cayenne.

„Sagen sie mir, wo er ist“, verlangte sie von der Frau in den mittleren Jahren. Ihr Name war Marica und sie war die Mutter von diesem Mörder.

Miguel trat ein wenig näher heran, blieb aber im respektvollem Abstand zu seiner Königin. Er wollte ihr bei der Befragung nicht im Weg stehen und solange Cayenne nichts anderes befahl, würde er auch nichts weiter tun, als zuzuschauen.

„Wenn sie es mir nicht sagen, habe ich Mittel und Wege, die Antwort aus ihnen herauszubekommen.“

Marica zog die Beine ein wenig an. Sie saß auf dem Boden und stützte sich auf die Hände. Von ihrer Lippe tropfte Blut und ihr rechtes Auge begann bereits zuzuschwellen. Cayenne hatte bereits mehr als einmal zugeschlagen, um aus ihr den Aufenthaltsort ihres Sohnes herauszubekommen.

Noch dazu war sie von zwei Dutzend Lykanern in beiden Gestalten umringt, doch sie ließ sich von ihnen nicht einschüchtern. Sie musste wissen, dass sie nicht lebend aus der Sache herauskam, aber in ihren Augen glänzte ein ungebrochener Wille.

„Wenn sie mir allerdings sagen, wo ich ihn finden kann, machte ich es schnell und schmerzlos.“

„Es ist mir egal, was sie tun. Töten sie mich schnell oder langsam. Meinetwegen foltern sie mich auch, aber aus mir bekommen sie nichts heraus.“

Ein grausiges Lächeln erschien auf Cayennes Lippen. „Das haben schon viele gesagt, aber niemand von ihnen hat es durchhalten können.“

„Keiner von ihnen war eine Mutter, die man zwingen sollte, ihr eigenes Kind zu verraten. Sagen sie doch selber, würden sie ihren Sohn einer Verrückten ausliefern?“

Ohne Vorwarnung schlug Cayenne ihr mitten ins Gesicht. Marica wurde zur Seite geschleudert und knallte mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden.

Die Wölfe begann zu knurren und unruhig auf und ab zu laufen. Selbst Miguel musste stark an sich halten, um nicht etwas Unverzeihliches zu tun. Das diese Frau es wagte. Am liebsten hätte er ihr auf der Stelle die Kehle aufgerissen.

„Ruhig“, befahl Cayenne und sofort verstummten die Wölfe im Raum, rückten aber ein Stück näher, als Cayenne sich vor die Vampirin hockte und ihr mit einem Griff ins schwarze Haar den Kopf in den Nacken zerrte. „Letzte Chance, wo ist Raphael?“

Anstatt zu antworten, verzogen die Lippen der Frau sich zu einem blutigen Lächeln und dann begann sie auch noch leise zu lachen. „Ich weiß es nicht“, flüsterte sie dann und erfreute sich an ihrem kleinen Triumph. „Er brachte uns vor Wochen hier her und brach dann den Kontakt ab, um uns zu schützen. Ich habe seit dem nichts mehr von ihm gehört.“

Jegliches Gefühl verschwand aus Cayennes Gesicht. Ihre Hand ballte sich in dem Haar ein wenig fester zusammen. „Das mit dem Schutz hat wohl nicht so gut funktioniert, oder?“

„Nein hat es nicht, aber sie sind ihm trotzdem noch keinen Schritt näher gekommen. Sie werden ihn niemals finden.“

Ein Knurren vibrierte in Cayennes Kehle. „Das werden wir noch sehen. Er kann sich nicht ewig verstecken und sobald …“

Plötzlich und völlig unerwartet holte Marica aus und schlug nach Cayennes Gesicht. Die Königin schaffte es nicht mehr rechtzeitig auszuweichen. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus und fiel auf den Rücken. Dabei griff sie sich ins Gesicht.

Drei Wölfe stürzten sich auf die Vampirin. Nicht um sie zu töten, sondern um sie auszuschalten. Der Rest eilte zu Cayenne, die sich wimmernd das Gesicht hielt. Ihr Umbra Diego redete beruhigen auf sie ein, während er versuchte ihre Hände wegzuziehen, um zu sehen, was passiert war, doch auf den Anblick, der sich ihnen dann bot, war wohl keiner gefasst gewesen. In ihrem linken Auge steckte eine lange Glasscherbe.

Knurrend drehte Murphy sich zu der Vampirin um. „Bringt sie weg. Tut alles was nötig ist, um noch etwas aus ihr herauszubekommen. Verbreitet die Nachricht ihrer Gefangenschaft.“ Vielleicht würde das diesen Mörder herauslocken. „Aber lasst sie vorerst am Leben. Die Königin selber wird sie töten wollen.“ Und nichts anderes hatte diese Frau verdient.

Draußen am Fenster saß der kleine Spatz und zwitscherte unschuldig. Nein, das war kein Spatz, das war … ich wusste nicht was da zwitscherte.

Verschlafen hob ich den Kopf und versuchte mich zu orientieren. Ich war in keinem Fabrikbüro, ich lag in Raphaels Bett. Naja, ich lag halb auf ihm drauf. Die Nacht war vorbei, durch die Fenster schien bereits die Sonne.

Ich schüttelte den Kopf, um die Fetzen der Vision loszuwerden. Manchmal verfluchte ich die Geister. Das hatten sie mir doch nur geschickt, weil ich mich weigerte, ihren Wünschen nachzukommen. Aber wenn sie glaubten, dass würde irgendetwas ändern, dann täuschten sie sich. Es spornte mich erst recht an, Raphael zu helfen, denn so würde ich auch seine Mutter schützen.

Du glaubst wirklich, dass du das aufhalten kannst, wenn du nichts tust? Lalamika saß in der Zimmertür und beobachtete mich. Wenn du Marica wirklich retten willst, dann töte Raphael.

Nein, das war eindeutig zu früh, um mir ihre Weissagungen vom drohenden Weltuntergang anzuhören. Darum griff ich mir eines der Kissen und warf es über Raphael hinweg nach ihr.

Hey!, schimpfte sie, als es durch sie hindurch flog und dann irgendwo im Flur auf dem gräulichen Teppich landete. Ihre Konturen verschwammen, nur um sich gleich wieder neu zu formen. Das hier ist kein Spiel, Tarajika.

Nein, das war es nicht und genau deswegen wollte ich nichts mehr davon hören – erst recht nicht, wenn ich eigentlich noch schlief und noch gar nicht richtig denken konnte.

Na gut, wie du willst. Sie erhob sich mir zuckender Schwanzspitze, warf mir noch einen verschnupften Blick zu und stolzierte dann davon.

Ich kuschelte mich seufzend zurück auf Raphaels Brust und begann leise zu schnurren. Ich hasste diese Visionen. Nicht nur wegen dem was sie bedeuteten, die Bilder darin verfolgten mich manchmal wochenlang. Sterbende Menschen, tote Vampire, das Blut, die Schreie, die Angst. Zum Glück hatte ich dieses Mal hauptsächlich Wut und Genugtuung gespürt, trotzdem ließen sich die andern Eindrücke nicht einfach so vertreiben.

Als ich spürte, wie Raphael unter mir langsam erwachte, kuschelte ich mich ein wenig enger an ihn und begann ich vorsichtig an der Seite zu streicheln. Hier war es so schön warm und kuschelig und ich wollte noch nicht aufstehen, also musste er auch liegen bleiben.

Anfangs schien er wirklich wieder wegzudösen, doch der Dunst des Schlafes verging mit der Zeit. Er blinzelte in die helle Morgensonne, hob langsam die Hand und betastete meinen Rücken, so als wollte er feststellen, was da auf ihm drauf lag. Dann hob er den Kopf, blinzelte mich verschlafen an und seufzte leise, bevor er ihn wieder in sein Kissen fallen ließ.

Sein nächster Griff ging zum Saum meines Schlafshirts. Er packte ihn und zog ihn mir mit einem Ruck bis fast an die Knie. „Zieh gefälligst Unterwäsche an, wenn du dich schon ungefragt in mein Bett schleichst, dafür hat meine Mutter dir das Zeug gekauft.“

Die hatte mich beim Liegen so eingeengt, ohne war doch viel besser.

Als ich über eine empfindliche Stelle strich, bekam er eine Gänsehaut und als ich mein Bein an seinen etwas nach unten schieben wollte, schnellte seine Hand vor und hielt es fest. „Kannst du mir mal erklären, was du in meinem Bett zu …“

„Pssst.“ Ohne den Kopf zu heben, legte ich ihm einen Finger auf dem Mund. Ich wollte noch ein bisschen hier liegen bleiben. Als ich mich dann noch ein wenig auf ihn rauf schob, gab er ein seltsames Geräusch von sich und packte mich an der Hüfte. Ich begann wieder ihn beruhigend zu streicheln, so wie Lalamika das früher bei mir gemacht hatte.

„Verdammt, hörst du wohl auf damit!“ Nicht besonders sanft schubste er mich von sich herunter und richtete sich verärgert auf. „Was hast du überhaupt in meinem Bett zu suchen?“

Ich drehte mich auf den Rücken, streckte alle Glieder von mir und gähnte einmal herzhaft.

„Verdammt“, fluchte er, griff wieder nach meinem Schlafshirt, um es erneut herunter zu ziehen. „Besitzt du eigentlich sowas wie Schamgefühl?“

Warum war er denn so böse? Ich hatte doch gar nichts gemacht. Vielleicht war er ja noch müde. Unter seinen Augen hatte er jedenfalls dunkle Ringe. Als ich die Hand hob, um ihn dort zu berühren, zuckte er vor mir zurück, als würde er sich davor fürchten. „Ich tu dir nichts“, sagte ich leise und streckte den Arm ein wenig weiter.

Er flüchtete so eilig aus dem Bett, dass er fast noch über seine eigenen Füße stolperte. „Hör auf damit!“, fuhr er mich an. Er trug nur Boxershorts und das Pflaster an seiner Schulter.

Ich blinzelte nur einmal und ließ dann seufzend meine Hand sinken. „Gestern hat es dich nicht gestört, mit mir in einem Bett zu liegen.“

„Doch, hat es, aber es gab nur ein Bett. Hier ist das nicht so. Das hier ist mein Bett und darin hast du nicht zu suchen.“

Hm, dass sah ich aber ganz anders. Ich durfte ihn schließlich nicht aus den Augen lassen.

„Egal, vergiss es.“ Er rieb sich müde über die Augen. „Ich geh duschen und wenn ich wiederkomme, bist du hier gefälligst verschwunden, verstanden?“

„Duschen?“ Ich wurde hellhörig. Das Duschen hatte Spaß gemacht. „Duschst du mich dann auch wieder?“

Sein Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus. Einen Moment schaute er mich einfach nur an, dann drehte er sich wortlos herum und verschwand aus dem Zimmer.

Hm, ich kannte ihn ja noch nicht lange, aber wenn ich sein Verhalten nicht falsch interpretierte, dann war das ein klares Nein gewesen. Nur verstand ich nicht warum. Er schien heute Morgen jedenfalls keine gute Laune zu haben. Vielleicht hatte er ja auch von der Königin geträumt und jetzt quälten ihn wieder die Gedanken an sie. Ich sollte irgendwas machen, was ihn ablenken konnte. Aber erstmal musste ich ins Bad. Also stieg ich aus dem Bett und ging nach oben, da unten ja bereits von Raphael besetzt war.

In der Küche hörte ich Marica hantieren, doch ich ging erst zu ihr, nachdem ich im Badezimmer fertig war.

Sie stand am Waschbecken und machte gerade einen Teller vom Abendessen sauber. Als ich eintrat, schaute sie auf und lächelte mich an. Heute trug sie ihr schwarzes Haar offen. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“

Ich nickte. „Ich hab bei Raphael geschlafen. Hast du etwas zu Essen?“

„Aber natürlich. Schau mal in den Kühlschrank. Aber iss nicht zu viel, ich gehe gleich Brötchen holen, damit wir alle zusammen frühstücken können.“

„Okay.“ Meine schnelle Einwilligung wurde leider auf eine harte Probe gestellt, als ich die Tür zum Kühlschrank öffnete. Meine Augen wurden riesig. So viel zu Essen. Wie sollte ich da entscheiden, was ich nehmen sollte und was nicht?

„Falls du da nichts findest, kannst du auch noch in den Vorratsschrank schauen.“ Sie zeigte auf einen hohen Schrank in der Ecke und trocknete sich dann die Hände an einem Handtuch ab.

„Da ist noch mehr Essen?“

Dafür bekam ich ein Lächeln. „Nimm dir einfach was du möchtest. Ich bin mal kurz weg und falls du etwas brauchst, Raphael ist ja noch da.“

Ich nickte, konnte den Kopf aber nicht aus dem Kühlschrank nehmen. Da war rohes Fleisch, direkt neben ganz vielen Bechern, auf denen Obst abgedruckt war. Eier und Gemüse und Aufschnitt und Käse und … ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Und da war da noch den Vorratsschrank. Sollte ich da auch mal reinschauen?

Diese Überlegung beschäftigte mich noch immer, als ich hörte, wie sich die Haustür hinter Marica schloss. Am Ende entschied ich mich für eine Packung Wurst und einen Jogurt. Und der Apfel, der sah lecker aus. Aber dann entdeckte ich noch die Reste vom gestrigen Abendessen. Die riss ich auch noch an mich.

Mit meiner Beute bewaffnet, setzte ich mich an den Küchentisch und reihte alles ordentlich vor mir auf. Dann öffnete ich als erstes die Wurst und schob mir davon eine Scheibe in den Mund. Die Zweite war schon im Begriff der ersten zu folgen zu folgen, als ich ein Klopfen hörte.

Ich hielt mitten in der Bewegung inne und lauschte. Das war nicht von unten gekommen, doch wo genau der Ursprung lag, erkannte ich erst, als sich das Geräusch wiederholte. Da war jemand an der Tür.

Unentschlossen erhob ich mich von meinem Platz und ging in den Flur. Links und rechts neben der Haustür waren jeweils drei kleine Fenster, durch die ich eine junge Frau mit schwarzen Haaren sah. Sie trug eine schwarze Hose, die voll war mit Nieten, Ketten, Schnallen und Reißverschlüssen an seltsamen Stellen. Darüber trug sie einen langen, schwarzen Mantel, der der Hose sehr ähnlich war und nur wenig von dem engen Korsett verbarg.

Da niemand auf das Klopfen reagierte, beugte sie sich zum Fenster vor, um ins Haus zu schauen. Auch ihre Augen und ihre Lippen waren schwarz und um den Hals trug sie ein breites Lederhalsband.

Als sie mich im Flur sah, deutete sie auf die Tür und klopfte noch einmal.

Ich schaute von ihr zur Treppe und dann wieder zurück. Ach, was sollte schon groß passieren. Ich überwand die zwei Schritte und zog die Tür auf. Meine Nase sagte mir sofort, dass sie ein Lykaner war.

Sie musterte mich einmal sehr genau von oben bis unten und lächelte dann. „Hi.“

Irgendwas in ihrem Blick ließ mich einen Schritt vor ihr zurück weichen. So hatte Jegor Vivien immer angeschaut. Kurzerhand kehrte ich ihr den Rücken und lief runter ins Souterrain. An der Tür zum Bad zögerte ich keinen Moment. Ich riss sie einfach auf und stürmte in den Raum.

Raphael, der noch unter der Dusche stand, wirbelte zu mir herum. „Verdammt, was …“

„Da ist jemand an der Tür“, erklärte ich aufgeregt und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter, um mich zu versichern, dass sie mir nicht gefolgt war.

„Dann geh zu meiner Mutter“, knurrte er und hielt sich die Hand vor dem Schritt, während er die Tür zur Dusche öffnete und einhändig nach dem Handtuch auf dem Waschbeckenrand angelte.

„Deine Mutter ist nicht da.“

„Dann mach die Tür doch einfach selber auf“, murrte er und wickelte sich das Handtuch noch in der Dusche um die Hüften.

„Hab ich schon.“

Er bedachte mich mit einem Blick, bei dem andere wohl tot umgefallen wären. „Und warum platzt du dann hier rein? Noch dazu ohne anzuklopfen?“

Na warum wohl? „Die Frau hat mich so komisch angeguckt.“

Er murmelte etwas Unverständliches, trat dann so nass wie er war aus der Dusche und lief an mir vorbei in den Flur.

Ich blieb direkt hinter ihm, als er über die Treppe nach oben ging und musste feststellen, dass die Haustür nun zu war. Dafür hörte ich ein paar Geräusche aus der Küche. Raphael ging direkt dort hin, blieb aber im Türrahmen stehen.

Die junge Frau stand an der Anrichte und goss sich gerade Saft in ein Glas, schaute aber auf, als sie uns bemerkte und musterte uns mit unverhüllter Neugierde. Dann erschien auf ihrem Gesicht ein äußerst dreckiges Lächeln. „Da hatte wohl jemand eine sehr angenehme Nacht gehabt.“

Raphael schnaubte nur, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder den Korridor hinunter.

Ich beeilte mich, dass ich hinter ihm her kam.

„Hey, jetzt warte doch mal“, rief die junge Frau und folgte uns eilig.

Raphael wartete nicht und so schnell, wie er vor ihr floh, wollte er wohl auch nichts mit ihr zu tun haben. Darum baute ich mich auch an der untersten Stufe der Treppe schützend vor ihm auf. „Lass ihn in Ruhe, sonst tue ich dir weh“, warnte ich sie.

Sie hielt an, zog eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen nach oben und begann frech zu grinsen.

Hinter mir hörte ich Raphael genervt stöhnen. Dann packte er mich an den Schultern und schob mich in das offene Bad hinein. „Geh erst mal duschen, du stinkst nämlich.“

Verwundert schaute ich mich nach ihm um. „Hilfst du mir wieder?“

Seine Antwort war eben so klar wie deutlich. Er zog die Tür zwischen uns zu.

Das hieß dann wohl nein. Aber das war nicht schlimm, dieses Mal hatte ich schließlich Hände und war daher alleine imstande, den Wasserhahn aufzudrehen. Als erstes jedoch musste ich mir das Hemd ausziehen, damit es nicht nass wurde und da ich nicht wusste, wohin damit, ließ ich es zu seinen Shorts auf den Boden fallen. Dann stieg ich in die Dusche und drehte das Wasser auf.

Sofort strömte der Strahl auf mich nieder. Die erste Berührung war ein kleiner Schock. Das Wasser war eiskalt. Vor Schreck sprang ich zur Seite, nur leider war da die Duschwand und so musste ich noch mal durch den kalten Strahl, um aus der Dusche zu flüchten. Das war nicht sehr angenehm gewesen.

Bei den Geistern, warum war das denn so kalt? Das war in dem Hotel nicht so gewesen. Ob ich vielleicht doch Raphael holen sollte? Unentschlossen schaute ich zur Tür. Nein, ich würde das alleine schaffen. Also nährte ich mich der Dusche wieder und schaute mir die Sache aus der Nähe an.

Da waren zwei Wasserhähne. Einer hatte einen roten Punkt, einer einen blauen. Ich begann an beiden zu drehen und stellte fest, das einer für warmes Wasser und einer für kaltes war. Nachdem ich diese Erkenntnis erlangt hatte, schaffte ich es eine angenehme Temperatur einzustellen. Leider offenbarte sich mir kurz darauf schon das nächste Problem.

Im Hotel hatte Raphael Shampoo benutzt, hier jedoch standen sieben verschiedene Flaschen, die alle anders aussahen und ich wusste nicht, welches davon das richtige war. Also begann ich damit sie nacheinander zu öffnen und daran zu riechen. Am ende entschied ich mich für eine schwarze Flasche, mit drei großen Buchstaben auf der Seite. Ich wusste nicht, ob das richtig war, doch es roch ein wenig nach Raphael, also konnte es nicht verkehrt sein.

Genau wie er es bei mir vor zwei Tagen getan hatte, seifte ich mich von Kopf bis Fuß damit ein und stellte mich dann unter den Strahl, um es alles wieder abzuspülen.

Sobald auch das letzte bisschen Schaum im Abfluss verschwunden war, stieg ich vergnügt aus der Dusche. Ich hatte es ganz allein gemeistert – ich war stolz auf mich. Doch als ich mich dann nach eine Handtuch umschaute, musste ich feststellen, dass Raphael wohl das letzte genommen hatte. Aber das war nicht schlimm, dann würde ich eben einfach an der Luft trocknen.

Zufrieden mit dieser Entscheidung verließ ich das Bad. Zuerst wollte ich wieder nach oben gehen, doch dann hörte ich die Stimmen aus Raphaels Zimmer und schlug diese Richtung ein, um ihm von meinem Erfolg zu berichten. Schon bevor ich sie erreicht hatte, hörte ich ihre Stimmen.

„ … ohne Tristan und Vivien hier aufgekreuzt?“

„Ich musste früher weg.“

„Warum?“

Er antwortete nicht und ich musste ihn nicht mal sehen, um zu wissen, dass seine Gedanken wieder zu Cayenne und ihrem letzten Zusammentreffen abschweiften. Ich beschleunigte meine Schritte und trat genau in dem Moment in dem Raum, als die Frau ihm eine Hand aufs Bein legte.

Sie saßen beide am Fußende des Bettes, er hatte sich in der Zwischenzeit aber abgezogen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht … es war der gleiche, nachdem er im Hotel die Kette in den Mülleimer gefeuert hatte.

Die Frau beugte sich ein wenig vor. „Hey, was hast …“

„Geh weg von ihm!“, fauchte ich wütend. Sie sollte ihn nicht wieder traurig machen.

Beide schauten überrascht zu mir auf, doch nur die Frau begann zu lächeln. Raphael schlug sich nur eilig die Hände vor sein Gesicht. „Nicht schon wieder“, murmelte er entnervt.

Ich beachtete ihn nicht weiter. „Wenn du nicht aufhörst ihn traurig zu machen, dann werde ich …“

„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mehr nackt vor mir rumrennen?“, unterbrach er mich mitten im Satz und schnappte sich seine Tagesdecke vom Bett. Keine zwei Sekunden später war er bei mir und wickelte mich darin ein. „Das macht man nicht.“

„Aber da war kein Handtuch“, rechtfertigte ich mich.

„Dann hättest du jemanden rufen können, der dir eines bringt, aber hör endlich auf in deinem Evakostüm rumzutanzen, sonst war das deine erste und einzige Nacht, die du unter diesem Dach verbracht hast.“

Ach wirklich? Herausfordernd hob ich mein Kinn. „Ich gehe aber nicht.“

Das hatte einen wirklich bösen Blick zur Folge. „Geh und zieh dir etwas an.“

„Ich weiß aber nicht, wo meine Kleidung ist.“

Die Frau gab einen erstickten Laut von sich, der mich sehr an ein unterdrücktes Lachen erinnerte.

Raphael funkelte sie an. „Das findest du wohl witzig.“

Sie grinste nur und nickte begeistert.

Er kniff sich in den Nasenrücken. „Anstatt dich auf meine Kosten zu amüsieren, könntest du dich mal nützlich machen und mir helfen.“

„Klaro.“ Immer noch grinsend sprang sie zurück auf die Beine. „Wo sind die Klamotten?“ Sie schaute sich suchend um, als vermutete sie, das Raphael sie irgendwo im Zimmer versteckt hätte.

Er ließ die Hand wieder sinken. „Ich habe die Tüten ins Wohnzimmer gestellt, wenn Mama sind nicht weggeräumt hat, müssten sie noch immer da sein.“

„Na dann wollen wir mal.“ Sie kam auf mich zu und schien nicht mal zu bemerken, wie ich einen Schritt vor ihr zurück wich, als sie sich meine Hand schnappte. „Komm, machen wir dich mal Salonfähig, bevor der werte Herr noch an Herzversagen eingeht, weil er seine Unschuld durch bisschen nackter Haut bedroht sieht.“

„Geht das denn?“, fragte ich verwundert, als sie mich den Flur entlang zog.

„Bei ihm? Bestimmt.“

„Das hab ich gehört!“, rief Raphael uns hinterher.

„Das war auch so beabsichtigt!“, rief sie zurück und grinste.

Ich musterte sie nur misstrauisch, als sie mich ins Wohnzimmer brachte und nach den Tüten suchte. Sie war irgendwie … keine Ahnung, wie ich das sagen sollte. Seltsam? Auf jeden Fall schien sie keine Fremde für Raphael zu sein und ich war mir noch nicht sicher, ob das gut oder schlecht war.

„Ah, hier sind sie ja.“ Halb hinter der Couch zog sie ein Dutzend Tüten hervor und stellte sie vor dem Wohnzimmertisch ab. Dann zog sie ihren Mantel aus, warf ihn über die Lehne des Sessels und machte sich über den Inhalt der Tüten her.

Ich stand in die Decke gehüllt etwas verloren daneben und wusste nicht, wie ich es finden sollte, dass sie einfach an meine Sachen ging. Durfte sie das überhaupt? Marica hatte sie schließlich mir geschenkt.

„Wow, ihr müsste ja ein richtig fetten Einkaufsbummel gemacht haben“, bemerkte sie, als sie die einzelnen Sachen nach und nach aus den Tüten holte, sie sich ansah und dann auf dem Tisch ablegte.

„Marica hat gesagt, dass ich das alles brauche.“

„Das und noch viel mehr“, grinste sie und zog dann aus der einen Tüte mehrere Unterwäschesets. „Ah, damit kommen wir der Sache schon näher.“ Sie sah sich die einzelnen Teile an und entschied sich dann für ein gelbes Set aus Spitz.

Das was sie nicht brauchte, steckte sie zurück in die Tüte, bei den anderen beiden Teilen, entfernte sie die Etiketten mit den Zähnen und warf sie dann achtlos auf den Tisch. „Raphael sagt, du bist der Ailranthop aus dem Hof. Ähm … Tinker?“

„Tarajika.“ Ich nahm die Unterwäsche entgegen. „Und wer bist du?“

Sie hielt kurz inne und lächelte mich an. „Amber. Ich bin Raphaels kleine Schwester.“

„So wie Tristan sein Bruder ist?“ Ich ließ die Tagesdecke einfach auf den Boden fallen und stieg in den Slip. Das war gar kein Problem. Mit dem BH dagegen hatte ich ein paar Schwierigkeiten.

„Genau“, stimmte sie mir zu und kam mir zu Hilfe. „Unsere Mütter, also die von Raphael und meine, waren früher eng miteinander befreundet und als Marica schwanger wurde und dieser Pisser Gian seine Frau verließ, weil er keine Lust auf ein Kind hatte, haben meine Eltern sich sehr viel um Raphael und Marica gekümmert und naja, so sind aus zwei Familien eine geworden.“

„Gian?“ Ich rückte die Körbchen ein wenig zurecht. Es war noch immer ein komisches Gefühl, sowas zu tragen.

„Raphaels Vater.“ Sie zupfte an meinen Trägern und trat dann zufrieden zurück. „Obwohl er ja eigentlich nur der Samenspender war.“

Durch die Rückwand des Wohnzimmers spazierte Lalamika in den Raum. Sie schaute sich kurz um, wandte sich dann nach rechts und verschwand durch die Wand in die Küche.

„Samenspender?“

„Ähm.“ Sie runzelte die Stirn. „Das ist ein Mann, der seinen Samen zur Verfügung stellt, damit eine Frau schwanger werden kann.“

„Was für ein Samen?“

Amber begann mich sehr merkwürdig anzuschauen. „Der männliche Samen.“ Sie kniff die Augen leicht zusammen. „Weißt du wie man Babys macht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Okay, jetzt verstehe ich, was Raphael damit meinte, du seist noch ein halbes Kind.“

„Hmpf“, machte ich unzufrieden. „Ich bin schon erwachsen.“

„Oh ja, das sehe ich.“ Sie zwinkerte mir zu und warf mir dann ein paar Socken aus einer der Tüten zu. Dabei hob sie den Arm und fiel etwas merkwürdiges an ihr auf.

„Du hast ja gar kein Fell.“

Irritiert neigte sie den Kopf zur Seite. „Was meinst du mit Fell?“

„Unter deinen Armen.“ Ich trat an sie heran, hob ihren Arm und zeigte in ihre Achsel. „Da ist kein Fell. Ich habe da welches.“ Zu Demonstrationszwecken hob ich auch meinen Arm.

„Ah“, machte sie und nickte verstehend. „Das ist kein Fell, das sind Achselhaare und die habe ich mir abrasiert.“

„Warum?“

„Hygiene, Ästhetik.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es sieht einfach besser aus, wenn da kein Busch heraus schaut.“

Ich schaute auf meine eigene Achsel. „Soll ich das auch wegmachen?“

„Wenn du möchtest.“

„Und die anderen Achselhaare?“

„Welche anderen?“

„Na die da unten.“ Ich zeigte auf mein Höschen.

Amber warf bellend ihren Kopf in den Nacken und lachte erstmal lauthals los. Sie wischte sich sogar eine Lachträne aus dem Augenwinkel, bevor sie sich wieder den Tüten widmete und eine kurze Jeans näher in Augenschein nahm. „Das sind keine Achselhaare, dass sind Schamhaare und ja, die rasiert man sich auch ab.“

Das verstand ich nicht. Warum wuchsen die denn, wenn man die gar nicht brauchte? „Du hast also nur auf dem Kopf Haare?“, fragte ich und setzte mich auf den Sessel, um mir die Socken anzuziehen.

„Darauf kannst du wetten.“ Sie legte die Hose neben mich auf die Armlehne. „Hier, zieh die an.“

„Und wie macht man die weg?“

„Mit einem Rasierer.“ Sie schaute sich zwei Oberteile an und legte dann das ärmellose Hemd in rosa zu der kurzen Jeans. „Wenn du möchtest, dann zeige ich dir wie das geht.“

„Kann das nicht Raphael machen?“

Die Frage ließ sie schmunzeln. „Er kann das bestimmt, aber glaub mir wenn ich dir sage, es ist besser, sowas von einer Frau zu lernen.“

„Warum?“ Sobald ich die Socken an hatte, schlüpfte ich in die kurze Jeans und zog mir dann das Hemd über den Kopf.

„Weil Männer überhaupt keinen Durchblick haben.“ Sie begann damit die restlichen Sachen wieder zurück in die Tüten zu räumen. „Es gibt Sachen, die lassen sich leichter mit einer Frau besprechen und da du scheinbar noch nicht aufgeklärt bist, solltest du mit sowas lieber zu mir oder Marica kommen.“

Als hätte ihr Name sie herbeigezaubert, hörte ich wie die Haustür sich öffnete. Gleich darauf rief Marica auch schon nach Raphael.

„Aufgeklärt worüber?“ Ich ließ mich auf den Sessel sinken.

„Den Zyklus einer Frau, Männer, Sex. Sowas eben.“

Draußen auf dem Flur wechselten Marica und Raphael ein paar Worte.

„Oh, das mit dem Zyklus weiß ich, das hat Vivien mir erklärt.“

Verwundert wandte Amber mir das Gesicht zu. „Vivien?“

Ich nickt. „Ja, als ich bei Jegor im Käfig saß. Als ich vierzehn wurde, fing ich auf einmal an zu bluten, obwohl ich mich nicht verletzt habe. Da hat sie mir das erklärt.“

Ihr Gesicht verdüsterte sich. „Du wurdest von diesem Schwein in einen Käfig gesteckt?“

Zu einer Antwort kam es nicht mehr, da genau in dem Moment Marica zur Tür hereinkam. Gleichzeitig klopfte es auch wieder draußen an der Haustür. „Ah, du bist schon angezogen.“

„Amber hat mir geholfen.“

Draußen auf dem Korridor waren mehrere Stimmen zu hören. Ich reckte den Hals, aber aus dem Sichtwinkel konnte ich nichts sehen.

„Das war aber nett von Amber. Ansonsten hat alles geklappt?“

Ich nickte.

„Schön, dann komm mal, es gibt gleich Frühstück.“

„Ja.“ Schon in der nächsten Sekunde war ich auf den Beinen und rannte ohne auf die beiden zu warten hinüber in die Küche.

Raphael war gerade dabei den Tisch zu decken, während ein älterer Mann mit blondem Haar und angehender Glatze einen Korb mit Brötchen füllte.

„Essen“, sagte ich, stürmte quer durch die Küche und schnappte mir direkt eines der Brötchen.

Raphael griff mit seinem Seufzen nach meinen Schultern, schob mich dann zum Tisch und drückte mich auf einen der Stühle. „Sitzen bleiben“, befahl er und ging zur Anrichte.

Da ich vorerst was zum Essen hatte, würde ich erstmal nicht widersprechen. Doch als ich das Brötchen zum Mund führen wollte, bemerkte ich auf der anderen Seite des Tisches noch eine weitere Person. Es war ein kleiner Junge von sechs Jahren, der konzentriert an einer Videokamera herumspielte und nicht bemerkte, dass Lalamika vor ihm auf dem Tisch saß und ihn beobachtete.

Die Witterung des Kleinen … ich kannte sie. „Anouk.“ Das war Viviens Sohn. Er war in der Gefangenschaft bei Jegor geboren worden, doch im Gegensatz zu mir, war er bereits vor zwei Jahren frei gekommen.

Der kleine Junge schaute auf, blinzelte einmal und widmete sich dann wieder seiner Kamera.

Wusste er nicht mehr wer ich war? Dabei hatte er mich früher doch ein paar mal mit seinem Essen gefüttert. Naja, bis Vivien das mitbekommen und ihm verboten hatte. Vivien hielt mich für gefährlich.

Der Ältere Mann trat mit dem Korb voller Brötchen an den Tisch und stellte ihn zwischen den Tellern ab. „Hallo. Ich bin Oliver.“

Ich warf einen Blick zu Raphael, aber der kehrte mir gerade den Rücken.

„Du musst Tarajika sein. Marica hat mir gestern von dir erzählt.“

„Sie hat sie nicht erwähnt.“

Das ließ ihn lächeln. „Ich bin der Vater von Vivien.“

Hinter mir auf dem Flur hörte ich Marica und Amber leise miteinander tuscheln. Sie blieben sogar noch einen Moment draußen stehen, um ihr Gespräch zu beenden, bevor sie in die Küche traten und Raphaels Mutter uns alle mit einem „Morgen“ begrüßte und dann begann Lebensmittel aus dem Kühlschrank auf den Tisch zu räumen.

Amber kam zum Tisch, drückte Anouk einen Kuss auf den Kopf und setzte sich dann neben ihn. „Hast du was Schönes gefunden, was du aufnehmen konntest?“

Der Kleine nickte, drückte dann ein paar Knöpfe an der Kamera und zeigte sie Amber.

Ich biss in mein Brötchen und beobachtete sie alle aufmerksam. Zwischen ihnen schien eine starke Bande zu bestehen und auf einmal kam ich mir irgendwie überflüssig vor. Dieser Zusammenhalt und wie sie Hand in Hand arbeiteten … sowas hatte ich nie gehabt.

Der Tisch wurde immer voller. Nicht nur durch die Familie, auch mit Essen. Dann konnte ordentlich zugelangt werden und das taten wir auch, allen voran ich. Auch wenn Marica sagte, dass genug für uns alle da sei, stapelte ich das Essen auf meinem Teller. Einmal stibitzte ich auch etwas von Raphaels, weil er die letzte Scheibe von der Wurst genommen hatte, aber die wollte ich haben.

Als ich dann aber ein zweites Mal nach seinem Teller greifen wollte, schob er ihn aus meiner Reichweite und legte sein Arm als Verteidigungslinie davor.

„Lach nicht“, grummelte er Amber an, deren Grinsen immer breiter wurde, behielt dabei meine Hände ganz genau im Auge. Ich glaubte, er traute mir nicht.

„Wenn du sehen würdest wie du guckst, würdest du auch lachen“, grinste Amber.

„Es freut mich, dass ich zu deiner Erheiterung beitragen kann. Lass es“, warnte er mich, als meine Finger in seine Richtung zuckten.

„Hier“, Amber reichte mir ihren Joghurt.

„Für mich?“

„Klar, du hast das ein wenig nötiger als ich.“

Ich schnappte ihn mir und stellte ihn zu den beiden anderen Joghurts, die ich bereits hatte.

„Nach dem Essen fangen wir an dein Zimmer herzurichten“, warf Marica von der Seite ein. „Amber, du hilfst doch sicher.“

„Klar, kein Problem. Ein paar Tage habe ich noch Urlaub.“

Raphael schluckte seinen Bissen herunter. „Wo soll das ganze Zeig aus dem kleinen Zimmer eigentlich hin?“

Ein Stück von dem aufgeschnittenen Obst landete auf Maricas Teller. „Wir müssen aussortieren. Was wir nicht mehr gebrauchen können, stell einfach raus in den Garten, ich kümmere mich dann darum, dass es abgeholt wird. Für den Rest musst du dir im Hobbykeller eine Ecke suchen, wo du es stapeln kannst.“

„Super, also nicht nur ausräumen, sondern auch ausmisten.“ Raphaels Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Marica beachtete ihn nicht weiter. „Oliver, würdest du mit mir nach Pforzheim fahren, um Farbe zu besorgen und was man da sonst noch so brauch?“

Er nickte „Natürlich. Aber lass uns vorher bei Vivien im Keller schauen, die haben doch letztes Jahr erst das halbe Haus renoviert, da müsste noch eine ganze Menge Material rumliegen.“

Raphaels Mutter lächelte. „Du bist ein Schatz.“

„Wann genau kommt Vivien eigentlich?“, wollte Amber wissen.

Ganz unerwartet hob Anouk seinen Blick von der Kamera und lauschte aufmerksam.

Oliver griff nach seinem Kaffee. „Am Nachmittag. Ihr Flieger landet gegen drei, ich hole sie dann am Flughafen ab.“

„Ich weiß, wir sollten eigentlich kein großes Aufhebens darum machen“, sagte Marica dann, „aber ich würde ihre Rückkehr gerne mit einem kleinen Grillfest feiern.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Amber sofort.

„Aber nicht mehr heute“, meinte Oliver. „Roger will sie einfach nur nach Hause bringen und ich denke, sie brauch auch einen Abend Ruhe.“

Marica nickte verstehen. „Natürlich. Dann machen wird das morgen. Bei dir im Garten? Ich werde dann ein paar Salate und das Fleisch vorbereiten.“

„Dann musst du aber noch zu Enzo und May in den Laden“, warf Amber ein. „Die Tabascosoße ist alle und ich will Hühnchen.“

„Das weiß ich, schließlich bin ich diejenige, die immer einkaufen geht“, erwiderte sie. „Außerdem willst du immer Hühnchen.“

Ich hob den Kopf und verengte die Augen ein wenig. „Ich will kein Hühnchen.“ Ich erinnerte mich nur zu gut an das letzte Hühnchen, dass ich gegessen hatte. „Hühnchen ist nicht gut für meinen Magen.“

Als mich daraufhin alle etwas seltsam anschauten, schaltete Raphael sich ein. „Dieses Hühnchen kannst du ohne Probleme essen, Gnocchi, das ist nicht wie das andere.“

„Das hast du beim letzten Mal auch gesagt und dann … hast du geschimpft“, fügte ich kleinlaut hinzu. Als die Blicke sich nun auf ihn richteten, schaute er schnell auf seinen Teller. „Dann isst du eben etwas anderes. Du schaufelst doch eh alles in dich rein, als wärst du eine Mülltonne.“

„Raphael!“, mahnte seine Mutter.

„Ist doch wahr“, grummelte er in seinen nicht vorhandenen Bart.

Amber wandte sich währenddessen an Anouk. „Und was willst du heute machen? Hilfst du mit das Zimmer auszuräumen, oder willst du mit Opa fahren?“

Der Kurze überlegte kurz und deutete dann auf seinen Großvater. Als Amber dann eine Augenbraue hochzog, als wartete sie noch auf etwas, seufzte er leise. „Ich gehe mit Opa.“

„Dann wäre das also geklärt“, sagte Marica schlussendlich.

„Und ich?“, fragte ich. „Was soll ich machen?“

„Du hilfst natürlich Raphael.“

Raphael stöhnte, aber ich freute mich. So würde ich nicht nur dabei helfen mein Zimmer herzurichten, ich konnte auch in seiner Näher bleiben.

 

°°°

 

„Achtung!“, rief Amber.

Raphael machte einen Satz zur Seite und stütze den wackligen Kartonberg ab, bevor er über meinem Kopf zusammenbrach und ich darunter begraben wurde. Die oberste Kiste aber wollte da nicht so recht mitspielen. Sie rutschte herunter, knallte Raphael erst auf den Schädel und krachte dann auf den Boden, wo sie zur Seite kippte, sodass sich das Spielzeug daraus über den ganzen Boden verteilen konnte. Eine Holzeisenbahn samt Schienen, ein paar Spielzeugautos, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hatten, zwei Dinokuscheltiere, uralte Playmobile Figuren, ein Spielzeugflugzeug und noch ein paar andere Kleinigkeiten.

„Verdammt, Gnocchi!“, fluchte er, funkelte mich an und rieb sich mit einer Hand über die pochende Stelle an seinem Kopf – das musste wehgetan haben. Die andere Hand brauchte er, um den aufgetürmte Stapel Umzugskartons am Umkippen zu hindern. „Du kannst doch nicht mitten aus dem Stapel einen Karton ziehen!“

Trotzig reckte ich das Kinn hervor und drückte die Kiste an mich, die ich gerade aus dem Stapel gezogen hatte. „Aber an die ganz oben komme ich nicht rann, dafür bin ich zu klein und du hast mir verboten daran heraufzuklettern.“

„Weil sie dann auch umkippen!“, schnauzte er mich an.

„Na was soll ich denn dann tun? Zu allem sagst du, dass ich es falsch mache, aber wie ich es richtig mache, sagst du mir auch nicht.“

„Du willst wissen wie du es richtig machst? Ganz einfach: Setz dich in die Ecke, leg die Hände in den Schoß und tu einfach gar nichts, während ich hier die Scheiße ausräume!“

„Deine Mutter hat gesagt ich soll dir helfen!“

„Du hilfst aber nicht, du bringst nur Unglück!“, fauchte er mich an.

Diese Worte waren wie ein Schlag mitten ins Gesicht und plötzlich war ich an einem Ort, den bereits lange hinter mir gelassen hatte. Unglück, verdorben, schlecht. Weggesperrt, fernab von anderen, damit ich niemanden schaden konnte.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück und spürte ein Brennen in meinen Augen.

„Hey, Leute, kommt Mal wieder runter.“ Amber nahm mir die Kiste aus der Hand und schob sie wieder zurück an ihrem Platz. „Ist doch alles halb so schlimm.“

„Das kannst du auch nur sagen, weil die Kiste nicht dir an den Kopf geknallt ist“, fauchte Raphael nun auch sie an. Natürlich hatte das einen beinahe tödlichen Blick ihrerseits zur Folge.

Oh nein, jetzt fingen sie auch noch wegen mir an zu streiten. „Das wollte ich nicht“, sagte ich leise und griff nervös nach dem Saum meines Hemdes. Zwar glaubte ich nicht, dass er mich nun auch wegsperren würde, aber es tat weh, das zu hören. „Ich will kein Unglück mehr bringen, das wollte ich nie.“ Und dann lief mir eine Träne über die Wange.

Als Raphael das sah, schien sein ganzer Ärger einfach zu verpuffen. „Hey, ich hab das nicht so gemeint.“

Eine zweite Träne rollte aus meinem Auge, kullerte über meine Wange und landete dann auf meinem Hemd.

Mit einem kurzen Blick versicherte sich Raphael, dass der Kistenstapel jetzt wieder stabil stand und trat dann an mich heran. „Du darfst dir meinen kleinen Ausbruch nicht so zu Herzen nehmen“, sagte er leise, hob die Hand und wischte mir ganz vorsichtig eine Träne von der Wange. Meine Haut begann ganz leicht zu kribbeln. „Ich hab gerade eine Kiste auf den Kopf bekommen, sowas hindert am Denken.“

„Davon mal abgesehen, das er mit dem Nachdenken schon immer leichte Probleme hatte“, griff Amber ihm tatkräftig unter die Arme.

Er warf ihr einen bösen Blick zu, wandte sich mir dann aber gleich wieder zu und legte mir eine Hand an die Wange. Dabei strich er mir mit dem Daumen ganz sanft über die Haut. „Und du bringst kein Unglück, du bist doch ein Glückskätzchen.“

Ein Glückskätzchen? „Wirklich?“

„Klar“, sagte er leichthin. „Nur durch dich habe ich ein neues Handy bekommen und dank dir hat meine Mutter jemanden, den sie betutteln kann.“

„Ein Glückskätzchen“, flüsterte ich leise und dann breitete sich ohne mein Zutun ein schüchternes Lächeln auf meinen Lippen aus. „Sowas Nettes hat noch nie niemand zu mir gesagt.“

Plötzlich sprang Lalamika in seinen Kopf und egal was sie da an seinen Gedanken und Gefühlen machte, sein Blick wurde für einen kurzen Moment weicher. Er wanderte von meinen Augen zu meinen Lippen und verharrte dort. Doch dann verhärtete er sich. Raphael machte abrupt einen Schritt vor mir zurück und wandte sich eilig der alten Spüle zu, die er gerade hatte raus in den Garten tragen wollen. „Wenn du helfen willst, dann räum das Spielzeug zurück in die Kiste.“

Ich runzelte die Stirn und beobachtete Lalamika, die seine Gedanken zufrieden verließ und es sich oben auf dem Kistenstapel bequem machte. Was hatte sie getan?

Ich habe ihn nur ein kleinen Stoß in die richtige Richtung gegeben, schnurrte sie und schaute dabei zu, wie Amber bei der Spüle mit anpackte.

Ich hockte mich auf den Boden und begann damit, das Spielzeug zurück in die Kiste zu legen. Doch sobald die beiden draußen und außer Hörweite waren, schaute ich zu meiner Schwester auf. „Was meinst du mit Stoß?“

Sie blinzelte einmal, wie es nur Katzen konnten. Du willst ihn nicht töten, also müssen wir dafür sorgen, dass es ihm besser geht.

Meine Augen verengten sich misstrauisch. Irgendwas an ihrem Ton missfiel mir. „Was hast du gemacht, Mika?“

Einen positiven Gedanken verstärkt und den Samen eines Gefühls keimen lassen. Sie setzte sich auf und legte ihren Schwanz ordentlich um ihre Pfoten. Ich bin immer noch der Meinung, dass es sicherer wäre ihn zu töten, aber da du dich weigerst, werde ich dir helfen, das Schlechte in ihm zu vertreiben und das Gute zu stärken.

Ich mochte es nicht besonders, wenn sie so in Rätseln sprach. Das tat sie immer dann, wenn sie etwas verheimlichte, oder nicht sagen wollte, weil sie wusste, dass es mir nicht gefallen würde. „Was war das für ein positiver Gedanke?“

Sie kicherte nur und verblasste dann einfach.

„Mika!“, schimpfte ich. „Komm sofort wieder her!“

Ich hörte sie noch mal kichern, doch selbst als ich aufstand und mich einmal um die eigene Achse drehte, entdeckte ich sie nicht mehr. Ich suchte den ganzen Raum nach ihr ab und warf sogar einen Blick in den Flur, aber sie blieb verschwunden.

Was nur heckte sie aus?

Nachdenklich hockte ich mich wieder zu dem Karton, um auch noch die restlichen Spielsachen einzuräumen. Ich würde schon noch rausbekommen, was da in ihrem Kopf vor sich ging. Jetzt aber hatte ich erstmal etwas anderes zu tun.

Ein paar Eisenbahnschienen landeten in der Kiste. Ich griff gerade nach einem Kuscheltier, als ich etwas bemerkte, was halb darunter lag. Ein weißer Stiel. Ich griff danach und stellte fest, dass es ein Lutscher war. Der musste aus der Kiste gefallen sein.

Kurz überlegte ich, ob ich ihn auch zu den Spielsachen legen sollte, doch dann wickelte ich das Papier ab und steckte ihn mir in den Mund. Erst danach räumte ich auch noch den Rest weg.

Ich legte gerade das letzte Stück zurück, als Amber zurück in den Raum geschlendert kam. „Du kannst mir helfen, wenn du möchtest“, sagte sie und griff nach der Leiter, die an der Wand lehnte. Sie klappte sie auf und stellte sie direkt vor dem Berg aus Kisten. „Ich gebe dir die Kartons herunter und du stellst sie in den Flur, okay?“

„Ja, gut.“

So begannen wir den Kartonstapel systematisch abzubauen, damit er Raphael nicht noch mal auf den Kopf fallen konnte.

Ich hatte schon fünf Kisten in den Flur getragen und nahm gerade die sechste von Amber entgegen, als Raphael wieder bei uns auftauchte. Er kam direkt zu mir und wollte mir die Schachtel abnehmen, stutzte dann aber.

„Wo hast du den Lolli her?“

Grinsend zog ich meinen Mund in die Breite. „Den hab ich zwischen dem Spielzeug gefunden.“ Und er schmeckte wirklich gut.

Er verzog angewidert das Gesicht, griff dann ohne ein Wort nach vorne und zog ihn mir direkt aus de Mund.

„Hey!“, beschwerte ich mich und ließ die Kiste einfach fallen. Ich wollte mir den Lolli wiederholen, doch er hielt ihn einfach aus meiner Reichweite. „Gib den wieder her, das ist meiner!“

„Den kannst du nicht essen, der liegt schon seit Jahren in einer staubigen Kiste. Der ist uralt.“

„Aber er schmeckt noch“, schmollt ich.

Seine Mundwinkel sanken ein wenig herab. „Den kannst du nicht essen“, wiederholte er mit fester Stimme, legte ihn dann an die Seite auf einen Stuhl der nur noch drei Beine hatte und machte sich daran den Inhalt der Kisten durchzugehen.

Missmutig schaute ich von ihn zu dem Stuhl. Ich wollte meinen Lolli wiederhaben, aber er schien meine Gedanken zu erraten und warf mir einen warnenden Blick zu.

Schmollend ging ich wieder zu Amber und half ihr, die restlichen Kisten auf den Boden zu bekommen.

Nach und nach leerte sich der Raum. Raphael entschied, was er behalten wollte und lagerte es hinten im Hobbyraum ein. Den Rest brachten wir nach oben in den Garten, wo sich mit der Zeit ein ansehnlicher Berg mit altem Hausrat auftürmte.

Gegen Mittag machten wir eine kleine Pause und stärkten uns in der Küche. Zwischendurch tauchte auch Marica auf, verschwand dann aber auch wieder, da sie sich noch bei einem Betanken um die Buchhaltung kümmern musste, wie sie erklärte.

Als wir wieder hinunter gingen, um noch den Rest des Zimmers auszuräumen, war der Mittag bereits an uns vorbeigezogen. Die Sonne erstrahlte am Himmel und brachte uns alle ein wenig ins Schwitzen. Raphael zog sogar sein Hemd aus, aber als ich ihm das nachmachen wollte, hielten sowohl er, als auch Amber mich auf.

Das fand ich unfair, mir war auch warm, aber Raphael wollte da absolut nicht mit sich reden lassen.

Seufzend fügte ich mich und machte mich dann gemeinsam mit Raphael über eine weitere Kiste her. Als er sie so weit aussortiert hatte und zu den anderen in den Hobbyraum brachte, fiel mein Blick wieder auf den Lutscher.

Ich warf einen wachsamen Blick in den Flur, schnappte ihn mir dann wieder und steckte ihn zurück in meinen Mund. Zufrieden räumte ich die Reste aus der Kiste in die große, blaue Tüte. Die Sachen kamen auf den Müll.

Nach einer kleinen Ewigkeit, gelangten wir zum letzten Karton. Amber brachte grade ein paar Bretter nach oben, während ich mich im Schneidersitz neben Raphael fallen ließ und alles entgegen nahm, was er mir hinhielt. Eine kaputte Lampe, Mülltüte. Ein Strichmännchen auf einem Blatt Papier, Mülltüte. Ein Stein mit Löchern, der bunt angemalt worden war.

Ich sah ihn mir ein wenig genauer an. Nein, das war kein Stein, das war … ich hatte keine Ahnung, was das war. „Was ist das?“, fragte ich Raphael und hielt es ihm noch mal unter die Nase.

„Ein Zeugnis meiner Kindheit.“ Als ich ihn nur fragend anschaute, erklärte er. „Das habe ich im Kunstuntersicht aus Ton geformt. Erschreckend, ich weiß.“

Also mir gefiel es irgendwie. Ich schob den Nicht-Stein hinter meinen Rücken, weil ich ihn behalten wollte. Leider entging mir so sein Blick.

„Sag mal willst du eine Lebensmittelvergiftung haben?“, fragte er und dann spürte ich nur, wie er mir den Lolli wieder aus dem Mund zog. Er war deutlich kleiner geworden. „Das Ding ist widerlich. Wenn du was essen willst, dann geh in die Küche, aber hör auf dir so einen Scheiß in den Mund zu stopfen.“ Er erhob sich, um den Lolli höchstpersönlich in die nächste Tonne zu werfen.

Ich nahm sofort die Verfolgung auf und blieb ihm dicht auf den Fersen. Dabei ließ ich den Lolli keinen Moment aus den Augen. Das war mein Lolli und ich wollte ihn wiederhaben!

Als er in die Küche ging und den Deckel vom Mülleimer öffnete, kam meine Gelegenheit. Er wandte den Blick vielleicht zwei Sekunden ab. Mehr brauchte ich nicht, um ihn den Lolli aus der Hand zu reißen, ihn zurück in meinen Mund zu stecken und mich dann eilig aus dem Staub zu machen.

Raphael wirbelte zu mir herum. „Bleib stehen, du diebische Katze!“

Das tat ich nicht. Und da das Souterrain eine Sackgasse war, rannte ich auch nicht die Treppe hinunter, sondern riss die Haustür auf und hechtete hinaus in den Garten.

„Gnocchi!“

Eilig sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um und entdeckte den Baum neben der alten Schaukel. Ich zögerte nicht, eilte dorthin und fuhr meine Krallen noch im Laufen aus.

Auch Raphael kam in den Garten geeilt. „Bleibst du wohl stehen!“

Tat ich nicht. Geschickt sprang ich an den untersten Ast des Baumes, zog mich hinauf und kletterte dann noch etwas höher. Leider fing ich mir dabei in meinem Finger einen Splitter ein. Es tat ein bisschen weh, aber ich achtete nicht weiter darauf. Nur noch ein Stück höher. Dann hockte ich mich in eine Astgabel und stellte befriedigt fest, dass Raphael direkt unter mir stand und mich missmutig anstarrte. Tja, diese Runde hatte ich dann wohl gewonnen.

„Komm runter, Gnocchi“, befahl er und zeigte mit dem Finger auf die Stelle vor sich. „Und nimm diese eklige Ding aus dem Mund.“

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und lutschte extra provokant an dem Lutscher. „Das ist meiner“, erklärte ich ihm.

„Der ist schon halb vergammelt, wer weiß was da schon für Bakterien drankleben.“

„Wenn du ihn haben willst, dann hol ihn dir doch.“

Er begann mit den Zähnen zu knirschen. „Willst du Bauchschmerzen haben und wieder alles vollkotzen?“

Nein, das wollte ich nicht. Konnte der Lolli genauso schlimm sein wie das Hühnchen? Aber meine Zunge brannte doch gar nicht. Ich kam nicht mehr dazu ihn zu fragen, denn auf einmal quietschte das Gartentor und ich verlor seine Aufmerksamkeit.

Ich musste mich ein wenig zur Seite beugen, um durch die Blätter der Bäume zu erkennen, wer da in den Garten trat.

„Na sieh mal einer an, wen wir da haben“, sagte eine Frau mit langen, roten Haaren, die ihr in Wellen auf den Rücken fielen. Sie war wirklich hübsch. Das war Lucy. „Hier hast du dich also verkrochen.“

Raphael spannte sich ein wenig an. „Ich verkrieche mich nirgends.“

„Nein, stimmt, du machst doch einfach nur wie ein Feigling aus dem Staub.“

„Lucy“, mahnte der breitschultrige Mann neben ihr. Er war blond und hatte ein sehr markantes Gesicht. Tristan, Raphaels Bruder. „Warum hast du uns nicht gesagt, dass du herkommst?“, sprach er dann Raphael direkt an.

„Ich wusste nicht, dass ich dir neuerdings Rechenschaft schuldig bin.“

„So habe ich das nicht gemeint und das weißt du ganz genau.“

Wieder begann Raphael mit den Kiefern zu mahlen. „Ich hatte nicht geplant herzukommen, okay?“

„Nein es ist nicht okay“, widersprach Lucy sofort und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was dein plötzliches Verschwinden für Konsequenzen hatte? Cayenne ist völlig ausgeflippt und musste mit Beruhigungsmittel vollgepumpt werden!“

Nach diesen Worten versteifte Raphael sich. Es war richtig spürbar, wie er sich von allem zurückzog.

„Und das ist deine Schuld!“

Okay, das reichte jetzt.

Als sie ein weiteres Mal den Mund öffnen wollte, ließ ich mich einfach aus dem Baum fallen. Ich landete direkt zwischen ihr und Raphael in der Hocke. Der Vampir bewegte sich keinen Millimeter, doch die beiden Besucher machten vor Schreck einen Satz zurück. Lucy begann sogar zu knurren. Tristan dagegen schaute verwirrt von mir nach oben in den Baum und wieder zu mir zurück. „Was zur Hölle …“, begann er, unterbrach sich dann aber selber.

Ich lächelte nur und richtete mich dann langsam zu meiner vollen Größe auf. Gut, das war nicht viel, aber mein Auftauchen hatte die beiden Wölfe definitiv erschreckt.

„Wer bist du denn?“, fragte Lucy und musterte mich kritisch.

Ich grinste nur. „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“

Lucys Augen wurden eine Spur größer. „Du warst die kleine Kröte am Handy.“

„Ich bin keine Kröte. Kröten sind schleimig und … hey!“

Mein Lolli flutschte mir aus dem Mund. Raphael hatte die Gunst der Stunde genutzt und ihn mir geklaut.

„Gib ihn mir wieder!“, forderte ich und sprang nach seinem ausgestreckten Arm, aber ich kam einfach nicht hoch genug.

„Vergiss es, der kommt jetzt endgültig in den Müll.“ Er kehrte mir den Rücken und marschierte wieder aufs Haus zu. „Und lass dir ja nicht einfallen, ihn dir noch einmal zu nehmen, sonst leg ich dich übers Knie, das schwöre ich dir.“

„Aber das ist meiner!“, protestierte ich und rannte hinter ihm her.

„Das ist Müll“, gab er ungerührt zurück und stürmte das Haus.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass es hier nicht mehr um den Lolli ging. Ich hatte eher den Eindruck, als würde er versuchen, vor etwas davonzulaufen und ich konnte mir auch ziemlich gut vorstellen, vor was.

Ich warf Tristan und Lucy einen warnenden Blick zu und eilte Raphael dann hinterher. Er war bereits in der Küche und ließ den Lolli gerade in den Mülleimer fallen. Doch sein Gesicht dabei … es war nur noch eine steinerne Maske, bar jeden Gefühls. Sie hatten ihn wieder traurig gemacht.

Zögernd trat ich an ihn heran und legte ihm dann vorsichtig eine Hand auf die Schulter.

Die Berührung ließ ihn so heftig herumwirbeln, dass ich meine Hand sofort zurück zog, aber er schien nicht böse zu sein. Als er mich ansah, schien die steinerne Maske sogar ein wenig zu bröckeln. Darum wich ich auch nicht zurück, wie es mein erster Impuls gewesen war.

Irgendwie musste ich ihn wieder auf andere Gedanken bringen und ich hatte da auch schon eine Idee. Langsam hob ich meine Hand und hielt ihm meinen Finger vor die Nase. „Ich habe mir einen Splitter eingefangen. Holst du ihn mir raus?“

Er senkte den Blick, schaute auf den Finger und schloss dann einen Moment die Augen. Mit einem tiefen Atemzug schien er sich selber beruhigen zu wollen.

„Ys-oog?“

„Ja“, sagte er leise und schlug diese hübschen Augen wieder auf. Dabei schaffte er es sogar ein kleine Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. „Ja ich mache ihn dir raus, Gnocchi.“

Ganz vorsichtig nahm er meine Hand in seine und zog mich dann in der kleine Badezimmer neben der noch offenen Haustür. Dabei beachtete er werde Lucy noch Tristan, die gerade ins Haus traten. Er stellte mich einfach neben das Waschbecken und begann dann den Spiegelschrank über dem Waschbecken zu durchforsten.

Ich warf den Lykanern im Flur währenddessen einen warnenden Blick zu. Würden sie Raphael noch mal ärgern, dann würde ich ihnen meine Krallen zeigen.

Raphael beendete seine Suche, als er eine Pinzette fand. „Gib mir deine Hand.“

Ich kam seiner Forderung sofort nach und schaute dann dabei zu, wie er meinem Splitter damit zu Leibe rückte. Es tat ein bisschen weh, aber ich hielt ganz still. Auch dann, als er ein wenig anfing zu drücken, um den Splitter zu fassen zu bekommen.

Als er dann endlich herausrutschte, quoll ein Tropfen meines Blutes heraus.

Auf einmal veränderte sich etwas in Raphaels Blick und seine beiden Fangzähne wurden ein bisschen länger. Wie gebannt starrte er auf den kleinen Blutstropfen.

Ich bewegte mich nicht, als er meine Hand langsam an seine Lippen hob und meinen Finger in den Mund nahm.

Seine Augenlider sanken ein wenig herab und dann spürte ich, wie er mit der Zunge vorsichtig über die Verletzung strich. Der leichte Schmerz verschwand sofort.

Ich hatte davon gehört, dass der Speichel von Vampiren eine heilende Wirkung haben sollte, aber bis zu diesem Moment hatte ich das noch nie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Meine Haut begann ganz leicht zu knibbeln und es hielt auch dann noch an, als er meine Finger wieder langsam aus seinem Mund zog. Dabei ließ keiner den anderen aus den Augen. Wahrscheinlich bemerkte ich nur deswegen die kleine Veränderung.

Seine Augen wurden ein wenig größer und wirkten für einen kurzen Moment erschrocken.

Ich jedoch lächelte nur. „So küsstest du denn meine Hand, und warst so, wie im Traum gebannt. Und von deinen Lippen, welcher Glut, verschwand mein kleiner Tropfen rotes Blut.“

Seine Augenbrauen gingen ein wenig hoch. „Was?“

Ohne ihm zu antworten, beugte ich mich vor und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. „Danke Ys-oog.“

„Du …“

„Tristan! Lucy!“ Mit eine freudigen Schrei kam Amber angerannt und fiel ihrem großen Bruder erstmal um den Hals. „Seit wann seid ihr hier“, fragte sie und ließ wieder von ihm ab, nur um sich suchen umzuschauen. „Und wo ist Vivien?“

Auch Lucy wurde kurz von ihr in den Arm genommen. „Roger hat sie direkt nach Hause gebracht“, erklärte sie und trat etwas zurück. „Sie braucht ein bisschen Ruhe.“

Amber nickte verstehend. „Kann ich nachher zu den beiden rüber gehen, oder sollte ich besser bis morgen warten?“

„Warte bis morgen“, sagte Tristan und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nach allem was geschehen ist … sie ist noch ein bisschen nervös. Anouk bleibt die Nacht auch erstmal noch bei Papa, damit sie sich ausruhen und erholen kann.“

Warum dass denn? „Aber Anouk kann sie trösten.“

Alle Blicke richteten sich auf mich.

„Egal was Jegor gemacht hat, Anouk hat sie immer trösten können.“ Er war der Grund gewesen, der sie so lange hatte durchhalten lassen. Nicht die Aussicht darauf, sich vielleicht irgendwie zu befreien, oder die Hoffnung, gerettet zu werden. Die hatte sie schon lange verloren gehabt, als Cayenne bei ihr aufgetaucht war. Nein, es war wirklich nur dieser kleine Junge gewesen, der ihr einen Grund gegeben hatte, weiterzumachen, denn durch ihn hatte sie eine sehr wichtige Aufgabe gehabt: Sie hatte ihn beschützen müssen. „Es ist falsch, wenn ihr ihn nicht zu ihr lasst.“

Lucy kniff die Augen ein wenig zusammen. „Wer bist du eigentlich, dass du glaubst, dich da einmischen zu dürfen?“

„Lass sie in Ruhe“, mahnte Raphael sie mit einem drohenden Unterton in der Stimme und legte mir eine Hand auf den Rücken. Das kam so unerwartet, dass ich überrascht zu ihm aufblickte.

„Warum sollte ich?“

„Lucy“, sagte Amber dann. „Das ist Tarajika. Du weißt schon, der Ailuranthrop aus dem Hof. Sie war auch eine Gefangene von Jegor.“

Warum sagten sie immer, ich sei der Ailuranthrop aus dem Hof? Ich stammte ursprünglich aus Nigeria. Am Hof der Lykaner war ich nicht mal eine Woche gewesen und ich hatte kein Interesse daran, noch mal dort hinzugehen. Die hatten viel zu strenge Regeln, da durfte man eigentlich gar nichts tun, außer still in der Ecke zu sitzen.

„Und sie hat sich sogar doppelt so lange wie Vivien in der Gewalt von diesem Psychopathen befunden“, fügte Raphael noch hinzu. „Daher kann sie das wahrscheinlich ein bisschen besser beurteilen, als du.“

Nach diesen Worten schien Lucy mich mit ganz anderen Augen zu sehen. Sie musterte mich einmal sehr gründlich und zog dann ihr Handy aus der Tasche. „Ich ruf mal kurz bei Roger und Oliver an.“ Mit diesen Worten trat sie raus auf die Veranda. Amber folgte ihr.

Zufrieden nickte ich und griff dann nach Raphaels Hand. „Komm, wir machen jetzt mein Zimmer fertig.“ Ich wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern zog ihn direkt hinter mir her.

„Darf ich zwischendurch vielleicht auch mal eine Pause machen?“, grummelte er, ließ sich aber widerstandslos von mir mitziehen.

„Nur wenn es etwas zu Essen gibt.“

Das Geräusch, dass er daraufhin machte, war eine Mischung aus schnauben und lachen. Wenigstens war er nicht wieder in die Dunkelheit abgetaucht, nur leider folgte uns auch Tristan nach unten. Wir hatten die Treppe gerade hinter uns gelassen, als er sich Raphael am Arm schnappte und ihn so zwang stehen zu bleiben. Ich merkte das jedoch nur, weil ich plötzlich nicht mehr weiter kam.

„Raphael“, begann Tristan. „Es geht mich nichts an und normalerweise mische ich mich in da auch nicht ein, aber Cayenne geht es wirklich schlecht.“

Es war erschreckend, wie schnell die Distanz zu Raphael zurückkehrte.

Das machte mich wütend. Warum hörte er denn nicht endlich damit auf?

„Kannst du sie nicht wenigstens anrufen, damit sie aufhört sich Sorgen um dich zu machen? Du musst ja nicht gleich …“

Mit einem Satz sprang ich auf ihn zu. Wenn er nicht schweigen wollte, würde ich ihn zum Schweigen bringen, doch in der gleichen Sekunde, in der ich mich abstieß, riss Raphael mich mit einem hastig Ruck zurück. Dadurch geriet ich nicht nur in straucheln, ich fiel auch gehen ihn.

Aber das war mir egal. Ich fauchte einfach, fuhr die Krallen aus und wollte nach ihm schlagen. Leider packte Raphael mein Handgelenk und hielt mich eisern fest.

„Nein“, sagte er streng und schaute mich sehr eindringlich an. „Die Familie wird nicht verletzt, niemals.“

„Aber …“

„Niemals“, wiederholte er unnachgiebig.

Ich grollte unwillig und funkelte Tristan an. Dabei stellte ich fest, dass er ein Stück zurückgewichen war und mich seinerseits wachsam im Auge behielt.

„Hältst du es für eine gute Idee, sie hier im Haus zu haben?“

„Ich wurde nicht gefragt.“ Er gab mein Handgelenk wieder frei, zog mich aber ein Stück zur Seite, sodass er sich zwischen mir und seinem Bruder befand.

Tristan schien noch etwas dazu sagen zu wollen, schüttelte dann aber nur den Kopf und wandte sich wieder an seinen Bruder. „Ruf sie an.“

„Nein.“

„Raphael, bitte. Sie ist wirklich …“

„Lass mich damit in Ruhe, okay? Sie hat Probleme? Was geht mich das an? Soll sie doch alleine damit klarkommen, mir hilft ja auch keiner.“

Doch, ich half ihm. Ich drückte seine Hand ein wenig fester.

Sein Bruder musterte ihn sehr eindringlich. „Was ist los mit dir? Du bist doch sonst nicht so.“

„Was los ist?“ Er schnaubte und verlegte sein Gewicht unruhig von einem Bein aufs andere. „Hat sie dir das etwa nicht gesagt?“

„Sie hat nur gesagt, dass es zwischen euch aus ist“, erwiderte er ruhig. „Nicht warum.“

„Ja, weil sie dann zugeben müsste, dass sie sich von diesem Scarface hat durchficken lassen und zwar bevor sie mit mir Schluss gemacht hat. Woher ich das weiß? Ich hab die beiden in flagranti erwischt.“ Er machte eine kurze Pause. „Na, das hast du wohl nicht von deiner tollen Königin erwartet. Und wo wir schon dabei sind ihre kleinen, dreckigen Geheimnisse zu lüften, du weißt sicher auch nicht, dass Prinz Aric gar nicht der Sohn von König Nikolaj ist, nein, den hat sie sich auch von diesem Freddy-Krüger-Verschnitt anbumsen lassen.“

Darauf wusste Tristan scheinbar nichts zu erwidern. Das war auch gar nicht nötig, den Raphael war noch nicht fertig.

„Und jetzt verlangst du allen Ernstes von mir, dass ich mich bei ihr melde und sie tröste? Nachdem sie mich so hintergangen hat? Wirklich? Sie hat auf meine Gefühle geschissen, also scheiß ich jetzt auf ihre. Ihr geht es schlecht? Ihr Problem. Wenn sie Trost brauch, dann soll sie zu ihrem Köter gehen, so hat sie es schließlich auch die letzten Jahre gehandhabt, warum also mit der Tradition brechen?“

Tristan rieb sich übers Gesicht. „Okay“, sagte er. „Ich verstehe, dass du so reagierst, aber Cayenne würde nicht so austicken, wenn du ihr so egal wärst, wie du denkst.“

„Ob ich ihr nun egal bin oder nicht, interessiert mich nicht mehr. Ich will nie wieder etwas mit dieser Frau zu tun haben.“ Er machte einen Schritt auf ihn zu. „Und eines sage ich dir: Wenn du oder deine cholerische Freundin, oder sonst wer ihr sagt, wo ich bin, oder was ich machte, dann ist dieser jemand für mich nicht nur gestorben, ich werde auch verschwinden und dieses Mal werdet ihr mich nicht wieder sehen.“ Er nahm den Kopf ein wenig höher. „Ich hoffe ich habe mich klar ausgedrückt.“

„Glasklar.“ Nur schien das Tristan nicht besonders zu gefallen.

Raphael hob noch einmal den Finger, als würde er noch etwas dazu sagen wollen, drückte dann aber nur die Lippen aufeinander und kehrte seinem Bruder den Rücken. „Wenn du mich dann entschuldigst, ich habe noch ein bisschen was zu tun.“

Von mir bekam Tristan auch noch einen bösen Blick, bevor ich mich von Raphael in der kleine Zimmer ziehen ließ. „Wir sind fast fertig“, sagte ich, als er mich losließ und nahm mir den Stuhl mit den drei Beinen, um ihn nach oben zu bringen. Hoffentlich würde die Arbeit ihn wieder auf andere Gedanken bringen.

„Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber wenn das Zimmer ausgeräumt ist, sind wir noch lange nicht fertig.“ Er versuchte es nicht zu zeigen, aber als er ein Teil von den Brettern nahm, die noch am Rand standen, konnte ich sehen, dass er im Kopf immer noch bei dem Gespräch mit seinem Bruder war.

„Wir sind dann aber mit ausräumen fertig.“

„Ja, aber wir müssen dann noch streichen und das Zimmer einrichten.“

„Streichen wir heute noch?“

„Mal schauen.“ Er drehte sich zur Tür herum und blieb sofort wieder stehen, als er Tristan im Rahmen sah.

Ein leises Grollen drang aus meiner Kehle, doch keiner der beiden Männer beachtete mich. Sie sahen sich einfach nur stumm an.

„Du kannst dich nützlich machen“, sagte Raphael dann. „Das Zimmer muss leer werden.“

Wortlos trat Tristan in den Raum und schnappte sich selber ein Stapel Bretter.

 

°°°°°

Aufgeklärt

 

„Gib mir mal den O-Saft“, bat Raphael mich und streckte die Hand aus.

Da Marica gerade mit dem Kopf im Kühlschrank steckte und Amber ihren Teller in die Spüle stellte, war ich außer ihm der einzige am Tisch, darum ging ich davon aus, dass er mit mir sprach. Leider standen da zwei Getränkekartons vor meinem Teller und ich wusste nicht, was O-Saft war. Darum griff ich einfach auf gut Glück zu und reichte ihm den Linken.

Da er daraufhin aber nur genervt stöhnte, den Karton zurückstellte und sich quer über den Tisch lehnte, um an den anderen zu kommen, war das wohl der Falsche gewesen. „Das ist A-Saft und kein O-Saft. Kannst du nicht lesen?“

Die Frage überraschte mich ein wenig. „Nein.“

Er schaute mich einen langem Moment an, konzentrierte sich dann auf sein Glas und goss sich etwas ein.

Von hinten stieß Amber ihn wie zufällig mit dem Ellenbogen an. „Wir lassen unsere schlechte Laune doch wohl nicht an Schwächeren aus, oder?“ In ihrer Stimme schwang ein warnender Unterton mit.

Raphael funkelte sie nur an und schob dann seinen Stuhl zurück. „Ich bin dann mal unten, um das Zimmer zu Ende zu streichen.“

„Oh“, sagte ich und wollte sofort aufspringen, zögerte dann aber, weil da noch etwas auf meinem Teller lag. „Ich esse nur noch auf, dann …“

„Nein“, unterbrach er mich sofort. „Ich mache den Rest alleine.“

Was? „Aber ich …“

„Alleine“, wiederholte er und warnte mich mit seinem Blick davor, ihm noch einmal zu widersprechen.

„Denk aber daran, dass wir nachher bei Oliver im Garten grillen wollen“, erinnerte seine Mutter ihn.

„Klar.“ Damit kehrte er uns den Rücken und marschierte aus der Küche.

„Warum darf ich ihm denn nicht helfen?“, fragte ich niemand bestimmten.

Marica räumte seufzend die restlichen Lebensmittel vom Frühstück weg. „Weißt du, manchmal brauchen wir alle ein wenig Zeit für uns alleine, um unsere Gedanken zu ordnen und wieder mit uns selber ins Reine zu kommen.“

„Aber es ist nicht gut, wenn er alleine ist.“ Dann würde er doch nur wieder an Cayenne denken und genau das wollte ich doch verhindern.

„Wir können ihn unsere Gesellschaft aber auch nicht aufzwingen, damit würden wir ihn nur in die Flucht schlagen. Nein, es ist besser, wenn wir ihm ein wenig Zeit geben.“ Ihre Lippen wurden ein wenig schmaler. „Wäre er dieser Frau doch nur nie begegnet.“

Ja, das wäre für ihn vermutlich wirklich besser gewesen. „Und was soll ich dann machen?“

„Ich weiß nicht. Ich muss gleich los um die Buchhaltung bei Enzo fertig zu machen. Du könntest dich vor den Fernseher setzen.“

„Oder“, warf Amber ein, „du kommst mit zu mir rüber und wir machen uns einen schönen Vormittag.“

Ein Vormittag bei Amber?

„Das ist eine gute Idee“, stimmte Marica ihr sofort und lächelte mich ermutigend an.

„Und was ist mit Raphael?“

„Keine Sorge.“ Sie tätschelte mir beruhigend den Arm, bevor sie mir den Teller wegnahm. Ich schaffte es gerade noch so, mir mein Brot zu schnappen. „Er wird noch hier sein, wenn du wieder kommst.“

Ich war mir noch so sicher, ob das wirklich eine gute Idee war, schließlich sollte ich Raphael doch im Auge behalten. Aber trotz meiner Bedenken stand ich eine halbe Stunde später in Ambers Zimmer und schaute mich neugierig um, während sie ihre Tasche achtlos aufs Bett warf und dann direkt zu dem großen Schminktisch, mit den drei beweglichen Spiegeln, neben dem Fenster strebte.

Das Zimmer war klein, eng und vollgestellt. Und sehr unordentlich. Neben dem schmalen Bett standen zwei überfüllte Regale. Gegenüber hatte ein großer Kleiderschrank seinen Platz gefunden. Er war so voll, dass ihre Kleidung schon daraus hervorquoll. Direkt daneben gab es noch einen Schreibtisch, der unter Bergen von Papieren und Klamotten begraben war. Genaugenommen waren hier überall Klamotten. Auf Bügeln, an Haken, auf dem Boden. Und sie alle waren schwarz.

Auf und neben dem Nachtisch stapelten sich Bücher, ein Berg aus Schuhen und Taschen türmte sich am Fußende des Bettes und die Wände waren überfüllt mit Postern und Fotos.

Ich trat näher heran, um mir die Bilder etwas genau anzuschauen. Da war ein Foto mit vielen jungen Frauen. Und die eine von ihnen, die sah aus, wie Amber. Aber sie hatte blondes Haar, kein schwarzes.

„Das wurde bei meinem sechzehnten Geburtstag aufgenommen.“

„Dann bist das wirklich du?“, fragte ich und zeigte auf die lachende Blondine.

Sie nickte. „Das war noch, bevor ich mir meine Haare habe schwarz färben lassen.“

„Warum hast du das gemacht?“

„Weil ich finde, dass das zu mir passt.“ Sie umrundete mich und ließ sich dann zwischen den fünftausend Kissen und Kuscheltieren auf ihr Bett fallen. „Weißt du, als Vivien damals entführt wurde, war ich gerade mal dreizehn. Damals hat es mich so unglaublich wütend gemacht, dass sie weg war und ich nichts dagegen hatte tun können und deswegen habe ich ziemlich viel Unsinn getrieben. Unter anderem war ich auf einer Goth-Party, einfach weil ich mich dort hatte volllaufen lassen können, aber irgendwie war das auch ein Wegweiser für mich gewesen. Die Leute da waren echt cool.“

„Was meinst du mit Wegweiser?“ Ich setzte mich neben sie.

„Naja, wie sage ich immer? Ich habe eine schwarze Seele und das hier “ - sie zeigte an sich herunter - „ist, wenn du so willst, ein Spiegel meiner Seele. Die Goth-Party damals hat mich dazu gebracht, auszuleben, wie ich mich fühle.“

Eine schwarze Seele. Sie war wie ich? Aber ihre Familie hatte sie doch lieb, das konnte ich sehen. Wie konnte das sein?

„Aber jetzt erstmal genug von mir.“ Sie hüpfte vom Bett und ging wieder zu ihrem Kosmetiktisch. „Wir beide gönnen uns jetzt einen kleinen Wellnesstag.“

„Was ist das?“

„Das ist ein Tag, an dem wir es uns einfach gut gehen lassen und ein wenig aufwendige Körperpflege betreiben.“ Sie nahm sich ein paar Sachen vom Tisch und kam damit zurück zum Bett. „Keine Sorge, ich weiß was ich mache, ich bin Kosmetikern.“

Damit konnte ich nichts anfangen. „Ist das was Gutes?“

„Ich tue Gutes, wenn du das meinst. Ich sorge dafür, dass es den Leuten gut geht, indem ich mich ein wenig um sie und ihr aussehen kümmere.“

„Aussehen?“

„Klar, Gesichts- und Fußplege. Haut und …“

„Achselhaare?“

Etwas daran ließ sie herzlich lachen. „Wenn du möchtest, können wir uns heute auch darum kümmern. Dann machen wir dich noch ein bisschen hübscher und die Männer werden dir zu Füßen liegen.

Meine Stirn kräuselte sich verwirrt. „Warum sollten die sich an meine Füße legen?“

„Das ist eine Redensart. Es heißt einfach, dass die Männer dich toll finden werden. Leg dich mal auf den Rücken, den Kopf in meinen Schoß.“

Ich wusste zwar nicht, wozu das gut sein sollte, aber ich tat es einfach. „Finden Männer dich auch toll?“

„Manchmal.“ Sie zwinkerte mir zu, beugte sich an über mich und nahm mein Gesicht genaustens unter die Lupe. „Aber das interessiert mich nicht, weil ich auf Frauen stehe und bevor du jetzt fragst, nein, das ist nicht wörtlich gemeint. Es heißt einfach, ich liebe Frauen und keine Männer.“

Das verstand ich nicht. „Aber du bist doch selber eine Frau.“

„Das ist richtig, aber ich bin lesbisch. Männer sind okay, aber nur als Freunde. Sie können mir einfach nicht das geben, was ich brauche.“

„Was brauchst du denn?“

Nach dieser Frage schaute sie mich ein wenig eigenartig an. „Okay, weißt du was? Verschieben wir das mit dem Wellness, ich glaube, es ist an der Zeit dich erstmal aufzuklären.“ Ohne Rücksicht auf mich, erhob sie sich aus ihrem Bett und ging hinüber zu ihrem Schreibtisch. Dort kramte sie ein wenig herum und kam dann mit einem Laptop zurück zum Bett. „Hast du schon mal einen nackten Mann gesehen?“ Sie klappte ihn auf und begann darauf herumzutippen.

Da musste ich einen Moment überlegen. „Gestern“, sagte ich und rückte näher, um zu schauen, was sie da machte. „Raphael stand unter der Dusche, als ich ins Bad kam.“

Irgendwie wurde ihr Lächeln nach diesen Worten noch breiter. „Und, hat dir der Anblick gefallen?“, fragte sie lauernd.

Hm, keine Ahnung, darüber hatte ich eigentlich gar nicht nachgedacht. „Er ist ein hübscher Mann“, sagte ich daher. Sie schüttelte grinsend den Kopf. „Okay, am Besten fangen wir ganz von vorne an. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen.“ Sie machte etwas an ihrem Rechner und gleich drauf erschienen zwei Bilder auf dem Bildschirm. Auf dem einen war ein nackter Mann und auf dem anderen eine nackte Frau zu sehen.

„Also, der erste Unterschied: Frauen haben Brüste, Männer nicht. Der biologische Grund für Brüste sind Babys. Frauen produzieren darin Milch, damit sie ihren Nachwuchs füttern können.“

„Ich hab da drin Milch?“ Fasziniert griff ich an meine eigene Brust. „Wie kommt die da rein?“

Irgendwas komisches passierte in ihrem Gesicht und plötzlich prustete sie einfach los. Sie lachte so sehr, dass sie sogar umfiel. „Tut mir leid“, japste sie, schien sich aber nicht beruhigen zu können.

Ich saß nur verwirrt neben ihr und konnte mir nicht erklären, was daran so lustig war.

„Oh Gott.“ Mit dem Handrücken wischte sie sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und richtete sich noch immer lachend wieder auf. „Sorry, aber die Frage … einfach nur genial.“ Sie kicherte noch ein bisschen und schob dabei das Notebook auf ihrem Schoß wieder zurecht. „Und nein, du hast da keine Milch drin, jedenfalls nicht im Moment. Damit das passiert, müsstest du schwanger sein. Wenn das Baby dann kommt, werden Hormone ausgeschüttet, die dafür sorgen, dass deine Brust Milch produziert und wenn das Baby dann andockt, kann es die Milch trinken.“

Okay, das hatte ich verstanden. Zumindest das Meiste – glaubte ich. „Das heißt, wenn ich ein Baby bekomme, mache ich meine eigene Milch.“

Sie nickte. „Genau. Aber das ist nur der biologische Grund für Brüste. Außerdem sorgen sie dafür, den Fortpflanzungstrieb zu steigern. Männer – und in meinem Fall auch Frauen – finden Brüste sehr anziehend, also visuell. Und wenn du jemanden magst und er dich dort berührt, dann ist das ein sehr schönes Gefühl.“

Ein schönes Gefühl? „Ich mag dich.“

Ihr Grinsen verrutschte ein wenig. „Bitte bring mich nicht auf dumme Ideen.“

Ich wusste zwar nicht was sie damit meinte, aber ich sagte: „Okay.“

„Okay“, wiederholte sie und zeigte dann auf die Bilder. „Welche Unterschiede gibt es noch?“

Das war nicht schwer. „Die Frau hat lange Haare, der Mann nicht.“

„Joar, das kann man durchgehen lassen. Was noch?“

Hm. „Der Körperbau ist anders.“

„Okay, dann zeige ich dir mal, worauf ich eigentlich hinaus will. Hier.“ Sie tippte bei den Bildern jeweils in den Schritt. „Die Geschlechtsteile. Frauen haben eine Vagina und Männer einen Penis.“ Und dann begann sie mir zu erklären, wie Fortpflanzung funktionierte. Sie sprach vom Zyklus der Frau und dem Samen eines Mannes. Von Schwangerschaft und Geburt und von den Gefühlen, die so ein inniges Zusammensein auslösten. „ … und so ein Orgasmus … wow. Das ist wie eine Erlösung. Und dann fühlt man sich gut und frei und naja, einfach nur befriedigt.“

„Das heißt, Sex ist nicht nur zur Fortpflanzung geeignet, es macht auch Spaß?“

„Oh ja.“ Ihre Augenbrauen hüpften lustig auf und ab. „Die ersten Male kann es noch etwas seltsam oder sogar unangenehm sein, einfach weil man es nicht kennt und wenn du mit einem Mann schläfst, kann es beim ersten Mal sogar wehtun, wegen dem Jungfernhäutchen, aber das geht schnell vorbei.“

„Es tut weh?“

„Nur beim ersten Mal.“

Hm. „Hat es bei dir auch wehgetan?“

„Ich habe nie mit einem Mann geschlafen.“ Sie begann wieder auf dem Computer herumzutippen. „Ich hab schon mit vierzehn gemerkt, dass ich mich zu Frauen hingezogen fühle und mich immer an mein eigenes Geschlecht gehalten.“

„Soll ich das auch machen?“

Dieses Mal ließ sie sich mit der Antwort einen Moment Zeit. „Das kann ich dir ehrlich gesagt nicht sagen. Du musst selber wissen, ob du Männer oder Frauen bevorzugst. Es gibt auch Leute, die mögen beides.“

„Und woher weiß ich, was ich bevorzuge?“

„Das merkst du schon. Wenn du dich verliebst, oder dich von jemanden angezogen fühlst, dann möchtest du immer in seiner Nähe sein und ihn berühren. Selbst wenn du nur mit ihm herumsitzt und einen Film schaust, fühlst du dich gut, einfach weil er bei dir ist. Hier, schau mal.“ Sie drehte das Gerät auf ihrem Schoß ein wenig zur Seite und zeigte mir ein Video, dass sie gestartet hatte. Darauf waren zwei nackte Frauen zu sehen, die zusammen im Bett lagen und sich küssten und streichelten. „Das ist das was ich bevorzuge.“

Interessiert schaute ich den beiden Frauen zu. Ich hatte noch gesehen, dass Menschen sowas taten, aber die Geräusche die sie machten, waren mir nicht unbekannt. Manchmal hatte ich sie im Haus von Jegor gehört.

„Und, fühlst du dich irgendwie komisch?“

„Komisch?“

Ihre schwarzgemalten Lippen verzogen sich zu einem halben Lächeln. „Okay, ich glaube, du stehst auf Männer.“

„Ist das schlecht?“

„Nicht für die Männerwelt.“ Sie klappte ihren Computer zu und legte ihn neben ihr Bett auf den Boden. „Weißt du, du bist zwar ziemlich dürr, aber alles andere als hässlich und deswegen werden die Kerle eher früher als später auf dich aufmerksam werden. Aber du musst wissen, dass beim Kennenlernen oft der Trieb im Vordergrund steht. Darum musst du aufpassen. Lass dich niemals zu etwas drängen, was du nicht willst und wenn du unsicher bist, dann warte, oder sprich mit jemanden darüber, bevor du etwas tust, was du später vielleicht bereust.“

„Du meinst, sie wollen nur Sex.“

„Manche, aber nicht alle. Du musst lernen zu unterscheiden.“

„Wie unterscheidet man das?“

„Hm“, machte sie und stützte ihren Kopf in ihre Hand. „Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Aber du kannst dir als Faustregel merken, wenn ein Mann dich anquatscht und praktisch sofort ins Bett zerren will, dann will er nur vögeln. Wenn er sich aber die Zeit nimmt, dich ein wenig kennenzulernen und dich ein paar mal zu treffen, bevor er seinen ersten Versuch startet, kannst du davon ausgehen, dass er dich mag und es ehrlich mit dir meint.“

„Dann ist es in Ordnung, wenn wir Sex haben?“

„Wenn ihr beide das wollt, ist es immer in Ordnung. Du musst auch nicht darauf warten, dass er den ersten Schritt macht, du kannst auch selber die Initiative ergreifen. Es gibt auch Frauen, die nur Sex haben wollen und den Mann bei der erstbesten Gelegenheit ins Bett zerren. Nicht jeder ist ein Beziehungsmensch.“

Langsam begann mein Kopf zu rauchen. „Das ist ganz schön kompliziert.“

Sie grinste leicht. „Zwischenmenschliche Beziehungen sind nie einfach, aber mit der Zeit wirst du schon lernen, wie du die Dinge einschätzen musst.“

„Und dann kann ich Sex haben.“

„Klar, du bist schließlich alt genug dafür.“

Ach, da musste man auch noch aufs Alter achten? „Wie alt bist du denn?“

„Zwanzig.“ Sie ließ sich auf den Rücken fallen und streckte die Beine hinter mir aus. „Ich hatte vor zwei Monaten Geburtstag. Und du?“

„Achtzehn.“

„Und wann wirst du neunzehn?“

„Wenn alles beginnt.“ Ich drehte mich und setzte mich dann im Schneidersitz neben sie. „Neujahr.“

„Das ist ja cool, da feiert die ganze Welt mit dir.“

Ich schüttelte den Kopf. „Mein Geburtstag wurde noch nie gefeiert.“ Denn meine Existenz war ein Fluch.

„Das tut mir leid“, sagte sie. „Aber keine Sorge, jetzt bist du ja hier und deswegen kann ich dir versprechen, dass wir dieses Jahr zu deinem Geburtstag eine riesige Fete feiern werden. Glaub mir, ich werde diesen Tag für dich unvergesslich machen.“

„Wirklich?“

„Klar. Wir werden uns schick machen und ausgehen.“

Das hörte sich toll an.

„Und wer weiß, vielleicht engagiere ich ein paar Stripper. Nur für dich.“

„Was sind Stripper?“

„Das sind Männer, die für dich tanzen und sich dabei nackt ausziehen. Manche von ihnen gehen sogar ein bisschen weiter.“

„Du meinst Sex?“

„Das eher weniger“, wiegelte sie ab. „Aber manche von ihnen lassen sich anfassen, oder auch gerne mal einen runterholen oder blasen.“

„Blasen?“

Sie grinste breit. „Das ist, wenn du den Penis in den Mund nimmst und wie ein Lutscher daran lutschst. Das finden Männer im Allgemein sehr toll.“

Was sollte ich tun? „Schmeckt das denn überhaupt?“

Das brachte sie wieder zum Schmunzeln. „Da ich nie mit einem Mann zusammen war, wirst du das wohl selber herausfinden müssen. Aber da es viele Frauen gibt, die das hin und wieder ganz gerne tun, gehe ich mal davon aus, dass es seinen Reiz hat.“

„Und wird der Penis dann auch steif?“

„Das sollte er, ja.“ Sie grinste. „Du musst wissen, Männer lieben ihren kleinen Freund. Manche sind sogar geradezu besessen von ihm.“

„Raphael auch?“

„Oh Gott!“, sagte sie und versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Frag mich sowas doch nicht über meinen Bruder. Ich will gar nicht wissen, was der mag und was nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil das … keine Ahnung, das ist irgendwie eklig.“ Sie ließ die Hände wieder sinken. „Was Sex angeht, ist die Familie tabu. Man kann mit ihr darüber reden, aber das ist auch schon alles. Ich möchte auch nicht, das meine Geschwister sich vorstellen, was ich so im Bett treibe. Das wäre einfach … wäh.“

Hm, das leuchtete mir zwar nicht ganz ein, aber sie hatte sicher recht. „Hattest du den schon oft Sex?“

„Zeitweise. Wenn ich gerade eine Freundin habe, bin ich wesentlich aktiver als im Moment, wo ich Single bin. Also, wenn ich gerade keine Freundin habe. Und im Moment ist das leider der Fall.“ Sie seufzte schwer.

„Du vermisst es, eine Freundin zu haben.“

„Ja, irgendwie schon. Und nicht nur wegen dem Sex. Es ist einfach schön, wenn man jemanden hat, an den man sich anlehnen kann. Wenn da jemand ist, der es einfach nur toll findet, dass es dich gibt, dann fühlt man sich gut. Man kann Probleme und Sorgen teilen, oder miteinander lachen und sich freuen. Man kann bedingungslos vertrauen und all seine Geheimnisse teilen. Wenn du jemanden so liebst, dass dein erste Gedanke am Morgen ihm glitt und auch der letzte, bevor du am Abend einschläfst, dann … ich weiß nicht wie ich das erklären soll. Es fühlt sich einfach gut an, verstehst du?“

„Ja, ich denke schon.“ Und es war etwas, dass ich noch nie erlebt hatte. Würde mir das auch mal passieren? Gab es irgendwo jemanden, der mich lieben würde? Vielleicht. Aber auch nur, bis ich ihm meine Geheimnisse verriet. Niemand würde mich wollen, wenn er wüsste, wer ich war.

„Und dass ist es halt, was ich vermisse.“

„Warum suchst du dir dann nicht einfach eine neue Freundin?“

Ihr Mundwinkel zuckte. „Weil das leider gar nicht so einfach ist. Wenn es nur um Sex gehen würde, hätte ich innerhalb von zehn Minuten jemand am Start, aber bei einer Beziehung geht es viel mehr um Vertrauen. Da kommt nicht jeder in Frage.“

„Weil man nicht jedem Menschen vertrauen kann.“

„Genau!“ Sie richtete sich wieder auf. „Es gibt Leute die meinen es gut mit dir und welche, die tun das nicht und wenn du dich in jemanden verguckst, der es nicht gut mit dir meint, kann das mit Herzschmerz und Liebeskummer enden.“

„Also muss ich aufpassen, in wen ich mich verliebe.“

Sie lächelte ein wenig schief. „Theoretisch ja, praktisch ist das aber nicht so einfach, weil man sich nicht aussuchen kann, in wen man sich verliebt. Es passiert einfach und dann kann man nur noch hoffen, dass es der, oder die Richtige ist.“

„Das ist ja blöd.“

„Um es kurz zu fassen: Ja. Aber …“ Ein Klopfen unterbrach sie. „Komm rein, wenn du dich traust.“

Die Tür öffnete sich und ihr Vater steckte den Kopf zum Zimmer hinein. Er schien nicht überrascht mich zu sehen. Vermutlich hatte er meine Witterung im Haus bereits wahrgenommen. „Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich den Pool aufgedeckt habe. Es ist heute warm genug. Wenn ihr also möchtet, könnte ihr ihn nachher benutzen.“

„Ja!“ Ohne großes Federlassen sprang Amber von ihrem Bett und marschierte zu ihrem Schrank. Dort begann sie damit die einzelnen Fächer zu durchsuchen und schmiss die Hälfte ihrer Klamotten dabei einfach auf den Boden.

„Ich will um drei den Grill anschmeißen.“

„Wir werden da sein.“

„Okay, dann störe ich euch nicht weiter.“ Und so plötzlich wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder.

„Hast du Badesachen?“, fragte Amber und zog ein Stück Stoff mit lauter Schnüren heraus.

Badesachen? „Meinst du Shampoo?“

„Nein.“ Sie warf die Schnüre zurück und holte etwas heraus, dass ganz ähnlich aussah. „Ich meine Klamotten zum Baden.“

Das verstand ich nicht. „Warum sollte ich zum Baden was anziehen?“

Sie guckte mich an und grinste dann. „Das nehme ich mal als nein, aber keine Sorge, ich habe genug von dem Zeug, ich gebe dir einfach etwas von mir.“ Mit dem Teil in der Hand, kam sie zu mir und hielt es mir vor die Brust. „Könnte passen, hier, probier das mal an.“

Okay. Ich griff nach dem Saum meines Hemdes, doch bevor ich es ausziehen konnte, hielt sie mich nochmal auf.

„Nein, warte, am Besten machen wir das gleich richtig. Komm mit.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte sie mich an der Hand und zog mich quer durch das Haus in ein großes Badezimmer. Es war nicht dreckig, aber wesentlich unordentlicher als das von Marica.

Sie schob mich rein, verschloss dann die Tür hinter uns und ging an den schmalen Schrank in der Ecke. „Du kannst dein Hemd schon mal ausziehen.“

Jetzt doch? „Was machen wir denn?“ Ich zog mir den dünnen Stoff über den Kopf und legte ihn dann auf den Rand vom Waschbecken.

„Rasieren.“ Sie kramte ein wenig im Schrank herum und kam dann mit zwei seltsamen Stäben zu mir. Einen davon drückte sie mir in die Hand. „So, ich mach das jetzt vor und du machst es mir nach.“ Dann zeigte sie mir, wie man so einen Rasierer benutzte.

Bei mir klappte das leider nicht so gut, wie bei ihr, weil – so sagte sie – mir fehle die Übung. Deswegen half sie mir. Leider war ich ziemlich kitzlig unter den Armen, weswegen ich immer wieder wegzuckte. Aber Amber gab nicht auf und nach vielem Lachen und zappeln, waren meine Achseln kahl und sie schmierte eine Creme zur Beruhigung der Haut darauf.

Als ich dann jedoch meine Hose auszog, um auch die anderen Haare wegzumachen, wurde Amber ein kleinen wenig unruhig. Sie scherzte und lachte immer noch, schien sich in ihrer Haut aber plötzlich nicht mehr ganz so wohl zu fühlen. Und dann drückte sie mir den Rasierer in die Hand, damit ich es selber versuchen konnte, während sie mir den Rücken kehrte und sich mit dem Inhalt des Spiegelschranks beschäftigte.

Ich schob die Zunge zwischen die Lippen und versuchte das zu machen, was sie mir vorher gezeigt hatte, nur leider wollte das bei mir nicht so richtig funktionieren, weswegen sie am Ende einmal kurz die Augen schloss, tief durchatmete und mir dann doch zur Hand ging.

Dieses Mal kitzelt es nicht, es fühlte sich nur seltsam an.

Als sie fertig war, schob sie mich unter die Dusche und flüchtete dann aus dem Bad. Ich wunderte mich zwar ein wenig, sagte aber nichts.

Ich war gerade dabei mich abzutrocknen, als sie wieder zurück kam und mir etwas in die Hand drückte, dass sie Bikini nannte. Es sah aus wie Unterwäsche.

„Das ist aber zum Baden gedacht“, erklärte sie und begann dann ihre Bluse zu öffnen. „Der Stoff ist ganz anders, als bei Unterwäsche und wenn er nass wird, wir er auch nicht durchsichtig.“

Ich nickte verstehen und stieg in das Höschen. Es war schwarz und hatte seitlich jeweils drei Bänder. „Also geht man nicht in Unterwäsche baden.“

„Nein.“ Sie warf ihre Bluse beiseite, zog sich dann auch noch den BH aus, um ihn dann direkt durch ein Bikinioberteil zu ersetzen. Es hatte die Form von einer Fledermaus.

„Deine Brust ist viel kleiner als meine“, bemerkte ich.

„Das liegt daran, dass du wirklich Riesenmöpse hast.“ Grinsend ließ sie ihre Hose an ihren Beinen herunterrutschen. „Ich liege im Normalmaß.“

Ich senkte den Blick auf meine Brust. „Ist das schlimm?“

„Quatsch.“ Sie ließ dann auch noch die Restlichen Hüllen fallen und schlüpfte in ein sehr knappes Höschen, das nicht mal ihren Po bedeckte. Meines hatte dreimal so viel Stoff. „Jeder Mensch hat seine eigenen Vorzüge. Du hast einen tollen Busen, ich einen super Hintern.“ Sie klatschte sich selber auf den Hintern.

Ich schaute mir ihren Po an und verrenkte mich dann halb, um einen Blick auf meinen eigenen zu erhaschen. Sah nicht viel anderes aus. „Und ich habe keinen super Hintern?“

Scheinbar fand sie mich sehr lustig, denn sie begann wieder zu lachen. „Du bist super, Tarajika.“ Sie grinste mich an, neigte dann aber den Kopf leicht zur Seite. „Sag mal, hast du eigentlich einen Spitznamen?“

Ich nickte. „Mika nennt mich immer Ara.“

„Ara? Wie der Vogel?“

„Nein.“ Nun war ich es, die grinste. „Das ist die Abkürzung von meinem Namen.“

„Okay, stört es dich, wenn ich dich auch so nenne?“ Sie begann damit ihre Sachen vom Boden aufzuklauben, nur um sie dann einfach in die Ecke zu schmeißen. „Ich finde Tarajika nämlich ziemlich lang.“

„Nein.“ Ich setzte mich auf den Klodeckel. Kalt!

„Hey, mach es dir nicht zu gemütlich, wir gehen jetzt schwimmen.“ Sie schnappte mich bei der Hand und zog mich einmal mehr durchs ganze Haus, bis wir die Tür zum Garten erreichten. Dort schob sie mich nach draußen und hielt dann direkt auf ein großes Wasserbecken zu. „Du kannst doch schwimmen, oder?“

Ich nickte und ließ meinen Blick kurz über die Umgebung gleiten. Der Garten war viel ordentlicher und gepflegter, als der von Marica. „Als Kind habe ich immer im Fluss gebadet.“ Naja, wenn Lalamika mich heimlich rausgelassen hatte. „Da gab es teilweise sehr tiefe stellen.“

„Das hört sich cool an.“ Sie setzte sich an den Beckenrand und bemerkte den dunstigen Nebel über der Wasseroberfläche gar nicht. Ich jedoch schon. Das war ein sehr alter Geist und dass er hier war, konnte nur an Raphael liegen. Er tat nichts, außer schweben und beobachten, darum fiel es mir auch nicht weiter schwer, ihn einfach zu ignorieren.

„Ich hab früher Angst vor Wasser gehabt“, erzählte sie mir und planschte mit den Beinen im Wasser herum. „Tristan hat mir erzählt, dass da ein Monster in der Tiefe lauert und mich einfach mit nach Hause nimmt, wenn ich ins tiefe Wasser gehe. Eigentlich hatte er damit nur dafür sorgen wollen, dass ich im flachen Wasser bleibe, aber ich war klein und unschuldig und habe von da an geglaubt, das Monster würde mich holen, wenn ich, wenn ich auch nur in die Nähe vom Wasser komme.“

Schmunzelnd setzte ich mich neben sie. „Dummchen, Monster gibt es doch gar nicht.“

Sie verengte ihre Augen ein wenig, spitzte die Lippen und im nächsten Moment gab sie mir einen kräftigen Stoß, der mich in den Pool beförderte.

Ich war noch nicht mal wieder aufgetaucht, da sprang sie bereits mit einem Jubelschrei hinterher.

 

°°°

 

„Platz da!“ Ich stieß mich vom Beckenrand ab, flog ein Stück durch die Luft und landete dann in einer riesigen Fontäne im Pool. Augenblicklich wurde ich von allen Seiten vom Wasser umschlungen. Tausende kleiner Luftblasen wirbelten um mich herum und versuchten eilig einen Weg nach oben zu finden. Ich folgte ihnen und tauchte nach Luft schnappend wieder auf. Dann konnte ich dabei zuschauen, wie Amber sich wassertretend versuchte das Gesicht trocken zu reiben.

„Das hast du mit Absicht gemacht“, warf sie mir vor.

„Ich habe doch Platz da gerufen“, verteidigte ich mich und schwamm zum Beckenrand. „Du hast nur nicht schnell genug reagiert.“

Amber strampelte neben mich und hielt sich dann fest. Dabei glitt ihr Blick zur Steinterrasse vor dem Haus. Oliver stand dort an einem gemauerten Grill und wendete Fleisch, während er sich mit Lucy unterhielt.

Hinter den beiden stand ein großer Tisch, auf den Marica gerade noch eine Schüssel mit Salat zu dem ganzen anderen Zeug stellte. Da stand so viel Essen, dass sich der Tisch unter dem Gewicht praktisch bog. Es juckte mir in den Finger rüberzugehen und mir etwas davon zu stibitzen, aber Marica hatte gesagt, wir müssen noch auf Vivien warten.

„Ich schau mal wie weit sie sind“, verkündete Amber und hievte sich aus dem Wasser. Dann lief sie klitschnass zu ihrem Vater.

Ich ließ meinen Blick ein wenig weiter wandern. Nur ein Stück vom Pool entfernt, standen zwei Liegestühle in der Sonne, auf denen Raphael und Tristan es sich in ihren Badehosen bequem gemacht hatte. Sie sprachen miteinander. Naja, eigentlich bewegte sich im Moment nur Tristans Mund, Raphael starrte nur frustriert vor sich hin. Er schien noch immer schlechte Laune zu haben.

Dann lenk ihn doch ein wenig ab, schlug Lalamika vor. Sie saß direkt neben mir am Beckenrand und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie konnte sie war nicht mehr spüren, aber sie erinnerte sich an der Gefühl. Er freut sich bestimmt über deine Gesellschaft.

Wirklich? Heute Morgen hatte er mich nicht mal in seiner Nähe haben wollen.

Das hat dich bisher auch nicht gestört.

Auch wieder wahr. Und Notfalls konnte ich mich ja auch immer noch wieder zurückziehen. Also hievte ich mich aus dem Becken, schüttelte das Wasser ein wenig ab und ging dann quer über die Wiese zu den beiden hinüber.

Da ich von der Seite kam, bemerkten die Beiden mich nicht sofort und so konnte ich ein paar ihrer Worte aufschnappen.

„… sollten am Abend wieder zurück sein“, sagte Tristan gerade.

„Lass mich mit dem Quatsch in Ruhe, ja?“ Raphael hatte ein Bein aufgestellt und die Augen geschlossen. Seine Arme lagen auf den Lehnen, aber sein Bruder schien nicht zu bemerken, dass er die Finger darum krampfte.

„Raphael …“

„Nein, ich bin raus. Die Themis arbeiten für … sie. Ich kann da nicht mehr hin.“

Aha, sie sprachen wohl mal wieder über den Hof und Cayenne.

„Die Themis stehen unter Miguels Kommando. Du würdest Cayenne kaum zu Gesicht …“

„Sag ihren Namen nicht!“, fauchte Raphael seinen Bruder an und erdolchte ihm mit einem durchdringenden Blick.

„Ys-oog!“, rief ich, bevor er seinem Bruder noch an die Kehle ging und überwand die letzten zwei Schritte. Gerade als er sich mir zuwandte, kniete ich mich zwischen seine Beine auf die Liege und schaute ihn sehr eindringlich an. Dabei stützte ich mich mit den Armen auf seinen Oberschenkeln ab. „Weißt du, was ich heute gemacht habe?“

„Da du den ganzen Tag mit Amber zusammen warst, kann es nichts Gutes sein.“

Grinsend lehnte ich mich auf meine Fersen zurück und hob meinen rechten Arm in die Luft. „Ich hab mich rasiert. Amber sagt, das wäre ästhetischer.“

„Aha“, machte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.

Ich nahm die Arme wieder runter. „Ich hab das nicht ganz allein hinbekommen, deswegen hat sie mir geholfen. Auch hier.“ Ich griff nach meinem Höschen, doch bevor ich es runterziehen konnte, schossen seine Arme vor und hielten meine Handgelenke fest.

Verwundert schaute ich ihn an. „Was ist?“

Was auch immer es war, er musste erst einmal tief Luft holen, bevor er sprechen konnte. „Gnocchi, ich habe dir bereits mehr als einmal gesagt, dass ich dich nicht nackt sehen möchte. Sich direkt vor mir auszuziehen, gehört auch dazu.“

Oh. „Aber ich wollte dir doch nur zeigen, wie …“

„Kein Interesse.“ Er schaute mich schon beinahe böse an. „Also unterlasse das in Zukunft.“

Ich sagte „Okay“, auch wenn ich nicht verstand, was daran so schlimm war. Er wusste doch, wie ich nackt aussah und der Bikini verdeckte ja auch nicht sehr viel. Manchmal war das Verhalten von den anderen einfach nur merkwürdig.

„Okay“, sagte er dann auch und gab meine Handgelenke wieder frei, bevor er sich auf dem Stuhl zurücklehnte. Dabei bemerkte ich, dass er hinter dem Ohr einen Fleck hatte.

Neugierig lehnte ich mich über ihn und griff nach seinem Gesicht. Er zuckte vor mir zurück, aber da hatte ich es schon gesehen. „Du hast ja auch so ein Bild.“

Seine Lippen wurden eine kleine Spur schmaler. „Das ist kein Bild, dass ist ein Tattoo“, erklärte er und schob mich ziemlich nachdrücklich von ihm weg. „Und ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du mir nicht immer so auf die Pelle rücken würdest.“

„Warum?“

Einen wortlosen Moment schaute er mich an, dann wandte er sich einfach seinem Bruder zu. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“

Tristan atmete einmal tief ein, wodurch die alte Brandnarbe, die seine Schulter, in Bewegung geriet. Es sah aus, als sei die Haut an dieser Stelle geschmolzen und wie Wachs dann wieder erstarrt. „Wenn du mich nicht wieder anschreist.“

Der Zug um Raphaels Mundwinkel wurde ein kleinen wenig verkniffen. „Mein Motorrad steht noch im Hof. Wenn ihr morgen hinfahrt, kannst du es mir mitbringen?“

„Du kannst sie dir doch einfach selber …“

„Ja, oder Nein?“, unterbrach er seinen Bruder grob.

Tristans Augen wurden eine Spur schmaler. „Du bist heute ganz schön gereizt.“

Nun war er es, der einfach nur angestarrt wurde. Doch dann seufzte Raphael geschlagen und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Dabei bemerkte ich seine Achseln. Die waren genau wie bei mir kahl. „Tut mir leid. Die letzten Tage waren einfach nur stressig und ich brauche Blut. Ich besorge mir morgen welches.“

Mein Blick ging von seiner Achsel zu seinen Badehosen. Ob er da auch kahl war? Unter der Dusche hatte ich es ja nicht sehen können, weil er mir den Rücken zugewandt hatte.

„Ja, meinetwegen. Dann lasse ich Lucy mein Motorrad zurückfahren und nehme deines.“

Ich neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Sollte ich Raphael fragen, oder der Sache lieber selber auf den Grund gehen? Ich hatte ihn schließlich auch schon mal nackt gesehen und mich störte dieser Anblick nicht.

„Danke. Den Schlüssel findest du im Wohnwagen neben … hey!“ Als ich nach dem Bund seiner Badehose griff, packte er nicht nur meine Hand, er sprang auch halb von der Liege auf. „Was soll der Mist?“

Ich blinzelte einmal. „Ich wollte nur schauen, ob du da Haare hast.“

Dazu schien ihm nichts mehr einzufallen. Er schaute mich nur an, schnaubte dann und kletterte anschließend über den Liegestuhl. „Amber!“, rief er quer durch den Garten, während er mit langen Schritten auf sie zuhielt.

Okay, vielleicht hätte ich doch besser gefragt, als selber die Initiative zu ergreifen, besonders, da ich jetzt immer noch nicht schlauer war als vorher.

Als Raphael seine Schwester erreichte, konnte ich sehen, wie er verärgert auf sie einredete. Er war zu weit weg, als dass ich ihn hören konnte, aber als er dann auf seine Badehose zeigte, konnte ich mir gut vorstellen, worum es ging. Scheinbar mochte Raphael keine nackten Leute – sich selber eingeschlossen.

Amber hörte sich erst ruhig an, was er zu sagen hatte und fing dann an zu prusten, woraufhin Raphaels Gesicht echt finster wurde.

Ohne auf Tristan und seinen seltsamen Blick zu achten, erhob ich mich von der Liege und machte mich auf dem Weg zu ihm. Doch als er mich kommen sah, machte er kehrt und ging in die andere Richtung davon.

Ich blieb etwas verwirrt stehen und schaute ihm dabei zu, wie er an den Pool trat und dann ins Wasser sprang.

„Ach, lass ihn einfach schmollen.“

Als ich mich nach der Stimme umwandte, sah ich Amber auf mich zukommen. „Er schmollt?“

Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. „Ein bisschen.“ Sie stellte sich direkt neben mich und dann beobachteten wir zusammen, wie Raphael durch den Pool schwamm.

„Aber warum denn?“

„Weil ich gelacht habe.“

Das verstand ich nicht. Er schmollte, weil sie lachte?

„Pass auf“, sagte sie und wandte sich mir zu. „Im Umgang mit anderen Leuten, muss man ein paar Regel beachten. Eine davon ist es, anderen nicht einfach an, oder noch besser, in die Hose zu fassen.“

„Aber ich hab ihn doch schon einmal nackt gesehen.“

„Sicher, aber das ging auch von dir aus. Und so wie ich Raphael kenne, hat er sich sofort bedeckt.“

Hm, wenn ich so darüber nachdachte, musste ich feststellen, dass es genauso gewesen war. Ich hatte einfach angenommen, dass ihm kalt gewesen war.

„Weißt du, sich jemand anderem nackt zu zeigen, kann etwas sehr intimes sein. Man macht sich damit auch ein wenig verletzlich und deswegen teil man das nur mit ganz besonderen Menschen.“

„Wirklich?“ Ich war die meiste Zeit meines Lebens nackt gewesen. In der kleinen Hütte hatten sie mir keine Kleidung gegeben und niemand von den Leuten, die mir essen gebracht hatten, haben sich je dafür interessiert, wie ich aussah. Erst in dem Jahr, in dem ich allein auf der Straße gelebt hatte, hatte ich mir Kleidung geklaut und angezogen, einfach weil sie mir gefallen hatte. Und bei Jegor … nun ja, ein Panther hatte sein Fell.

„Meistens, ja.“ Sie nickte, um ihre Antwort noch zu unterstreichen. „Darum darfst du das niemals ohne die Erlaubnis desjenigen machen, dem du die Hose runterziehen möchtest.“

Aha, gut zu wissen. „Dann sollte ich mich vielleicht bei ihm entschuldigen.“

„Es würde sicher nicht schaden“, stimmte sie mir zu. Dann klopfte sie mir auf die Schulter und ging lächelnd zurück zu ihrem Vater.

Mein Blick glitt wieder zum Schwimmbecken, wo Raphael gerade zum Rand schwamm. Sobald er ihn zu fassen bekam, drehte er sich herum und schwamm den ganzen Weg wieder zurück. Er schien tief in Gedanken zu sein.

Langsam setzte ich mich in Bewegung und hielt auf die gleiche Stelle zu, zu der er gerade schwamm. Lalamika, die noch immer am Pool lag, beachtete ich gar nicht.

Gerade als er den Rand berührte und sich wieder umdrehen wollte, hockte ich mich vor ihm und griff nach seiner Schulter. „Warte.“

Er schaute äußerst misstrauisch zu mir auf. „Was?“

„Es tut mir leid“, sagte ich ganz direkt. „Ich hab nicht gewusst, dass dich das stören würde und möchte nicht, dass du jetzt böse bist. Ich mache es nie wieder. Versprochen.“

Das Misstrauen schien nicht recht weichen zu wollen. Doch dann holte er einmal tief Luft und wischte sich mit der Hand das Wasser aus dem Gesicht. Dabei entspannte sich der verkniffene Zug um seinen Mundwinkel ein wenig. „Egal, vergiss es einfach.“

„Bist du dann nicht mehr böse?“

„Ich bin nicht böse, Gnocchi.“ Er drehte sich um und stemmte sich aus dem Wasser, bis er direkt neben mir saß. „Ich bin heute nur ein wenig gereizt und das kam einfach unerwartet.“

„Dann ist alles wieder gut?“

Er verengte die Augen ein wenig, als müsste er erst darüber nachdenken. Plötzlich schoss sein Arm auf mich zu und noch bevor ich reagieren konnte, verlor ich das Gleichgewicht und klatschte mit dem Gesicht zuerst ins Wasser. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig die Luft anzuhalten, dann war die Welt um mich herum blau und voller Luftblasen.

Strampeln paddelte ich zurück an die Oberfläche und schnappte da erstmal nach Luft. Dann schaute ich ihn mit großen Augen an. „Warum hast du das gemacht?“

„Damit zwischen uns alles wieder gut ist.“ Er zwinkerte mir zu, erhob sich dann vom Beckenrand und ging zurück zu seiner Liegen, wo Tristan noch immer in der Sonne brutzelte.

Ich schaute ihm verwundert hinterher. Hatte Raphael gerade mit mir gespielt? Er wirkte auf jeden Fall nicht mehr böse auf mich. Auf seinen Lippen lag sogar ein kleines Lächeln, das vorher definitiv nicht da gewesen war. Am besten, ich überprüfte diese Theorie einmal.

Genau wie er eben, kletterte ich aus dem Becken und ging hinüber zu den Liegestühlen. Er sah mit bereits entgegen, sagte aber nichts, als ich mich wieder zwischen seine Beine kniete und versuchte aus dieser Situation schlau zu werden. „Du bist jetzt nicht mehr böse.“

„Nein“, erwiderte er ruhig. „Es ist alles okay.“

Das ließ mich strahlen. Ich beugte mich vor und umarmte seinen Bauch. „Danke.“

Einen kurzen Augenblick spannte er sich ein wenig an, doch dann seufzte er einfach und tätschelte meinen Kopf. „Mach das nur nie wieder.“

„Nicht ohne deine Erlaubnis“, versprach ich und machte es mir auf seinem Bauch bequem. Ich mochte es einfach bei ihm zu liegen. Bei ihm fühlte ich mich sicher und das war ein schönes Gefühl.

„Ähm … was wird das?“

„Kuscheln.“

„Kuscheln, natürlich.“ Er machte ein seltsames Geräusch, sagte aber nichts weiter dazu. Allerdings bemerkte ich den Blick seines Bruders. Er sah mich schon wieder so seltsam an. Das mochte ich nicht.

„Klopf Klopf.“

Raphael gab ein Schnauben von sich. „Ohje.“

Da Tristan nichts weiter tat, als mich weiter anzuschauen, als würde er versuchen aus mir schlau zu werden, wiederholte ich: „Klopf Klopf.“

„Ähm.“ Er zögerte. „Wer ist da?“

Es war toll, dass wirklich jeder dieses Spiel kannte. „Ein Wolf.“

„Was?“

Oder auch nicht. „Nicht was, du musst fragen: Ein Wolf? Oder: Wolf wer?“

Er kam sich von mir wohl ein wenig veräppelt vor.

„Na los“, forderte ich ihn auf.

„Ein Wolf?“, fragte er dann ein wenig widerwillig. Ihm schien das Spiel nicht zu gefallen.

„Ein neugieriger Wolf ohne Augen“, erklärte ich dann.

Das schien er nicht zu verstehen, Raphael jedoch lachte leise und legte mir die Hand auf die Schulter, als wollte er verhindern, dass ich einfach aufsprang. „Wir kratzen der Familie nicht die Augen aus.“

Aha, er hatte also verstanden, worauf ich hinaus wollte. „Aber er guckt mich die ganze Zeit so komisch an und das mag ich nicht.“

„Er kennt dich nicht und versucht nur dich einzuschätzen. Das ist nichts Schlechtes.“

Da war ich ganz anderer Meinung. Darum steckte ich Tristan die Zunge raus und drehte mich herum. Jetzt konnte er meinen Rücken anstarrten.

Auf der anderen Liege wurde geseufzt. „Vielleicht sollte ich sie morgen mitnehmen und zu den Themis bringen.“

Mein ganzer Körper spannte sich an.

„Die sind viel besser …“

„Ich gehe nicht zu den Themis!“, fauchte ich und fuhr auf. „Und du kannst mich nicht zwingen!“

Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen „Du musst doch einsehen, dass es für dich hier nicht optimal ist.“

Nicht optimal? Fast wäre ich von der Liege gesprungen, doch Raphael schnappte mich schnell am Arm und hielt mich fest. „Hast du Angst vor mir?“, fragte ich ihn ganz direkt. „Glaubst du, dass ich nachts an dein Bett komme und dich fresse? Möchtest du mich auch in einen Käfig stecken?“

„Ailuranthropen können unberechenbar sein“, erklärte er genauso direkt.

Ich kniff meine Augen leicht zusammen und grollte. „Es war ein Lykaner, der mich acht lange Jahre in einen Käfig gesperrt hat. Es war ein Vampir, der mich eingefangen hat. Ailuranthropen halten sich keine Sklaven.“ Die steckten ungeliebte Personen nur in kleine Hütten und vergaßen sie dort.

Tristan wollte den Mund wieder öffnen, doch da bekam er von Raphael ein „Sei still“ um die Ohren gehauen. Dann spürte ich, wie er mein Kinn in die Hand nahm und mein Gesicht zu sich drehte. „Niemand wird dich in einen Käfig stecken, hast du das verstanden?“

„Aber er hat gesagt …“

„Ich habe gehört, was er gesagt hat und kann dir versprechen, dass du niemals wieder in einem Käfig sitzen wirst. Das wird meine Mutter nicht zulassen und Amber wird das auch nicht erlauben.“

Mein Blick glitt zu den beiden auf der Terrasse, wo sie miteinander lachten. „Und du?“, fragte ich ihn.

„Und ich lasse das auch nicht zu.“ Er gab mein Kinn wieder frei. „Tristan mein es auch nicht böse, er möchte nur, dass es uns allen gut geht. Bei den Themis könnte man dir halt besser helfen, als hier.“

Meine Mundwinkel sanken ein Stück herab. „Ich bleibe bei dir.“ Und davon würde ich nicht abrücken.

„Ja, das habe ich mittlerweile mitbekommen.“

So wie er das sagte … ich konnte seine Tonlage nicht richtig einordnen. Fand er es gut, oder fügte er sich vorerst einfach in sein Schicksal? Vielleicht überlegte er aber doch noch, wie er mich loswerden konnte. Da konnte er aber lange überlegen. Ich würde mich nicht mehr verscheuchen lassen, denn das wäre sein Ende.

„Du musst verstehen, dass wir …“

„Vivien!“

Bei Ambers Ruf drehten wir alle unsere Köpfe. Sie rannte zum Gartenzaun, wo das Tor gerade von einem großen Mann mit Brille geöffnet wurde. Das war Roger, Viviens Mann. Direkt hinter ihm war eine blonde Frau mit einem herzförmigen Gesicht und einer kleinen Stupsnase, die Anouk an der Hand hielt. Vivien.

Auch Tristan und Raphael sprangen direkt auf die Beine und eilten wie der Rest der Familie zu ihr. Ich blieb alleine zurück und konnte nur dabei zuschauen, wie sie von allen belagert und umarmt wurde. Marica vergoss sogar ein paar Tränen, als sie sie in ihre Arme zog.

Alle freuten sich, dass sie wieder da war und es ihr gut ging. Über meine Befreiung hatte sich niemand gefreut. Keiner war da gewesen, um mich in den Arm zu nehmen, oder hatte in paar Tränen vergossen, weil er sich so freute mich zu sehen. Alle wollten nur, dass ich schnell wieder aus ihrem Leben verschwand. Denn sie fürchteten das was ich war.

Niedergeschlagen zog ich meine Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Wie es wohl war, einfach akzeptiert und geliebt zu werden? Ich würde es wohl nie erfahren.

Das ist nicht wahr. Lalamika tapste heran und sprang neben mich auf den Liegestuhl. Amber mag dich und Marica auch.

Ja, aber nur weil sie nicht wussten, wer ich war. Und ich konnte nur beten, dass sie es niemals erfahren würden, sonst würde ich wohl doch wieder in einem Käfig landen.

Nein, Ara, sie sind nicht wie Pandu oder Jegor. So etwas würden sie dir nicht antun.

Das konnte sie nicht wissen, nicht mit Sicherheit.

Nein, sicher sind nur die Dinge, die bereits geschehen sind, aber es ist äußerst unwahrscheinlich. Hab keine Angst. Sie schmiegte ihren Kopf an mich und begann leise zu schnurren. Ich spürte es nicht. Du bist kein kleines Kind mehr Ara. Es ist nicht mehr so einfach, dich gegen deinen Willen zu etwas zu zwingen.

Da war ich anderer Meinung.

Langsam lockerte sie das Familienknäuel und bewegte sich auf die Terrasse zu. Vivien lächelte, während sie Amber zuhörte. Oliver wischte sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel.

Ob ich sie auch begrüßen sollte? In Jegors Haus war sie meistens nett zu mir gewesen. Allerdings war sie nie an meinen Käfig herangetreten und Anouk hatte sie auch verboten, mir zu nahe zu kommen. Selbst mit dem Gitter zwischen uns, war sie in meiner Nähe immer sehr wachsam geworden.

Sie würde sich wohl nicht freuen, mich zu sehen, darum blieb ich einfach auf dem Liegestuhl und beobachtete sie. Doch dann schien Amber sich an mich zu erinnern. Sie hob den Arm und winkte mir zu. „Ara, komm!“

Auch Vivien wandte sich mir zu, um zu sehen, wen ihre Schwester da zu sich rief. Anfangs wirkte sie einfach nur neugierig, doch als ich mich erhob und Ambers Ruf folgte, trug der Wind meinen Geruch in ihre Richtung.

Ich erkannte genau den Moment, als ihr klar wurde, wer ich war. Ihre Augen wurden eine Spur größer und das Lächeln fiel ihr aus dem Gesicht. Gleichzeitig riss sie Anouk hinter sich und wich ein paar Schritte vor mir zurück.

Ich blieb sofort stehen. Hatte ich es doch gewusst.

Ihre Lippen bewegten sich hastig, woraufhin die ganze Familie zwischen ihr und mir hin und her schaute. Raphael runzelte die Stirn und auf Ambers Gesicht machte sich leichte Verärgerung bemerkbar. Sie sagte etwas zu Vivien, schüttelte dann den Kopf und machte sich mit einem Augenrollen auf dem Weg zu mir.

Als sie bei mir ankam, zögerte sie nicht nach meiner Hand zu greifen. „Los , komm, es gibt jetzt Essen.“

Essen! Das war wie ein Zauberwort. Ich machte sofort einen Schritt nach vorne, zögerte dann aber weiterzugehen.

Amber schaute mich verwundert an. „Was ist?“

„Sie mag mich nicht.“ Ich zeigte auf Vivien. „Sie hat Angst vor mir.“

„Ach.“ Amber winkte ab. „Sie musst dich nur ein wenig besser kennenlernen, dann mag sie dich auch.“

„Meinst du?“

„Klar, wie könnte sie dich nicht mögen?“ Sie zog an meinem Arm. „Komm, du musst dich ja nicht direkt neben sie setzen.“

Nein, das musste ich nicht, aber es war trotzdem kein schönes Gefühl, so angesehen zu werden. Dennoch ließ ich mich von Amber an den Tisch ziehen. Und das nicht nur, weil mein Magen bei den leckeren Gerüchen in der Luft zu knurren begann. Ich wollte nicht ausgeschlossen werden, ich hatte schließlich nichts falsch gemacht.

Der Tisch war nicht nur bis zum Bersten mit Essen gefüllt, er war auch groß genug, dass dort problemlos acht Leute daran Platz nehmen konnten. Das Problem war nur, dass wir zehn waren. Darum hatte Amber es wohl auch so eilig, an den Tisch zu kommen. Sie drückte mich auf den Stuhl an der Stirnseite und nahm selber links von mir Platz. Dabei grinste sie zu Tristan hoch, der sich gerade dort hatte hinsetzen wollen. „Besetzt“, zog sie ihn auf.

Er machte ein finsteres Gesicht, drückte ihr dann einmal gegen den Kopf und setzte sich zwei Plätze weiter neben Lucy hin. Vivien saß ihm nicht nur gegenüber, sie hatte auch Anouk auf ihren Schoß gezogen und warf mir immer wieder unsichere Blicke zu.

Ich versuchte es nicht zu beachten und behielt stattdessen Raphael und seine Mutter durch das Fenster im Blick. Die Beiden waren kurz ins Haus gegangen, um die restlichen Sachen aus der Küche zu holen.

„So, hier kommt das Fleisch“, verkündete Oliver und kam mit einen wirklich großen Teller, an den Tisch, bevor er sich auf den leeren Platz zwischen mir und Roger setze.

Ich wartete gerade mal, bis der Teller auf dem Tisch stand, bevor ich damit begann, meinen eigenen zu füllen. Mit Salat und Brot und aufgeschnittenem Gemüse und Würstchen und natürlich Fleisch. Drei Stücke.

Bis auf Amber schauten mir alle mit großen Augen dabei zu.

„Willst du das wirklich alles essen?“, fragte Roger mich, als ich mir noch ein zweites Brot nahm.

Ich hielt mitten in der Bewegung inne, warf ihm einen misstrauischen Blick zu und zog meinen Teller ein wenig näher zu mir. „Das ist meins.“ Nur um das mal klar zu stellen.

Amber grinste. „Das ist nur die erste Portion“, erklärte sie und zwinkerte mir zu. „Sie schafft auch noch eine zweite.“

„Und dann sieht sie so aus?“ Lucy musterte mich einmal von oben bis unten. „Da kann man richtig neidisch werden.“

„Du isst doch auch nicht weniger“, bemerkte Tristan und griff nach der Kelle für den einen Salat. Gerade als er sie angehoben hatte, zuckte er plötzlich zusammen. Der Salat kippte von der Keller zurück in die Schüssel und er funkelte Lucy böse an.

Die jedoch lächelte nur ganz unschuldig. „Ja? Hast du was gesagt?“

Mit einer großen Platte in der Hand kam Marica aus dem Haus und ging direkt zu mir. Ich wollte mir gerade sie Soße vor mir nehmen, doch die nahm sie mir direkt wieder aus der Hand und stellte sie neben Ambers Teller. „Die nicht Mäuschen, daran verbrennst du dir nur die Zunge. Hier, nimm die.“ Sie gab mir eine weiße Soße mit grünen Punkten und legte mir dann noch drei halbe Eier von ihrer Platte auf den Teller, bevor sie sie auf den Tisch abstellte und sich auf den letzten freien Platz mir gegenüber setzte.

Okay, dann nahm ich eben die Soße, während ich das erste Brötchen verdrückte. Dabei fiel mein Blick auf die Eier. Da waren kleine, schwarze Kügelchen drauf und die rochen irgendwie komisch. „Was ist das?“

Amber warf einen Blick auf meinen Teller und verzog das Gesicht. „Das sind kleine Fischeier. Man nennt es Kaviar.“

Kaviar, aha. „Schmeckt das?“

„Mir nicht, alle andern hier am Tisch mögen es. Es ist ein wenig salzig.“ Sie schob ihre Gabel in ihren Salat. „Probier es einfach. Wenn es dir nicht schmeckt, kannst du es in deine Serviette spucken.“

Ich würde kein Essen ausspucken, nicht freiwillig. Trotzdem roch ich erstmal daran, bevor ich es mir in den Mund schob. „Oh“, machte ich, das schmeckte wirklich lecker. Das zweite schob ich gleich hinterher.

„Und wo bitte soll ich jetzt sitzen?“, fragte Raphael. In seiner Hand hielt er eine Schüssel mit Alukartoffeln.

Amber grinste. „Tja, wer zu spät kommt und so weiter.“ Ein Stück Baguette mit Kräuterbutter verschwand in ihrem Mund.

„Sehr witzig, du kleiner Hexe.“

„Hier“, rief ich und klopfte neben mich. „Du kannst bei mir sitzen.“ Ich rutsche mit meinen Stuhl näher zu Amber und zog auch meinen Teller zur Seite. „Hier ist Platz.“

„Dir ist bewusst, dass ich nicht so ein Klappergestell wie du bin?“, fragte er grummelnd und stellte die Schüssel auf den letzten freien Platz, den er finden konnte.

„Ach“, sagte Amber und tätschelte meinen Arm. „Sie arbeitet doch fleißig daran, das zu ändern.“

Grummelnd ging Raphael zurück ins Haus, kam aber gleich wieder mit einem Stuhl heraus, den er zwischen mich und Oliver stellte. Roger reichte ihm seinen Teller und dann begann auch er, sich am Tisch zu bedienen.

„Wie weit bist du mit dem Streichen vom kleinen Zimmer?“, fragte Marica.

„Fast fertig.“ Raphael schob ein Würstchen in sein Brötchen und machte rote Soße drauf. Es war aber nicht die von Amber. „Ich muss nur noch die Fenster bescheiden.“

„Das ist gut. Dann können wir morgen schon die Möbel reinstellen.“

„Wir?“ Er hob eine Augenbraue

Marica winkte ab. „Du weißt was ich meine.“

„Ich helfe!“, verkündete ich mit vollem Mund.

Raphael schaute mich ein wenig angewiderte an. „Könntest du bitte deinen Mund leeren, bevor du sprichst? Das ist eklig.“

„Nein“, widersprach ich. „Das ist Essen und es ist lecker.“

„Genau“, stimmte Amber mir zu und begann dann provokant mit offenem Mund zu kauen. „Sehr lecker sogar.“

„Amber“, mahnte Oliver.

Sie verdrehte nur die Augen und schluckte ihren Bissen dann runter.

Marica bemerkte währenddessen, dass Vivien nur auf ihrem Teller herumstocherte. „Vivien Schatz, schmeckt es dir nicht?“

Beinahe schon aufgeschreckt schaute sie hoch. „Doch, es ist lecker, nur …“ Sie verstummte wieder und warf mir einen unauffälligen Blick zu. „Warum ist sie hier?“

Alle Blicke richteten sich wieder auf mich.

Ich versuchte es nicht weiter zu beachten und konzentrierte mich ganz auf mein Essen. Das war gar nicht so einfach. Ich mochte es nicht, wenn man mich so anstarrte.

„Also, ich würde sagen, sie ist hier, weil sie hunger hat“, schmunzelte Amber.

„Nein, ich meine …“ Wieder zögerte sie. „Wie kommt sie hier her?“

„Raphael hat sie mitgebracht.“ Amber zeigte auf auf ihren Bruder.

Raphael schnaubte nur. „Nicht ich, das war Mama. Sie hält sie für ein Schmusekätzchen.“

„Ach, hör auf so einen Stuss zu reden, Spatz. Sie ist hier, weil sie niemanden hat und ich mich gerne um sie kümmere.“

Nein, ich war hier, um Raphaels Leben zu retten, aber das konnte ich niemanden sagen. Sie würden mir nicht glauben, wenn ich ihnen erzählen würde, was sonst passieren würde.

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte Vivien.

Ich funkelte sie an. „Warum machst du das? Ich hab dir nie etwas getan.“

„Du hast Carla einmal den halben Arm aufgekratzt, als sie dir dein Futter gebracht hat.“

Carla war eine weitere Sklavin von Jegor gewesen.

„Sie hatte mir die Schüssel ins Gesicht geworfen“, verteidigte ich mich. „Das hat wehgetan.“

Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder und senkte ihren Blick auf ihren Teller.

„Okay“, sagte Amber überschwänglich. „Habt ihr schon das Neuste im Newsticker gelesen?“

Das nannte man dann wohl einen abrupten Themenwechsel. So wie die anderen sie anschauten, sahen die das wohl genauso.

„Bitte, kein Promitratsch“, flehte Tristan.

Amber ignorierte ihn einfach. „Königin Cayenne soll vor ein paar Tagen einen richtig heftigen Zusammenbruch gehabt haben. Und seit sie zurück am Hof ist, hat sie sich in ihre privaten Räume zurückgezogen. Niemand hat sie seitdem gesehen.“

Raphael spannte sich deutlich an, aber keiner schien es zu bemerken.

Marica nickte zustimmend. „Sie hat immerhin ihren Gefährten verloren.“

Sehr langsam legte Raphael sei Besteckt zurück auf sein Teller. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos geworden.

„Ja, aber sie ist ein Alpha. Natürlich ist König Nikolajs Tod heftig, aber gerade jetzt müsste sie für das Rudel da sein.“

„Jeder braucht Zeit zum Trauern“, sagte Tristan leise und warf seinem Bruder einen vorsichtigen Blick zu.

„Trauern?“ Marica lachte spöttisch. „Als wir am Hof waren, habe ich gehört, dass die beiden getrennte Räume haben und dass der König nicht mal in ihr Zimmer betreten durfte. Glaub mir, zwischen den beiden gab es keine Zuneigung. Darum bezweifle ich, dass sie um diesen Verlust trauert.“

„Hör auf“, flüsterte Raphael so leise, dass nur ich es hören konnte. Seine Hände hatte er mittlerweile zu Fäuste zusammengeballt.

„Und warum verschwindet sie dann einfach so von der Bildfläche?“, wollte Amber wissen und schob sich ein Stück von ihrem Hühnchen in den Mund.

Marica zuckte mit den Schultern. „Wer weiß schon was im Kopf dieser Frau vor sich geht. Ihre ganze Geschichte ist sowieso sehr rätselhaft. Als Baby entführt, fast zwei Jahrzehnte später taucht sie wieder auf, nur um kurz darauf wieder entführt zu werden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und kurz nachdem sie erneut auf der Bildfläche erscheint, stirbt die ganze Königsfamilie und sie besteigt den Thron.“

Amber schaute ein wenig verdutzt. Weder sie noch Marica hatten bemerkt, dass es am Tisch unnatürlich still geworden war. „Aber dafür kann sie doch nichts. Es war dieser Markis.“

„Das behauptet sie zumindest.“ Marica zeigte mit ihrem Messer auf Amber. „Ein Beweis dafür ist nie erbracht worden.“

„Ja aber, sie wird doch nicht ihre eigene Familie umgebracht haben“, bemerkte Amber kritisch. „Sie hat Vivien gerettet.“

„Eine gute Tat, gleichen viele schlechte nicht aus.“ Mit dem Messer schob Marica sich ein wenig Salat auf ihre Gabel. „Mit dieser Frau ist etwas nicht ganz koscher. Nicht nur wegen ihrer Geschichte und der angeblichen Erpressung. Als wir am Hof waren, hatte sie Besuch von Abtrünnigen.“

„Ja, das habe ich auch gehört.“

„Ich weiß nicht, was mit dieser Frau ist, aber so wie ich sie kennengelernt habe …“

Plötzlich schlug Raphael mit den Fäusten so heftig auf den Tisch, dass nicht nur das Gespräch abbrach. Alle schauten ihn erschrocken an. Er jedoch starrte nur auf seinen Teller. Sein Körper zitterte, als könnte er sich kaum noch beherrschen und er war so angespannt, dass er jeden Moment zu zerreißen drohte.

„Spatz?“, sprach Marica ihn vorsichtig an.

In dem Moment fuhr er so schnell auf die Beine, dass sein Stuhl umkippte und mit einem Knall auf den Boden schlug. Auch Roger und Oliver erhoben sich vorsichtig, doch er kniff einfach die Augen zusammen und atmete heftig ein und aus.

„Raphael?“ Oliver hob die Hand, aber bevor er ihn berühren konnte, wich dieser einen Schritt zurück, umrundete dann eilig den Tisch und marschierte aus dem Garten. Dabei schien seine Wut und Verzweiflung wie eine Aura um ihn herumzuwirbeln.

Tarajka!

Als Lalamika mich anschrie und direkt vor mir auf meinem Teller erschien, ließ ich vor Schreck nicht nur mein Besteck fallen, ich stieß mir auch das Knie am Tisch.

Geh ihm hinterher, du darfst ihn jetzt nicht allein lassen.

Sie hatte recht. Hastig schob ich meinen Stuhl zurück und sprang auf die Beine. Ich achtete weder auf Ambers Ruf, noch auf die verdutzten Blicke, oder mein Essen, das ich zurücklassen musste, als ich ihm hinterher rannte. Die Mühe das Gartentor zu öffnen, sparte ich mir, ich sprang einfach darüber und schaute dann nach links und rechts. Wo war er hin? Ich sah ihn nicht mehr.

Er ist nach Hause gegangen.

Nach Hause. Ich setzte mich sofort wieder in Bewegung. Lalamika rannte direkt neben mir her. „Geh zu ihm“, befahl ich ihr und bog in die nächste Querstraße ein. „Beruhige seine Gedanken.“

Sie nickte und verschwand. Als Geist war sie wesentlich schneller als ich.

Als ich noch mal abbog, sah ich gerade noch, wie er am anderen Ende der Straße im Garten seiner Mutter verschwand. Ich wurde noch ein kleinen wenig schneller. Als ich dann von der anderen Straßenseite ein seltsames Pfeifen hörte, verlangsamte ich meinen Schritt leicht irritiert.

Drüben, neben einer Laterne, stand ein Vampir mit grünen Augen, der mich komisch angrinste.

Ich beachtete ihn nicht weiter. Kurz darauf stürmte ich durch den verwilderten Garten ins Haus und hörte gerade noch, wie unten eine Tür so heftig zugeknallt wurde, dass sogar hier oben die Bilderrahmen an der Wand wackelten.

Ohne lange zu fackeln, eilte ich nach unten ins Souterrain, direkt nach hinten zu seiner geschlossenen Zimmertür. Erst da hielt ich an und atmete einmal tief durch. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich nun tun sollte. Klopfen, oder einfach reingehen? Und wenn ich drinnen war, was sollte ich dann machen? Ich gab es nicht gerne zu, aber diese Situation überforderte mich ein wenig.

Sei einfach für ihn da, hörte ich eine geisterhafte Stimme. Aber sie gehörte nicht zu Lalamika.

Wachsam drehte ich den Kopf und entdeckte unten an der Treppe die verschwommene Gestalt eines Mannes. Nur ganz kurz, dann hatte sie sich auch schon wieder aufgelöst. War das nicht dieser Mann, den ich hier unten schon mal gesehen hatte?

Ich hatte jetzt nicht die Zeit, mich darum zu kümmern, aber ich sollte das im Auge behalten. Geister trieben manchmal gemeine Spielchen und dass ich ihn nun schon zum zweiten Mal hier gesehen hatte, bedeutete dass er irgendwas wollte. Das war nicht unbedingt gut. Besonders nicht in dem labilen Zustand, in dem Raphael sich im Moment befand.

Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken an ihn zu vertreiben und griff dann nach der Türklinke. Raphael würde mich sicher nicht hinein bitten, also musste ich den ersten Schritt machen.

Keine Ahnung warum, aber ich öffnete die Tür äußerst leise und schob sie auch genauso lautlos auf.

Raphael saß am Fußende seines Bettes. Die Ellenbogen hatte er auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Es schien ihm auch völlig egal zu sein, dass seine Badehose noch nass war.

Er sah so traurig aus.

Um seinen Kopf wallte heller Nebel. Lalamika war bei ihm.

Leise schob ich mich in das Zimmer hinein und ging auf Zehenspitzen zum Bett hinüber. Dort zögerte ich einen Augenblick. Sollte ich ihn einfach ansprechen? Er würde sich sicher nicht freuen, mich zu sehen. Nein, entschied ich und kletterte dann einfach ins Bett.

Die Bewegung der Matratze, ließ ihn herumschrecken, doch bevor er auch nur einen Ton von sich geben konnte, kniete ich bereits hinter ihm und nahm ihn einfach in die Arme.

„Scheiße, was soll das?“ Wie nicht anders zu erwarten, versuchte er sich sofort von mir frei zu machen und leider war es für ihn ein leichtes, meine Arme Arme zu lösen. In der nächsten Sekunde stand er dann auch schon neben seinem Bett und zeigte auf seine Tür. „Verschwinde!“

„Nein“, sagte ich sicherer, als ich mich fühlte und stieg selber aus dem Bett. Als ich dann auch noch einen Schritt auf ihn zu machte, wich er vor mir zurück.

„Raus hier!“, brüllte er mich an und zeigte mir dabei seine ausgefahrenen Fänge.

Einen kurzen Moment ließ mich dieser Anblick wirklich auf der Stelle verharren, aber ich durfte ihn jetzt nicht allein lassen. Ich musste ihm durch seinen Schmerz helfen, bevor er auf eine sehr dumme Idee kam. „Ich weiß was das für ein Gefühl ist, jemanden zu verlieren, der einem alles bedeutet“, sagte ich leise und ging weiter auf ihn zu.

„Du tickst doch nicht mehr ganz richtig und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst, sonst mache ich dir Beine!“ Wäre er bei seiner Drohung nicht immer weiter vor mir zurück gewichen, wäre ich vorerst vielleicht auf Abstand geblieben. Aber er wirkte nicht gefährlich, sondern verzweifelt.

„Dieser Schmerz, der dir dein Herz in der Brust zerreißt und dir dabei den Verstand raubt.“ Ich zwang mich, mich an den Tag zu erinnern, als Lalamika gestorben war und die Trauer um den Verlust mich an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Sie war in meinem ganzen Leben die einzige gewesen, die niemals gemein zu mir gewesen war. „Du weißt, es ist nicht real, doch ein Gedanke reicht aus, um dich wünschen zu lassen, dem Ganzen einfach ein Ende zu setzen.“

Als ich bis auf einen halben Meter an ihn herangekommen war, fauchte er mich an. Er trat noch einen Schritt zurück, kam dann aber nicht weiter, weil er den Kleiderschrank im Rücken hatte. „Du hast doch keine Ahnung wovon du redest.“

„Du bist so stark, Ys-oog“, flüsterte ich und streckte eine Hand nah ihm aus. „Und genauso stark liebst du.“

Bevor ich ihn berühren konnte, schlug er meinen Arm weg. Au! Sein Körper war zum zerreißen gespannt und einen Moment überlegte ich, ob ich vielleicht doch aufhören sollte, ihn zu bedrängen. Aber dann bemerkte ich den Glanz in seinen Augen. „Ich weiß das es wehtut. Du liebst sie und dass möchtest du einfach nur vergessen, aber das hier ist der falsche Weg. Vertrau mir einfach, wenn ich dir das sage. Sie wird nicht verschwinden, nur weil du dir das wünschst. Wünsche werden nicht wahr.“

Seine Brust begann sich unter seinen Atemzügen sehr schnell zu heben und zu senken. Sein Schmerz schien in Wellen von ihm auszugehen.

„Es ist keine Schande, auch mal schwach zu sein.“ Vorsichtig trat ich noch einen Schritt näher und streckte erneut den Arm aus. Langsam und wachsam.

Er sah ihn kommen, doch anstatt ihn wieder wegzuschlagen, schloss er die Augen und in dem Moment, als ich die Haut über seinem Herzen berührte, rann ihm eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Du bist nicht allein“, sagte ich leise und trat noch näher. „Ich bin bei dir.“

Ich wusste nicht, was genau es war. Ob meine Worte ihn erreichten, oder er einfach nur keine Kraft mehr hatte. Doch plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und sank einfach vor dem Schrank in sich zusammen.

Ich kniete mich sofort zu ihm und schlang meine Arme um seine Schultern. Dabei spürte ich, wie sehr er zitterte. Es war nicht so, dass er wie ein kleines Mädchen heulte, doch ich spürte seine Trauer und den tiefen Kummer.

„Schhh“, machte ich. „Ich lass dich nicht allein“, versprach ich und begann leise zu schnurren, während ich ihm vorsichtig über den Kopf streichelte. Dabei bemerkte ich, dass dort bereits wieder ein paar kurze Stoppeln waren.

Als ich ein leises Geräusch hörte, schaute ich auf und bemerkte Marica im Türrahmen. Um ihre Augen hatten sich ein paar Sorgenfalten in ihr Gesicht gegraben, doch sie kam nicht herein. Sie nickte nur einmal und schloss dann leise die Tür von außen.

Ich drückte Raphael ein wenig fester an mich. „Auch du darfst mal schwach sein“, flüsterte ich ihm zu.

„Ich kann das nicht“, sagte er beinahe tonlos. Der Dunst um seinen Kopf verflüchtigte sich und gleich darauf materialisierte sich Lalamika neben uns. „Sie soll einfach aus meinem Gedanken verschwinden.“

Das würde leider nicht so einfach passieren. „Du musst dir Zeit geben, damit dein Herz heilen kann.“

Er schnaubte und wischte sich dann mit dem Handrücken über die Augen, aber in seinen Augen schimmerte es noch immer sehr verdächtig. „Du kannst das nicht verstehen“, sagte er leise. „Sowas heilt nicht einfach.“

„Nein, nicht wenn du es nicht zulässt.“ Ich löste mich ein Stück von ihm, damit ich ihm ins Gesicht schauen konnte. „Dann wird dein Schmerz dich einfach verschlingen.“

Darauf sagte er nichts. Er starrte nur stumpf auf den Boden und schien gar nichts mehr zu sehen.

Ich überlegte, was ich noch sagen könnte, aber mir fiel nichts mehr ein. Jedes Wort schien zu viel oder einfach nur falsch zu sein.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

So gebrochen, wie er das sagte … in dem Moment verabscheute ich Cayenne einfach nur. Natürlich hatte sie es nie einfach gehabt, doch mit ihrer Unentschlossenheit, hatte sie Raphael in ein so tiefes Loch gestürzt, dass er ohne Rettungsleine in der Finsternis versank. „Komm“, sagte ich und griff nach seiner Hand. Als er mich nur dumpf anschaute, erhob ich mich auf die Beine und zog an seinem Arm. „Komm, steh auf.“

„Gnocchi, ich …“

„Na los, aufstehen.“ Ich zog ein wenig nachdrücklicher und dann erhob er sich wirklich. Nicht weil er wollte, er machte viel mehr den Eindruck, als sei er völlig willenlos. Genauso widerstandslos ließ er sich von mir zum Bett führen. „Leg dich hin.“

„Gnocchi.“

„Tu es einfach.“

Als er sich nicht bewegte, schob ich ihn, bis er fast in die Laken fiel. Erst dann legte er sich freiwillig ins Bett und starrte einfach ins Leere.

Ich kletterte über ihn und setzte mich an seinen Kopf. Keine Ahnung, ob das helfen würde, doch wenn er sich entspannte und vielleicht sogar einschlief, würden seine düsteren Gedanken sich vielleicht erstmal zurückziehen. „Und jetzt mach die Augen zu und denk an etwas Schönes“, befahl ich ihm und strich ihm vorsichtig über den Kopf.

Er stieß ein bitteres Schnauben aus. „Da ist im Moment nichts Schönes.“

„Doch, du musst es nur wollen. Denk doch einfach an … hm. Kaviar! Der war wirklich lecker. Oder auch an das Brot mit dem Ei, dass du am ersten Abend hier gemacht hast.“

Es war kaum zu glauben, aber sein Mundwinkel hob sich wirklich ein kleinen wenig.

„Oder an die Wurst, heute beim Frühstück. Die war wirklich …“

Plötzlich rollte er sich zur Seite und schlang die Arme um meine Taille. Er vergrub sein Gesicht einfach an meiner Haut und hielt mich ganz doll fest, als fürchtete er, sonst einfach den Halt zu verlieren.

Einen Moment war ich ein wenig überrascht, doch dann legte ich ihm einfach nur meine Hand auf den Rücken und strich vorsichtig darüber. „Ich bin bei dir“, sagte ich leise. Egal was es mich kostete, ich würde nicht erlauben, dass er zerbrach. Das schwor ich mir.

 

°°°°°

Instinkte

 

Noch halb im Delirium, spürte ich, wie sich ein fester Körper an mich drängte. Warmer Atem strich über mein Schlüsselbein und verharrte an meiner Halsbeuge. Weiche Lippen tasteten meine Haut ab. Ein wohliger Schauder rann mir über den Rücken.

Verschlafen blinzelte ich in die morgendliche Sonne und brauchte einen Moment, um zu verstehen, wo ich mich befand. Genau, Raphaels Zimmer. Ich war in seinem Bett eingeschlafen. Und er war es auch, der sich da an mich kuschelte.

Verwundert drehte ich den Kopf, als ich das leichte Kratzen an meiner Halsbeuge spürte. Es war nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil, es fühlte sich gut an, so mit ihm zu kuscheln. Doch dann strich er mir mit der Zunge über die zarte Haut und ich spürte, wie die Stelle langsam taub wurde, während sein Atem immer hektischer gegen meinen Hals fiel.

Ich blinzelte einmal und fragte dann verschlafen: „Ys-oog, was machst du da?“

Augenblicklich spannte sich sein ganzer Körper an. „Scheiße!“, fluchte er und riss sich dann so plötzlich von mir los, dass er beinahe aus dem Bett fiel. Dann starrte er mich an, als sei er gerade seinem schlimmsten Alptraum begegnet. Seine Fänger waren zu voller Länge ausgefahren. „Oh Gott, nein“, seufzte er, ließ sich auf den Rücken fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

Irritiert setzte ich mich auf und griff nach seine Arm. „Ys-oog?“ Ich zog an ihm, doch er reagierte nicht. Er lag einfach nur da, atmete kontrolliert ein und aus und schien alles andere einfach auszublenden.

Hatte ich was falsch gemacht? Aber ich hatte doch nur geschlafen. Und was war mit meinem Hals? Ich hob die Hand und drückte gegen die Stelle, an der gerade noch seine Lippen gewesen waren. Ich spürte dort nichts. Selbst als ich probeweise ein reinkniff, war da kein Schmerz. Seltsam.

Raphael ließ die Arme wieder sinken und schaute mich einen Moment einfach nur an.

„Da ist es taub“, erklärte ich und ließ meinen Arm dann sinken.

„Das geht bald vorbei“, erklärte er und rieb sich einmal mehr über die Stirn, bevor er sich neben mir aufrichtete. Seine Fänge waren noch immer ausgefahren. Sie waren so groß, dass sie über die Unterlippe ragten. So hatte ich ihn bisher nur gesehen, wenn er wütend war, aber im Moment wirkte er nicht wütend, eher nervös.

„Was hast du denn da gemacht?“, wollte ich wissen.

Einen Moment rang er um eine Antwort, sagte dann aber nur: „Nicht so wichtig.“

„Und was ist mit deinen Zähnen?“

„Nichts.“ Er schlug die Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Genau wie ich, trug er noch immer die Badesachen von gestern. Nachdem Marica die Tür geschlossen hatte, waren wir nicht mehr herausgekommen.

Als Raphael sich erhob und direkt zu seinem Kleiderschrank hinüber ging, konnte ich beobachten, dass seine Hände ganz leicht zitterten. Er riss eilig die Türen auf, nahm die erstbeste Hose, die er finden konnte und zog sie sich eilig über die Badehose rüber.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“

Er schaute mich nicht mal an. „Alles Bestens“, murmelte er, schnappte sich noch ein T-Shirt und zog es über. Als er sich dann herumdrehte, blieb sein Blick einen Moment an mir hängen. Nein, nicht an mir, an meinem Hals. Und der Ausdruck darin … er war geradezu begierig.

„Warum guckst du so?“

Abrupt wandte er sich ab und stakste durch den Raum.

„Wo gehst du denn hin?“

„Weg.“ Er riss die Tür auf und ergriff praktisch die Flucht.

Die Decke raschelte, als ich sie zur Seite warf und aus dem Bett schlüpfte. „Kann ich mitkommen?“

„Nein.“

Sein brummiger Ton ließ mich mitten in der Bewegung verharren. War er doch böse auf mich? Aber ich hatte doch gar nichts Falsches gemacht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Hatte es vielleicht etwas mit gestern zu tun? Das würde ich wohl nur erfahren, wenn ich ihm folgte, also setzte ich mich wieder in Bewegung.

Als ich das Zimmer verließ, trat er gerade auf die Treppen. „Bist du böse?“

Er warf mir nur einen kurzen Blick zu und rannte die Treppe dann fluchtartig nach oben.

Hä? „Ys-oog?“ Ich eilte ihm hinterher. Die Treppe rauf und dann den Korridor entlang. „Warum redest du nicht mit mir?“

„Bitte, Gnocchi, geh einfach“, flehte er und verschwand dann im Wohnzimmer.

Das tat ich natürlich nicht. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, wo Marica an einem Regal mit hundert Ordnern stand und ein paar davon heraussuchte.

„Mama, kannst du mir deinen Wagen borgen? Ich muss mal weg.“

„Wo willst du denn hin?“ Sie zog zwei blaue Verzeichnisse hervor und drehte sich zu ihm um. „Oh“, war dann alles was sie noch von sich gab.

„Ja, oh“, stimmte er ihr zu.

Ich runzelte die Stirn. Was war hier nur los?

Marica legte die Ordner auf den Tisch und eilte dann zu Raphael, wo sie ihm besorgt über die Wangen fuhr und seinen Blick kontrollierte.

„Mama, lass das bitte, Ja?“ Er drückte sanft, aber bestimmt ihre Arme von sich. „Ich brauch einfach nur den Wagen.“

„Aber so kann ich dich nicht fahren lassen. Du könntest einen Unfall bauen. Guck doch deine Hände an, die zittern ja schon. So kannst du unmöglich einen Wagen lenken.“ Sie biss sich auf die Lippe und dachte nach. „Ich muss eigentlich rüber zu Beatrice, ich habe ihr versprochen, mich heute um ihre Buchhaltung zu kümmern.“

Langsam kam ich mir ziemlich ausgeschlossen vor. Nicht mal Lalamika war hier, um mir zu erklären, was hier vor sich ging. „Was ist denn los?“, fragte ich.

„Gar nichts ist los“, sagte er, während seine Mutter erwiderte: „Er hat Bluthunger.“

Fast automatisch fuhr meine Hand an die Stelle, die immer noch leicht taub war und plötzlich war mir klar, was beim Aufwachen fast geschehen wäre. Er war versucht gewesen, mich zu beißen. „Du brauchst Blut.“

„Und zwar ganz dringen“, fügte fügte Marica hinzu. „Aber so sollte er nicht allein in die Stadt fahren und ich habe zu tun. Vielleicht kann dich Amber ja in die nächste Ortschaft bringen.“

Raphael sah aus, als würde er lieber an einer Blutorange nuckeln, als sich in dieser Situation von seiner Schwester helfen zu lassen.

„Ich brauche weder einen Babysitter, noch Zuschauer“, erklärte er geduldig. „Ich schaff das schon alleine, das habe ich die letzten Jahre schließlich auch.“

„Aber was ist wenn du …“

„Er kann mich doch beißen.“ Die Worte waren raus, bevor ich näher darüber nachdachte. Ich wusste selber nicht, was in diesem Moment in mich gefahren war. Wahrscheinlich war es einfach nur Neugierde. Oder auch seine zitternden Hände. Er schien wirklich dringend Hilfe zu brauchen.

Marica schien diese Idee zu gefallen, wohingegen Raphael mich anschaute, als würde ich mal wieder nackt vor ihm stehen. Aber das war ich nicht, ich trug noch immer den Bikini von Amber.

„Das ist eine phantastische Idee“, stimmte Marica mir enthusiastisch zu.

„Was? Nein, ist es nicht“, widersprach Raphael sofort und wirkte ein kleinen wenig panisch.

„Du kannst so unmöglich in die Stadt fahren“, hielt seine Mutter sofort dagegen. „Und du willst niemanden, der dich begleitet, da ist Tarajika doch eine prima Lösung. Geht runter, da seid ihr ungestört.“

„Nein, da mache ich nicht mit.“ Er schüttelte vehement den Kopf.

Dass er sich so sträubte, kam mir irgendwie komisch vor. „Warum denn nicht?“, wollte ich wissen. War mein Blut vielleicht nicht gut?

„Weil …“, begann er, schien dann aber nicht weiter zu wissen. Er schaute mich an, strich sich nervös übers Kinn, wandte den Blick ab, nur um mich dann wieder anzuschauen. „Warum willst du dass ich dich beiße?“, stellte er die Gegenfrage.

Etwas unsicher zuckte ich mit den Schultern. „Weil du es brauchst. Ich möchte dir helfen“, sagte ich schlicht und lächelte dann vorsichtig. „Und ich bin neugierig. Ich wurde noch nie gebissen.“

„Es tut weh“, erwiderte er sofort.

„Ach, hör auf Geschichten zu erzählen“, mahnte Marica ihren Sohn und kam dann zu mir, um meine Hand zu nehmen. „Er hat nur Spaß gemacht, es tut nicht weh, nicht bei meinem Spatz. Er war schon immer ganz vorsichtig, du brauchst also keine Angst haben.“

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Wenn ich ehrlich war, hatte ich bis zu diesem Moment gar nicht darüber nachgedacht, ob es wehtun könnte.

„So, aber jetzt muss ich los.“ Sie schnappte sich noch ihre Ordner vom Tisch, gab jedem von uns einen mütterlichen Kuss auf die Wange und ging dann an uns vorbei in den Flur. Nach ihrem Ermessen gab es nun wohl eine zufriedenstellende Lösung und damit hatte sich das Thema für sie erledigt. „In der Küche steht noch Orangensaft“, rief sie ins Wohnzimmer. „Und gib ihr hinterher etwas zu essen, damit sie nicht umkippt. Vergesst dabei aber nicht, dass Tarajikas Zimmer heute fertig werden soll.“ Die Haustür wurde geöffnet. „Na dann, habt einen schönen Tag“, war ihr Abschied und dann stand ich mit Raphael allein im Wohnzimmer.

Er schaute mich an und schien nicht recht zu wissen, was er mir mir anfangen sollte. Als ich ihn dann vorsichtig anlächelte, sanken seine Mundwinkel herab.

„Nein, vergiss es, ich werde dich nicht beißen“, erklärte er streng. Dabei drückten sich sein Fänge in seine Unterlippe.

„Aber ich möchte dass du mich beißt.“

„Und ich möchte in einer Welt leben, in dem es kein Unrecht gibt. Das wird leider nicht geschehen und damit habe ich mich abgefunden, also finde du dich nun damit ab, dass ich dich nicht beißen werde.“

„Aber …“

„Nein.“ Damit drehte er sich herum und marschierte ein wenig steif auf dem Raum.

Das war der Moment, in dem ich Lalamika kichern hörte. Aha, sie war also doch da. Doch als ich mich nach ihr umschaute, konnte ich sie nicht entdecken. Was nur heckte sie jetzt schon wieder aus? Ich erfuhr es, als ich Raphael folgte.

Er stand in der offenen Haustür und schaute unsicher hinaus hinaus in den Garten. Sein Kopf war in einem leichten Dunstnebel gehüllt.

Es gefiel mir nicht, dass sie sich da schon wieder einmischte, dass hier hatte schließlich nichts mit Cayenne zu tun und einfach so seine Gedanken zu manipulieren, war gemein. Doch egal wie sehr ich ihr in meinen Gedanken mitteilte, dass sie sich da raushalten sollte, sie beachtete mich nicht.

Erst als Raphael sich zögerlich zu mir umdrehte, kicherte sie und löste sich dann einfach auf.

„Tu es“, sagte ich leise.

Sein Gesicht bekam einen Entschlossenen Zug und ich glaubte schon, dass er einfach gehen würde, doch dann schloss er die Tür von innen, kam auf mich zu und nahm einfach meine Hand. Er sagte kein Wort, als er mich hinunter in sein Zimmer führte und auch ich hielt den Mund. Ich fürchtete, dass ich ihn nur in die Flucht schlagen würde, sollte ich noch ein Wort sagen.

Er schob mich in sein Zimmer, kehrte mir dann den Rücken und schloss die Tür von innen. Dann stand er einfach nur da und atmete.

Ich schaute etwas unentschlossen zwischen ihm und dem Bett hin und her. Vorhin hatte ich gelegen. Würde es das für ihn einfacher machen? Schaden konnte es sicher nicht. Also stieg ich wieder ins Bett, streckte mich darauf uns und wartete dann einfach.

Es dauerte eine ganze Minute, bis er sich zu mir umdrehte. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, erstarrte dann aber einfach und schaute mich mit großen Augen an.

Das tat er so lange, dass ich irgendwann die Stirn runzelte. „Beißt du mich nun, oder nicht?“

Meine Stimme schien ihm zu helfen, ins hier und jetzt zurück zu finden. Er schloss einen Moment die Augen und atmete noch einmal tief ein. „Ich hoffe die ist klar, worauf du dich da einlässt.“

„Du beißt mich.“ Darum ging es hier doch schließlich, oder?

Er nickte nur und nährte sich dann dem Bett. Als ich mich dann jedoch auf den Rücken drehte, verzog er das Gesicht. „Nein, nicht hinlegen. Ähm … tu … setzt dich … setz dich einfach hin.“

Sein stottern ließ mich schmunzeln. „Du wirkst nervös.“

„Das kommt vom Hunger“, murmelte er und wich meinem Blick aus.

„Ach so.“ Ich neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Wie soll ich mich denn hinsetzten?“

„Egal, Hauptsache du hast es bequem.“

Ich setzte mich auf und ließ mich in den Schneidersitz fallen. Dann wartete ich wieder, doch er kam nicht näher. Irgendetwas schien ihn daran zu hindern, sich mir zu näheren.

Er wollte es, ich konnte es ihm ansehen. Mehr als nur einmal fiel sein Blick auf meinen Hals, doch mehr als die Hände ein paar mal zu schließen und zu öffnen, tat er nicht. Hatte er etwa Angst vor mir? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hatte eher den Eindruck, dass ihn der Gedanke mich zu beißen verunsicherte, doch ich konnte mir nicht erklären, warum das so war. „Ys-oog?“

Nur zögernd kam er in Bewegung und rutschte hinter mir ins Bett, sodass ich zwischen seinen Beinen saß. Er rückte an mich heran und schlang dann vorsichtig einen Arm um meinen Bauch, um mich näher an sich heranzuziehen.

Seine Wortlosigkeit machte mich nun selber langsam nervös.

„Keine Sorge, es wird nicht wehtun“, beruhigte er mich mit leiser Stimme. „Das verspreche ich dir.“

„Aber mein Hals, die Stelle ist nicht mehr richtig taub.“

„Ich weiß. Ich mach das schon.“ Sanft strich er mit der Hand über meine Halsbeuge, genau über die Stelle, an der mein Puls trommelte. Ein seltsames Gefühl überlief meinen Körper. Es war nicht unangenehm, nur … sowas hatte ich noch nie gespürt. Plötzlich wurde ich auch ein wenig nervös, doch dass hatte nichts mit dem bevorstehenden Biss zu tun. Was war nur plötzlich los mit mir?

„Du musst den Kopf ein wenig zur Seite neigen“, raunte er mit leiser Stimme. „Ja, genau so. Gut, und jetzt halt still.“

Als er seine Lippen an meine empfindliche Halsbeuge legte, griff ich nach seinem Bein. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mich irgendwo festzuhalten. Dann spürte ich wieder dieses leichte Kratzen auf meiner Haut und mir wurde klar, dass das seine Fänge waren.

„Wie machst du das?“, fragte ich, als seine Zunge wieder über meine Beuge glitt und die Haut anfing zu kribbeln, bevor sie langsam taub wurde.

Sei Atem strich über meine Haut. „In meinen Fängen ist ein Sekret, dass ich absondere, wenn ich meine Reißzhne ausfahre.“

Wieder spürte ich seine Reißzähne und bekam eine Gänsehaut. „Und wie oft musst du denn trinken?“

„Alle zehn Tage bis zwei Wochen.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Raunen. Er schien ganz auf seine Aufgabe konzentriert zu sein. „Bei Stress öfter.“

Ich erschauderte bei seiner Stimme und drückte mich instinktiv näher an ihn heran. „Und, machst du das immer so?“

„Nein.“

„Wie machst du es denn sonst?“

Anstatt zu antworten, fuhr er mit den Fängen ein weiteres Mal über meine Haut, als wollte er meine Reaktion prüfen.

Ich spürte es kaum noch. „Ys-oog?“

Er legte seine Hand auf meine, als würde er fürchten, dass ich sonst einfach das Weite suchen würde. „Normalerweise suche ich mir auf der Straße einen passenden Menschen.“ Er bettet sein Kinn für einen Moment auf meiner Schulter. „Wenn ich einen gefunden habe, belege ich ihn mit meinem Joch und verzieh mich mit ihren an einen Stillen Ort, wo ich meinen Hunger stillen kann.“

„Was ist denn ein passender Mensch?“

„Nicht zu alt, aber auch nicht zu jung. Er muss gesund sein und darf keine körperliche Schwäche haben. Ich nehme schließlich einen Teil seines Blutes und muss darauf achten, dass er anschließend noch gehen kann. Ich will ihm nicht schaden, aber ich brauche das Blut.“

Das verstand ich. „Trinkst du nur von Frauen?“

„Nein.“ Sein Kopf bewegte sich und dann spürte ich wieder seine Lippen. „Auch Männer stehen auf meiner Speisekarte.“

„Ist das nicht komisch für dich?“

„Warum sollte das komisch sein? Ich will nur ihr Blut und sie nicht heiraten.“ Seine Zunge drückte gegen meinen Puls. „Außerdem vergessen sie mich hinterher sowieso gleich wieder.“

„Gibst du ihnen denn etwas für ihr Blut?“

„Nur den Rausch der Endorphine.“

„Was ist das?“

„Das wirst du gleich selber sehen.“ Erneut bewegte er sich über meine Beuge. Ich spürte es nicht.

„Und wenn …“

„Gnocchi?“

„Ja?“

„Ich würde dich jetzt gerne beißen, aber dann kann ich nicht mehr reden.“

„Oh.“

Als würde er meine plötzlich ansteigende Aufregung spüren, schloss er seine Hand um meine und hielt mich fest. „Leg deinen Kopf zurück, an meine Schulter.“

Ich kam der Aufforderung nur zögernd nach und plötzlich wurde mir klar, dass ich einen anderen Menschen noch niemals so nahe gewesen war. Klar, nachts kuschelte ich mich gerne an Raphael, aber es war das erste Mal, dass auch er mich berührte. Das war irgendwie … seltsam.

„Ganz ruhig“, flüsterte er und strich dabei mit den Lippen über meinen Hals, bis er die taube Stelle erreichte. „Entspann dich einfach, es wird dir gefallen.“ Und dann biss er zu.

Ich spürte nicht, wie seine Reißzähne meine Haut durchdrangen, doch was ich spürte war … ich hatte keinen Namen dafür. Zuerst war es nur ein leichtes Kribbel, dass angenehm über meine Haut prickelte, doch dann sog er einen Schwall meines Blutes in seinen Mund und plötzlich wurde ich von einem Gefühl überschwemmt, das mir einen Moment den Atem raubte. Das war einfach … wow. Meine Augen wurden vor Überraschung erst groß, nur um sich gleich darauf flatternd zu schließen. Und dann konnte ich nur noch fühlen.

Es war, als würde mein Körper ein Eigenleben entwickeln. Ich hatte keine Kontrolle mehr über das war ich tat. Ich schaffte es nicht mal mehr einen klaren Gedanken zu fassen. Da war nur noch dieser Rausch, der mein Blut in Wallung brachte und den Wunsch in mir weckte, er möge niemals damit aufhören.

Als er den zweiten Zug nahm, wurde es sogar noch intensiver. Mein Körper bäumte sich ein seinen Armen auf, doch er ließ nicht zu, dass ich ihm entkam. Er drückte mich ein wenig fester an sich, sodass nicht mal mehr ein Hauch Luft zwischen uns gepasst hätte. Dabei spürte ich seinen Herzschlag wie einen betörenden Rhythmus an meinem Rücken. Er schlug ein bisschen schneller, als es normal war.

Das war wie eine Reise für meine Sinne. Ich stöhnte und begann zu schnurren, während ich mich in diesem Gefühl sonnte. Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, erstrahlte meine Welt in bunten Farben und guten Gefühlen. Ich spürte es von meinem Kopf, bis hinunter in meinen kleinen Zeh. Dies war ein Ort der Sicherheit, der mich hoch über den Wolken schweben ließ, mich gleichzeitig aber auch in einen Kokon des Friedens barg.

Als Raphael vorsichtig mit dem Daumen über meine Hand strich, bekam ich eine Gänsehaut. Mir wurde schwindlig und es fühlte sich gut an. Dieser Rausch … ich hatte das Gefühl in einem Meer aus reinem Glück zu schwimmen. Alles Schlechte schien auf einmal weit weg zu sein.

Zug und Zug saugte er an meiner Halsbeuge und ließ diese Glücksseligkeit damit immer wieder neu aufflackern.

Als ein besonders intensives Kribbeln durch meinen Körper zog, stöhnte ich und griff ganz ohne mein Zutun nach oben. Mit den Fingern ertastete ich sein Gesicht und strich vorsichtig daran entlang. Ich wusste nicht, warum ich das tat, doch in diesem Moment kam es mir einfach richtig vor. Er gab mir so viel und ich wollte ihm auch etwas geben.

In meiner Körpermitte, spürte ich ein leichtes Ziehen, dass ich so nicht kannte. Es ließ mich seufzen und mich wünschen, für immer bei ihm bleiben zu können.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als seine Züge ruhiger wurden. Meine ganze Haut summte und dort wo er mich berührte, prickelte es angenehm. In meinem Kopf drehte sich alles auf eine sehr herrliche Weise.

Als er dann langsam seine Fänge aus meinem Hals zog, hätte ich vor Enttäuschung fast gestöhnt. Ich spürte, wie er mit den Lippen vorsichtig über die Wunde strich, damit sie heilte und nichts als zarte Haut zurück blieb.

Erst als er den Kopf hob, öffnete ich flatternd die Augen. Ich drehte mich ein wenig in seinen Armen und lächelte ihn durch meinen verschleierten Blick an. „Das war schön“, nuschelte ich und strich mit den Fingern über seine Wange.

Er schaute mich irgendwie seltsam an, so als würde er mich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich sehen. Und was er das sah, ließ ihn nachdenklich werden.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“

„Ja“, sagte er so leise, dass ich es kaum hörte. Er griff nach der Hand in seinem Gesicht, legte sie auf mein Bein und drückte sie leicht. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. „Ja, mir geht es gut.“

Mein Lächeln wurde ein wenig breiter. „Mir auch.“

Als er nichts weiter tat, als mich festzuhalten und anzuschauen, passierte etwas ganz komisches in meinem Magen. Dieser Rausch schien noch mal neu aufzuleben und machte mich ganz schummrig im Kopf. Am liebsten hätte ich einfach weiter in seinem Arm gelegen, doch dann löste er sich vorsichtig von mir.

„Du solltest dich hinlegen und ein Weilchen ausruhen“, sagte er mit einem Seufzen und rückte von mir ab. Dabei zog er die Decke mit sich und legte sie sich über den Schoß. War ihm kalt? „Blut zu geben kann sehr anstrengend sein.“

Ich wollte nicht, aber was außer „Okay“ hätte ich sagen können?

Er rückte noch ein bisschen von mir ab und half mir dabei, mich im Bett auszustrecken. Sogar die Tagesdecke breitete er über mir aus, ohne mich aus den Augen zu lasen.

Mit einem Mal wurde ich ein wenig schläfrig.

„Mach die Augen zu“, sagte er leise und strich mir sanft über die Wange.

Diese zärtliche Berührung ließ meine Haut wieder kribbeln. Das war ein schönes Gefühl. Ich wollte das noch mal erleben. „Wenn du das nächste Mal Blut brauchst, beißt du mich dann wieder?“

„Nein.“

Mit dieser schnellen Ablehnung hatte ich nicht gerechnet. „Ach so“, murmelte ich und schlug enttäuscht die Augen nieder. „Ich dachte nur, dass es dir vielleicht gefallen haben könnte.“ Mir hatte es nämlich gefallen und ich hätte nichts dagegen, wenn er ab sofort nur noch mich biss.

An seinen Lippen zupfte ein kleines Lächeln. „Daran liegt es nicht, aber ich kann dich nicht so oft beißen“, erklärte er sanft. „Du bist noch immer nicht wieder ganz auf der Höhe und selbst wenn du das wärst, dürfte ich dich maximal alle sechs Wochen anzapfen, sonst würde ich dir schaden und das mache und möchte ich nicht.“

Das klang logisch. Ich wollte auch nicht, dass er mir schadete, doch seine Worte ließen einen Funken Hoffnung in mir keimen. „Das heißt du wirst mich wieder beißen?“

Mit der Antwort ließ er sich Zeit. Sein Daumen strich immer wieder über meine Wange. Dabei schien er tief in seine Gedanken versunken zu sein. „Wir werden sehen“, murmelte er dann und zog mir die Decke bis ans Kinn.

„Okay.“ Ein Gähnen zwang meine Kiefer auseinander. Ich schwelgte noch immer im Nachhall seines Bisses, aber ich spürte auch, wie ich schläfrig wurde. Obwohl ich versuchte sie offen zu halten, fielen meine Augen mir langsam zu. So schön das Beißen auch gewesen war, die Erschöpfung forderte ihren Preis und zog mich in einen Traumlosen Schlaf aus dem ich erst ein paar Stunden später wieder erwachte.

Raphael war nicht mehr da. Stattdessen stand ein Glas mit Orangensaft und ein Teller voller Brote neben dem Bett auf dem kleinen Tisch. Die Tür zum Zimmer war angelehnt.

Ich blinzelte einmal, dann drehte ich mich auf den Rücken und begann zu lächeln. Keine Ahnung warum, ich fühlte mich einfach nur gut. Und Hungrig, wie ich feststellen musste, als mein Magen zu knurren begann. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich Raphael suchen gehen sollte, doch ich setzte mich nur im Bett auf, nahm mir den Teller und begann die Brote zu mampfen. Jedes war mit etwas anderem belegt.

Am Fußende des Bettes, erschien Lalamika und musterte mich. Du wirkst zufrieden.

Das ließ mich grinsen. „Mir geht es ja auch gut.“

Ihm auch.

„Ja?“

Sie nickte. Er ist zum ersten Mal seit Tagen wirklich ausgeglichen. Deine Gegenwart scheint ihm gut zu tun.

Das überraschte mich jetzt aber doch ein wenig. „Wirklich?“ Dabei hatte ich doch nichts weiter getan, als in seiner Nähe zu bleiben.

Manchmal reicht das schon.

Ich ließ mein angebissenes Brot auf den Teller sinken. „Heißt das, dass er keine Gefahr mehr ist?“

Bedauernd schüttelte sie den Kopf. Es bedeutet nur, dass es ihm im Moment gut geht und seine Gedanken mal nicht bei Cayenne sind. Aber die Gefahr ist damit noch nicht gebannt. Der kleinste Auslöser, könnte ihn zurück in die Abwärtsspirale führen, darum musst du weiterhin in seiner Nähe bleiben.

„Ich muss?“ Das waren ja ganz neue Töne. Bisher hieß es immer nur: Töte den Todbringer.

Draußen auf dem Korridor hörte ich Schritte. Jemand ging an Raphaels Zimmer vorbei und gleich darauf konnte ich die leisen Stimmen von Raphael und Amber aus dem Nebenzimmer hören.

Lalamika drehte den Kopf in die Richtung, als könnte sie die Beiden durch die Wand hindurch sehen. Vielleicht hattest du Recht, räumte sie ein. Vielleicht gibt es mehr als einen Weg, das Unheil von der Welt abzuwenden. Die Geister sind darüber mittlerweile geteilter Meinung. Die einen halten es immer noch für den sichersten Weg, ihn einfach zu töten. Die anderen jedoch glauben, dass deine Anwesenheit ihn heilen könnte und niemand zu Schaden kommen muss.

Das war mal ein Ding. Geister änderten nur sehr selten ihre Meinung, besonders bei so wichtigen Angelegenheiten. „Und was denkst du?“

Ich glaube, dass ihr beide euch gegenseitig helfen könnt. Aber du darfst nicht übermütig oder leichtsinnig werden. Du musst unbedingt in seiner Nähe bleiben.

Ich nickte. „Keine Angst, das werde ich.“ Das dritte Brot verschwand in meinem Magen. Nebenan sagte Raphael irgendwas zu Amber. Da fiel mir etwas ein. „Sag mal, hier ist noch ein Geist. Keiner von den Alten, sondern ein Mann. Ich habe ihn schon zwei Mal gesehen. Weiß du, warum er hier ist?“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. Ich weiß wen du meinst. Auch ich habe ihn schon gesehen, aber er verschwindet immer sofort, wenn ich mich ihm nähere.

Das war ja komisch. Er versteckte sich sogar vor den anderen Geistern? „Kannst du herausfinden, was er hier will?“

Ich kann es versuchen.

Nebenan lachte Amber. Dann waren da wieder Schritte auf dem Korridor. Kurz darauf zog sie die Tür zu Raphaels Zimmer auf. Heute trug sie ein schwarzes Kleid, ohne Ärmel. Vorne reichte der Rock gerade mal bis auf ihre Oberschenkel, hinten jedoch streifte er fast den Boden. Sie sah hübsch aus.

Als sie mich sitzend im Bett sah, begann sie zu lächeln. „Hey, du bist ja wach.“

Ich nickte und biss ein großes Stück von meinem vorletzten Brot ab.

Sie jedoch runzelte auf einmal die Stirn. Ihr Blick ging von dem Teller in meiner Hand, zu dem Glas neben dem Bett und dann zu meinem Hals. Als sie dann auch noch die Nase hob und die Luft überprüfte, wurde aus dem Runzeln ein Knurren.

Ohne noch etwas zu sagen, machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand rechts. „Raphael!“, fauchte sie wütend.

Nanu?

„Du hast von ihr getrunken! Sie ist total blass!“

Raphaels Erwiderung war ein verärgertes Murmeln, dass ich auf die Entfernung nicht verstand.

Ich verdrückte das restliche Brot und leerte das Glas neben dem Bett.

„Und ob es mich was angeht, wenn du sie so ausnutzt!“

Dieses Mal war Raphaels Antwort ein halbes Knurren, aber es war noch immer zu leise, als dass ich es hätte verstehen können. Darum schlug ich die Decke zur Seite und schwang meine Beine aus dem Bett.

„Natürlich hast du das! Sie ist doch viel zu naiv, um eine solche Entscheidung allein zu treffen. Außerdem, warst nicht du es gewesen, der mir groß und breit erklärt hat, dass sie noch ein halbes Kind ist? Seit wann vergreifst du dich an Kindern?!“

Während ich hinaus auf den Flur eilte, nahm Lalamika den direkten Weg durch die Wand. Ich überwand die letzten zwei Meter bis zu meinem Zimmer und dann konnte ich auch endlich Raphael verstehen.

„… ist alt genug um selber zu entscheiden was sie tut. Sie wollte es und außerdem geht dich das auch gar nichts an. Das ist eine Sache zwischen ihr und mir.“

„Wenn du ihr schadest, geht es mich wohl etwas an!“

„Ach, bist du jetzt plötzlich ihr Aufpasser?“, höhnte er. Er stand zusammen mit Roger an dem halb aufgebauten Hochbett. In seiner Hand hielt er ein merkwürdiges Werkzeug, mit dem er gerade dabei gewesen war, eine Schraube festzuziehen.

Amber stand direkt vor ihm und sah aus, als wollte sie ihm gleich den Kopf abreißen. „Warum nicht? irgendjemand muss ja ein Auge auf sie haben und du bist dafür viel zu verantwortungslos!“

Roger betrachtete den Streit der Beiden mit gleichgültigem Interesse. Dann ging er zu Raphael, nahm ihm das Werkzeug aus der Hand und zog die Schraube selber fest, bevor die ganze Konstruktion wieder auseinander fiel.

„Jetzt hör mir mal gut zu“, sagte Raphael und machte dabei einen Schritt zu Seite, um seinem Schwager nicht im Weg zu stehen. „Ich passe immer auf was ich tue. Ich habe noch nie jemanden beim Bluttrinken geschadet.“

„Ja, weil es dich aufgeilt! Glaubst du wirklich, ich hätte früher nicht mitbekommen, was du und mit deinen tollen Freunden so getrieben hast, wenn ihr euch am See getroffen habt? Ja sogar mit Tristan hast du gebissen! Das hab ich mehr als einmal gesehen. Ich war ein Kind und nicht blind oder blöd!“

Nach dieser Aussage, schauten die beiden Männer ein wenig verdutzt. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet.

Raphael überwand seine Überraschung jedoch sehr schnell. „Erstens, was ich mit meinen Freunden, oder auch mit Tristan tue, geht dich überhaupt nichts an. Zweitens war das etwas völlig anderes, als das hier. Und Drittens, ich geile mich nicht daran auf. Dass ich anderen gerne ein gutes Gefühl gebe, ist nicht verwerflich und wenn ich es noch dazu mag, umso besser, so haben wir alle etwas davon.“

„Daran ihnen das Blut zu klauen gibt es nichts Gutes, du Schmarotzer!“

Das hatte gesessen.

„Amber“, mahnte jetzt sogar Roger, doch die fixierte nur ihren Bruder, der nun auch langsam wütend wurde. Keiner von ihnen hatte bisher bemerkt, dass ich am Türrahmen stand und ihnen neugierig zuhörte.

„Du solltest mal langsam überlegen, was du so von dir gibst“, knurrte Raphael und nahm eine Schraube aus der durchsichtigen Tüte auf dem Boden. „Beleidigungen sind ein Zeichen für keine Kinder, die nicht anders mit ihrem Trotz umzugehen wissen. Du nennst Tarajika naiv? Wenigstens setzt sie andere nicht herab, um sich selber besser zu fühlen. Das einzige Kind das ich hier momentan sehe, bist du!“

Amber schnappte nach Luft und erdolchte Raphael praktisch mit Blicken. Dass er sie als Kind bezeichnet hatte, schien ihr absolut nicht zu gefallen.

Als sie dann in die Ecke zu dem noch offenen Farbeimer ging, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Ich schaute interessiert dabei zu, wie sie sich einen Pinsel schnappte, den einmal tief in den Farbeimer tauchte und Raphael damit anschließend bespritzte.

Die Farbe klatschte ihm ins Gesicht, auf das Hemd und auf die Hose. Roger wurde nur nicht erwischt, weil er eilig zur Seite sprang. Raphael jedoch stand einfach nur da und schien nicht glauben zu können, was sie da gerade getan hatte. Doch dann griff er sich die Farbrolle und noch bevor Amber ausweichen konnte, hatte er ihr damit einmal quer übers Gesicht und das Kleid gerollt.

„Bist du blöd?!“, keifte sie ihn an. „Weißt du eigentlich was dieses Kleid gekostet hat? Du hast sie doch nicht mehr alle!“

„Und das kommt ausgerechnet von dir“, erwiderte er trocken und warf die Rollte zurück in den Eimer.

„Oh, das will ich auch“, rief ich begeistert, schnappte mir den Pinsel aus Ambers Hand und ging damit zum Farbeimer. Ohne die Blicke der Drei zu beachten, hockte ich mich daneben, tunkte den Pinsel in die Farbe und malte mir einen Schnörkel auf den Bauch. Dann kam noch ein Blümchen dazu und ein Wellenmuster. Als ich auf dem Bauch kein Platz mehr hatte, ließ ich mich auf den Hintern fallen und begann damit meine Beine zu bemalen.

Ich hatte sowas noch nie gemacht, aber es war lustig.

„Hast du das Essen neben dem Bett gegessen?“, fragte Raphael.

Ich nickte ohne den Kopf zu heben. „Alles weg.“

„Du hättest das trotzdem nicht tun dürfen“, zische Amber ihn an und versuchte mit einem Taschentuch ihre Kleidung von der Farbe zu befreien. Zwecklos.

„Aber ich wollte es“, sagte ich und schaute zu ihr auf. „Es hat Spaß gemacht und ich freue mich schon auf das nächste Mal.“

Amber riss die Augen auf und funkelte dann ihren Bruder an. „Du willst sie noch mal beißen?“

„Ich habe gesagt, mal sehen“, verteidigte er sich sofort, zog dann sein Shirt aus und wischte sich damit notdürftig die Farbe aus dem Gesicht. Zum Glück war sein Hemd sowieso schon voller Farbe gewesen.

„Ja, man darf nämlich nicht zu oft Blut trinken“, erklärte ich und zog ein paar Linien quer über mein Bein. „Und er braucht eine Decke, sonst ist ihm wieder kalt.“

Amber runzelte die Stirn. „Kalt?“

Ich nickte. „Mir war nicht kalt, aber ihm. Er hat sich gleich danach eine Decke über den Schoß gezogen.“

Amber und Raphael versteiften sich ein wenig. Roger jedoch begann zu schmunzeln. „Aha, kalt“, sagte er und nahm Rapheldie Schraube aus der Hand. „Ich wusste gar nicht, dass einem dabei kalt werden kann.“

Raphael warf ihm einen bitterbösen Blick zu. „Du bist ein Arschloch.“

„Ja, aber wenigstens ist mir nicht kalt“, zog er ihn auf und brachte sich eilig in Sicherheit, als Raphael mit dem T-Shirt nach ihm schlug.

 

°°°

 

„Hier, gib dein Handtuch her, ich stecke es in meine Tasche.“

Mit der linken Hand reichte ich Amber das große, blaue Handtuch, während ich mit der rechten versuchte, mir den Schuh anzuziehen. Die Lasche rutschte immer mit rein. Deswegen ließ ich mich dann einfach auf den Hintern fallen und benutzte beide Hände. Zum Glück hatten diese Schuhe keine Schnürsenkel. Ich wusste nämlich noch immer nicht, wie man eine Schleifen band.

„Hast du alles?“

Ich nickte. „Ich glaub schon.“

„Na dann los.“ Sie zog mich zurück auf die Beine und trat dann zusammen mit mir aus dem Haus.

Es war mittlerweile Nachmittag und weil das Wetter heute so schön war, hatte Amber den Vorschlag gemacht, zum See runter zu gehen. Raphael war bereits vorgegangen. Zum einen, weil er keine Lust hatte zu warten, aber hauptsächlich, weil Amber eine Zicke war – seine Worte, nicht meine.

Kaum dass ich im Garten stand, schien mir bereits eine strahlende Sonne auf den Kopf. Ich liebte dieses Gefühl. In den letzten Jahren hatte ich die Sonne nur durch die Fenster in Jegors Haus wahrnehmen können und das war nicht das Gleiche. Es war einfach nur schön. Dafür, dass wir erst April hatten, war es schon ganz schön warm.

Amber schob sich eine Sonnenbrille ins Gesicht, schulterte dann die große Tasche und winkte mir, damit ich ihr folgte. „Es ist gar nicht weit, nur zehn Minuten.“

„Dann sind wir am See. Ich weiß, dass hast du mir schon gesagt.“ Anstatt wie Amber das Gartentor zu benutzen, sprang ich direkt über den Zaun. Das machte mehr Spaß. Dann eilte ich an ihre Seite und überquerte mit ihr zusammen die Straße. „Gibt es da auch Fische?“

„Klar, manchmal kommen die sogar bis an den Strand. Als ich kein war, hab ich immer versucht sie zu fangen, aber das ist mir leider nicht geglückt.“

„Also, ich kann Fische fangen.“ Lalamika hatte es mir beigebracht. „Wenn du willst, dann fange ich dir einen Fisch.“

Sie grinste. „Danke, aber lass mal. Heute bin ich nicht mehr so versessen darauf.“

Ich zuckte mit den Schultern. Wenn sie nicht wollte, dann würde ich eben nur für mich Fische fangen. Die waren wirklich lecker.

„Da gibt es auch Frösche“, erklärte sie. „Von denen habe ich als Kind sogar ziemlich viele gefangen.“

Mein Ekel musste mir wohl ins Gesicht geschrieben stehen, denn Amber lachte. „Frösche schmecken nicht.“

„Die waren ja auch nicht zum Essen gedacht“, schmunzelte sie.

„Aber warum hast du sie dann gefangen?“

„Einfach nur aus Spaß. Anschließend habe ich sie immer wieder …“ Als hinter uns ein lauter Pfiff ertönte, unterbrach Amber sich und warf einen Blick über die Schulter.

Ein Stück die Straße runter, stand ein junger Mann, der zügig auf uns zugelaufen kam. „Hey“, rief er, sobald er in Hörweite war. Es war der blonde Vampir, den ich gestern schon gesehen hatte.

Misstrauisch wich ich einen Schritt zurück, Amber begann jedoch zu lächeln und drehte sich zu ihm um. „Hey, Josh“, begrüßte sie ihn und nahm ihn in den Arm, sobald er in Reichweite war. „Dich bekommt man ja auch kaum noch zu Gesicht.“

„Die Arbeit“, seufzte er übertrieben und machte dabei ein sehr leidiges Gesicht.

„Du hast dir den Job ausgesucht“, erwiderte sie Mitleidslos. „Selber schuld.“

„Wie nett du wieder zu mir bist.“ Er legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte sie ganz fest an sich. Dann fiel sein Blick auf mich. „Und wen haben wir da?“

„Das ist Tarajika. Ara, das ist Josh.“ Sie hielt ihm einen Finger direkt vor die Nase. „Sei nett zu ihr.“

„Ich bin immer nett“, schwor er und hielt mir dann lächelnd die Hand vor die Nase. Er hatte ein paar nette Grübchen. „Hey, schön dich kennen zu lernen.“

Ich ergriff die dargebotene Hand nur zögernd und war irgendwie froh, dass er sie nach einem kurzen Schütteln wieder freigab. „Hallo.“

„Ein bisschen schüchtern, wie?“

„Nein, aber ich kenne dich nicht.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du hast mich gestern angepfiffen.“

„Einer schönen Frau kann ich halt nicht widerstehen.“

Daraufhin gab es von Amber einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. „Finger weg, sie ist tabu.“

Und da war er wieder, der leidige Ausdruck. „Immer schnappst du mir die besten Frauen weg.“

„Ich bin nicht mit ihr zusammen, sie ist eine Freundin der Familie.“

„Ich wusste gar nicht, dass ihr Ailuranthropen kennt.“

„Da kannst du mal sehen.“ Lächelnd befreite sie sich von seinem Arm. „Wir wollten gerade runter zum See, kommst du mit?“

„Bei zwei so hinreißenden Damen? Wie sollte ich da widerstehen?“

Ihr Blick fiel auf den Rücksack auf seinem Rücken. „Du hattest sowieso vor dort hinzugehen, oder?“

„Mariella hat mich gerade angerufen und mir mitgeteilt, dass dein Bruder mal wieder in der Stadt ist. Da bleibt mir gar nichts anderes übrig, als ihrem Ruf zu folgen.“

Bei de Erwähnung von Raphael, sanken ihre Mundwinkel ans andere Ende ihres Gesichts. „Lass mich bloß mit dem Trottel in Ruhe.“

Auf seinen verdutzten Ausdruck hin, erklärte ich: „Sie ist sauer auf Ys-oog. Weil er Blut brauchte und ihm kalt war.“

„Ähm … was?“

„Vergiss es einfach.“ Amber drehte sich herum und setzte sich in Bewegung. „Los, lasst uns gehen, ich will ins Wasser.“

Ich auch. Das würde bestimmt Spaß machen und außerdem war Raphael da. Lalamika war zwar mit ihm gegangen und während wir die ganzen Möbel in meinem Bett zusammengebaut hatten, war es ihm gut gegangen, aber ich wollte ihn nicht länger als nötig aus den Augen lassen. Also beeilte ich mich nicht nur ihnen hinterher zu kommen, ich steckte auch die Nase in die Luft, um die Richtung selber zu finden.

Wasser hatte einen ganz eigenen Geruch, besonders stehenden Gewässer, wie ein See. Es war also nicht weiter schwer die richtige Witterung im Wind zu finden.

„Da hat es aber jemand eilig“, rief dieser Josh mir hinterher, als ich schon ans Ende der Straße vorauseilte und mich dort ein wenig umsah.

Die Häuser die hier standen, waren ganz ähnlich wie die von Marica und Oliver. In manchen Gärten waren Leute. Die links grillten, genau wie wir es gestern getan hatten. Weiter vorne lag eine Frau einfach nur in ihrer Hängematte und lass ein Buch und direkt gegenüber rannten zwei Welpen vor ihrer schimpfenden Mama davon und stürmten dann in den angrenzenden Waldstreifen, der die Ortschaft vom See trennte.

„Kommt endlich“, rief ich Amber und Josh zu und tauchte dann zwischen den Bäumen ab.

„Ara, warte!“, rief Amber mir hinterher, aber ich hatte gar keine Lust zu warten. Stattdessen folgte ich dem Pfad, der zwischen den Bäumen hindurch führte.

Ich war nur ein paar Minuten gelaufen, als ich zwischen den Blättern und Ästen bereits glitzernde Oberfläche des Wasserst erkennen konnte, doch als ich loslaufen wollte, bemerkte ich zu meiner linken einen Vogel im Baum, der fröhlich ein Liedchen trällerte.

Ich blieb stehen, neigte den Kopf leicht zur Seite und fixierte ihn. Ob ich es schaffen würde, ihn zu fangen? Der Ast auf dem er saß, hing jedenfalls nicht sehr hoch. Wenn ich mich kräftig abstieß, könnte ich ihn mit einem Satz erreichen. Er durfte nur nicht zu früh auf mich aufmerksam werden.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, schlich ich um den Baum herum. Er zwitscherte einfach munter weiter, hüpfte von links nach recht und tat das, was Vögel nun mal so taten, wenn sie auf einem Ast saßen.

Ich duckte mich ein wenig und pirschte mich noch etwas näher heran. Zwei Schritte, einer. Der Boden unter meinen Füßen war weich genug, um die Geräusche meiner Schritte zu dämpfen. Er bemerkte mich nicht.

Als ich eine gute Position erreicht hatte, ging ich auf die Hocke und wartete darauf, dass der Vogel mir den Rücken kehrte. Der Wind stand günstig. Meine Augen waren allein auf mein Ziel fixiert.

Da!

Ich machte einen Satz nach vorne, stieß mich dann vom Boden ab und sprang. Meine Hände bekamen den Ast zu fassen, aber leider verfehlte ich den Vogel. Er stieß einen Warnruf aus und flatterte davon, während ich versuchte Halt zu finden.

Die Rinde war bröckelig. Mein Griff rutschte ab. Ich versuchte noch mich mit den Füßen am Baumstamm abzustützen, doch durch die Schuhe fand ich keinen Halt. Im nächsten Moment fiel ich und landete dann mit einem Rums und einem Regen aus Blättern auf dem Waldboden.

„Ara!“

Aua, das hatte wehgetan.

„Ara, verdammt, alles okay?“ Amber stürzte an meine Seite und griff besorgt nach meinem Arm. „Bist du verletzt?“

„Nein.“ Mein Rücken tat zwar ein wenig weh, aber alles andere schien heile zu sein.

Als Josh auch noch neben uns erschien, richtete ich mich auf und funkelte den Baum an.

„Was hast du denn da gemacht?“, wollte Amber wissen und zupfte mir ein paar tote Blätter von der Kleidung.

„Ich hab versucht den Vogel zu fangen.“ Mein Blick glitt umher. „Jetzt ist er weg.“ Toll.

„Du hast …“ Amber schaute nach oben zum Ast, schien dann aber nicht zu wissen, was sie noch dazu sagen sollte.

„Der Sturz ist dir jedenfalls gut gelungen.“ Josh hielt zwei Daumen hoch. „Eins Plus mit Sternchen.“

Amber griff sich eine Handvoll Blätter und warf sie nach ihm.

„Hey“, schimpfte er und ging einen Schritt zur Seite.

Mich jedoch ärgerte es nur, dass ich es nicht in den Baum geschafft hatte und das nur wegen meiner Schuhe. Wenn ich allerdings keine Schuhe tragen würde … kurzerhand zog ich sie mir aus und sprang dann wieder auf die Beine.

Amber runzelte die Stirn, als ich die gleiche Position wie eben einnahm. „Was …“, begann sie, doch da hatte ich mich bereits abgestoßen und griff nach dem Ast. Ich schlug die Krallen ins Holz, stützte mich mit den Füßen am Baumstamm ab und zwei Sekunden später hockte ich oben und grinste zu den beiden nach unten.

Josh jubelte mir zu, während Amber nur grinsend den Kopf schüttelte. „Fall bloß nicht wieder runter“, mahnte sie.

„Mache ich nicht.“ Stattdessen kletterte ich noch ein Stück nach oben, auf einen etwas stabileren Ast und balancierte den dann entlang.

Josh versuchte mir mit den Augen zu folgen. „Willst du nicht wieder runterkommen?“

„Nein.“ Ich schob mich noch ein wenig weiter den Ast entlang und bevor er sich unter meinem Gewicht biegen konnte, machte ich einen Satz in den nächsten. Das hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr gemacht, es war phantastisch.

So bewegte ich mich weiter. Amber nahm meine Schuhe an sich und folgte mir mit Josh auf dem Boden. Schon nach ein paar Metern konnte ich Stimmen hören und der Geruch des Wassers wurde kräftiger.

Als ich die äußerste Baumreihe erreicht hatte, waren die Stimmen direkt unter mit. Ich spitzte die Ohren, aber Raphael konnte ich nicht hören. Darum balancierte ich den Ast noch ein wenig entlang und spähte durch die dichte Baumkrone.

Direkt unter mir war eine große, karierte Decke ausgebreitet, auf der ein junges Pärchen lag. Sie küssten sich.

Daneben lag ein grünes Handtuch, auf dem eine junge Frau mit roten Haaren saß und sich mit jemanden unterhielt, den ich aus meinem Blickwinkel nicht sehen konnte. Darum rutschte ich noch ein wenig nach vorne.

Nur zwei Meter weiter lag noch eine Decke, auf der sich bäuchlings eine Frau mit kurzem, braunen Haar ausgestreckt hatte. Und neben ihr saß Raphael und cremte ihr gerade den Rücken mit irgendwas ein. Lalamika lag direkt neben ihm und schien die Sonne zu genießen.

Sie alle trugen Badesachen. Naja, alle außer Lalamika, die brauchte keine Kleidung.

„Was zum …“, begann die braunhaarige Frau und drehte den Kopf ein wenig. „Riecht ihr das auch?“

Bevor ihr jemand antworten konnte, traten Amber und Josh ein Stück weiter aus dem Waldstreifen.

Mit einem „Hey Leute“ begrüßte Josh die anderen.

„Ara?“, rief Amber. „Kommst du?“

„Okay.“ Ohne lange darüber nachzudenken, ließ ich mich einfach aus dem Baum fallen – direkt zwischen die Karierte Decke mit dem Pärchen und dem Handtuch mit der Rothaarigen. Dann ging alles ganz schnell. Die Frau auf dem Handtuch stieß einen Schrei aus und sprang blitzartig auf die Beine. Auch das Pärchen erschrak. Der Kerl schubste seine blonde Freundin in meine Richtung und kroch dann rückwärts vor mir weg, während seine Frau erst mit dem Gesicht im Sand landete und dann ebenfalls hastig vor mir zurück wich.

Die Braunhaarige richtete sich nur ein wenig auf, wohingegen Josh sich beinahe vor Lachen auf dem Boden kugelte.

Raphael dagegen schaute mich einfach nur an, nahm sich dann seufzend ein Handtuch und legte es sich über den Kopf.

„Verdammt noch mal, wer bist du denn?“, fluchte die Blondine. Ich hatte sie wohl ganz schön erschreckt.

„Tarajika.“ Ich drehte mich zu Raphael herum und hüpfte dann an seine Seite. „Ys-oog!“ Das Handtuch ließ mich einen Moment stutzen. „Was machst du da?“

„Ich verstecke mich vor dir.“

„Aber so kann ich dich doch noch sehen“, erklärte ich und zog ihm das Handtuch vom Kopf. „Siehst du, da bist du.“

Immer noch lachend ließ Josh seine Tasche auf die Decke neben der Braunhaarigen fallen und setzte sich dann zu mir, während die anderen mich weiterhin anstarrten. „Ihr müsstet eure Gesichter sehen. Schade dass ich die Kamera nicht griffbereit hatte.“

Die Rothaarige warf einen Stock nahm ihm. „Das war nicht witzig“, schimpfte sie und ließ sich dann wieder auf ihr Handtuch sinken.

Die Blonde dagegen drehte sich zu ihrem Freund herum. „Hast du mich wirklich gerade auf eine potentielle Gefahr geworfen und dann selber das Weite gesucht?“

„Ähm“, machte er nur und grinste dann etwas schief. „Ist doch nichts passiert.“

Das waren wohl nicht die richtigen Worte gewesen. Sie kehrte ihm den Rücken und marschierte dann geradewegs aufs Wasser zu.

„Zora! Hey, warte!“ Ihr Freund sprang eilig auf die Beine und eilte ihr dann hinterher. „Schatz, bitte! Komm schon, sei nicht sauer.“

Raphael wandte mir das Gesicht zu. „Was hattest du in dem Baum zu suchen?“

„Ich habe versucht einen Vogel zu fangen“, erklärte ich stolz und ließ mich neben ihm auf die Knie fallen. „Aber er war leider zu schnell für mich.“

„Natürlich, ein Vogel. Was sonst.“ Er schüttelte den Kopf und begann dann wieder der Braunhaarigen den Rücken einzucremen. Im Gegensatz zu den anderen, starrte sie mich nicht an.

„Ara, kommst du?“, rief Amber wieder.

Kommen? „Wohin?“

„Wir gehen ein Stück weiter.“

Weg von Raphael? Aber ich sollte doch bei ihm bleiben.

Unentschlossen sah ich zwischen ihr und ihrem Bruder hin und her.

„Geh schon, Gnocchi.“

„Aber ich will nicht, dass du allein bist.“

„Ich bin nicht allein. Ich hab hier meine Mariella.“ Er zeigte auf die braunhaarige Lykanerin vor sich. „Da drüben sind meine alten Freunde Vico und Zora.“ Ein Fingerzeig zum Wasser. „Und Alice und Josh sich auch hier. Also keine Sorge, mir geht es gut.“

Ich fixierte diese Mariella. Irgendwas an ihr war komisch. Sie hatte mich noch nicht einmal angeschaut.

„Ara!“ Amber winkte ungeduldig.

„Okay, aber nachher komme ich zurück“, versprach ich ihm.

„Ich kann es kaum erwarten.“

Ich hüpfte wieder auf die Beine und eilte dann zu Amber hinüber. „Die haben sich alle ganz schön erschrocken“, lächelte ich.

Sie lachte leise und schlug den Weg nach rechts ein. „Wer rechnet denn auch schon damit, dass da plötzlich eine Katze aus dem Baum fällt?“

Hm, wahrscheinlich niemand. Ich warf noch einen Blick über die Schulter. Diese Mariella und Josh lachten, während Raphael den Kopf schüttelte. Es schien ihm gut zu gehen und solange Lalamika bei ihm war, brauchte ich mir auch keine Sorgen zu machen. Dennoch widerstrebte es mir irgendwie ihn allein zu lassen. Ich wusste selber nicht warum.

„Aber dieses Mal bist du wenigstens auf den Füßen gelandet“, schmunzelte Amber, die von meinen Gedanken nichts ahnte.

„Dieses Mal hatte ich ja auch keine Schuhe an.“

Wie sich kurz darauf herausstellte, war unser Ziel gar nicht so weit von den anderen entfernt. Amber steuerte eine Gruppe von hohen Büschen an, die direkt am Ufer wuchsen. Ein kleiner Pfad zwischen den Sträuchern deutete daraufhin, dass wir nicht die ersten waren, die sich hier zum Baden niederlassen wollten.

Die Fläche dahinter war nicht sehr groß, reichte aber aus, um die Decke auszubreiten, ohne dass sie nass wurde.

„Hier“, sagte Amber und reichte mir ihre Tasche. „Du kannst dich schon mal umziehen.“

„Okay.“ Ich stellte die Tasche auf den Boden, hockte mich daneben und begann nach meinem Bikini zu suchen. Nicht der von gestern, Amber hatte mir heute einen anderen mitgebracht. Er war auch wieder schwarz.

Ich holte ein paar Handtücher heraus und auch Ambers Bikini, aber meinen fand ich nicht. Während Amber bereits damit begann sich auszuziehen, ging ich die Sachen ein zweites Mal durch, kam aber zu dem gleichen Ergebnis. „Mein Bikini ist nicht da.“

„Was?“ Nur noch in Unterwäsche hockte sie sich neben mich und suchte selber danach, doch sie fand ihn genauso wenig wie ich. „Hm“, machte sie. „Wir müssen ihn vergessen haben.“

Enttäuscht ließ ich mich auf meinen Hintern fallen. „Aber ich wollte doch schwimmen gehen.“

Nachdenklich schaute sie von ihrer Tasche zu den Klamotten. „Weißt du was, wir gehen einfach nackt schwimmen.“

Nackt? „Aber Ys-oog hat gesagt, dass ich nicht mehr nackt rumlaufen soll.“

„Nein, er hat gesagt, dass du vor ihm nicht mehr nackt rumlaufen sollst und das ist auch richtig. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn zwei Frauen zusammen nackt baden gehen.“

Ach wirklich? „Warum?“

„Das ist … hm.“ Über die Antwort musste sie erstmal einen Moment nachdenken. „Du weißt doch noch die Bilder auf meinem Laptop, die ich dir gezeigt habe, oder?“

Ich nickte.

„Männer und Frauen sind anders. Wenn zwei nackte Männer miteinander baden gehen, ist das in Ordnung, denn sie sind gleich, sie haben kein Interesse aneinander.“

„Meinst du Sex?“

„Ja, etwas in der Art. Und genauso ist das auch bei Frauen. Wir sind gleich, also von unserer Ausstattung und deswegen können wir auch nackt miteinander baden gehen.“

„Aber du liebst doch Frauen.“

Das ließ sie grinsen. „Keine Sorge, ich weiß mich schon zu beherrschen. Also komm, das Wasser ruft.“

Langsam hatte ich das Gefühl, dass das irgendwie immer auf das Selbe hinauslief. Aber da ich in den See wollte, war mir das ziemlich egal. Mich störte es nicht und wenn Amber sagte, dass es okay war, dann glaubte ich ihr. Also riss ich mir die Klamotten vom Leib, rannte dann freudig in den See hinein, nur um sofort wieder herauszurennen. „Das ist ja kalt!“, beschwerte ich mich.

Amber grinste mich an, während sie ihren Slip fallen ließ. „Nur im ersten Moment, wenn du ein paar Minuten drinnen warst, dann gewöhnst du dich schon daran. Komm, ich zeig es dir.“ Sie nahm mich an die Hand und zog mich dann rückwärts ins Wasser hinein.

Genau wie eben, war das Wasser im ersten Moment ein Schock für meine Haut. Aber Amber nahm einfach noch meine zweite Hand und zog mich immer weiter vom Ufer weg.

Als uns das Wasser bis an die Brust reichte, lächelte sie mich kurz an, holte dann tief Luft und im nächsten Moment ließ sie mich los und tauchte einfach unter. Ein paar Meter weiter, tauchte sie schwimmend wieder auf und grinste mich an. „Na los, komm her, oder hast du etwa Angst nass zu werden?“

Das hatte ich nicht. Und um ihr das zu beweisen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, holte dann auch einmal tief Luft und tauchte im See ab. Wie ein Frosch schob ich mich durch die trüben Tiefen. Sehr weit konnte ich nicht sehen, aber Ambers helle Beine waren leicht zu erkennen.

Ich schwamm einmal um sie herum und tauchte dann hinter ihr nach Luft schnappend wieder auf. „Immer noch kalt.“

„Aber es wird besser, oder?“

Ich nickte und tauchte sofort wieder ab.

Früher, wenn Lalamika mich heimlich aus meiner Hütte herausgelassen hatte und wir zum Fluss gegangen waren, um Fische zu fangen, waren wir manchmal auch schwimmen gewesen. Doch das Wasser dort war ganz anders gewesen als hier. Warm und klar. Die Sonne hatte uns von oben gewärmt, während ich die Fische schon von Weitem gesehen hatte.

Hier sah ich nur sehr wenig von meiner Umgebung und die Sonne hatte Schwierigkeiten tiefer vorzudringen, doch es gab so viel mehr Platz. Ich hatte das Gefühl ewig schwimmen zu können, ohne jemals irgendwo anzukommen. Das war eine Art von Freiheit, wie ich sie noch nie gespürt hatte und es war fantastisch.

Klar, ich war schon bei Amber im Pool geschwommen, aber das hier war etwas ganz anderes. Irgendwie … endlos.

Eine Berührung am Arm machte mich auf Amber aufmerksam. Ihre Haare wallten im Wasser um sie herum. Sie deutete nach oben und schwamm dann hoch.

Ich folgte ihr und schnappte nach Luft, sobald ich die Oberfläche durchbrach.

„Komm“, sagte sie, winkte mich dann hinter sich her und schwamm weiter auf den See hinaus. Ihr Ziel war eine hölzerne Plattform, in einiger Entfernung zum Ufer.

Als wird dort ankamen und ich einen Blick zurück warf, konnte ich Raphael und seine Freunde noch erkennen, doch sie waren zu weit weg, um genau auszumachen, wer von ihnen wer war. Die Einzige die ich ausmachen konnte, war die rothaarige Frau namens Alice, aber auch nur, weil sie einen roten Badeanzug trug und der selbst auf die Entfernung herausstach.

Wir blieben eine ganze Weile an der Plattform. Immer wieder kletterten wir heraus, nur um uns schreiend zurück in die Fluten zu stürzen. Wir schubsten uns auch gegenseitig herunter und einmal, als ich versuchte sie hineinzuschubsen, hielt sie mich im letzten Moment fest und fiel hinter ihr her.

Irgendwann jedoch streikte Amber, streckte sich bäuchlings auf der Plattform aus und genoss einfach nur die Sonne.

Ich saß neben ihr und schaute zurück ans Ufer. Ein paar von ihnen tollten noch immer durchs Wasser. Ob Raphael auch bei ihnen war? Auf einmal musste ich wieder daran denken, was das für ein Gefühl gewesen war, als er mich gebissen hatte. Als er mich in den Armen gehalten und ganz fest an sich gedrückt hatte … ich wusste kein Wort dafür, aber ich wünschte, er würde es wieder machen.

Früher hatte Lalamika mich manchmal in den Arm genommen, aber das war jetzt auch schon neun Jahre her. Dann war sie … dann war es passiert und für mich hatte sich von einem Moment auf den anderen alles geändert.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Amber.

„Ja.“

Irgendwie schien sie mir das nicht zu glauben. „Und warum siehst du dann plötzlich aus, als hätte dir jemand deinen Teddy geklaut?“

„Ich habe nur gerade an meine Schwester gedacht“, sagte ich leise und fuhr mir dem Finger eine feuchte Spur auf dem Holz nach.

Überrascht stützte sie sich auf die Unterarme. „Du hast eine Schwester?“

„Früher“, sagte ich leise und wickelte meine Arme um meine Beine. „Wir waren …“ Ich zögerte. Sollte ich ihr das wirklich erzählen? Ich erinnerte mich nicht gerne an meine Zeit bei der Meute und auch nicht daran, wie sie geendet hatte.

Amber schaute mich nur abwartend an und ich glaubte, das war der Anstoß, den ich brauchte, um das erste Mal in meinem Leben über das zu reden, was damals passiert war. Ich musste ihr ja nicht alles erzählen.

„Wir waren eineiige Zwillinge. Ihr Name war Lalamika und sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, konzentrierte mich dann aber lieber auf die einzelne Wolke, die träge am Himmel vorüberzog. „Wir waren gerade neun, als wir oben am Wasserfall spielten. Wir jagten einen Fisch zwischen den Flusssteinen entlang und da … die Steine waren glitschig und plötzlich ging alles so schnell.“ Ich verfiel einen Moment in Schweigen, als ich mich daran erinnerte, wie sie lachend von einen Stein auf den anderen gesprungen war.

Plötzlich war Pandu aus dem Wald aufgetaucht. Er war wütend gewesen und hatte gerufen. Lalamika hatte sich erschreckt. „Sie stürzte den Wasserfall hinunter“, sagte ich sehr leise. „Mein Vater gab mir die Schuld dafür.“ Denn nur wegen mir war sie dort gewesen. Ich war Dirus, ich brachte nur Unheil.

„Was?“ In diesem einen Wort schwang ihr ganzer Unglaube mit.

„Darum bin ich weggelaufen. Ich konnte da nicht mehr bleiben.“ Denn ihre Strafe … ich hätte sie nicht überlebt. Ohne Bonum brauchte man keinen Dirus.

Wortlos erhob Amber sich von ihrem Platz, setzte sich zu mir und nahm mich in die Arme. „Es tut mir so leid für dich“, sagte sie und heilt mich fest. „Es war nicht deine Schuld.“

Lalamika hatte das auch immer gesagt, aber ich war mir da nicht so sicher. Ohne mich wäre sie an diesem Tag nicht am Wasserfall gewesen. Und auch, wenn die Erinnerung an sie manchmal noch immer schmerzte, als sei es gerade erst geschehen, ich hatte keine Tränen dafür übrig. Schon als kleines Kind hatte ich gelernt, dass Weinen nichts brachte und deswegen tat ich es nur noch sehr selten.

„Und dein Vater ist ein Dummkopf“, fügte sie noch hinzu.

„Mein Vater hat mich niemals gemocht. Wenn ich Glück habe, glaubt er, ich sei tot.“ Dann würde ich ihn wenigstens niemals wieder sehen müssen.

„War er so schlimm?“

Nein, zumindest nicht, bis zu dem Moment, als Lalamika gestorben war. Bis zu diesem Zeitpunkt, war ich ihm einfach nur egal gewesen. Ich war nur irgendein Ding, dass er hatte am Leben erhalten müssen. Mehr nicht. Aber das konnte ich ihr nicht erzählen. Wenn sie erfuhr, wer ich war … ich wollte in ihren Augen niemals diese Abneigung sehen. Darum machte ich mich einfach frei und erhob mich. „Lass uns zurück schwimmen, ich will gucken, was Raphael macht.“

„Ara?“

Einen Augenblick überlegte ich, einfach so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört, doch dann blieb ich am Rand der Plattform stehen. „Hm?“

„Wenn du jemals über dich oder deine Familie sprechen möchtest, kannst du zu mir kommen, okay? Ich werde dir zuhören.“

Und hinterher wahrscheinlich die Flucht ergreifen. Trotzdem sagte ich „Okay“, bevor ich mich abstieß und zurück ins Wasser sprang. Amber meinte es schließlich nur gut und ich fand es wirklich toll, dass sie mir zuhören wollte, aber das war etwas, dass sie niemals erfahren durfte.

Ich war erst ein paar Meter weit gekommen, als ich hörte, wie Amber ein Stück hinter mir ins Wasser sprang und mir folgte. Sobald sie zu mir aufgeschlossen hatte, tauchte ich einfach unter, schwamm und verbot mir alle trüben Gedanken. Die Vergangenheit war bereits geschehen und sie ließ sich sowieso nicht mehr ändern. Man konnte nur daraus lernen und weitermachen. Und hier und jetzt hatte ich eine wichtige Aufgabe. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht unnütz und das würde ich mir von dem was früher einmal gewesen war, nicht kaputt machen lassen.

Da Amber eine bessere Schwimmerin als ich war, hatte sie mich ziemlich schnell überholt. Sie stand bereits im seichten Wasser, als ich noch auf sie zu schwamm. Dabei bemerkte ich wieder das Pärchen. Wie hießen sie noch mal? Vico und Zora, oder?

Auch die beiden waren im Wasser, aber wie es schien, war sie nicht mehr sauer auf ihn. Sie hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen und küsste ihn auf eine Art, als würde die Welt um sie herum nicht mehr existieren. Und wie er sie in seinen Armen barg … als sei sie ein kostbarer Schatz, den er um nichts in der Welt hergeben wollte.

Wie es wohl war, jemanden zu küssen? In Jegors Haus hatte ich manchmal gesehen, wie er das mit Vivien gemacht hatte. Ihr schien es nicht gefallen zu haben, aber bei den beiden sah das ganz anders aus. Sie wollten es beide und wie es schien, konnten sie nicht damit aufhören.

Als ich nur noch ein paar Meter vom Ufer entfernt war, spürte ich den Untergrund des Sees unter meinen Füßen und richtete mich auf. Das Wasser reichte mir nun nur noch bis zum Bauch, als ich mich auf Amber zubewegte. Dabei ließ ich die beiden nicht aus den Augen. Ich konnte nicht.

„Was ist denn da so interessant?“, wollte Amber wissen und kam wieder zu mir ins Wasser.

Ich zeigte auf die beiden. „Sie haben sich vorhin schon geküsst.“

Amber verzog das Gesicht. „Die beiden sind ja auch mittlerweile mit den Lippen aneinander festgewachsen.“

„Wirklich?“ Ging sowas überhaupt?

Sie schmunzelte. „Das sagt man nur so, weil die beiden praktisch von morgens bis abends miteinander herumknutschen. Und das schon seit Jahren.“ Sie klang nicht wirklich angeekelt, eher genervt.

Ein Stück weiter gab es ein Platschen. Als ich mich danach umdrehte, sah ich Josh in einer Fontäne aus dem Wasser auftauchen. Er warf den Kopf zurück, schüttelte sein Haar aus und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Dann fiel sein Blick auf mich und Amber und seine Augen wurden ein wenig größer.

Ich hob die Hand und winkte ihm zu, Amber jedoch hielt sowohl sich selber, als auch mir hastig einen Arm vor die Brust und knurrte ihn an.

„Glotz nicht so blöd, du Perversling!“

Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch dann wandte er sich einfach hastig ab und tauchte unter.

„Männer sind doch alle gleich“, grummelte sie, nahm mich bei der Hand und zog mich zurück ans Ufer, wo die Büsche uns vor neugierigen Blicken schützten.

Wenn sie das sagte, glaubte ich ihr das einfach mal. „Wie ist das?“, fragte ich, als sie sich unsere Handtücher schnappte und mir meines reichte. „Also, jemanden zu küssen?“

„Das kommt ganz auf den Kuss an.“ Sie rubbelte sich mit ihrem Handtuch ab, wickelte sich dann darin ein und wrang neben der Decke ihre Haare aus. „Es gibt Küsse von Freunden, oder von der Familie, die einfach nur heißen, ich hab dich gerne und du bist mir wichtig und dann gibt es natürlich die Küsse, die von Vico und Zora.“

„Und wie sind diese Küsse?“ Auch ich wickelte mich in mein Handtuch und setzte mich dann auf die Decke.

„Naja, das ist so ein wow-Gefühl. Manchmal wird einem dabei ganz schwindlig im Kopf, aber auf eine gute Art und es ist schön und … ich weiß nicht, dass lässt sich schlecht erklären. Man muss es tun, um es zu verstehen.“

„Also ist das ein schönes Gefühl?“

Sie nickte und ließ sich neben mir auf die Decke fallen. „Das ist ein bisschen so wie beim Sex. Es macht Spaß und fühlt sich gut an und manchmal will man gar nicht mehr damit aufhören.“ Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte mich. „Du hast noch nie jemanden geküsst, oder?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ Aber irgendwie ließ mich ihre Erzählung an Raphaels Biss denken. Das war so schön gewesen.

„Weißt du“, begann sie zögernd und wich meinem Blick einen kurzen Moment aus. „Wenn du möchtest, dann kann ich dir zeigen, wie das ist.“

„Ja? Wie denn?“

„Naja, wie soll ich sagen … ich hatte mal eine Freundin und als die noch jünger war, hat sie mit ihrer eigenen Hand das küssen geübt, einfach weil sie wissen wollte, wie das ist.“

„Ich kann das mit meiner Hand üben?“ Ich hob meine Hand, aber egal wie ich sie auch drehte, sie erinnerte mich absolut nicht an einen Mund.

„Oder auch mit einer Freundin“, fügte Amber unverbindlich hinzu. „Das machen viele Mädchen, bevor sie das erste Mal einen Jungen küssen.“

„Ich soll ein Mädchen küssen?“

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Wie gesagt, wenn du magst, kann ich es dir zeigen.“

Und da verstand ich, worauf sie eigentlich hinaus wollte. „Wäre dass nicht irgendwie komisch? Wir lieben uns doch gar nicht.“

Das ließ sie lächeln. „Man kann sich auch einfach nur küssen, weil es Spaß macht.“

„Ich weiß nicht.“ Nicht das ich nicht neugierig war, aber irgendwie machte der Gedanke mich nervös.

Als würde Amber es spüren, legte sie mir eine Hand auf den Arm und lächelte beruhigend. „Es war nur ein Angebot, du musst nicht darauf eingehen, oder dich jetzt entscheiden. Denk einfach mal darüber nach. Wenn du nicht möchtest, dann ist das okay und falls doch, du weißt ja wo du mich findest.“

„Okay.“

„Na dann, lass uns mal schauen, was die anderen machen.“ Als sie sich erhob, griff sie nach meinen Händen und zog mich mit auf die Beine. „Geh schon mal, ich räum noch unsere Sachen zusammen und komme gleich nach.“

Ich wollte schon zustimmen und losgehen, doch ihre Stimme hörte sich komisch an. „Geht es dir gut?“

„Ja, klar. Du kennst mich doch, mir geht es immer gut und jetzt geh.“ Sie gab mir einen kleinen Schubs. „Ich komme gleich nach.“

Keine Ahnung warum, aber ich glaubte ihr nicht. Doch als sie mich dann auch noch mit den Händen wegwinkte, wandte ich mich langsam ab und trat hinter den Büschen hervor. Hatte ich was falsches gesagt? Sie schien jedenfalls nicht böse zu sein.

Der Gedanke beschäftigte mich noch immer, als ich Raphael auf seiner Decke sah. Er lag auf dem Bauch und unterhielt sich mit Mariella und Alice.

Als ich näher kam, hob die Braunhaarige den Kopf und gleich darauf wandten sich mir drei Gesichter zu. Erst da bemerkte ich, was mir vorhin entgangen war: Mariella war blind. Darum also hatte sie mich nicht angeschaut.

Als Raphael mein Handtuch musterte, begann ich zu grinsen. „Wir waren schwimmen“, verkündete ich und weil die Decke schon voll war, setzte ich mich einfach rittlings auf seinen Hintern.

Er schaute mich über die Schulter hinweg an, als fragte er sich, was das werden sollte. „Das hab ich mir gedacht.“

„Nackt.“

Sein Mund ging ein Stück auf, aber kein Ton kam heraus. Deswegen sah ich mich gezwungen, es zu erklären. „Ja, ich weiß, ich soll nicht mehr nackt rumlaufen, aber Amber sagt, das gilt nicht unter Frauen. Wenn wir alleine sind ist das okay, also nicht böse sein.“

Sein Blick ging an mir vorbei zu seiner Schwester, die gerade mit unseren Sachen hinter den Büschen auftauchte. Im Gegensatz zu mir, hatte sie sich wieder angezogen.

„Amber hat recht“, sagte Raphael langsam. „Wenn ihr unter euch Mädels seid, ist das völlig in Ordnung. Nur vor einem Typen sollst du nicht nackt herumlaufen.“

„Ich weiß, weil alle Männer Perverslinge sind. Das hat Amber gesagt, als Josh uns eben nackt gesehen hat.“

„Er hat was?“, schnappte Raphael, während Mariella anfing zu lachen.

„Nur ganz kurz“, beruhigte ich ihn und strich ihm mit den Händen über den Kopf.

Raphael ließ das Gesicht in seine Arme fallen. „Was machst du da, Gnocchi?“

„Ich streiche über deine Haare.“

Amber ließ ihre Tasche in den Sand fallen und breitete neben uns dann die Decke aus.

„Und warum machst du das?“, wollte er wissen.

„Weil sich das lustig anfühlt.“

Vom See kam ein Platschen. Wasser spritzte zu beiden Seiten, als Josh aus dem Wasser joggte und über den schmalen Strand auf uns zukam.

„Du solltest einen Sicherheitsabstand halten“, rief Mariella ihm zu, ohne den Kopf zu drehen.

Woher sie wohl wusste, dass er das war?

Er wurde ein wenig langsamer. „Warum?“, fragte er vorsichtig und warf Amber einen wachsamen Blick zu. Er glaubte wohl, dass die Gefahr von ihr ausging.

„Weil Raphael nicht gerade begeistert ausgesehen hat, als er von den nackten Nymphen erfahren hat“, schmunzelte sie.

„Ähm“, machte der nur und egal was er in dem Moment in Raphaels Gesicht sah, es veranlasste ihn dazu, auf der anderen Decke Platz zu nehmen.

„Er kann doch gar nichts dafür“, sagte ich.

„Ja genau.“ Er zeigte auf mich. „Hört auf sie. Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

Mariella schnaubte. „Aber sicher doch, und auf mich wartet Zuhause mein Traumprinz.“

„Ich dachte, ich wäre dein Traumprinz.“

Als Raphael lachte, vibrierte sein Oberkörper. „Der Traumprinz von Schlumpfhausen.“

„Oh man“, schniefte Josh. „Warum seid ihr nur so gemein zu mir. Ich will doch auch nur geliebt werden.“

„Und ich will, dass heute Nacht ein knackiger Kerl zu mir unter die Bettdecke schlüpft, um mich zu verwöhnen, aber auch das wird wahrscheinlich nicht passieren“, erklärte Mariella.

Josh grinste frech. „Wer weiß, vielleicht kannst du mich ja überzeugen.“

„Dich will ich nicht.“

„Ach, und warum bitte nicht?“

„Du laberst jetzt schon ohne Punkt und Komma. Ich will gar nicht wissen was du bei einem Koitus anstellst.“

„Koitus?“ In Raphaels Stimme schwang ein Grinsen mit. „Früher hast du aber ganz andere Worte in den Mund genommen.“

„Und auch ganz andere Dinge“, ergänzte Josh schelmisch.

Mariella lachte. „Als wenn einer von euch beiden wüsste, was ich in dem Mund nehme. Oder auch nicht.“

Alice schüttelte resigniert den Kopf. „Warum landet ihr beide eigentlich immer bei diesem Thema? Ist ja nicht so, dass es noch andere Dinge im Leben gibt.“

„Weil es Spaß macht“, sagte Josh leichthin und schnappte sich eines der Handtücher. „Außerdem kann man dich damit so schön in Verlegenheit bringen.“

Als Raphael sich aufsetzte, rutschte ich von seinem Rücken und ließ mich neben ihm nieder. „Du solltest dir eine Aufblaspuppe besorgen.“

Josh zeigte ihm den Stinkefinger. „Wie lange bleibst du eigentlich in Arkan?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Nicht so lange. Ich brauche einen Job und denn werde ich hier wohl nicht finden.“

„Na wenn ein Job alles ist, was du brauchst um zu bleiben, dann kann ich dir weiterhelfen.“

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Ach ja? Wo denn? Und glaub ja nicht das ich anfange bei Beatrice Haare zusammenzufegen, oder bei Enzo und May Regale einräume. Aus diesem Alter bin ich schon lange entwachsen.“

„Nein, nichts dergleichen, viel besser. Barkeeper.“

„Barkeeper?“

„Klar. Ich arbeite bei einem Lykaner in Pforzheim, der betreibt da das Illunis, eine kleine aber angesagte Diskothek und wie der Zufall so will, hört unser jetziger Barkeeper demnächst auf. Mein Boss sucht deswegen einen Ersatz für ihn.“

„Und du glaubst, dass ich für diesen Job geeignet bin?“, fragte er leicht skeptisch.

Ich wusste nicht warum, aber Amber hielt sich die Hand vor dem Mund und schien ein Lachen zu unterdrücken. Raphael merkte es nicht.

„Klar, warum auch nicht?“

„Weil ich von sowas überhaupt keine Ahnung habe und ihr mich völlig neu anlernt müsstet. Ich weiß zwar wie man viele Gläser schnell hintereinander leer, ohne sich zu übergeben, aber füllen? Das ist was ganz anderes.“

„Überlege es dir einfach und sag mir Bescheid, aber warte nicht zu lange, der Job ist schneller weg, als du glaubst.“

„Und während du überlegst, werde ich schwimmen gehen“, verkündete Mariella und erhob sich von ihrem Platz.

Josh Aufmerksamkeit glitt sofort auf sie. „Pass auf das du nicht untergehst und ich dich mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung retten muss. Außer natürlich du willst das.“ Zur Antwort bekam er einen Stinkefinger, den er mit Kusshand entgegen nahm. „Ich liebe dich auch, mein Schatz!“

 

°°°°°

Wettlauf gegen die Zeit

 

Ich hängte mein Handtuch über die Seitenwand der Dusche, trat dann nackig zur Toilette und schnappte mir das T-Shirt, dass ich mir schon bereit gelegt hatte. Es war ein altes von Raphael, dass er schon lange nicht mehr trug. Marica hatte mir schon am ersten Abend eine ganze Kiste davon gegeben. Die stand jetzt in meinem Schrank, zusammen mit all meinen anderen Sachen.

Es fiel mir noch immer ein wenig schwer das zu glauben. Ich hatte einen eigenen Schrank, mit eigener Kleidung und meinem eigenen Zimmer. Als ich vom See gekommen war, hatte ich sogar zusammen mit Marica mein eigenes Hochbett bezogen und dann an meinem eigenen Schreibtisch gesessen, einfach weil ich es konnte. Das war wie ein wahr gewordener Traum. Im Moment war ich einfach nur … glücklich.

Mir graute es nur vor dem Tag, an dem meine Aufgabe beendet war, weil ich nicht wusste, was dann geschehen würde. Konnte ich dann einfach hier bleiben, oder würde ich gehen müssen? So genau wollte ich im Moment gar nicht darüber nachdenken.

Sobald ich meine dreckige Kleidung in den Korb in der Ecke geworfen habe, ging ich zur Tür. Ich war schon halb aus dem Bad raus, als mein Blick auf meine Hand fiel und mir die Worte von Amber wieder in den Sinn kamen.

Hm.

Nachdenklich hob ich meine Hand hoch und betrachtete sie von allen Seiten. Sollte ich es vielleicht mal versuchen? Ich ballte sie, bis sie mit viel Phantasie Ähnlichkeit mit einem Mund hatte, dann hielt ich sie mir an die Lippen.

Es passierte nichts. Kein Kribbeln, oder andere tolle Gefühle, wie bei Raphaels Biss. Das war einfach nur meine Hand, die ich mir an meine Lippen hielt. Vielleicht machte ich ja etwas falsch? Ich rief mir Vico und Zora in Erinnerung. Dann trat ich vor den Spiegel und versuchte es noch einmal. Ich drehte meine Hand ein bisschen und bewegte sie, als wären es Lippen. Ich leckte sogar einmal drüber, aber außer einen kleinen Rest vom Duschgel, schmeckte ich nichts. Bäh.

Vielleicht sollte ich selber den Kopf ein wenig drehen und …

„Was bitte machst du da?“

Im Spiegelbild bemerkte ich Raphael, der in Boxershorts vor dem Badezimmer stand und mich mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete.

Ich ließ meine Hand sinken und sagte: „Küssen üben.“

„Hä?“, machte er und verzog das Gesicht. „Um küssen zu üben steckst du dir deine Faust in den Rachen?“

Augenverdrehend wandte ich mich zu ihm um. Er nun wieder. „Nein, ich übe mit meiner Hand. Ich hab gesehen wie Vico und Zora das gemacht haben und wollte wissen wie das ist. Da hat Amber gesagt, dass es schwer zu erklären sei, man muss es selber ausprobieren, mit einem Freund, oder einer Freundin, oder eben seiner Hand.“

„Natürlich, Amber“, murmelte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber deine Hand abzulutschen bringt dir rein gar nichts.“

Da hatte ich in der Zwischenzeit auch schon gemerkt. Aber wenn ich es nicht so versuchte, wie sollte ich es dann … plötzlich kam mir eine Idee. Ich neigte den Kopf leicht zur Seite und setzte einen wie ich hoffte, niedlichen Blick auf. „Bringst du es mir dann bei?“

„Was?! Nein! Auf keinen Fall!“, kam es sofort wie aus der Pistole geschossen und der Ausdruck in seinem Gesicht … er schien von der Idee geradezu entsetzt zu sein.

„Warum nicht?“, wollte ich wissen. „Amber hat gesagt, es ist nichts Schlimmes dabei es für den Anfang mit Freunden zu versuchen. Sie hat auch gesagt, ich kann es mit ihr probieren, aber ich weiß nicht, das wäre seltsam. Deswegen frage ich ja dich. Du bist doch mein Freund, oder?“

„Wenn du das von mir willst, nein, dann bin ich ganz sicher nicht dein Freund.“ Kopfschüttelnd wandte er sich ab und ging den Flur hinunter.

Das war jetzt nicht wirklich ein Nein gewesen, oder? Zumindest nicht, was die Freundschaftsfrage anging. Der Teil mit dem Küssen … ich interpretierte das erstmal mit einem Vielleicht und eilte Raphael dann hinterher. Gerade als er die Tür zu seinem Zimmer von innen schließen wollte, schlüpfte ich noch schnell hinein, flitzte an ihm vorbei und hüpfte in sein Bett.

Raphael schaute mir etwas ungläubig hinterher. „Und was soll das jetzt bitte werden?“

Also manchmal stellte er wirklich dumme Fragen. „Schlafen gehen.“ Ich schlüpfte unter die Decke, schnappte mir das große Kissen und machte es mir damit bequem.

„Das kannst du vergessen. Du hast jetzt dein eigenes Zimmer, mit einem eigenen Bett. Ich habe Stunden damit zugebracht, es auszuräumen, zu streichen und einzuräumen, erinnerst du dich? Beim Abendessen hast du mir noch erklärt, dass du dein Bett unbedingt ausprobieren möchtest.“

„Hab ich ja auch.“

„Und warum liegst du dann wieder hier?“

„Weil ich nicht alleine schlafen will.“ Das stimmte zumindest zum Teil. Aber hauptsächlich wollte ich ihn nicht allein lassen. Ich hatte festgestellt, dass die Gedanken an Cayenne ihn hauptsächlich am Abend überfielen. Wenn ich bei ihm war, lenkte ihn das ein wenig ab. Aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. „Ich mag es neben dir zu liegen.“

„Ich aber nicht neben dir und jetzt raus.“ Mit dem ausgestreckten Arm zeigte er auf die offene Zimmertür.

Ich versuchte wieder ein paar große und unschuldige Augen zu machen. „Aber gestern hat es dich aber auch nicht gestört.“

Das ließ ihn einen Moment verstummen. Er wich sogar meinem Blick aus, bevor er sagte: „Gestern war eine Ausnahme. Und du hast ja gesehen, wozu das geführt hat.“

Die Erinnerung daran ließ mich lächeln. „Na wenn das so ist, dann bleibe ich auf jeden Fall hier liegen.“

Sein Mund ging auf, aber damit hatte ich ihn erstmal sprachlos. Darum dauerte es wohl auch einen Moment, bis er sehr nachdrücklich „Raus“ sagte.

„Nein.“

„Doch.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bleibe hier.“

„Ich trage dich notfalls raus“, drohte er mir.

„Dann schleiche ich mich wieder herein, sobald du schläfst.“ Ich ließ die Arme wieder fallen und schaute ihn bitten an. „Ich mache mich auch ganz klein und störe dich nicht, versprochen.“

Mit der Hand fuhr er sich einmal über den Kopf und gab ein sehr genervtes Geräusch von sich. „Aber nur heute.“

„Und morgen.“

„Nein, nur heute.“

„Ys-oog“, quengelte ich.

„Vergiss es, Gnocchi, nur heute oder gar nicht.“

„Dann schleiche ich mich halt morgen rein.“

Zuerst machte es den Anschein, als wenn er weiter diskutieren wollte, doch dann seufzte er einfach nur geschlagen und schloss die Tür.

Gewonnen!

Sobald er das Licht gelöscht hatte, setzte er sich ins Bett, beugte sich zu mir rüber und riss mir mein Kissen weg. Ich landete mit der Nase voran im Laken. Aber das war nicht schlimm. Ich wartete einfach, bis er es sich gemütlich gemacht hatte. Und dass er sich dann auch noch ein Großteil der Decke klaute, war auch in Ordnung, da ich mich sowieso an seine Rücken kuschelte, als er endlich still lag.

„Nacht, Ys-oog“, murmelte ich noch und drängte mich ganz dich an ihn. Ich mochte sein Geruch und seine Wärme. Und auch, dass er mich nicht wegschubste. Vielleicht wollte er mich nicht hier haben, aber langsam begann ich zu glauben, dass meine Anwesenheit ihn weniger störte, als er zugeben wollte und das gefiel mir.

Als er nach einem Moment des Schweigens ein wenig brummig „Nacht“ antwortete, schlich sich sogar ein kleines Lächeln auf meine Lippen.

Ich schob meinen Arm ein wenig hört und begann genau wie gestern damit, ihm vorsichtig über den Nacken zu streichen. Das hatte ihn beruhigt und ein wenig von seinen Gedanken abgelenkt und ich hoffte, dass das auch heute funktionieren würde. Es dauerte zwar ein wenig, aber mit der Zeit spürte ich, wie er sich langsam entspannte und als sein Atem tiefer und gleichmäßiger wurde, konnte auch ich die Augen schließen.

„Ich lass dich nicht alleine“, versprach ich ihm noch, bevor ich ihm ins Land der Träume folgte.

Erst als der Morgen bereits anbrach und irgendwo draußen ein Vögelchen sein Liedchen trällerte, kehrte ich in Raphaels Zimmer zurück.

Er hatte sich in der Nacht gedreht und lag nun mit dem Gesicht zu mir. Im Schlaf hatte er etwas Friedliches an sich. All die Dinge, die ihn den ganzen Tag quälten, schienen in diesen wenigen Stunden nicht an ihn heran zu kommen. Oder wenigstens nicht an diesem Morgen.

Es war grausam, dass seine Gefühle ihn zu einem Mörder machen konnten. Warum nur hatte die Natur es nicht so eingerichtet, dass man wählen konnte, wen man liebte? Es würde alles einfacher machen und vielen Leuten eine Menge Schmerz ersparten. Aber leider funktionierte das Leben nun mal nicht, ohne auch die schlechte Seite zu spüren zu bekommen. Ich hatte es oft genug am eigenen Leib erfahren.

Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, setzte ich mich auf und ließ meinen Finger über seine Wange wandern. Sie war ein wenig stoppelig, aber ich mochte das.

Ich konnte mich noch genau an das erste Mal erinnern, als ich ihn gesehen hatte. Es war lange bevor ich ihn oder Cayenne kennengelernt hatte, geschehen, in der ersten Vision, die mir die Geister jemals geschickt hatten. Was er in diesem Traum getan hatte … ich hatte ihn für ein Monster gehalten. Aber nur, bis ich seinen unglaublichen Schmerz gespürt hatte. Er hatte nur noch aus Verzweiflung und Trauer bestanden und ich hatte mich tagelang gefragt, was oder wer dazu imstande war, ein anderes Wesen so leiden zu lassen.

Mit den Jahren hatten die Geister mir immer mehr Visionen von ihm und Cayenne geschickt und mir nicht nur gezeigt, was geschehen würde, sondern auch die Ereignisse, die zu diesem Punkt geführt hatten.

Vielleicht hatten sie gewollt, dass ich verstand, aber das einzige, was sie damit erreicht hatten, war mein Mitgefühl für ihn zu wecken. Und jetzt, wo ich ihn kennenlernen durfte, waren mir ihre Wünsche egal. Ich wollte nur, dass es ihm gut ging und eines Tages auf diesen Lippen wieder ein Lächeln lag, das nicht von Schatten und Finsternis belastet wurde.

Als Raphael sich bewegte und dabei leicht den Mund öffnete, nahm ich meine Hand weg und musste wieder an Vico und Zora denken. Ich wollte wirklich wissen, was für ein Gefühl es war, jemanden zu küssen. Ob es genauso war, wie sein Biss? Oder vielleicht sogar besser? Dass es schlechter war, konnte ich mir nicht vorstellen, einfach weil die Leute es so gerne taten und das musste schließlich einen Grund haben.

Ob ich es einfach mal probieren sollte? Nein, besser nicht. Wenn ich nur an seine Badehose dachte … das war ja auch nicht besonders gut gelaufen.

Ohne die Augen zu öffnen, nuschelte er plötzlich: „Du starrst mich an.“

Hm, wie es schien, schlief er gar nicht mehr. „Nein, tu ich nicht.“

Sehr langsam öffnete er sein rechtes Auge. Aber nur einen kleinen Spalt. „Du starrst mich doch an.“

„Nein, ich gucke deinen Mund an“, erklärte ich.

„Und der gehört nicht zu mir?“

Na wenn er es so ausdrückte. Aber da er jetzt eh schon wach war, vielleicht war er heute ja zugänglicher als gestern. „Würdest du mich küssen?“

Da er noch halb schlief und sein Hirn offensichtlich erst noch in die Gänge kommen musste, kam seine Erwiderung mit einiger Verzögerung. „Nein“, nuschelte er dann und ließ das Auge wieder zufallen.

Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, trotzdem enttäuschte mich die Antwort ein wenig. Und das nicht nur, weil ich es so gerne mal ausprobiert hätte. Er schien nicht mal darüber nachdenken zu wollen und das, obwohl Amber doch gesagt hatte, dass es Spaß machte. Vielleicht stieß ihn ja irgendwas an mir ab. „Findest du mich den nicht … hübsch?“

„Nein finde ich nicht“, grummelte er und drehte sich auf die andere Seite.

Keine Ahnung was genau es war. Vielleicht seine Worte, oder der Ton in seiner Stimme, aber diese direkte Zurückweisung traf mich. Das Lächeln glitt einfach aus meinem Gesicht und mein Kopf sank herab.

Eigentlich sollte mich das nicht verletzten. In meinem ganzen Leben hatte ich nie etwas anderes als Ablehnung kennengelernt, aber seit ich hier war … wahrscheinlich hatte ich einfach geglaubt, dass es anders sein würde, weil es sich bis jetzt anders angefühlt hatte. Das war einfach nur dumm. Ich sollte es eigentlich besser wissen. Wer würde mich schon freiwillig küssen wollen? Ich war immerhin … ich.

Das Bettzeug raschelte, als Raphael sich in der aufkommenden Stille wieder zu mir umdrehte. Ich konnte seinen Blick spüren, aber ich wagte es nicht, aufzuschauen.

„Tarajika?“

Tarajika, nicht Gnocchi. Ich hätte ihn niemals fragen sollen. Und jetzt … es war wohl besser, wenn ich erstmal nach oben verschwand. Doch als ich mich wegdrehte und vom Bett rutschen wollte, richtete er sich eilig auf, ergriff mich am Arm und hielt mich fest. Ich hätte mich einfach losreißen können, aber irgendwie fehlte mir dazu die Kraft.

„Hey“, sagte Raphael sanft. „Vergiss was ich gesagt habe, ich bin ein Idiot.“

Nein, war er nicht. Ich war der Idiot, weil ich für einen Augenblick wirklich geglaubt hatte wenigstens ein bisschen normal sein zu können.

„Du bist nicht hässlich, okay?“

Aus mir unerfindlichen Gründen, sorgte die Aussage dafür, dass meine Augen auf einmal brannten. Und dann lief mir auch noch eine einzelne Träne über die Wange.

„Ach verdammt.“ Er zog an meinem Arm, doch ich reagierte nicht. „Hey, nicht weinen. Wenn so ein hübsches Mädchen weint, dann werde ich auch ganz traurig.“

Hübsches Mädchen. Von wegen.

Er seufzte leise. „Hey, du darfst dir das nicht so zu Herzen nehmen, manchmal rede ich eben ohne vorher mein Hirn einzuschalten. Und so ein Kuss … das ist doch wirklich nichts Besonderes.“

Für ihn vielleicht. Er wusste ja wie es war. Er wusste so Vieles, von dem ich nicht mal den Hauch einer Ahnung hatte. Ich machte ihm das nicht zum Vorwurf, er konnte ja nichts dafür, aber … es tat einfach weh. Ich hatte in meinem Leben so viel verpasst und das konnte er wahrscheinlich gar nicht nachvollziehen.

„Bitte, ich …“

„Wie alt warst du, als du das erste Mal ein Mädchen geküsst hast?“, fragte ich ihn leise.

„Ähm …“, machte er und überlegte einem Moment. „Da muss ich ungefähr vierzehn gewesen sein. Es war eine Wette mit Josh, die mir auch noch eine Ohrfeige eingebracht hat.“ Sein Lächeln klang in seiner Stimme mit. „Ich hatte damit angegeben, dass ich trauen würde, jedes Mädchen zu küssen und das habe ich auch.“

„Ich saß mit vierzehn in einem Käfig“, sagte ich tonlos und erinnerte mich an die Zeit zurück. „Freiheit war für mich ein Fremdwort und bereits bei meiner Geburt … für mich durfte es niemanden geben. Und allein der Gedanke einen Jungen zu küssen, war nichts als ein Wunsch.“ Fast hätte ich geschnaubt. „Ein Wunsch, der sich für mich niemals erfüllen wird.“

Das laut auszusprechen, machte es irgendwie noch realer. Als dann auch noch eine zweite Träne aus meinem Auge ran, wischte ich sie ungeduldig weg und drehte mich zu ihm herum. „Ich bin achtzehn, Ys-oog, achtzehn Jahre und die größte Nähe zu einem Jungen, hatte ich mit dir, aber du magst mich nicht mal. Du erlaubst nur, dass ich hier bin, weil deine Mutter es möchte.“

„Das ist nicht wahr“, widersprach er mir.

„Natürlich ist es das. Du willst das ich verschwinde, am besten sofort.“ Und in diesem Augenblick würde ich das auch gerne tun, aber ich durfte nicht. Es war egal, ob er gemein zu mir war, ich konnte ihn nicht sterben lassen, denn auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, ich hatte ihn gern.

„Nein, das möchte ich nicht“, sagte er leise und ließ mich los. „Dich im Haus zu haben … es ist okay, aber das mit dem Küssen … du solltest nicht so ein großes Aufhebens darum machen. Es ist gar keine so große Sache.“

„Und trotzdem willst du es nicht“, erwiderte ich schlicht.

„Aber das hat nichts mir dir oder deinem Aussehen zu tun“, begann er sich zu rechtfertigen. „Wärst du mir früher begegnet, hätte ich nicht mal eine Sekunde gezögert. Du bist nicht nur hübsch, du bist auch etwas ganz Besonderes, aber jetzt … im Moment ist das einfach nichts für mich, weil …“ Er ließ den Satz unbeendet ausklingen.

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. Wenn es stimmte, was er da sagte und es wirklich nicht an mir lag, dann konnte es nur einen anderen Grund geben, warum er es nicht tun wollte. „Cayenne.“

Der Name sorgte dafür, dass er sich anspannte.

„Cayenne hat dich nicht verdient“, sagte ich leise.

„Sprich nicht darüber, als wüsstest irgendwas von uns.“

Ich wusste viel mehr, als ihm klar war, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Was ich jedoch sagen konnte, war etwas anders. „Ich sehe deinen Schmerz, Ys-oog. Ich sehe es, sobald sie in deinen Gedanken ist und auch, was er mit dir tut.“

„Hör auf“, sagte er leise. „Bitte.“

Da ich ihm nicht noch mehr weh tun wollte, schwieg ich. Ich wollte ihn nicht verletzen, ich wollte nur, dass er wusste, dass er nicht allein war. Er sollte wissen, dass ich für ihn da war, wenn er mich brauchte, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm das vermitteln sollte.

Als er nur mit leerem Blick auf seine Decke starrte, rutschte ich ein wenig näher heran und tastete zögernd nach seiner Hand. Ich rechnete damit, dass er sich mir sofort entziehen würde, oder mich sogar wegstieß, doch zu meiner Verwunderung, ergriff er meine Hand und hielt sie fest.

„Ich weiß, dass es kein Zurück mehr gibt“, sagte er leise. „Und auch, dass ich ihr nicht mehr schuldig bin, aber …“ Er schien nicht zu wissen, wie er den Satz beenden sollte, also verstummte er einfach.

„Sie ist noch immer da“, erwiderte ich genauso leise.

Das brauchte er nicht zu bestätigen, wir wussten beide, dass es die Wahrheit war.

„Es tut mir leid, ich hätte dich nicht fragen sollen. Ich wollte einfach nur … ich wollte doch nur wissen, wie das ist.“ Mehr nicht.

Als er das Gesicht hob, konnte ich den Ausdruck in seinem Augen nicht entziffern. Er schien den Krieg in seinem Inneren verbergen zu wollen, dabei verstand ich wahrscheinlich viel besser als er, was mit ihm los war. „Ist dir das wirklich so wichtig?“

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Ich bin nur neugierig und … naja, es wäre doch normal, oder? Sowas macht man doch in meinem Alter.“

Eine ganze Weile betrachtete er mich wortlos. Entweder schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte, oder er traute es sich nicht auszusprechen. Als er dann die Decke zur Seite schlug und näher an mich heran rückte, fragte ich mich, was er vorhatte. Besonders, da er mir ziemlich nahe kam. Unsere Gesichter waren direkt voreinander.

„Ist alles okay mit dir?“

Anstatt zu antworten, löste er seine Hand aus meinem Griff und legte sie mir an die Wange. Und während sein Daumen damit begann mir vorsichtig über die Haut zu streichen, verhakte sich sein Blick mit dem meinen.

Auf einmal begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Als er sich dann auch noch vorbeugte und vorsichtig mit seinem Mund über meinen strich, wurde es sogar noch schneller.

„Schließ deine Augen“, wisperte er direkt an meinen Lippen.

Bei den Geistern, würde er es jetzt doch tun? Die plötzliche Aufregung bei diesem Gedanken ließ mich zögern, doch solange ich die Augen offen hatte, tat er nichts anderes, als mich anzuschauen. Erst als ich es endlich wagte seiner Aufforderung nachzukommen, fühlte ich, wie er mir noch näher kam. Und dann spürte ich seine Lippen.

Die erste Berührung war wie ein Blitz, den ich bis hinunter in die Zehenspitzen fühlte und meinen ganzen Körper zum Kribbeln brachte. Auf einmal waren all meine Gedanken wie weggeblasen.

Als er seinen Mund leicht öffnete und einen so zarten Kuss auf meine Lippen drückte, dass ich ihn sogar in meiner Seele spürte, erwachten all meine Sinne. Und dann bewegten sich auch meine Lippen. Instinktiv wusste ich, was ich machen musste, damit dieses Gefühl noch süßer wurde.

Seine Hand strich langsam meinen Hals hinunter und legte sich dann in meinem Nacken, um mich ein wenig an sich heran zu ziehen. Sowas hatte ich noch nie gefühlt. Das war so unbeschreiblich schön … ich hatte keine Worte dafür, aber nun verstand ich, warum Vico und Zora praktisch miteinander verwachsen waren. Wenn sich das bei ihnen auch so anfühlte, war klar, warum sie damit nicht aufhören wollten. Ich wollte auch nicht, dass es endete.

Leider war ich ein wenig unsicher. Ich hob meine Hand, verharrte dann aber in der Bewegung, weil ich nicht wusste, ob er es gutheißen würde, wenn ich ihn berührte.

Sein Kuss war so sanft und zärtlich, dass er damit irgendwas tief in mir berührte. Es war nicht wie der Biss gestern, das hier war etwas ganz anderes. Ich konnte spüren, wie mein Körper nach und nach erwachte und auf diese Berührung reagierte. Mein Puls und mein Herzschlag beschleunigten sich.

Es war kein lange Kuss und als er sich dann langsam von mir löste, konnte ich den Nachhall dieses Moments noch immer spüren. Mein ganzer Körper war deswegen in Aufruhr und schien auf irgendwas zu warten.

Aber Raphael rückte nicht von mir ab. Er blieb mir so nahe, dass unsere Nasen sich beinahe berührten. „In Ordnung?“, fragte er leise.

Meine Lippen kribbelten noch immer und machten mein Lächeln umso süßer. „Und für dich?“, fragte ich, anstatt zu antworten.

Nun erschien auch in seinem Gesicht ein kleines Lächeln. „Mir geht es gut.“

„Und mir hat es gefallen.“ Wieder hob ich die Hand, nur um auf halbem Wege zu zögern.

Raphael schien mein Dilemma zu bemerken. Er nahm einfach meine Hand und drückte sie dann gegen seine Brust, genau dorthin, wo sein Herz kräftig und gleichmäßig schlug. „Ist deine Neugierde damit gestillt?“

Im Grunde ja, nur hatte ich nun das Bedürfnis weiterzumachen, weil es mir wirklich gefallen hatte. Darum nickte ich, fragte gleichzeitig aber auch: „Kannst du das noch mal machen?“

Seine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. „Noch mal?“

„Es war so schön.“

Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. „Das finde ich auch“, sagte er leise und streifte dabei meine Lippen mit seinen. Ich bekam davon eine Gänsehaut, die sich schnell in einem angenehmen Schauder wandelte, als er unsere Münder wieder miteinander vereinte.

Meine Augen schlossen sich flatternd und einmal mehr blendete ich alles um mich herum aus, um mit all meinen Sinnen bei ihm zu sein.

Anfangs zögerte ich noch ein wenig, doch als er mich näher an sich zog, wurde ich mutiger. Meine Finger krallten sich in seine Brust, als er mir vorsichtig in die Unterlippe Biss. Das Gefühl, dass dabei durch meinen Körper schoss, machte mich ganz schwindlig. Die Berührung wurde immer intensiver.

Auf einmal strich seine Zunge ganz leicht über meine Lippen. Zuerst war ich ein wenig überrascht, aber als er es noch Mal tat, löste das irgendwas in mir aus, dass ich tief zwischen meinen Beinen spürte. Ich registrierte gar nicht, dass ich einen kleinen Laut von mir gab, doch was ich merkte, war, wie er sich gegen mich drängte. Das machte er so nachdrücklich, dass ich mich zurücklehnen musste, bis ich auf dem Rücken lag und er sich über mich beugte, damit der Kontakt nicht abbrach.

Wieder berührte er mich mit der Zunge, doch dieses Mal zog er sie nicht wieder zurück. Er teilte meine Lippen und drang dann mit ihr in meinen Mund ein.

In dem Moment kam es einfach über mich. Ich schlang die Arme um seinen Nacken und zog ihn noch näher an mich heran. Das musste ich tun, damit er nicht einfach verschwinden konnte.

Zur Antwort rückte er noch ein wenig näher und begann dann damit, mich zu streicheln. Seine Finger strichen über meine Seiten hinab bis zur Hüfte, wanderten dann wieder nach oben, nur um sich erneut abwärts zu bewegen. Doch auch wenn er mir so nahe war, schien er darauf bedacht, einen gewissen Abstand zu wahren. Als ich versuchte die Decke zwischen uns wegzuschieben, um ihm noch näher zu kommen, ergriff er meine Hand und zog sie zurück an seine Brust und hielt sie dort fest, als wollte er mich genau dort spüren.

Unser Atem vermischte sich, während unsere Lippen gegeneinander drängten. Wo er am Anfang noch sanft und vorsichtig gewesen war, zeigte er nun kaum noch Zurückhaltung. Wenn er das Gleiche fühlte wie ich, wunderte mich das gar nicht.

Ich hörte wie das Blut in meinem Ohren rauschte. Mein ganzer Körper summte und schien nach irgendwas zu verlangen, doch ich wusste nicht was, also klammerte ich mich einfach weiter an ihn und brachte meine eigne Zunge ins Spiel. Oh ihr Geister, er schmeckte so süß.

Auf einmal gab er ein leises stöhnen von sich und dann begann er mit seinen Reißzähnen an meiner Lipper zu knabbern. Nur ganz vorsichtig und ohne mich zu verletzen, aber das Echo, dass durch meinen Körper hallte, ließ mich geradezu erzittern.

Unter meiner Hand spürte ich, dass sein Herz bei weitem nicht mehr so ruhig schlug, wie noch am Anfang. Auch bei ihm hinterließ unser Kuss seine Spuren. Das ermutigte mich ein wenig waghalsiger zu werden. Ich ließ meine Hand an seiner Brust herabgleiten und …

Das Geräusch der sich öffnenden Tür, veranlasste Raphael nicht nur dazu sich von mir wegzudrehen, er riss sich praktisch von mir los, als hätte er Angst, bei etwas unmoralischem erwischt zu werden.

Im ersten Moment war ich ein wenig perplex. Im zweiten bemerkte ich Marica, die mit einem Wäschekorb unter dem Arm und einer leicht erhobenen Augenbraue im Türrahmen stand und schmunzelte. Im dritten, wäre ich beinahe aufgesprungen, um sie mit einem Fauchen zu verscheuchen. Ich schaffte es gerade noch so den Impuls zu unterdrücken, aber nur, weil ich mich in diesem Moment über mich selbst wunderte.

„Lass euch von mir nicht unterbrechen, ich wollte nur eben die dreckige Wäsche holen“, erklärte sie belustigt und begann dann auch sofort durch Zimmer zu laufen und einzelne Kleidungstücke vom Boden einzusammeln.

„Hättest du nicht wenigstens anklopfen können?“, grummelte Raphael ein wenig verärgert, ohne seine Mutter aus den Augen zu lassen.

„Ach Spatz, es ist nicht das erste Mal, dass ich sehe, wie du ein Mädchen küsst.“ Lächelnd hob sie eine Hose vom Boden und packte sie zu den anderen Klamotten in den Wäschekorb. „Aber es ist das erste Mal, dass mir das Mädchen gefällt, mit dem du das machst.“ Sie richtete sich auf und schmunzelte. „Außerdem hab ich das früher auch oft und sehr gerne gemacht, das und … anderes.“

„Oh, bitte nicht“, jammerte er, schnappte sich sein Kissen und drückte es sich ins Gesicht, als hoffte er, dieser Situation dadurch zu entkommen. Er machte den Eindruck, als sei es ihm unangenehm, dass seine Mutter uns gesehen hatte. Vielleicht aber ärgerte er sich genauso wie ich über die Störung.

Himmel, was war nur mit mir los?

„Es ist also gar nichts dabei.“ Sie schnappte sich noch eine alte Socke von meinem Schreibtischstuhl, ohne zu bemerken, dass Lalamika direkt daneben saß und mit der Pfote nach der baumelnden Kleidung schlug. „So, dann störe ich euch auch nicht weiter. Mit einem letzten Schmunzeln in unsere Richtig, machte sie sich auf dem Weg zur Tür. „Viel Spaß noch“, war das letzte, was sie sagte, bevor sie uns wieder allein ließ.

Ja, sagte Lalamika. Ihre Augen funkelten vergnügt. Habt noch viel Spaß. Damit löste sie sich einfach auf, aber mich konnte sie nicht täuschen. Ich war mir sicher, dass sie noch irgendwo im Raum war.

Ich drehte den Kopf und musste feststellen, dass Raphael sich noch immer unter dem Kissen versteckte. Leider konnte ich mir nicht erklären warum. Hatte ich etwas falsch gemacht? „Ys-oog?“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich das Kissen langsam vom Kopf zog und mir das Gesicht zuwandte. Seine Lippen waren rot von unserem Kuss und seine Augen glänzten, aber das Lächeln war verschwunden. Er wirkte nicht traurig oder verärgert, einfach nur … nachdenklich. Doch was genau in seinem Kopf vor sich ging, vermochte ich nicht zu sagen.

„Geht es dir gut?“, fragte ich vorsichtig.

Seine Mundwinkel schoben sich ein wenig höher, „Ja. Und wie steht es mit dir, hat dir dein erster Kuss gefallen?“

Ich nickte nicht nur eifrig, in meinem Gesicht ging geradezu die Sonne auf. Ich brauchte mir nicht mal in Erinnerung zu rufen, was gerade geschehen war, mein ganzer Körper summte noch davon. Das war … ich wusste nicht wie ich das sagen sollte. Ich fühlte mich einfach gut und wollte dieses Gefühl gerne noch ein wenig festhalten. „Können wir das noch mal machen?“

Sein Lächeln verrutschte ein wenig, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass er nicht wollte. Viel mehr schien da etwas zu sein, dass ihn an einer Zustimmung hinderte, aber was genau das war, konnte ich nicht bestimmen.

Vielleicht sollte ich ja den ersten Schritt machen? Amber hatte doch gesagt, dass ich nicht abwarten musste, sondern selbst die Initiative ergreifen konnte, wenn ich das wollte. Gut, da war es um Sex gegangen und nicht im einen Kuss, aber diese Regel konnte ich doch sicher auch hier anwenden.

Darum drehte ich mich auf die Seite, streckte meine Hand nach seinem Gesicht aus und strich ihm vorsichtig über die Unterlippe. „Noch ein Kuss mir gib, einen Kuss von deinem Munde. Werden tu ich sonst zum Dieb, noch in dieser kurzen Stunde.“ Ich beugte mich vor und strich vorsichtig mit meinen Lippen über seine. „Du denkst zu viel nach, Ys-oog.“

Seine Unentschlossenheit begann zu bröckeln. Als er dann auch noch die Augen schloss und ergeben ausatmete, wagte ich es meinem eigenen Wunsch zu folgen und küsste ihn, wie er es zuvor bei mir getan hatte. Damit wurde dieser Moment zu dem schönsten, in meinem ganzen Leben.

 

°°°

 

„Genau und da musst du jetzt noch einen Bogen machen und fertig. Super.“

Über Ambers Lob freute ich mich fast mehr, als über das kleine J, dass ich gerade geschrieben hatte. Obwohl, eigentlich nahm es sich nicht viel.

Vor Fünf Tagen hatte Amber angefangen, mir das Schreiben und Lesen beizubringen. Seit dem saßen wir jeden Tag mindestens eine Stunde zusammen und jetzt konnte ich schon meinen halben Namen schreiben. Mit dem A hatten wir angefangen. Nicht nur weil dieser Buchstabe drei Mal in meinem Namen vorkam, sondern auch, weil es der erste Buchstabe im Alphabet war – das zumindest war Ambers Erklärung gewesen. Das T und das R hatte ich auch schon gelernt und heute war das J dran.

„So, dann gleich noch mal.“

Ich schob meine Zunge zwischen meine Lippen, beugte mich vor und schrieb noch mal das J. Das machte ich so lange, bis die Reihe voll war. Dann kam das kleine J und auch damit füllte ich eine ganze Reihe.

Es war Sonntag. Mehr als eine Woche war seit dem Kuss mit Raphael vergangen. Naja, seit dem ersten Kuss. Gestern hatte er es wieder getan und ich hoffte, dass es nicht das letzte Mal gewesen war. Ich mochte es, wenn er mich küsste, das fühlte sich einfach schön an.

Im Moment saß er mit Tristan nebenan im Wohnzimmer. Es war das erste Mal, dass sein Bruder hier aufgetaucht war, seit er ihm vor einer Woche sein Motorrad aus dem Hof der Lykaner gebracht hatte. Und die Ausweispapiere für mich. Ich wusste nicht wo Tristan sie her hatte, aber als er Raphael die Schlüssel für sein Motorrad in die Hände gedrückt hatte, hatte er mir auch noch einen braunen Umschlag gegeben. Darin waren ein Personalausweis und ein Reisepass mit einem Foto von mir, sowie eine Geburtsurkunde gewesen. Raphael hatte mir aufgetragen die Sachen ordentlich und sicher wegzulegen und gut darauf aufzupassen. Außer den Personalausweis, den sollte ich ab jetzt immer bei mir tragen.

Marica war nicht da, sie besuchte eine Freundin in der nächsten Stadt und würde erst heute Abend wieder nach Hause kommen.

Als ich das letzte J in die Reihe geschrieben hatte, legte ich den Stift zur Seite und drehte das Heft so, dass Amber es sehen konnte. „Richtig?“

Sie musterte meine Buchstaben kritisch und nickte dann. „Ja, dass sieht gut aus. Und jetzt umblättern und aus dem Kopf schreiben.“

Ich nickte, zog das Heft wieder heran und folgte ihrer Anweisung.

Als sie mich gefragt hatte, ob ich lesen und schreiben lernen wollte, war ich ihr vor Freude um den Hals gefallen. Ich hatte schon immer lesen wollen, aber nicht geglaubt, dass sich jemand die Zeit nehmen würde, um es mir beizubringen.

Seit ich hier war, geschahen sowieso viele Dinge, die ich vorher nie für möglich gehalten hatte. Die Leute mochten mich und das erfüllte mich auf eine Art, wie ich es vorher noch nie erleben durfte. Ich war nun etwas mehr als zwei Wochen hier und fühlte mich einfach … gut.

Gerade als ich die erste Reihe auf der anderen Seite gefüllt hatte, hörte ich Schritte im Flur. Gleich darauf trat Raphael in die Küche. Er lächelte mich an und ging hinüber zum Hängeschrank. „Na, wie läuft es mit dem Schreiben?“

„Amber sagt, es sieht gut aus. Willst du mal sehen?“

Er nahm zwei Gläser aus dem Schrank, kam dann zum Tisch und schaute mir über die Schulter. Die Haare auf seinem Kopf waren wieder ein wenig gewachsen und damit nun mehr, als ein einfacher Schatten und am Kinn hatte er nun ein kleines Bärtchen. Das kitzelte beim küssen. „Ja, sieht gut aus“, lobte er mich, ging dann zum Kühlschrank und holte dort noch eine Flasche mit Cola heraus. „Wenn du so fleißig weiter machst, kannst du bald ganze Aufsätze schreiben.“

„Erstmal nur meinen Namen“, erklärte ich und beugte mich wieder über das Schreibheft, das Amber mir geschenkt hatte. „Es fehlen jetzt nur noch das I und das … äh.“ Hilfesuchend schaute ich zu Amber.

„K“, half sie mir. „Es fehlen noch das I und das K.“

„Genau. Und dann kann ich meinen Namen schreiben.“

„Das hört sich super an.“ Mit dem Ellenbogen schloss er die Kühlschranktür und tätschelte mir beim hinausgehen noch den Kopf. „Du machst das toll“, sagte er noch, bevor er wieder nach nebenan zu Tristan verschwand.

Sein Lob machte mich glücklich und veranlasste mich dazu, mich voller Enthusiasmus auf die nächste Zeile zu stürzen.

Amber schaute mir dabei die ganze Zeit zu und korrigierte mich, als ich zu hastig wurde. Danach begann ich damit meinen Namen so weit zu schreiben, wie es mir bisher möglich war. Taraj. Ich schrieb es einmal und noch zweites Mal und …

Plötzlich schoss Lalamikas Gestalt durch die Tischplatte und überraschte mich damit so sehr, dass ich vor Schreck meinen Stift quer durch die Küche warf. Fast hätte ich damit auch noch Amber getroffen.

Schnell, du musst ihn aufhalten!

Bevor ich fragten konnte, was sie damit meinte, wurde es nebenan lauter und dann rief Tristan durch die Wohnung: „Raphael! Verdammt, warte!“

Ohne lange nachzufragen, sprang ich vom Stuhl und erreichte den Flur in dem Moment, als Tristan zur Haustür hinaus stürmte. Der Ausdruck in seinem Gesicht … irgendwas Schlimmes musste geschehen sein. Natürlich, sonst hätte Lalamika mich nicht in Alarm versetzt.

Von Raphael war nichts zu sehen.

„Raphael!“, rief Tristan wieder und eilte seinem Bruder hinterher.

Ich folgte ihnen auf Socken in den Garten hinaus und musste zu meiner Bestürzung feststellen, dass Raphael bereits auf seinem Motorrad saß und hastig den Schlüssel ins Schloss rammte. Ich rannte so schnell ich konnte, doch als ich den Bürgersteig erreicht hatte, starrte er bereits den Motor und dann konnte ich nur noch dabei zuschauen, wie er einfach davon fuhr.

„Ys-oog!“, rief ich ihm noch hinterher, aber entweder hörte er es nicht, oder er wollte es nicht hören. Verdammt, was war geschehen? Diese Frage konnte mir wohl nur einer beantworten. Darum wirbelte ich zu Tristan herum, der mit grimmiger Mine im Gartentor stand. „Was hast du zu ihm gesagt?!“, fauchte ich ihn an.

Auch Amber war uns aus dem Haus gefolgt.

Als Tristan mich nur stumm anschaute, stieß ich ihm so kräftig gegen die Brust, dass er rückwärts ein paar Schritte in den Garten stolperte. Seine Lippen öffneten sich leicht und er knurrte, aber das interessierte mich nicht. Mit irgendwas hatte er Raphael in Aufregung versetzt und das war nicht gut.

„Was hast du gesagt?!“, forderte ich erneut zu erfahren und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu.

Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. Er zögerte einen Moment, bevor er erklärte: „Cayenne ist schwanger.“

Diese Nachricht war für ihn ein Schock, fügte Lalamika noch hinzu. Sie stand unruhig an meinen Füßen. Das ist ein Auslöser, er ist auf dem weg zum Hof, du musst dich beeilen!

Entsetzen machte sich in mir breit. „Warum hast du das gemacht?“ Als Tristan nicht antwortete, brach sich die Wut in mir breit. „Du bist dumm und hast keine Ahnung, was du damit angerichtet hast!“ Am liebsten hätte ich ihm die Krallen durch das Gesicht gezogen, aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich wirbelte einfach herum und rannte los. Zwar wusste ich nicht wie, aber ich musste ihn aufhalten. Leider musste ich ihn dazu erstmal einholen, aber ich sah ihn nicht mal mehr und blieb deswegen nach wenigen Metern schon wieder stehen. Was sollte ich nur tun?

„Ara!“, rief Amber mir hinterher. Sie war mir gefolgt und griff nach meinem Arm, sobald sie die Möglichkeit hatte. „Was ist los? Wo willst du hin?“

„Ich muss ihn aufhalten.“ Fieberhaft schaute ich mich nach einer Lösung für meine Problem um. „Er darf nicht allein sein, sonst tut er etwas Schreckliches.“

„Was?“

„Ys-oog! Ich muss ihm hinterher.“

Sie warf einen Blick in die Richtung, in die ihr Bruder verschwunden war. „Zu Fuß wirst du ihn niemals einholen.“

„Ich weiß, aber ich muss!“

Sie erkannte wohl die Dringlichkeit in meiner Stimme. Um ihre schwarzgemalten Lippen entstand ein entschlossener Zug. „Komm“, sagte sie dann und griff nach meiner Hand. „Ich habe eine Idee.“ Und noch bevor ich reagieren konnte, zog sie mich in die entgegengesetzte Richtung.

Keiner von uns beiden beachtete Tristan, als wir die Straße entlang rannten. Nicht zu wissen wo Raphael gerade war und was in seinem Kopf vor sich ging, machte mich nervös und trotzdem zwang ich mich dazu Amber zu vertrauen und ihr zu folgen.

Es dauerte vielleicht drei Minuten, dann erreichten wir ihr Haus.

„Warte hier“, befahl Amber, sobald wir in der Einfahrt ankamen und eilte dann in das Gebäude. Ich blieb direkt neben dem großen Geländewagen der Familie stehen.

Es konnte kaum mehr als eine halbe Minute gewesen sein, bis sie wieder auftauchte, aber die reichte aus, um immer wieder unruhig von einem Bein auf das andere zu treten. Selbst Lalaimka streifte nervös um mich herum und im hellen Licht der Sonne konnte ich sehen, wie sich mehrere der alten Geister materialisierten. Ihre Stimmen wisperten im Wind und sie klangen wütend.

Sobald Amber auf die Veranda trat, gab der Wagen zwei kurze Pieptöne von sich. „Steig ein!“, rief sie mir zu und noch während ich die Tür der Beihaferseite aufriss, eilte sie um den Wagen herum, um sich dann hinter das Steuer zu klemmen.

„Anschnallen.“ Sie kam ihrer eigenen Forderung nach, startete dann den Wagen und fuhr rückwärts aus der Einfahrt heraus. Der Schwung drückte mich gegen die Seitentür, die Reifen quietschten. Dann benutzte sie den Hebel zwischen den Sitzen und wir fuhren endlich vorwärts. „Weißt du, wohin er will?“

„Zum Schloss.“ Ich legte meine Hände auf das Armaturenbrett und starrte angespannt durch die Windschutzscheibe. „Er will zum Hof der Lykaner.“

Das brachte mir einen irritieren Seitenblick ein. „Zum Hof? Was will er denn da?“

Das würde ich ihr nicht erzählen. Das was in die Geister in der Zukunft sahen, sollte man wahren, den die Wahrheit konnte ungeahnte Konsequenzen haben.

Ihr müsst euch beeilen, verlangte Lalamika. Sie stand halb in der Windschutzscheibe drin. Er hat schon einen ziemlich großen Vorsprung.

„Ich weiß, aber ich kann nicht zaubern, Mika. Warum hast du nicht früher Bescheid gesagt? Du solltest doch ein Auge auf ihn haben!“

Amber warf mir einen irritierten Blick zu. „Was?“

Er war völlig entspannt!, verteidigte sie sich. Ich habe nach dem Hausgeist gesucht.

„Aber doch nicht, wenn ich nicht bei ihm bin!“ Die Spitzen meiner Finger kribbelten und ich spürte wie meine Krallen ausfuhren. „Du selber hast gesagt, dass immer einer bei ihm sein muss!“

Sie legte die Ohren an und fauchte unwillig.

„Ähm …“ Amber musterte mich kritisch. „Mit wem sprichst du?“

Ich beachtete ihre Frage gar nicht. Im Moment war es mir egal, was sie dachte, ich machte mir einfach nur Sorgen um Raphael. „Geh zu ihm und versuch seine Gedanken zu beruhigen.“

Das habe ich bereits versucht, aber er lässt mich nicht rein.

„Dann versuch es weiter und behalte ihn im Auge!“ Wir durften ihn nicht allein lassen.

Lalamika funkelte mich an, löste sich dann aber auf und verschwand. Sie konnte sich nicht teleportieren, doch in ihrer formlosen Gestalt war sie sehr schnell und konnte weite Strecken im innerhalb kürzester Zeit hinter sich lassen. Sie würde nicht lange brauchen, bis sie wieder bei ihm war.

Amber lenkte den Wagen in eine andere Straße und beschleunigte dann so stark, dass ich in meinen Sitz gepresst wurde. Dabei warf sie mir aus dem Augenwinkel immer wieder kurze Blicke zu. „Sagst du mir, was hier los ist?“ Als ich nicht antwortete, wurden ihre Lippen ein wenig schmaler. „Du verschweigst mir doch etwas. Warum rast mein Bruder wie ein Wahnsinniger zum Hof der Lykaner, wenn er erfährt, dass die Königin schwanger ist?“

Weil ihn diese Nachricht so sehr geschmerzt hatte, dass er wieder in den See der Finsternis abgetaucht war und nun einen Weg suchte, um diesen Leid zu entkommen. Ich sprach es nicht aus. Stattdessen konzentrierte ich meinen Blick auf die Straße, in der Hoffnung irgendwo vor uns Raphael auf seinem Motorrad zu entdecken.

„Ara?“

Unwillig schüttelte ich den Kopf. „Bitte frag mich nicht.“ Im Moment war nur wichtig, dass wir Ys-oog fanden, bevor er etwas sehr dummes tun konnte.

Dass ich ihr keine Antwort gab, verärgerte sie nicht, sie wirkte eher unzufrieden und auch wenn sie nichts weiter dazu sagte, hatte ich das Gefühl, dass das Thema damit noch lange nicht für sie beendet war. Jetzt jedoch trat sie einfach noch ein wenig mehr aufs Gas und raste mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Straßen.

Das Schlimmste in dieser Situation war die Ungewissheit. Holten wir auf, oder waren unsere Bemühungen zwecklos? Ich hätte schneller sein und besser aufpassen müssen.

Als Amber mir auf einmal eine Hand aufs Bein legte, war ich so angespannt, dass ich vor Schreck zusammen zuckte. „Mach dir keine Sorgen, wir finden ihn schon.“

Daran zweifelte ich nicht. Die Frage war nur, ob wir ihn rechtzeitig finden würden.

Während der Wagen über die Straßen jagte, wurde ich immer unruhiger. Ich sah Häuser und Bäume und ja, auch viele andere Fahrzeuge. Als wir auf die Autobahn fuhren und verdreifachte sich ihre Zahl sogar, aber Raphael konnte ich nicht entdecken. Einmal glaubte ich ihn zu sehen, doch dieses Motorrad war schwarz und nicht rot, so wie seines.

Wie ein langer Wurm schlängelte sich die Autobahn durch die Landschaft. Amber war so schnell, dass wir praktisch pausenlos andere Wagen überholten. Doch mit der Zeit wurden die Autos um uns herum immer mehr und Amber war gezwungen das Tempo zu drosseln.

„Wir dürfen nicht langsamer werden“, murmelte ich und trommelte nervös mit den Fingern auf mein Bein.

„Es geht aber nicht anders.“ Auch sie wirkte leicht angespannt. Zwar wusste sie nicht, was hier los war, aber meine Unruhe hinterließ auch auf ihr ihre Spuren.

Ich versuchte zwischen den Autos Raphaels Motorrad auszumachen, doch er musste noch immer einen Vorsprung haben.

„Mist“, murmelte Amber mit einem Mal und musste das Tempo abrupt drosseln, um ihrem Vordermann nicht in die Stoßstange zu fahren. Der Zug um ihren Mund war verkniffen.

Ich schaute nervös durch die Fenster. „Was ist hier los?“ Die Wagen um uns herum fuhren zwar noch, aber sie waren so langsam, dass ich wohl zu Fuß schneller gewesen wäre. Und sie standen so dicht beieinander, dass wir auch nicht an ihnen vorbei kamen.

„Stau“, verkündete Amber und griff nach dem Autoradio.

„Aber wir müssen uns doch beeilen.“

„Bleib ruhig. Der Stau scheint ziemlich lang zu sein.“ Sie schaltete die Sender durch, bis sie einen Nachrichtensprecher fand. „Raphael kann nicht fliegen, also wird er irgendwo vor uns feststecken.“

Ich reckte den Hals. Die Schlange der Autos war wirklich lang. Von hier aus konnte ich den Anfang nicht erkennen. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? „Können wir ihn noch einholen?“

Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Es wird schon alles gut gehen.“

Ja, mir fiel sehr wohl auf, dass sie mir nur ausweichend antwortete und das gefiel mir gar nicht. Unruhig zappelte ich auf meinem Sitz herum. Doch dann bemerkte ich eine neblige Wolke, die rasendschnell über die Dächer der Autos auf uns zuschwebte. Wenige Sekunden später materialisierte Lalamika sich auf der Motorhaube. Ihre Konturen waren verwischt und wallten unstet.

Schnell, der Abstand zwischen euch wird wieder größer.

Was? „Aber Amber sagt, er steckt im Stau fest.“

Amber wandte mir irritiert das Gesicht zu und runzelte die Stirn.

Der Stau verlangsamt ihn nur, er schlängelt sich zwischen den Autos hindurch. Du musst sofort zu ihm, sonst ist er weg.

Oh nein. „Aber wie soll ich …“

Laufen!

Laufen, natürlich.

Hastig löste ich meinen Sicherheitsgurt und kletterte dann auf den Rücksitz. Ich konnte nicht einfach aussteigen, denn auch wenn wir langsam waren, wir fuhren noch immer.

Durch den Rückspiegel behielt Amber mich im Auge. „Was wird das?“, fragte sie, als ich damit begann, mir mein Hemdchen auszuziehen und gleichzeitig das Fenster in der Autotür öffnete.

„Ich muss zu ihm“, sagte ich nur, öffnete dann auch noch meine Hose und leitete meine Verwandlung ein. Auf vier Beinen war ich schneller als auf zwei. Ich spürte wie meine Knochen und Gelenke sich veränderten. Dunkles Fell spross durch meine Haut. Ich spürte, wie meine Muskeln und meine Haut sich dehnten.

Als Amber klar wurde, was ich vorhatte, riss sie ihre Augen auf. „Halt, warte! Du kannst doch nicht …“

Ich wartete nicht darauf, dass sie den Satz beendete. Halb verwandelt kletterte ich durch das offene Fenster und sprang einfach.

„Ara!“

Der Aufprall war hart. Ich krachte erst auf den Asphalt und wurde durch den Schwung dann noch gegen die Leitplanke geschleudert. Mein Kopf stieß irgendwo gegen und einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen.

„Ara, steig sofort wieder ein!“

Ich schüttelte den Kopf. Nicht wegen dem was Amber gesagt hatte, sondern um meinen Blick wieder scharf zu bekommen. Dann rappelte ich mich auf die Beine, schüttelte die Hose ab, die noch an meinem Fuß hing und zerfetzte mit den Zähnen meine Unterwäsche, damit sie mich nicht behindern konnte. Dann rannte los. Jede Spur der Frau in mir war verschwunden ich war nun wieder ganz Panther.

Amber rief mir noch hinterher, doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.

Lalamika flog als Dunstschwade direkt neben mir her. Du musst dich beeilen.

Das brauchte sie nicht extra betonen, das wusste ich bereits. Sie sollte mir besser zeigen, wo genau ich hin musste.

Folge mir. Sie wurde ein wenig schneller und jagte zwischen der Leitplanke und den Autos voraus.

Ich gab alles was ich hatte, um an ihr dran zu bleiben. Mein Pfoten trommelten im Gleichklang mit meinem Herzen auf den Asphalt. Auto um Auto ließ ich hinter mir. Der Dreck und die Abgase stachen mir unangenehm in der Nase.

Lalamika war im hellen Licht der Sonne kaum zu erkennen. Sie blitze immer wieder auf, wenn sie an einem dunkleren Wagen vorbei sauste.

Als es plötzlich neben mir hupte, geriet ich nicht nur aus dem Schritt, vor Schreck versuchte ich auszuweichen und knallte mit der Schulter gegen die Leitplanke. Aus dem Wagen neben mir starte mich mit großen Augen eine Frau an.

Ich fauchte sie an, woraufhin sie sofort das Fenster hochkurbelte und hastig nach ihrem Handy griff.

Ohne weiter auf sie zu achten, machte ich einen Satz über die eine Leitplanke hinweg und rannte zwischen den beiden Fahrbahnen weiter. Leider begann ich schon nach kurzer Zeit schwer zu atmen. Ob es nun an der fehlenden Kondition, wegen meiner langen Gefangenschaft lag, oder daran, dass Leoparden einfach nicht dazu geschaffen waren, lange Strecken in hoher Geschwindigkeit zurückzulegen, ich spürte wie meine Lunge zu kämpfen begann. Aber ich durfte nicht aufgeben. Ich konnte das schaffen. Nein, ich musste das schaffen.

Es ist nicht mehr weit, ermutigte Lalamika mich. Halt durch.

Nicht mehr weit, ich würde es schaffen. Meine Muskeln arbeiteten auf Hochtouren. Jedes Strecken ließ sie geschmeidiger werden. Ich jagte so schnell dahin, dass das Gras und die Erde zwischen den Leitplanken bei jedem Satz aufspritzte.

Ich überholte einen weißen Wagen, dann noch einen Lastwagen, der so laut war, dass mir die Ohren davon schmerzten.

Da!, rief Lalamika plötzlich. Neben dem schwarzen Wagen, da ist er!

Ich schaute nach rechts und entdeckte endlich das rote Motorrad. Es war ein Stück vor mir, mitten auf der Fahrbahn. Wie sollte ich da nur an ihn herankommen, ohne überfahren zu werden? Rufen würde nichts bringen. Über den Lärm würde er mich niemals hören.

Lass ihn nicht aus den Augen.

Das hatte ich nicht vor. Aber ich würde nicht ewig mit ihm mithalten können. Wenn ich nur irgendwie an ihn herankäme.

Die Gelegenheit kam zum Glück schneller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Raphael lenkte seine Maschine zwischen zwei Wagen hindurch und zog dann auf die linke Fahrbahn. So gewann er zwar wieder einen kleinen Vorsprung, aber wenigstens wurde er so für mich greifbar.

Ich gab noch einmal alles, was ich hatte und wurde schneller. Ein Auto flog an mir vorbei und noch eines, dann war ich mit ihm auf gleicher Höhe. „Ys-oog!“, schrie ich schwer atmend. Er reagierte nicht. Entweder er hörte mich nicht, oder er wollte mich nicht hören. Na gut, dann eben anders.

Ich rannte noch ein paar Meter neben ihm her, nahm Maß und machte dann einen Satz über die Leitplanke hinweg, direkt neben ihm. Dabei kam ich dem Motorrad gefährlich nahe und musste zur Seite ausweichen, um nicht unter die Räder zu kommen. Aber wenigstens hatte er mich dieses Mal bemerkt. Sein Kopf fuhr zu mir herum, doch durch den Helm konnte ich sein Gesicht nicht sehen.

„Halt an!“, verlangte ich.

Er richtete seinen Blick wieder nach vorne, schaute dann wieder zu mir und dann wieder nach vorne. Die Schultern unter seinem Hemd spannten sich an und der Griff am Lenker wurde fester.

Er will nicht anhalten.

Ja, das hatte ich auch schon bemerkt. Aber ich würde nicht zulassen, dass er diesen Weg weiter beschritt. Wenn er nicht freiwillig stehen blieb, würde ich ihn halt dazu zwingen. Und ich wusste auch schon wie.

Nein, Tarajika, das ist zu gefährlich!

Ich musste es trotzdem tun. Also begann ich schneller zu laufen und überholte ihn. Ich überholte auch den Wagen vor ihm. Der Fahrer hatte sein Fenster offen. Gut. Aber leider bemerkte er mich nicht. Also fauchte ich laut, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Ich hoffte, dass er bei meinem Anblick langsamer wurde und dadurch auch Raphael ausbremsen würde. Dann konnte ich ihn einfach vom Motorrad reißen. Doch der Fahrer erschrak bei meinem Anblick so sehr, dass er das Lenkrad verriss.

Plötzlich quietschen Reifen. Das Heck des Wagens scherte aus und ich musste hastig zur Seite springen, um nicht erwischt zu werden. Dabei knallte ich ein weiteres Mal mit der Schulter gegen die Leitplanke.

Raphael riss hektisch sein Motorrad herum, um nicht mit dem Wagen zu kollidieren. Autos bremsten, quietschende Reifen. Der Geruch nach verbranntem Gummi erfüllte die Luft. Weiter hinten schaffte es einer nicht mehr rechtzeitig abzubremsen und fuhr gegen die Stoßstange seines Vordermanns.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich sah, wie nahe das Heck des Wagens vor mir zum Stehen gekommen war. Nur ein paar Zentimeter mehr und er hätte mich in die Leitplanke gedrückt.

Verwandle dich, bevor zu viele Menschen dich so sehen.

Verwandeln? Jetzt?

Nun mach schon!

Ich wollte nicht. Dann wäre ich wieder nackt und mochte Raphael ja nicht. Aber Menschen taten komische Dinge, wenn sie Angst hatten und Lalamika würde das nicht verlangen, wenn es nicht wichtig wäre. Also duckte ich mich hinter dem Wagen, ignorierte meine schmerzende Schulter und ließ die Frau in mir wieder zutage treten.

„Verdammte Scheiße, willst du dich umbringen?!“, fauchte Raphael über den Lärm der Autos hinweg. Er saß noch halb auf seiner Maschine. Um nicht erwischt zu werden, hatte er sich quer gestellt. Dann bemerkte er wohl, was ich hier tat. „Was machst du da?!“

Der Fahrer, der seinen Schreck wohl überwunden hatte, stieß in diesem Moment die Wagentür auf und steig aus dem Wagen. Und das erste was er sah, war eine nackte Frau, die nach seinem Kofferraum griff, um sich daran auf die Beine zu ziehen.

„Gnocchi!“, fauchte Raphael und legte sein Motorrad auf die Seite. Er griff eilig nach der Knopfleiste seines Hemdes, öffnete die es und riss es sich von der Schultern.

Noch bevor ich wieder aufrecht stand, begann er damit es mir anzuziehen. Er war dabei nicht allzu sanft und auch, wenn mir von der Rennerei alles wehtat, ich ließ ihn gewähren. Ich war nur froh, dass ich ihn eingeholt hatte.

„Du bist doch nicht mehr ganz dicht!“, schimpfte er, schloss die letzten Knöpfe und riss sich dann den Helm vom Kopf. „Du hättest sterben können, ist dir das eigentlich klar?!“ Seine Augen funkelten vor Wut, aber ich erkannte in ihnen auch Sorge. Ich hatte ihn erschreckt.

Anstatt etwas zu erwidern, trat ich einfach einen Schritt nach vorne, schlang meine Arme um seinen Nacken und drückte ihn an mich. Ich musste dazu auf meine Zehenspitzen gehen, da er einen ganzen Kopf größer war als ich. Das Hemd rutschte mir dabei fast über den Hintern. Es war nicht besonders lang.

Im ersten Moment spannte Raphael sich an. Doch dann atmete er einfach aus und legte auch einen Arm um mich. „Tu sowas Dummes nie wieder.“

„Aber du wolltest nicht anhalten“, sagte ich leise.

Bevor er noch etwas dazu sagen konnte, wurden um uns herum Stimmen laut. Raphael löste sich ein wenig von mir, und drehte sich zu eine Gruppe von jungen Leuten um. Einer von ihnen hielt eine Videokamera in der Hand und rief immer wieder aufgeregt, dass das der reine Wahnsinn war. Sie war direkt auf uns beide gerichtet.

Oh oh.

„Verdammt“, murmelte Raphael und ließ mich los. Er ging direkt auf die aufgeregte Gruppe zu, in der immer wieder die Worte „schwarzer Panther“ fielen. Als Raphael vor dem Kameramann zum Stehen kam, streckte er die Hand aus. „Gib mir die Speicherkarte.“

Der Typ guckte ihn an, blinzelte dann einmal und zeigte ihm einen Vogel. „Bist du bescheuert? Mit dem Video werde ich reich.“

Raphael bewegte sich so schnell, dass man es kaum sehen konnte. Blitzschnell packte er den Kerl am Kragen und zog ihn zu sich heran.

Die Frau die bei ihnen war, trat erschrocken einen Schritt zurück. Seine beiden Freunde jedoch, wollten ihm zur Hilfe eilen.

Ich dachte gar nicht darüber nach, als ich nach vorne sprang und einen von ihnen wegstieß. „Bleib weg von ihm“, knurrte ich.

Er schluckte.

„Scheiße, lass mich los!“, verlangte der Kameramann, Raphael zog ihn jedoch nur noch dichter an sich heran und schaute ihm direkt in die Augen.

„Gib mir die Speicherkarte aus deiner Kamera“, sagte er mit sehr sanfter Stimme.

„Lass deine Flossen von ihm!“, befahl der dritte Kerl, doch Raphael versetzte ihm einfach einen kräftigen Stoß, der ihn auf seinem Hintern beförderte.

Der Kameramann bekam einen leicht glasigen Blick. „In Ordnung“, sagte er und sobald Raphael ihn freigab, begann er an seiner Kamera herumzufummeln.

Die Frau bekam große Augen. „Was machst du da?“

Ohne ihr zu Antworten, zog er ein kleines, blaues Plättchen aus seiner Kamera und übergab es Raphael. Der warf nur einen kurzen Blick darauf, ließ es dann auf den Boden fallen und zertrat es unter seinem Schuh. Dann drehte er sich einfach herum, schnappte sich meine Hand und zog mich zu seinem Motorrad. Die Leute um uns herum beachtete er gar nicht.

„Fahren wir nach Hause?“, fragte ich vorsichtig, als er seine Maschine aufrichtete.

Dafür bekam ich einen bitterbösen Blick. „Wie bist du eigentlich hier her gekommen?“

„Mit Amber.“ Ich zeigte die Straße hinunter. Hinter uns war alles zum Stehen gekommen. Irgendwo in der Ferne hörte ich Sirenen heulen. Sie kamen schnell näher. „Sie steht weiter hinten im Stau. Ich bin ausgestiegen, um dich einzuholen.“

„Aber warum zum Teufel hast du das gemacht? Ist dir nicht klar, wie gefährlich das ist?“

Nicht so gefährlich wie das, was er hätte auslösen können. „Tristans Worte haben dir wehgetan“, sagte ich leise. „Du solltest nicht allein sein.“

Seine Lippen wurden einen Spur schmaler, bevor er sein Gesicht abwandte und sein Handy herausholte. Er tippte schnell eine Nachricht ein, steckte es dann wieder weg und setzte sich den Helm auf. „Steig auf“, verlangte er und schwang sich selber in den Sattel seines Motorrads. „Pass auf, dass du nicht ans Rohr kommst, das ist heiß.“

Ich nickte und kletterte dann hinter ihm auf die Maschine. Es war das erste Mal, dass ich auf einem Motorrad saß.

„Halt dich fest und lass dein Gesicht hinter meinem Rücken. Dann bekommst du nicht so viel Fahrtwind ab.“ Er schob das Visier seines Helms herunter, wartete bis ich meine Arme fest um seine Mitte geschlungen hatte und startete dann den Motor.

Irgendjemand rief, dass wir nicht einfach verschwinden durften, doch keiner von uns achtete darauf. Die Sirenen waren mittlerweile sehr nahe und wenn ich den Hals reckte, konnte ich die blauen und roten Lichter sehen.

Raphael fuhr vorsichtig an und lenkte sein Fahrzeug um den vorderen Wagen herum. Vor uns waren nicht mehr viele Autos. Ein paar waren stehengeblieben, um zu sehen, was geschehen war, die meisten aber waren weiter gefahren und so war die Straße mehr oder weniger frei, sodass Raphael sich zügig von der Unfallstelle entfernen konnte.

Ich spürte, wie angespannte er noch immer war und auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass es ihm nicht gut ging. Zwar wusste ich nicht genau, was Tristans Mitteilung bei ihm ausgelöst hatte, aber mir war klar, dass er ihn damit verletzt hatte. Egal wie gut es ihm die letzten Tage gegangen war, das Cayenne wieder schwanger war, hatte ihn zutiefst getroffen. Ich würde ihn nicht mehr aus den Augen lassen.

Wir fuhren nicht sehr weit. Schon nach ein paar Minuten lenkte Raphael das Motorrad auf die rechte Spur und fuhr kurz darauf auf einem einsamen Rastplatz, auf dem es nicht mehr als ein paar Bänke und eine kleine Toilette gab.

Als er den Motor abschaltete, blieb er einfach sitzen. Er nahm nicht mal den Helm ab. Es war, als fehlte ihm die Kraft dazu.

„Ys-oog?“ Ich lehnte mich vorsichtig zur Seite, traute mich aber nicht abzusteigen, aus Angst, dass er einfach wieder wegfahren würde. Lalamika kam noch immer nicht in seine Gedanken herein. Es war, als hätte er sich fest verschlossen, um an seinem Schmerz nicht zu zerbrechen.

„Mach das nie wieder.“ Durch den Helm klang seine Stimme gedämpft. „Das war wirklich dumm.“

„Dann lauf nicht wieder weg.“

Er schob das Visier hoch und drehte sich zu mir herum. „Es geht dich nichts an, was ich tue oder lasse. Ich bin erwachsen und brauche niemanden, der auf mich aufpasst. Schon gar nicht dich!“

Das zu hören, tat weh. Ich verstand ja, dass er verletzt war, aber ich hatte es doch nur gut gemeint.

„Verdammt!“ Er klappte den Ständer aus und stieg dann von der Maschine. Dabei riss er mich auch noch fast runter. „Warum bist du nicht einfach Zuhause geblieben?!“

„Das habe ich dir schon gesagt. Ich bleibe bei dir.“

„Du bist nicht für mich verantwortlich!“, fauchte er mich an, riss sich dann den Helm vom Kopf und feuerte ihn von sich. Er lief ein paar Mal auf und ab, blieb dann stehen und stemmte die Arme in die Hüften.

Als er nichts weiter tat, stieg ich nun doch ab, achtete aber darauf, dass ich zwischen ihm und dem Motorrad blieb. Ich würde es kein zweites Mal zulassen, dass er einfach verschwand. „Ich bin dein Freund“, sagte ich leise und trat an ihn heran. „Freunde passen aufeinander auf.“

Seine Lippen wurden zu einer dünnen Linie.

Ich stand da und versuchte Worte zu finden, mit denen ich ihn aus seinem Kokon wieder herauslocken konnte, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Jedes Wort schien falsch zu sein und ihn noch mehr in die Defensive zu drängen. Also trat ich zu ihm und legte ihm zögernd die Hand auf dem Arm, einfach um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war.

Ein leises Seufzen kroch ihm über die Lippen. „Ich wollte dich nicht anschreien.“

„Ist schon gut, ich bin dir nicht böse.“

„Das solltest du aber.“ Er ließ die Arme fallen. „Was du gemacht hast, war lebensgefährlich. Und einen Moment habe ich wirklich gedacht … Gott, der Wagen hätte dich fast gegen die Leitplanke gedrückt.“

Und da wurde mit klar, dass er nur sauer war, weil er sich Sorgen um mich machte und nicht, weil ich ihm hinterhergelaufen und aufgehalten hatte. Aus einem Impuls heraus, schlang ich die Arme um seine Mitte und drückte ihn ganz fest an mich. „Mir geht es gut.“ Naja, abgesehen von meiner linken Schulter, die schmerzte ganz schön.

Auch er legte die Arme um mich. „Dein Schutzengel hat nach diesem Schrecken jetzt erstmal einen langen Urlaub nötig.“

„Ich habe Schutzengel?“

Er schnaubte. „Du hast sogar ein ganzes Heer von Schutzengeln.“

„Wirklich?“ Schutzengel gab es doch gar nicht.

Kopfschüttelnd ließ er mich los und trat einen schritt zurück. „Komm, lass uns hinsetzen.“

Zwar verstand ich nicht, warum wir nicht einfach nach Hause fuhren, aber ich folgte ihm dennoch zu der schäbigen Bank am Rand der Wiese. Vielleicht war er ja einfach noch nicht so weit, wieder umzukehren. Darum setzte ich mich neben ihn und wartete einfach. Ich war nur froh, dass ihm nichts passiert war.

Raphael hatte die Arme auf die Beine gelegt und beobachtete die wenigen Autos, die an uns vorbei fuhren. „Ich weiß, dass Vieles für dich neu ist und auch wenn du eigentlich nur helfen willst, du darfst nicht so kopflos losstürmen. Denk in Zukunft vorher nach, bevor du etwas tust.“

„Du hast auch nicht nachgedacht“, warf ich ihm vor.

Er wandte mir das Gesicht zu. „Ich habe weder mich selber noch andere in Gefahr gebracht. Noch dazu hast du dich mitten auf der Straße verwandelt und wurdest dabei sogar gefilmt. Und ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen einen Panther über die Autobahn haben rennen sehen.“ Er nahm mich sehr genau ins Auge. „Wahrscheinlich sind im Moment Polizisten, Tierschützer und was-weiß-ich noch für Leute auf der Suche nach einer freilaufenden Raubkatze. Dann kommen auch noch die Leute dazu, die gesehen haben, wie du dich wieder in einen Menschen verwandelt hast. Das ist gefährlich. Nicht nur für dich, auch für jeden anderen aus der verborgenen Welt. Sowas darfst du nicht tun. Was glaubst du wäre passiert, wenn sie dich erwischt hätten?“

Wenn ich ehrlich war, hatte ich daran keinen Gedanken verschwendet, mir war nur wichtig gewesen, ihn zu erreichen, bevor er beim Hof ankam. Darum zuckte ich nur mit den Schultern.

„Im besten Falle hätten sie dich einfach erschossen“, sagte er gnadenlos. „Im schlimmsten wärst du wieder in einem Käfig gelandet.“ Er drehte sich ein wenig zu mir um. „Du musst immer daran denken: Was der Mensch nicht versteht, das versucht er zu ergründen – wenn man Glück hat. Doch meistens fürchtet er sich vor dem Unbekannten. Ein verängstigter Mensch ist zu unglaublichen Grausamkeiten imstande und einen Ailuranthropen kann er nicht verstehen, denn genau wie bei Lykanern, gibt es für euch keine wissenschaftliche Erklärung.“

Ich senkte die Augenlider. „Aber ich konnte nicht zulassen, dass du verschwindest. Nicht nachdem, was Tristan zu dir gesagt hat.“

Seine Lippen wurden wieder etwas schmaler. „Es hat nichts zu bedeuten.“

Das versuchte er sich einzureden, aber wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Die Nachricht von Cayennes Schwangerschaft hatte ihn schwer getroffen. „Du kannst mit mir reden, weißt du?“ Ich wagte einen vorsichtigen Blick zu ihm. „Auch wenn ich Vieles noch nicht verstehe, ich bin nicht dumm und wenn du reden möchtest, dann höre ich zu.“

„Es geht hier nicht um mich, Gnocchi, sondern um das was du getan hast.“

„Aber das habe ich doch nur gemacht, weil …“ Das laute Knurren meines Magens, unterbrach mich. Wir schauten beide auf meinen Bauch. Naja, ich schaute auf meinen Bauch. Raphael seufzte und drückte dann meine Beine zusammen.

„Wo sind deine Klamotten?“

Ich zeigte die Straße hinunter. „Ich habe mich beim Laufen verwandelt.“

Das war wohl nicht das, was er hatte hören wollen. Er sagte nur „Na toll“ und rieb sich dann mit der Hand übers Gesicht. „In Ordnung. Du wirst dich nicht mehr in aller Öffentlichkeit, oder vor Menschen verwandeln. Und auch nicht als Panther durch die Gegend laufen. Hast du das verstanden?“

Ich nickte.

„Gut, dann …“

Wieder knurrte mein Magen. „Ich hab seit dem Frühstück nichts mehr gegessen“, erklärte ich.

Nein, er fand das nicht lustig. „Amber müsste bald hier sein, dann bekommst du was zu Essen.“

„Wirklich?“ Ich reckte den Kopf. „Aber woher weiß sie, wo wir sind?“

„Ich habe ihr eine Nachricht geschickt.“ Er lehnte sich auf der Bank zurück. „Sobald der Stau sich ein wenig gelöst hat, müsste sie hier auftauchen.“

Doch bis es soweit war, verging noch reichlich Zeit. Ich musste weiter gelaufen sein, als mir klar gewesen war. Viele Autos fuhren an dem Rastplatz vorbei. Bis Amber jedoch auftauchte, vergingen noch fast zwei Stunden. Als ihr blauer Wagen dann auf den Rastplatz fuhr, hatte das Knurren meines Magens schon längst wieder aufgehört.

Ich balancierte gerade auf der Rückenlehne der Bank und schaute dabei zu, wie sie direkt vor uns anhielt und den Motor abstellte. Keine Sekunde später stieß sie die Wagentür auf, sprang heraus und kam direkt auf uns beide zu. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war eine Mischung aus Verärgerung und Sorge. Sie zeigte mit dem ausgestreckten Finger erst auf ihren Bruder, dann zu mir und dann knurrte sie.

Ähm … okay. Ich ging in die Hocke und stützte mich dabei auf Raphaels Schulter ab, damit ich nicht von der Lehne kippte. „Geht es ihr gut?“, fragte ich leise. Sie sah nämlich nicht so aus.

„Das frage ich mich schon seit dem Tag, an dem sie ihrer Gruft entstiegen ist“, murmelte er.

Dafür gab es von Amber einen bösen Blick.

„Verstehe ich nicht.“ Eine Gruft war doch ein Grabmal. Was sollte Amber in einem Grabmal?

„Er spielt damit auf meine Klamotten an.“

Nein, ich verstand es trotzdem nicht. „Das heißt es geht dir gut?“

„Mir geht es sogar super, aber ihr beide!“ Wieder zeigte sie mit dem Finger auf uns. „Erst haut er eine Hals über Kopf ab und dann springt die andere aus einem fahrenden Auto!“

Langsam drehte Raphael mir das Gesicht zu. „Du bist aus einem fahrenden Wagen gesprungen?“

Ich antwortete mit einem Schulterzucken. Was hätte ich auch dazu sagen sollen?

Seufzend erhob Raphael sich von der Bank. Dabei griff er nach meiner Hand, damit ich nicht rückwärts runter kippte. „Komm runter da.“

„Okay.“ Ich nahm Maß und sprang dann genau neben ihn. Dann grinste ich ihn an. „Fahren wir jetzt nach Hause?“

„Du fährst bei Amber mit. Und dieses Mal springst du nicht aus dem Fenster.“ Er ließ mich los und wollte mich zu seiner Schwester schieben, doch ich wich vor der Berührung zurück.

„Ich fahre mit dir.“

„Nein, tust du nicht. Du steigst … hey!“

Noch während er redete, drehte ich mich herum und kletterte auf sein Motorrad. Ich würde ihn nicht noch mal davonfahren lassen.

„Komm da sofort runter. Ich habe gesagt, dass du bei Amber mitfährst.“

„Ich höre aber nicht auf dich.“

Das war mal ein finsteres Gesicht. Er setzte sich in Bewegung und wollte mich von meiner Maschine heben, doch bevor er mich auch nur berühren konnte, fuhr ich die Krallen aus und hielt sie drohend über den Sattel.

Er blieb sofort stehen. Wahrscheinlich erinnerte er sich daran, was ich mit dem Polster in dem Leihwagen angestellt hatte. „Du kannst so nicht mit mir fahren.“

„Und du wirst nicht ohne mich fahren.“ Das konnte ich einfach nicht erlauben. Er würde nämlich nicht nach Hause gehen, er würde seinen Weg ins Schloss fortsetzen.

Raphael schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein. „Gnocchi, du hast nicht mal eine Hose an und das Hemd bedeckt nicht besonders viel. Wenn ich dich so mitnehme, ist das Erregung öffentlichen Ärgernisses.“

„Dann fahr du auch bei Amber mit.“

„Und mein Motorrad einfach hier stehen lassen?“ Er hob seinen Finger an die Stirn und zeigte mir einen Vogel. „Dir geht es wohl zu gut.“

„Okay, stopp“, sagte Amber, bevor ich noch mal den Mund öffnen konnte. „Bevor ihr euch hier gleich an die Gurgel springt, ich habe eine Lösung für euer Problem. Moment.“ Sie öffnete die Tür vom Beifahrersitz, holte eine ziemlich große Handtasche heraus und stellte sie auf die Bank. Dann begann sie darin zu kramen. Dabei kam eine Haarbürste ans Licht und ein Lippenstift und ein Notizbuch.

Ich wunderte mich schon, was sie noch alles darin hatte, als sie einen durchsichtigen Spitzentanger herauszog. „Hier“, sagte sie triumphierend. „Zieh den an.“

Raphael musterte das kleine Dreieck mit den dünnen Fäden kritisch. „Warum zum Teufel trägst du sowas mit dir in deiner Tasche herum?“

„Eine Frau muss für alle Eventualitäten vorbereitet sein.“

„Und was ist das für eine Eventualität, bei der du einen durchsichtigen Spitzentanga brauchst? Nein, warte, sag es mir nicht.“ Seine Hände gingen abwehrend in die Luft. „Hast du keinen mit mehr … Stoff?“

„Doch, so einen müsste ich auch da drin haben. Moment.“ Als Amber wieder damit begann in ihrer Tasche herumzusuchen, sprang ich vom Motorrad und gesellte mich an ihre Seite. Ich war neugierig, was sie da sonst noch so drinnen hatte.

Sonnenbrille, Parfum, Kassenzettel, Lippenstift, Kopfhörer.

Etwas längliches erregte meine Aufmerksamkeit. Als Amber zwei Packungen mit Taschentüchern und einen Beutel mit Bonbons zur Seite legte, griff ich hinein und zog es heraus.

Es war länglich, lila und hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Banane. Aber auf seinen Zweck konnte ich mir keinen Reim machen. „Was ist das?“

Raphael, der gerade über seine Schulter zur Straße geschaut hatte, drehte sich zu mir um. Seine Augen wurden eine Spur größer, bevor sich wieder hastig abwandte. „Oh Gott, Amber!“

Auch sie schaute auf und machte ein äußerst genervtes Gesicht.

„Meine Fresse, jetzt krieg dich mal ein. Keiner hat verlangt, dass du deine Nase in meine Tasche steckst.“ Sie nahm mir die bunte Banane ab und hielt sie so, dass ich sie sehen konnte. „Das ist ein ein Dildo.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn wieder in ihrer Handtasche verschwinden und drückte mir einen Baumwollslip in die Hand. „Hier, zieh den an. Wir wollen ja nicht das Feingefühl von Mister Empfindlich verletzen.“

Ich stand einfach da und schaute ihr nachdenklich dabei zu, wie sie ihre Sachen wieder in ihre Tasche räumte. „Was ist ein Dildo?“

Ihre Augen funkelten mich vergnügt an. Aber anstatt mir zu antworten, grinste sie nur, nahm ihre Tasche und kehrte mir den Rücken. „Wir sehen uns Zuhause“, sagte sie noch, dann stieg sie auch schon wieder in ihren Wagen ein.

Verdutzt schaute ich ihr hinterher und wandte mich dann etwas ratlos an Raphael, der gerade seinen Helm vom Boden aufsammelte. „Sagst du mir was ein Dildo ist?“

Überrumpelt blieb er stehen, blinzelte einmal und setzte sich dann hastig seinen Helm auf. „Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil man sowas nicht auf einem Rastplatz bespricht.“ Mit diesen Worten setzte er sich auf sein Motorrad und schaute mich dann abwartend an. „Wird das heute noch was, oder möchtest du hier bleiben?“

Das wollte ich natürlich nicht. Darum beeilte ich mich den Slip anzuziehen und kletterte dann wieder hinter Raphael auf die Maschine. Erst als ich ganz dicht an ihn herangerutscht war und meine Arme fest um seine Mitte geschlungen hatte, starrte er den Motor.

 

°°°°°

Schicksalsrad

 

Meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich schaffte es kaum noch sie offen zu halten. Aber ich durfte nicht einschlafen, ich musste …

Geh doch ins Bett.

Erschrocken riss ich meine Augen wieder auf. Man, jetzt wäre ich doch fast eingeschlafen. Ich richtete mich gerade auf, schlug mir ein paar Mal auf die Wangen und schüttelte den Kopf.

Das ist doch albern, Ara, leg dich schlafen.

„Das kann ich nicht. Ich muss aufpassen.“ Sonst würde er wieder verschwinden, da war ich mir sicher.

Lalamika seufzte. Ich werde ein Auge auf ihn haben.

Das reichte nicht. Es war heute einfach zu knapp gewesen. Ohne diesen Stau … ich war mir nicht sicher, ob wir ihn noch eingeholt hätten. Das konnte ich nicht noch mal zulassen.

Wenn ich wenigstens bei ihm schlafen könnte, dann wäre es etwas anderes. Ich würde es merken, wenn er aufwachte. Leider war das heute nicht möglich. Direkt nachdem wir nach Hause gekommen waren, hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen und war seit dem nicht mehr herausgekommen.

Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Lalamika war ein paar mal durch die Wand zu ihm hineingehuscht, um sich zu versichern, dass alles in Ordnung war. Anfangs hatte er nur auf seiner Bettkante gesessen und blicklos ins Leere gestarrt. Jetzt schlief er.

Und das solltest du auch.

Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich einschlief, dann würde er wieder verschwinden. Ich war mir sicher. Darum musste ich wach bleiben.

Seufzend neigte Lalamika den Kopf zu Seite. Sie überlegte, wie sie mich dazu bewegen konnte, meinen Platz vor Raphaels Zimmertür aufzugeben, aber da ich mindestens genauso stur war wie sie, konnte sie sich das auch sparen. Ich würde hier nicht weggehen.

Du wirst nicht ewig wach bleiben können.

Ich konnte es versuchen.

Das ist doch albern. Du solltest … Sie verstummte und drehte den Kopf. Da ist er.

Nur mäßig interessiert, folgte ich ihrem Blick. Meine Aufmerksamkeit wuchs jedoch, als ich die durchscheinende Gestalt vor dem Badezimmer schweben sah. Das war der Mann, der sich immer auflöste, wenn ich ihn bemerkte und auch jetzt begann er wieder zu verblassen.

„Nein, warte“, rief ich und erhob mich eilig auf die Beine. Dabei bewegte ich mich zu schnell und meine Schulter begann wieder zu schmerzen. Aber dann wagte ich es nicht näher zu treten, aus Befürchtung, er würde gleich wieder verschwinden. Und tatsächlich, seine Konturen verblassten, bis ich weder sein Gesicht noch die Form seines Körpers deutlich erkennen konnte. Aber er verschwand nicht, seine Essenz schwebte abwartend in der Luft.

Würde er mit mir reden? „Wer bist du?“

Er verblasste noch ein wenig und wurde dann wieder deutlicher. Davon bekam Kopfschmerzen. Warum ist das wichtig? Er hatte eine sehr tiefe Stimme. Ich bekam davon eine Gänsehaut.

„Es ist nicht wichtig.“ Aber es würde mir vielleicht einen Hinweis darauf geben, warum er hier war.

Bedauerlicherweise antwortete er nicht. Er blieb einfach wo er war und beobachtete uns.

Dann vielleicht anders. „Was machst du hier?“

Seine Gestalt wurde wieder ein wenig deutlicher, nur um gleich wieder zu verschwimmen. Bereuen. Hoffen. Wachen.

Wachen? „Du bewachst Raphael?“

Nein. Sein Umriss verfestigte sich wieder und zum ersten Mal konnte ich ihn ein wenig genauer sehen. Er war ein wenig rundlich, dafür aber sehr groß – größer noch als Raphael. Ansonsten wirkte er sehr unauffällig. Bis auf seine Augen, irgendwas stimmte mit denen nicht. Sie waren … ungleich.

„Haben die Alten dich geschickt?“

Nein.

Seine Antworten verwirrten mich. Er war hier um zu bereuen, zu hoffen und zu wachen, aber er bewachte nicht Raphael. Wen denn dann? Marica? Aber warum spukte er dann immer hier unten herum? „Das ergibt keinen Sinn.“

Er gab keine Regung von sich. Sehr mitteilsam war er also nicht.

„Du solltest weiter zeihen. Die Welt ist groß und hier gibt es nichts für dich.“

Ich bin dort, wo ich hätte sein sollen. Nach diesen kryptischen Worten begann er wieder zu verblassen, bis seine Gestalt sich völlig aufgelöst hatte. Dann war ich wieder mit meiner Schwester alleine.

„Irgendwas an ihm ist seltsam.“

Er ist erfüllt von Trauer. Lalamika setzte sich hin und wickelte ihren Schwanz um ihre Pfoten. Sein Kummer ist eine Fessel, die ihn an dieses Haus bindet.

„Glaubst du?“

Ich konnte es fühlen. Etwas verbindet ihn mit diesem Ort.

Aber wie es aussah, waren es nicht Raphael und Marica. Andere Leute wohnten hier jedoch nicht. Langsam wurde mir der Kerl unheimlich.

Es müssen auch nicht die jetzigen Bewohner sein. Du weißt nicht wie lange dieses Haus bereits steht und auch nicht, wer hier in der Vergangenheit hier gelebt hat. Vielleicht ist es die Erinnerung an eine andere Zeit, die ihn hier festhält.

„Das heißt, wir können ihm nicht helfen?“

Das weiß ich nicht. Sie blinzelte mich einmal an. Aber er ist auch nicht wichtig, du hast im Moment eine andere Aufgabe. Du solltest dich nicht von einer verlorenen Seele ablenken lassen.

Das hatte ich auch gar nicht vor, aber wenn es in meiner Macht stand, ihn von seinen Ketten zu befreien, dann würde ich ihm helfen. Ich wusste schließlich wie es war, eingesperrt zu sein.

Ara, du kannst nicht alles und jeden mit dir vergleichen.

Das tat ich doch gar nicht.

Doch, das tust du.

Auf diese Diskussion würde ich mich nicht einlassen. Stattdessen setzte ich mich zurück auf meinen Platz an der Wand und richtete meinen Blick wieder auf Raphaels Zimmertür. Lalamika hatte Recht, ich sollte mich nicht ablenken lassen. Raphael war im Moment wichtiger als alles andere. Vielleicht konnte ich dem Mann später helfen.

Jetzt aber musste ich Wache halten. Leider wollten meine Augen meinem Willen nicht gehorchen. Egal wie oft ich sie aufriss, sie fielen immer wieder zu. Als Lalamika sich dann neben mich legte und leise anfing zu schnurren, wurde es sogar noch schlimmer.

Okay, ich würde sie für fünf Minuten schließen, keine Sekunde länger. Nur ganz kurz ausruhen, damit sie nicht mehr so brannten. Die Dunkelheit war angenehm. Sie zog mich in ihren Bann und nahm mich mit auf eine Reise an einen anderen Ort. Dort war es Winter. Auf den Straßen und Häusern lag unberührter Schnee. Der Morgen erwachte gerade und tauchte alles in ein unwirkliches Licht.

Quer auf dem Gehweg stand ein Wagen. Alle Türen waren weit aufgerissen, aber niemand war zu sehen. Schneewehen hatten sich auch in seinem Inneren breit gemacht. Alles wirkte verlassen. Da war nur die einsame Gestalt, die wachsam am Maschendrahtzaun von der geschlossenen Schule entlang schlich und sich immer wieder aufmerksam nach allen Seiten umschaute. Er war dick eingepackt. Mütze und Schal verdeckten sein Gesicht. Nur die eisblauen Augen waren frei. Auf dem Rücken hatte er einen Rucksack. Einer der Gurte fehlte und an der Seitentasche war der Reißverschluss kaputt.

Langsam sondierte er noch einmal die Umgebung. Erst als er sich absolut sicher war, dass ihn niemand sah, griff er nach dem Zaun und kletterte eilig hinüber. Doch er sprang nicht in den Schnee. Er durfte keine Spuren hinterlassen. Stattdessen ließ er sich in einen offenen Müllcontainer fallen. Das war zwar eklig, aber die Alternative war weitaus schlimmer.

Bevor er seinen Weg von dort aus fortsetzte, wartete er wieder einen Moment, um sicher zu gehen, dass da wirklich niemand war.

Zwei Minuten, drei. Nichts geschah. Aber noch konnte er nicht aufatmen. Erst wenn er an seinem Ziel war, würde er sich ein wenig entspannen können.

Er ließ noch eine Minute verstreichen, bevor er auf den Rand des Containers kletterte. Durch seinen Schal hindurch bildeten sich weiße Wölkchen vor seinem Mund. Die Wand vom Schulgebäude war nur zwei Meter entfernt. Direkt vor ihm hing eine Feuerleiter, die aufs Dach führte. Die war sein Ziel.

Die Leiter war kaputt. Der ausziehbare Teil lag darunter und war durch den Schnee kaum noch zu erkennen. Aber das war kein Problem. Ganz im Gegenteil, es kam ihm sehr gelegen. So würde er wenigstens keinen unnötigen Lärm machen.

Wie auch bei seinen letzten Ausflügen, fasste er die unterste Sprosse ins Auge. Dann holte er Schwung und sprang. Seine Hände schlossen sich um eine der Strebe. Durch die Handschuhe rutschte er fast ab, doch er biss die Zähne zusammen und griff fester zu. Er musste da hoch, sie brauchte ihn.

Langsam und mit all seiner Willenskraft, zog er sich an den Sprossen hoch. Es war anstrengend. Seine Beine traten ein paar Mal ins Leere, bevor er sich weit genug hinaufgezogen hatte, bis er mit ihnen auf der untersten Strebe standen.

Einen Moment hielt er inne, um sich ein wenig zu erholen. Die letzten Wochen hatten ihm stark zugesetzt und auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte, er war schon lange nicht mehr in guter Form. Es war halt nicht einfach an Essen heranzukommen, wenn die ganze Welt einen jagte.

Nach einem weiteren Atemzug begann er mit dem Aufstieg und schon kurz darauf kletterte er auf das Flachdach der Schule, drei Stockwerke über dem Boden. Er ging sofort in die Hocke und erst nach einem weiteren wachsamen Blick, schlich er geduckt zu der Tür in der Mitte. Sie war der Eingang zu einem Treppenaufgang, der ursprünglich mal als Fluchtweg für die Schüler gedacht war. Aber heute gab es hier keine Schüler mehr. Seit die Menschen von den Lykanern und Vampiren wussten, lebten sie in Angst und behielten ihre Kinder bei sich Zuhause. Ihm kam das im Moment zugute.

Sobald er vor der Tür hockte, zog er seine Dietriche aus der Tasche seiner dicken Winterjacke. Von innen konnte man die Tür jederzeit öffnen. Von außen jedoch brauchte man einen Schlüssel. Oder eben Einbruchswerkzeug.

Geübt schob er die Drähte in das Schloss und schon nach wenigen Sekunden zog der Schnapper sich zurück. Ohne zu zögern schlüpfte er in den Aufgang und zog die Tür wieder fest hinter sich zu. Dann wagte er es zum ersten Mal erleichtert durchzuatmen. Geschafft.

„Ys-oog?“

„Ja, ich bin es.“ Während er den kaputten Rucksack von seiner Schulter rutschen ließ, drehte er sich zu Tarajika um.

Sie lag auf einem notdürftigen Lager am oberen Ende der Treppenflucht. Raphael hatte die Wände, das Gittergeländer und den Boden so gut es ihm möglich war mir alten Kisten und Kartons isoliert. Das hielt die Kälte wenigstens ein bisschen ab.

Tarajika lag dick eingemummelt in der hinteren Ecke. Die Wintermütze hatte sie sich tief in die Stirn gezogen, den Schal jedoch von ihrem Gesicht entfernt, damit sie besser Luft bekam. Unter dem Haufen von alten Decken, zerdrückten Kissen und weggeworfenen Lumpen war sie kaum zu erkennen.

Es war nicht sehr warm und auch nicht besonders gemütlich, aber wenigstens sicher.

Seufzend setzte er sich mit dem Rucksack neben sie und unterzog sie einer eingehenden Musterung. „Wie geht es dir?“

„Besser.“ Wie um ihre Worte Lügen zu strafen, begann sie im nächsten Moment keuchend zu husten.

Raphael kniff die Lippen zusammen. Es wurde immer schlimmer. Aber er konnte sie auch nicht ins Krankenhaus bringen. Cayenne wusste dass sie bei ihm war und wenn die Königin sie zwischen die Finger bekam … er wollte sich gar nicht ausmalen, was dann geschehen würde.

In dem Versuch diese Gedanken loszuwerden, schüttelte er den Kopf und zog seinen Rucksack heran. „Hier, schau mal, ich habe dir etwas mitgebracht.“

„Du solltest nicht mehr rausgehen, das ist zu riskant.“

Er ignorierte ihren Einwand, zog seine Handschuhe aus und holte ein Antibiotikum aus der Tasche. „Ich bin ein paar Blocks weiter in ein Haus der Menschen eingebrochen“, erklärte er und drückte eine der Tabletten aus der Schutzfolie. „Ich habe auch etwas zu Essen, aber erstmal nimmst du das hier.“ Die Tablette landete in ihrer Hand. Dann holte er noch ein Trinkpäckchen mit Multivitaminsaft aus der Tasche und gab ihr auch das.

Als sie die Medizin in ihrem Mund verschwinden ließ und den Saft hinterher trank, verzog sie das Gesicht derart, dass er lächeln musste.

„Das ist widerlich“, beschwerte sie sich.

„Aber es wird dir helfen wieder gesund zu werden. Hier, dass nimmst du auch.“ Er beförderte noch eine Flasche mit Hustensaft zutage und gab ihr auch den. Dieses Mal mäkelte sie sich nicht. Stattdessen beugte sie sich vor, um zu sehen, was er noch alles in seiner Tasche hatte. Ein paar Dosen, etwas Obst und …

„Sind das Kekse?“, fragte sie aufgeregt.

„Ja, und sie sind alle für dich. Aber du bekommst sie nur, wenn du vorher etwas Manierliches isst.“

Da Tarajika mindestens genauso verrückt nach Schokoladenkeksen war wie er, widersprach sie nicht. Sie teilten sich eine Dose mit kalten Raviolis, doch als er ihr noch eine Banane aufdrängen wollte, lehnte sie ab. Selbst von den Keksen aß sie nur drei Stück, bevor sie erschöpft ausatmete und die restlichen in die Tasche zurück packe. „Für später“, erklärte sie auf seinen sorgenvollen Blick hin.

Raphaels Lippen wurden eine Spur schmaler. Es ging ihr wirklich nicht gut, aber er wusste nicht, was er sonst noch tun sollte. Sie weigerte sich zu gehen und nach allem was geschehen war, konnte er sie nicht einfach im Stich lassen – auch wenn es das Beste für sie wäre.

„Deine Hand zittert.“

Seine Hand schloss sich eilig zu einer Faust, um es zu verbergen, was eigentlich albern war, da sie es schon längst gesehen hatte.

Sie musterte ihn eingehend. „Du brauchst Blut.“

Ja, eigentlich bräuchte er welches, aber in ihrem geschwächten Zustand, durfte er sie nicht beißen. Nicht weil er sich vor ihrer Krankheit fürchtete, oder vor den Medikamenten in ihrem Blut zurückschreckte. Sie brauchte ihre Kraft um gesund zu werden. „Mir geht es gut.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Um sie auf andere Gedanken zu bringen, lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und breitete dann die Arme aus. „Komm her, dann wird dir etwas wärmer.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie schob die Lumpen zur Seite, kroch dann auf seinen Schoß und während er die Arme um sie schlang und fester an sich zog, deckte sie sie beide noch mit der einzig dicken Decke zu, die er hatte auftreiben können.

Erst als sie so angekuschelt an ihm lehnte, bemerkte er ihr Zittern. So eine kalte Treppenflucht war wirklich nicht der beste Ort, um gesund zu werden, aber es war leider der sicherte Platz den er gefunden hatte. Abgelegen und doch nah, mehrere Fluchtwege und auch windgeschützt. Eine Etage tiefer gab es sogar funktionierende Toiletten und Waschbecken, leider aber nur kaltes Wasser.

Sie mussten einfach nur noch ein bisschen ausharren. In ein paar Wochen würde es wieder wärmer werden und die Medikamente würden ihr helfen. Er drückte sie ein wenig fester an sich. Alles würde gut werden, er musste nur daran glauben. Das war alles, was er im Moment noch hatte.

Wenn er nur nicht immer wieder hinaus müsste. Jedes Mal wenn er die Schule verließ, bestand nicht nur die Gefahr, dass man ihn entdeckte, sondern auch, dass er jemanden hier her führte. Wenn Cayenne nur endlich mit diesem Wahnsinn aufhören würde.

Er wusste, dass es seine Schuld war. Das was er getan hatte … er würde sich das niemals verzeihen können, doch was sie daraus gemacht hatte, war noch viel schlimmer.

„Es war ein Unfall“, flüsterte Tarajika, als wüsste sie genau, was in seinem Kopf vor sich ging. Wahrscheinlich wusste sie das sogar. Nicht weil sie plötzlich Gedanken lesen konnte, doch ihre Schwester Lalamika drang immer mal wieder in seinen Kopf ein. Dann lauschte sie nicht nur seinen Gedanken, sie teilte sie auch Tarajika mit.

Er mochte das nicht besonders, aber er beschwerte sich auch nicht. „Sie wird mir das niemals verzeihen.“

Tarajika widersprach nicht. Sie wussten beide, dass er Recht hatte. Das was er getan hatte, war einfach nicht zu verzeihen. Nicht mal er selber konnte es sich verzeihen.

„Denk nicht daran, Ys-ogg“, flüsterte sie. „Ruh dich ein wenig aus.“

Leider war das nicht so einfach. Nicht nur weil sie immer wieder hustete, er schlief schon lange nicht mehr gut. Die Angst vor dem was geschehen könnte, hielt ihn wach. Wenn er nicht aufpasste, konnte das für sie beide das Ende bedeuten und er musste die muntere Mieze doch beschützen. Das hier war schließlich alles seine Schuld.

„Mir wird nichts passieren“, sagte sie leise und kuschelte sich noch etwas enger an ihn. „Mika ist draußen auf dem Dach und passt auf.“

Das beruhigte ihn nur wenig. Trotzdem versuchte er die Augen zu schließen und ein wenig zur Ruhe zu kommen. Als sie dann auch noch anfing zu schnurren, begann er wirklich sich ein wenig zu entspannen. Vielleicht würde er ja wirklich schlafen können. Nur ein wenig …

Das leise Klingeln eines Glöckchens ließ ihn die Augen sofort wieder aufschlagen und versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Noch während Tarajika den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schlug er ihr hastig eine Hand darauf und hielt sie damit still. Er hatte an jeder Tür im Treppenaufgang ein Glöckchen angebracht, um gewarnt zu sein, sollte jemand hier eindringen. Die Glocken waren zu schwer, um vom Wind oder der Zugluft bewegt zu werden. Das bedeutete, sie waren nicht länger allein.

Raphael spitze die Ohren, doch was auch immer gerade dort gewesen war, jetzt war alles wieder still. Sollte er nachsehen, oder besser gleich verschwinden? Verdammt, wäre er alleine, könnte er sich einfach aus dem Staub machen, aber Tarajika war viel langsamer als er. Besonders jetzt, wo sie krank war.

Als unten aus der Treppenfluch ein leises Knirschen nach oben drang, war er sich sicher, da war jemand. Verdammt!

Auch Tarajika hatte es gehört. Er konnte spüren, wie sie sich anspannte. Jetzt blieb ihnen gar nichts anderes mehr übrig, sie mussten hier weg. Selbst wenn es nur ein Penner war, der hier Schutz vor der Kälte suchte, niemand durfte wissen, wo sie waren.

Raphael hob einen Finger an den Mund und deutete ihr, leise zu sein. Dann schob er die Decke runter und sobald sie von seinem Schoß geklettert war, schnappte er sich seinen Rucksack und schlich geduckt zur Tür. Doch erst als Tarajika neben ihm war und er ihre Hand in seiner hielt, wagte er es nach der Klinke zu greifen.

Genau in diesem Moment holte Tarajika plötzlich keuchend Luft und begann laut zu husten. In der nächsten Sekunde hörte er Schritte auf der Treppe, die eilig nach oben kamen. Das schloss den Penner dann wohl aus.

„Scheiße!“, fluchte Raphael, riss die Tür auf und zerrte Tarajika mit sich hinaus aufs Dach. Ohne sie loszulassen, drückte er die Tür wieder ins Schloss und griff nach dem Holzkeil, den er für solche Fälle hier deponiert hatte. Nur ein Handgriff später, steckte das Teil unter der Tür und blockierte sie.

„Wie haben sie uns gefunden?“, fragte Tarajika und schaute sich hastig auf dem Dach um.

„Ich weiß nicht. Ich …“

Von Innen versuchte jemand die Klinke zu betätigen. Als das nicht funktionierte, versuchte man es mit roher Gewalt.

„So eine Scheiße!“ Raphael trat noch einmal gegen den Holzkeil, um sich zu versichern, dass er auch wirklich fest saß, dann wirbelte er herum und rannte los. Dabei musste er aufpassen, nicht zu schnell zu werden, um Tarajika nicht zu verlieren. Ihre Beine waren nicht nur kürzer als seine, als Vampir war er viel schneller als sie. Und dann kam auch noch ihre Erkältung dazu.

„Mika sagt, die Feuerleiter ist frei“, rief sie ihm keuchend zu.

Das nannte man dann wohl Glück im Unglück. Über die Feuerleiter kämen sie nicht nur nach unten, sondern auch direkt zum Zaun. Dann konnten sie die Gassen zwischen den Häusern nehmen und hinten über die andere Feuerleiter verschwinden.

Entschlossen nahm Raphael Kurs auf den Rand des Daches. Der Rucksack knallte ihm beim jedem Schritt gegen den Rücken. Der Radau an der Tür wurde immer lauter, aber egal wie sehr sie sich anstrengten, sie bekamen sie nicht auf.

Sobald sie die Leiter erreicht hatten, warf Raphael einen hastigen Blick nach unten. Alles frei. „Runter und direkt über den Zaun“, befahl Raphael und drängte Tarajika zur Leiter. „Rüber zu den Häusern, ich bin direkt hinter dir.“

Sie nickte nur und begann direkt mit dem Abstieg. Doch dann wurde sie wieder von einem starken Hustenkrampf geschüttelt, der sie am Vorwärtskommen hinderte.

Raphael hätte gerne geflucht und sie zur Eile angetrieben, aber er wusste, dass er es damit nicht besser machen würde. Auch wenn es ihm schwer fiel, er musste geduldig sein. Panik wäre hier nur hinderlich und …

Die Glasscheibe an der Treppenflucht explodierte und ein Regen aus Scherben ergoss sich in den Schnee. Schon in der nächsten Sekunde sprang ein grauer Wolf durch das Fenster und erfasste ihn mit dem Blick. Seine Lefzen zogen sich hoch und mit einem Knurren jagte er auf Raphael zu.

Ein Fluch auf den Lippen, schwang Raphael sich nun selber auf die Leiter und begann eilig mit dem Abstieg. Die Lykaner hatten ihn wirklich gefunden. Wie hatte das passieren können? Er war doch so vorsichtig gewesen. Er würde sicher nicht stehen bleiben, um nachzufragen.

Mit wild klopfenden Herzen, sah Raphael dabei zu, wie Tarajika sich unten an der Leiter einfach in den Schnee fallen ließ und eilig zum Zaun rannte, um ihn zu erklimmen. Über ihm tauchte geifernd und knurrend der graue Wolf auf. Ohne lange darüber nachzudenken, ließ er einfach los und fiel.

Der Aufprall war hart. Selbst der Schnee federte den Sturz kaum ab. Sein Gewicht riss ihn zu Boden und bei dem Versuch sich abzustützen, knickte sein Handgelenk um. Er unterdrückte den Schmerz, sprang wieder auf die Beine und wirbelte herum.

Tarajika war bereits oben auf dem Zaun und schwang gerade ihre Beine auf die andere Seite, als Raphael einen Satz an das Gitter machte und sich dann eilig daran hinauf zog. „Hinter dem Wagen!“, rief er ihr zu und erklomm den Zaun so schnell es ihm möglich war.

Sie sprang das letzte Stück nach unten, fiel auf den Hintern, rappelte sich aber sofort wieder auf die Beine und rannte los. Im gleichen Moment stürzten ein halbes Dutzend Lykaner um die Ecke des Schulgebäudes. Die Hälfte von ihnen waren Wölfe, die andere nicht.

Raphael schwang sich über den Zaun und wollte sich dann einfach fallen lassen, doch ein besonders schneller Kerl mit schwarzem Haar, rammte einfach das Gitter und schaffte es irgendwie Raphaels Jacke zwischen die Hände zu bekommen. Dadurch verlor Raphael das Gleichgewicht und stürzte seitlich zu Boden. Er fuhr sofort fauchend die Fänge aus und versuchte nach dem Kerl zu treten, doch da war schon ein zweite, der seine Hand durch das Gitter steckte. Ein Dritter versuchte währenddessen über den Zaun zu klettern.

Kurzerhand riss Raphael den Reißverschluss seiner Jacke auf und befreite sich eilig davon. Dabei verlor er auch seinen Rucksack. Aber das war egal, Hauptsache er kam hier weg. Gegen diese Übermacht hatte er keine Chance.

Sobald er frei war, sprang er zurück auf die Beine und …

Ein tonnenschweres Gewicht riss ihn erneut zu Boden. Knurrend verbiss sich ein Wolf in seinem Arm. Er versuchte sich herumzuwälzen und dem Mistkerl einen Schlag auf die Schnauze zu geben, doch das Vieh biss nur noch fester zu. Er schrie vor Schmerz auf.

Plötzlich sprang ein Panther heran und stürzte sich auf den Rücken des Wolfes. Fauchend schlug Tarajika ihre Krallen in den Lykaner und riss ihm die Haut auf. Dem Wolf blieb gar nichts anderes übrig, als von Raphael abzulassen und sich um die neue Gefahr zu kümmern. Aber Tarajika hatte die Oberhand. Sie biss und riss an dem Wolf, bis er jaulte und schrie.

Raphael robbte rückwärts von den beiden weg und sprang gerade zurück auf die Beine, als ein Schuss knallte.

Tarajika erstarrte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und auf ihrer Stirn war ein kleines Loch, aus dem Blut sickerte. Einen Moment stand sie noch mit erhobener Pfote da, bereit ihre Krallen ein weiteres Mal auf ihren Gegner niederfahren zu lassen. Doch dann sackte sie einfach in sich zusammen und blieb regungslos am Boden liegen.

Auch der Wolf bewegte sich nicht mehr.

Raphael stand nur da und konnte nicht glauben, was seine Augen ihm zeigten. „Gnocchi.“ Seine Augen begannen zu brennen. Nein, bitte nicht.

„Nein!“ Hinter dem Zaun kam eine junge Frau angerannt. Raphael brauchte einen Moment, um in ihr seine Schwester Amber zu erkennen. Sie warf sich gegen den Zaun und starrte fassungslos auf den Leichnam von Tarajika. „Ara!“

Als ein weiterer Lykaner versuchte am Zaun hochzuklettern, packte sie ihn an den Beinen und riss ihn herunter. Dann wirbelte sie herum, stürzte sich auf den Schützen und entriss ihm die Waffe.

Sofort wich Raphael zurück, doch als seine Schwester die Waffe hob, war nicht er das Ziel. Sie richtete sie auf den Kerl, der Tarajika erschossen hatte und drückte ab. „Ihr Mistkerle!“, schrie sie. Ihre Augen schwammen in Tränen.

„Amber, pass auf!“, rief Raphael, als sich von der Seite eine Frau auf sie stürzen wollte.

Aber riss die Waffe herum und wieder knallte ein Schuss.

Raphael konnte nicht glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte. Amber wandte sich gegen die Lykaner. Dabei hatte sie bei ihrer letzten Begegnung noch geschworen ihn zu töten.

Die Waffe feuerte noch drei Mal ihre tödliche Ladung ab, dann waren nur noch er und seine Schwester übrig.

Amber hatte die Lykaner erschossen. Sie hatte sich gegen ihr eigenes Rudel gewandt. Und jetzt stand sie einfach nur da und starrte auf das, was sie angerichtete hatte.

Unsicher schaute Raphael von ihr zu der Gasse zwischen den Häusern. Das war seine Chance zu entkommen. Aber Tarajika war tot und Amber … oh Gott, sie hatte ihm das Leben gerettet. Er machte einen zögernden Schritt auf sie zu. „Amber?“

Sie wirbelte zu ihm herum und richtete den Lauf der Waffe direkt auf seinen Kopf. Früher hatte sie sich ausschließlich in schwarz gekleidet, doch nun war die schwarze Farbe in ihrem Haar fast herausgewachsen und ihre Kleidung war genau wie die von jedem anderen.

„Du bist so ein Dummkopf“, schluchzte sie leise. Ein Strom von Tränen rann über ihre Wangen. „Das hier ist deine Schuld!“

Das wusste er und es gab nichts, was ihn von dieser Last befreien konnte.

Oben auf dem Dach standen noch immer knurrend ein paar Wölfe. Einer begann sich zu verwandeln, um die Leiter herunter zu klettern.

Als er nichts sagte, gab Amber ein verbittertes Lachen von sich. „Es tut mir leid“, sagte sie leise und hob dann die Waffe an ihren Kopf.

„Nein!“ Schnee wirbelte auf, als Raphael vorpreschte, um sie aufzuhalten.

Amber lächelte ihn nur mit Tränen in den Augen an. „Viel Glück.“ Ihre Lider schlossen sich und dann zog sie den Abzug durch.

„Nein!“ Ich richtete mich kerzengerade auf und schaute mich hektisch im Raum um. Da war kein Schnee und auch keine Straße. Ich lag in Raphaels Bett. Meine Beine waren in der Decke verheddert, so als hätte ich während des Schlafs versucht mich freizustrampeln. Keine Waffen, keine rachsüchtigen Lykaner und auch keine … oh ihr Geister. Das war nur eine Vision gewesen, etwas das geschehen würde, aber noch nicht passiert war. Nur meine Schulter tat ein bisschen weh. Und trotzdem zitterte ich und spürte das Brennen in meinen Augen.

Ich hatte noch nie eine Vision gehabt, in der ich selber vorgekommen war. Sie war so intensiv gewesen, so ganz anders als sonst.

Ich war gestorben, ich hatte meinen eignen Tod gesehen und auch den von Amber. Und Raphael. Sein Schock und … „Raphael!“ Er war nicht hier, aber ich war hier. Ich war eingeschlafen. „Nein, nein, nein.“ Hastig machte ich mich von der Decke frei und sprang aus dem Bett. Ich trug noch immer die gleichen Sachen wie gestern auf dem Rastplatz.

An der Tür hielt ich mich am Rahmen fest, um die Kurve zu kriegen. Leider nahm ich den falschen Arm und so schoss ein fürchterlicher Schmerz durch meine Schulter. Ich versuchte ihn zu ignorieren, dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Meine Beine trugen mich über die Treppe nach oben, direkt ins Wohnzimmer und da war er. Er saß auf der Couch und hatte die Beine hochgelegt. Der Fernseher lief und direkt neben ihm hatte Lalamika es sich bequem gemacht.

Bei meinem Auftauchen, schauten beide zu mir herüber.

Raphael zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. „Alles okay?“

Er war hier. Er war nicht einfach wieder verschwunden. Meine Beine begannen vor Erleichterung zu zittern und ich musste mich an der Wand abstützen. Er hätte weg sein können. Ich war einfach eingeschlafen und hatte nicht bemerkt, wie er aufgewacht war. Da ich in seinem Bett erwacht war, musste er mich sogar dorthin getragen haben und ich hatte es nicht mitbekommen.

„Gnocchi?“

Plötzlich wurde mir schlecht. Nicht nur wegen dem, was hätte passieren können, sondern auch wegen der Vision, die die Geister mir geschickt hatten.

Als die Übelkeit plötzlich schlimmer wurde, wirbelte ich herum, rannte ins kleine Bad und schaffte es gerade noch zur Toilette, bevor ich mich erbrach. Mein ganzer Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und würgte alles heraus, was noch vom Abendessen übrig war. Tränen stiegen mir in die Augen, während ich mich an die Keramikschüssel klammerte.

Diese Vision hatten die Geister mir nur wegen dem geschickt, was gestern passiert war. Es war so knapp gewesen und sie hofften wohl, dass ich meine Meinung ändern würde, wenn ich meinen eigenen Tod sah.

Aber es war keine Manipulation. Die Geister würden mir das nicht zeigen, wenn es nicht passieren würde. Meine Anwesenheit hatte das Schicksal bereits beeinflusst, es aber nicht zum Guten gewendet. Raphael würde dieses Gräuel noch immer begehen und ich … ich würde in dem Versuch ihn zu retten sterben.

Als mein Magen sich wieder krampfhaft zusammenzog, begann ich erneut zu würgen. Ich hatte nicht nur meinen eignen Tod gesehen, ich hatte ihn sogar gespürt. Noch immer hörte ich den Knall der Waffe und spürte den Schmerz, der in meinem Kopf explodiert war.

Eine vorsichtige Berührung an der Schulter ließ mich aufschrecken.

„Hey, ganz ruhig“, sagte Raphael. „Ich bin es nur.“ Er hockte direkt neben mir und strich mir vorsichtig über den Rücken. Hinter ihm in der Tür stand Marica und beobachtete mich besorgt.

Meine Augen begannen zu brennen und wieder zog mein Magen sich schmerzhaft zusammen. Doch das krampfhafte Würgen brachte nichts mehr hervor.

„Schhhh“, machte Raphael und ließ seine Hand in meinen Nacken wandern.

Das fand ich seltsam. Das hier war eklig, aber er schreckt nicht vor mir zurück. Er blieb bei mir, bis das Würgen aufhörte und ich erschöpft auf meinen Hintern sank. Selbst dann verschwand er nicht. Er betätigte nur die Spüle und reichte dann das Glas mit Wasser an mich weiter, das Marica ihm hinhielt.

„Tut mir leid“, sagte ich leise und klammerte mich an das Wasserglas. Dabei wusste ich nicht mal, wofür genau ich mich entschuldigte.

„Ach Mäuschen, dafür brauchst du dich doch nicht entschuldigen.“ Auch Marica kam näher und strich mir ganz sanft über den Kopf. „Jeder verdirbt sich mal den Magen, dafür kannst du doch nichts.“

Sie glaubte ich hatte mir den Magen verdorben? Wahr wahrscheinlich besser als die Wahrheit. Wie sollte ich auch erklären, dass die Angst mich so sehr gepackt hatte, dass ich mich deswegen sogar übergeben musste? Wenn ich nur daran dachte, wurde mir schon wieder schlecht. Ich hätte nicht einschlafen dürfen.

„Aber nun komm.“ Marica hockte sich neben mich und ergriff mich an den Schulter. „Am Besten du gehst jetzt erstmal duschen. Ich mach dir in der Zeit eine Brühe, danach geht es dir sicher besser.“

„Okay.“

„Ich geh dann mal raus und …“

„Nein!“ Panisch wirbelte ich zu Raphael herum und griff nach seinem Arm. Ich durfte ihn nicht aus den Augen lassen.

Er schaute etwas verdutzt. „Ich wollte nur ins Wohnzimmer.“

„Aber dann sehe ich dich nicht mehr.“ Mein Griff wurde noch etwas fester. „Und wenn du wieder verschwindest … ich … dann …“

„Gnocchi.“ Sein Blick wurde ein wenig weicher. „Ich werde nicht einfach verschwinden. Ich setzte mich nur ins Wohnzimmer und warte dort auf dich, in Ordnung?“

Das wollte ich nicht, das durfte ich nicht erlauben.

„Ich verspreche es dir, ich werde nicht verschwinden“, fügte er noch hinzu, als die Panik in meinen Augen nicht nachlassen wollte. „Wirklich.“

Ich wollte ihm glauben, aber ich hatte Angst. Noch nie hatte eine Vision mich so mitgenommen. Und trotzdem wehrte ich mich nicht, als Marica meine Hand von ihm löste und mich zur Dusche schob.

„Ich bin im Wohnzimmer“, versicherte Raphael mir noch einmal, bevor er das Badezimmer verließ.

Mein Herz begann sofort wieder ein wenig schneller zu schlagen. Lalamika ist bei ihm, sagte ich mir selber, als ich mich auszog und unter die Dusche stieg. Sie wird mir sagen, wenn etwas passiert. Und er hat es versprochen, er wird nicht gehen. Leider konnte ich mich mit diesen Worten nicht selber beruhigen.

„Ich gehe dir schnell frische Sachen holen“, erklärte Marica und verließ dann auch das Bad.

Das Wasser aus der Dusche konnte meine Sorgen nicht wegspülen. Ich musste irgendwas tun. Lalamika hatte recht, ich konnte nicht die ganze Nacht wach sein und wenn ich mal nicht bei ihm war, stieg die Gefahr, dass er einfach verschwand und ich nicht rechtzeitig reagieren konnte. Aber wie sollte ich das machen? Er konnte sich einfach auf sein Motorrad setzen und … aber natürlich, sein Motorrad! Ohne das würde er nicht einfach verschwinden können. Ich könnte es verstecken, doch wo und wie?

Diese Frage beschäftigte mich noch, als Marica zurück ins Bad kam und mir einen Stapel sauberer Kleidung brachte. „Wenn noch etwas ist, ich bin draußen in der Küche.“

Ich nickte als Zeichen, dass ich verstanden hatte und beeilte mich, aus der Dusche zu kommen. Doch selbst als ich fertig angezogen in einem lockeren Shirt und einer bequemen Stoffhose wieder in den Flur trat, hatte ich noch keine Lösung für mein Problem. Zumindest nicht, bis mein Blick auf das Schlüsselboard neben der Tür fiel. Da hing Raphaels Ersatzschlüssel für sein Motorrad. Ich erkannte ihn, der er sah genauso aus wie der, den er immer beim Fahren benutzt. Sein Schlüssel allerdings hatte einen roten Anhänger, dieser hier nicht.

Das war es, ich musste nicht das Motorrad verschwinden lassen, sondern nur die Schlüssel. Dann konnte er die Maschine nicht mehr benutzen.

Entschlossen nahm ich den Schlüssel vom Board an mich und huschte dann durch den Flur nach unten in sein Zimmer. Sein anderer Schlüssel lag immer auf seinem Schreibtisch. Ich hatte ihn dort schon öfters gesehen und auch jetzt fand ich ihn ohne Probleme. Nur was sollte ich jetzt damit machen? Ich brauchte ein gutes Versteck, wo er nicht danach suchen würde.

Unsere Schlafzimmer kamen nicht in Frage. Vielleicht im Bad zwischen den Handtüchern? Aber da wäre die Gefahr zu groß, dass jemand zufällig auf sie stieß. Vielleicht in der Küche im Schrank, oder … da traf mich ein Geistesblitz.

Vor ein paar Tagen hatte ich im Gefrierschrank herumgesucht und war auf eine offene Tüte mit Tiefkühlgemüse gestoßen. Amber hatte gesagt, die sei schon fünfhundert Jahre alt und ich sollte sie einfach liegen lassen. Wenn die Tüte da schon so lange drinnen lag, würde doch sicher niemand plötzlich auf die Idee kommen, da reinzuschauen, oder? Es war auf jeden Fall das beste Versteck, dass mir auf die Schnelle einfiel.

Die Schlüssel fest in der Hand, schlich ich wieder nach oben. Aus dem Wohnzimmer hörte ich noch immer den Fernseher und mit einem kurzem Blick um die Ecke, versicherte ich mich, dass Raphael noch da war. Seine Mutter war bei ihm und unterhielt sich mit ihm. Das traf sich gut.

Eilig huschte ich an der Tür vorbei und nahm dann geradewegs Kurs auf den Kühlschrank. Tür auf, Schublade raus. Ich hockte mich hin und kramte die offene Tüte raus. Die Schlüssel vergrub ich ganz unten unter dem Gemüse, dann packte ich sie zurück an ihren Platz.

„Was machst du am Gefrierschrank?“, fragte Marica hinter mir.

Erschrocken schaute ich auf. „Ähm … ich wollte … ein Eis! Ich mag Eis.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein Mäuschen, ein Eis ist jetzt nicht gut für deinen Magen.“ Sie kam zu mir, schob mich zur Seite und schloss den Gefrierschrank wieder. „Ich mache dir gerade Brühe. Geh rüber zu Raphael, ich bringe sie dir, sobald sie fertig ist.“

„Okay.“

„Und mach dir nicht so viele Sorgen.“ Sie strich mir vorsichtig über die Wange. „Es ist alles in Ordnung.“

Ich nickte, auch wenn ich es besser wusste.

„Gut, dann geh jetzt, ich bring dir gleich dein Essen.“

Da ich keine unnötige Aufmerksamkeit auf den Gefrierschrank ziehen wollte, vermied ich es noch einen Blick dorthin zu werfen, als ich die Küche verließ und nach nebenan ging.

Raphael saß noch immer auf seinem Platz, schaute aber auf, als ich den Raum betrat. „Besser?“

Ich nickte, huschte dann zu ihm rüber und sprang neben ihn auf das Sofa.

Er beobachte mich einen Moment. „Ich werde nicht wieder einfach verschwinden“, sagte er plötzlich.

Wie gerne ich ihm das geglaubt hätte.

„Ach nun komm schon, lächle wieder.“ Er stieß mich ganz leicht mit der Schulter an. Die Berührung reichte aus, um mir ein Zischen zu entlocken. Das tat weh und so wie er mich anschaute, hatte er das auch bemerkt. „Was ist los?“

„Meine Schulter tut weh.“ Aber nur, wenn man rankam, oder ich den Arm hob.

„Warum? Was hast du gemacht?“

„Ich bin gestern gegen die Leitplanke geknallt.“ Zwei Mal. Und einmal auch mit dem Kopf, aber das tat nicht mehr weh.

Einen Moment schaute er mich nur an. Dann drehte er sich zu mir um und griff nach meinem kurzen Ärmel. Ohne mich zu berühren, schob er ihn ganz vorsichtig nach oben. Seine Augen wurden groß. „Verdammt, das ist ja alles grün und blau!“

„Ist nicht so schlimm.“

Warum er mich daraufhin so böse anschaute, verstand ich nicht. „Zieh dein Hemd aus“, befahl er mir und erhob sich von der Couch.

Ganz kurz war ich versucht ihm hinterher zu laufen, aber er konnte ja nicht weg, ich hatte ja seine Schlüssel versteckt. Und da Lalamika sich auch erhob und ihm aus dem Wohnzimmer folgte, blieb ich wo ich war und zog vorsichtig mein Shirt aus.

Als Raphael kurz darauf mir einem Tiegel in der Hand zurück kam, stoppte er plötzlich. Seine Augen wurden erst groß und dann grimmig. Er ging zum Sessel, nahm die alte Wolldecke und hielt sie mir hin, ohne mich anzuschauen. „Halt die das vor die Brust.“

„Okay.“ Ich nahm die Decke und machte was er wollte. „Fertig.“

Mit einem kurzen Blick versicherte er sich, dass es auch stimmte und setzte sich dann wieder neben mich. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du was an der Schulter hast?“, murrte er und schraubte den Deckel von den Tiegel.

„Das konnte ich nicht, du hast dich in deinem Zimmer eingeschlossen.“

Einen Moment hielt er inne. Dann drückte er die Lippen zu einem festen Strich zusammen.

„Bist du jetzt böse?“

„Nein.“ Er seufzte einmal und nahm dann etwas von der Creme in dem Tiegel und begann damit sie vorsichtig auf meiner Schulter zu verteilen. Es tat nur ein bisschen weh. „Du hast nichts Falsches gemacht.“ Er verstummte kurz. „Zumindest nicht, wenn man davon absieht, dass du aus einem fahrenden Wagen gesprungen und auf der Autobahn herumgerannt bist.“

„Aber das musste ich, sonst …“

„Ja, ich weiß. Ist schon gut“, wiegelte er ab und nahm noch ein bisschen Creme aus dem Tiegel.

Ich schaute dabei zu, wie er sie sehr vorsichtig auf meiner Haut verstrich. Sie roch so gut und ich mochte es, wenn Raphael mich berührte, das war ein schönes Gefühl.

Erst als Marica mit einem Teller voll Suppe ins Wohnzimmer trat, blickte ich auf. Der Geruch ließ meinen Magen sofort freudig knurren.

„Das riecht lecker“, sagte ich, während sie stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm, was ihr Sohn da machte.

„In der Küche habe ich noch mehr, falls du danach noch hunger hast“, erklärte sie, als sie den Teller vor mir abstellte. „Was hast du da gemacht?“

„Ich hab mich gestoßen.“

Raphaels Lippen wurden noch ein wenig schmaler. War er doch böse?

„Das sieht ja schlimm aus.“

„Ist es aber nicht. Es tut nur weh, wenn ich den Arm bewege.“

„Das ist bald vorbei“, erklärte Raphael leise und verschmierte den Rest der Creme. Dann schraubte er den Deckel zu. „Zieh dich wieder an.“

„Okay.“ Ich ließ die Decke einfach fallen und griff nach meinem Shirt. Das hatte zur Folge, dass Raphael sich hastig wegdrehte und Marica zu schmunzeln begann.

„Ich bin in der Küche, wenn ihr noch was braucht“, teilte seine Mutter uns mit und verließ dann wieder das Wohnzimmer.

Raphael schraubte den Deckel wieder zu. „Wenn noch mal sowas sein sollte und ich nicht da bin, dann geh zu meiner Mutter und sag es ihr.“

„Okay.“ Ich zog mir das Shirt über, rutschte dann an die Sofakante und griff nach dem Löffel. Schon der erste Bissen ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das war wirklich lecker.

Seufzend lehnte Raphael sich auf der Couch zurück und griff nach der Fernbedienung, um die Mittagsnachrichten ein wenig lauter zu stellen. Sie berichteten gerade über einen Elefanten im Zoo, der sich vor einen kleinen Jungen gestellt hatte, der in sein Gehege gefallen war, um ihn vor dem Rest der Herde zu schützen. Der Junge hatte einen gebrochenen Arm und einen Schreck erlitten, ansonsten ging es ihm aber gut.

Als der Nachrichtensprecher wieder eingeblendet wurde, verkündete er, dass ein Vermisster namens Marko Bergmann wieder aufgetaucht war.

Das Bild des Mannes kam mir irgendwie bekannt vor. „Ist das nicht der Mann, den du vor dem Hotel hypnotisiert hast, damit er mich vergisst und nach Hause geht?“

Anstatt zu antworten, stellte Raphael den Fernseher noch ein wenig lauter.

„ … mir selber nicht erklären“, sagte er gerade zu der Reporterin. An seinen Arm klammerte sich eine Frau mit Tränen in den Augen und wischte sich immer wieder mit einem Taschentuch durchs Gesicht. „Es war wie ein innerer Zwang, ich musste nach Hause laufen.“

Sie sind also den ganzen Weg vom Hotel in Nancy, Frankreich hier nach Hamburg gelaufen?“

Ja. Ich weiß selber nicht warum. Eben noch habe ich den LKW entladen und im nächsten Moment bin ich einfach losgelaufen.“

Und was sagen die Ärzte?“

Ich sollte nicht mehr herausfinden, was die Ärzte sagten, da Raphael eilig auf einen anderen Sender schaltete. „Das“, sagte er zu mir, „werden wir niemanden erzählen.“

„Warum?“

Er schaute mich an, überlegte kurz und sagte schließlich: „Schweig still Weib und iss deine Suppe.“

Neben mir kicherte Lalamika vergnügt.

 

°°°

 

Grinsend angelte ich die letzte Packung mit den Schokoladenkeksen aus dem Hängeschrank und setzte mich dann wieder manierlich auf die Anrichte neben dem Toaster.

„Ich sage es dir, Vivien ist hochrot angelaufen, als sie mitbekam, was Anouk meinem Vater da auf seiner Kamera zeigte.“ Auch Amber grinste. Der Nachmittag war bereits angebrochen und wir wollten gleich das I lernen. Aber vorher wollte sie mir noch erzählen, wie Anouk seine Mutter beim Pupsen gefilmt hatte. „Ich hätte mich fast weggeschmissen, als ich ihr Gesicht gesehen habe. Das war ihr sooo peinlich.“

„Aber das macht doch jeder.“ Ich öffnete die Kekse und steckte mir den ersten in den Mund. Eine Packung hatte ich schon gegessen. Die schmeckten aber auch gut.

„Das schon, aber das ist nichts, was man jedem zeigen muss und Vivien war bei sowas schon immer sehr empfindlich. Rülpsen, pupsen und in der Nase popeln, ist schließlich nicht sehr damenhaft.“

Hm, ich machte das auch. Bedeutete das, ich war keine Dame? „Also ich finde das gar nicht schlimm.“

„Ist es ja auch nicht.“ Amber lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete, wie ein weiterer Keks auf Nimmerwiedersehen in meinem Mund verschwand. „Würdest du mir eine Frage beantworten?“

„Natürlich.“

„Es ist wegen dem, was gestern im Auto passiert ist.“

Der Keks, der gerade auf dem Weg zu meinem Mund war, blieb mitten in der Luft hängen.

Amber bemerkte das. „Wenn du nicht mit mir darüber sprechen möchtest, ist das okay, aber … naja, es fällt halt schon auf, denn da jemand neben dir sitzt und die Luft anschreit.“

Die Hand mit meinem Keks sank in meinem Schoß. Mist. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Natürlich hatte sie mitbekommen, wie ich gestern im Auto mit Lalamika gesprochen hatte. Ich hatte es ja auch wirklich unauffällig getan. Aber jetzt bereute ich das. Die Leute wurden komisch, wenn sie jemanden trafen, der mit unsichtbaren Leuten sprach.

„Über Ailuranthropen ist ja nicht viel bekannt, aber da gibt es dieses Gerücht, demnach ihr mit Geistern sprechen könnt und nachdem was ich gestern gesehen habe, frage ich mich doch, ob da nicht etwas dran ist.“

Sollte ich etwas dazu sagen? Aber was? Ich warf ihr einen vorsichtigen Blick zu.

„Guck nicht so ängstlich, ich bin nur neugierig.“

„Und wenn es so ist?“, fragte ich zögernd.

„Das wäre cool.“ Sie beugte sich vor und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. „Es muss doch toll sein sich mit Leuten als vergangenen Zeiten und Epochen zu unterhalten. Die ganzen Geschichten die sie zu erzählen haben. Das ist bestimmt interessant.“

„Naja, eigentlich erzählen sie nie Geschichten. Sie reden nur mit einem, wenn sie was wollen.“

Amber beugte sich interessiert vor. „Du kannst also wirklich mit ihnen sprechen?“

Ich zögerte, nickte dann aber.

„Wow“, machte sie. „Und gestern im Auto, mit wem hast du da gesprochen?“

„Mit Mika.“

„Deiner Schwester?“

Wieder nickte ich zögernd.

Das schien sie einen Moment verdauen zu müssen. Doch anstatt weiter darauf einzugehen, fragte sie: „Ist sie jetzt auch hier? Also hier in der Küche.“ Ihr Blick huschte hin und her, als würde Lalamika einfach hier herumspazieren.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Sie ist unten bei Raphael.“

Ihre Stirn runzelte sich. „Warum?“

„Sie passt auf ihn auf.“

Irgendwas an dem Gedanken ließ sie grinsen. „Das heißt, er wird gerade von einer hübschen Frau beobachtet und hat keine Ahnung?“

„Mika ist keine Frau. Sie starb, als sie verwandelt war. Sie ist ein kleiner Leopard.“

Ambers Augen wurden ein wenig größer. „Du sprichst also nicht nur mit ihnen, du kannst sie auch sehen?“

„Hmh“, machte ich und biss in meinen Keks. Irgendwie war es mir unangenehm darüber zu sprechen. Vielleicht weil das ein Geheimnis war, dass ich bisher noch niemanden erzählt hatte. Aber Amber schien das nicht seltsam zu finden, sie wirkte nur neugierig.

„Gibt es denn viele Geister?“

„Eigentlich schon, aber nur junge. Doch die verschwinden recht schnell.“

„Verschwinden? Wohin?“

„Zu ihren Nachkommen.“ Als sie mich nur verständnislos anschaute, erklärte ich: „Wenn du stirbst, wirst du zu einem Geist und wenn deine Verwandten, oder Nachkommen eigene Kinder bekommen, kannst du dich dafür entscheiden, in ihnen wiedergeboren zu werden.“

„Und wenn sie das nicht wollen?“

„Naja, entweder lösen sie sich dann auf, oder sie entscheiden sich eines Tages Alte zu werden.“

„Alte?“

„Das sind Geister, die schon Jahrhunderte umherziehen. Ich habe sogar schon einen getroffen, der war ein paar tausend Jahre alt. Aber diese Geister sind selten.“

Sie nickte, als wüsste sie genau wovon ich sprach. „Und was machen so alte Geister? Es wird doch sicher irgendwann langweilig, die ganze Zeit herumzuziehen.“

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. „Sie beobachten, lauschen und lernen. Manche von ihnen haben so viel gesehen, dass sie vorhersagen können, was in der Zukunft passieren wird, weil es auf irgendeine Weise schon mal geschehen ist.“

Amber runzelte die Stirn. „Das ist doch Blödsinn. Nur weil etwas auf die eine Art schon mal geschehen ist, heißt das doch noch lange nicht, dass es beim nächsten Mal genauso passieren wird.“

„Das nicht, aber sie beobachten die Lebenden. Wenn man jemand kennt, kann man manchmal voraussehen, was er in einer bestimmten Situation tun wird.“ Ich zog die Beine auf die Anrichte und setzte mich in den Schneidersitz. „Die Alten sind Meister darin, das Verhalten und die Handlungen der Menschen vorherzubestimmen und liegen mit ihren Weissagen fast immer richtig.“

„Wow.“ Amber grinste. „Das heißt, sie könnten mir sagen, was ich in dreißig Jahren tun werde?“

Ich wurde ein wenig wachsam. „Wenn sie sich für dich interessieren.“

Irgendwas an dieser Aussage ließ Amber noch breiter grinsen. „Mir hat noch nie jemand so nett gesagt, dass ich so uninteressant bin. Das nenne ich doch mal ein Kompliment.“

Das bedeutete dann wohl, dass sie jetzt nicht darauf hoffte, ich würde ihr über die Geister ihre Zukunft vorher sagen.

„Und, haben sie mit dir schon mal über die Zukunft gesprochen?“

„Oh … ähm … nein.“ Ich senkte den Blick und nahm mir hastig noch einen Keks. „Ich bin nicht wichtig genug, als dass sie mir meine Zukunft verraten würden.“

Amber ließ ihre Augen ein kleinen wenig schmaler werden. „Aber sie haben mit dir schon mal über das Schicksal von jemand anderem gesprochen.“

Mist. „Das ist nichts, worüber man spricht“, murmelte ich unruhig und wich ihrem Blick aus. Besonders nicht, wenn ich an die Vision von letzter Nacht dachte. Das Bild, wie sie sich mit Tränen in den Augen die Waffe an den Kopf gehalten hatte, würde ich wohl niemals vergessen. „Bitte frag mich nicht danach.“

So wie sie schaute, hatte sie sich wohl mehr erhofft. „Aber nur, wenn du mir eine Sache verrätst.“

Ich wurde wachsam. „Welche?“

„Waren in der letzten Zeit irgendwelche hübschen Geistermädchen in meiner Nähe?“

Ach so. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, auf sowas hab ich noch nie geachtet.“

Lächelnd schüttelte Amber den Kopf. „Du bist wirklich zu gut für diese Welt.“

Hä? „Warum?“

Eine Antwort bekam ich nicht mehr, da Raphael in diesem Moment in die Küche trat. „Hast du kein Zuhause?“, fragte er Amber und ging zur Spüle.

„Wie witzig wir heute Mal wieder sind“, grummelte sie.

Schmunzelnd ließ er sich Wasser in eine Glas. Dabei bemerkte er mich auf der Anrichte. Und auch die Schachtel in der Hand. „Sind das meine Kekse?“

Ich senkte den Blick einen Moment auf die fast leere Packung und lächelte ihn dann vorsichtig an.

„Wo hast du die her?“, fragte er ganz ruhig.

„Aus dem Schrank.“ Etwas hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Ich wollte Schokolade und Amber hat gesagt, dass immer Schokoladenkekse im Haus sind, wenn du in Arkan bist, also hab ich gesucht.“

Raphael versuchte Amber mit Blicken zu erdolchen.

Zaghaft schaute ich auf die Packung in meinen Händen. „Es … stört dich doch nicht?“

„Nein, ist schon in Ordnung“, sagte er, auch wenn er nicht aussah, als wäre es für ihn in Ordnung. „Aber lass mir noch welche übrig.“

Wieder ging mein Blick zur Keksschachtel. Dann seufzte ich tragisch, drehte mich zum Schrank um und stellte die Packung zurück auf ihren Platz.

Das ließ ihn mehr misstrauisch werden. Er stellte sein Glas ins Waschbecken, drängte sich neben mich an den Schrank und angelte seine Kekse vom Regalbrett. Ein kurzer Blick in die Schachtel genügte. „Ernsthaft?“ fragte er ungläubig. „Du hast alle meine Kekse gegessen?“

Naja, nicht alle. Fünf oder sechs waren ja noch da. Trotzdem begann ich meine Hände unruhig im Schoß zu kneten. „Ich mag die so.“

„Jetzt lass sie doch in Ruhe!“, maulte Amber ihn. „Mensch, so ein Aufstand wegen ein paar Keksen. Wie alt bist du, drei?

Er schnaubte. „Und das kommt ausgerechnet von jemand, der es nicht mal schafft sich eine Hose ohne Löcher anzuziehen.“

Dafür bekam er einen wirklich giftigen Blick. „Das ist gewollt und das weißt du ganz genau.“

„Wer benimmt sich hier jetzt wie drei?“, spottete er und drückte mir die restlichen Kekse in die Hand.

Erstaunt griff ich zu. „Ich darf sie aufessen?“

„Klar“, sagte er gönnerhaft, kehrte uns dann den Rücken und verließ die Küche.

Eigentlich sollte ich mich jetzt freuen, dass ich die Kekse behalten durfte, aber irgendwie fühlte sich das nicht so gut an. Raphael schien sie wirklich gewollt zu haben. Und ich hatte sie alle alleine vertilgt.

„Schau nicht so, Ara, der bekommt sich schon wieder ein.“

Ja, vielleicht, aber seit er von Cayennes Schwangerschaft erfahren hatte, war er wieder so distanziert, wie am Anfang, wo ich einfach zu ihm in den Wagen gestiegen war. Die letzten Tage waren toll gewesen. Ich hatte nicht mehr das Gefühl gehabt, dass er mich am liebsten irgendwo in der Wildnis aussetzen wollte, doch seit gestern … vielleicht hätte ich seine Kekse besser nicht gegessen.

„Ach nun komm schon.“ Amber erhob sich von ihrem Platz und kam zu mir rüber, um mich in den Arm zu nehmen. „Raphael ist einfach nur ein bisschen speziell, wenn es um seine Kekse geht. Deswegen brauchst du noch lange kein schlechtes Gewissen haben.“

„Aber ich mag es nicht, wenn er böse auf mich ist. Ich wusste doch nicht, dass er die Kekse so liebt.“

„Genau“, stimmte sie mir zu. „Und deswegen ist es auch gar nicht deine Schuld. Wenn überhaupt, dann muss er auf mich sauer sein.“

„Aber ich hab die Kekse gegessen.“

Seufzend drückte sie die Lippen zusammen. „Okay, weißt du was? Ich habe eine Idee.“ Sie ließ mich los und ging zu ihrer Handtasche auf dem Tisch. Nach ein bisschen Wühlen zog sie ihr Portemonnaie heraus und entnahm ihm ein wenig Geld, das sie mir dann in die Hand drückte. „Hier. Jetzt kannst du in den Laden gehen und ihm neue Kekse kaufen.“

Das war die Lösung! Wenn er neue Kekse hatte, dann durfte er gar nicht mehr böse auf mich sein. „Danke!“, rief ich begeistert und fiel beinahe von der Anrichte, als ich meine Arme um ihren Hals schlang. „Du bist wirklich toll!“

„Oh, das hast du aber schön gesagt.“

Ich drückte sie noch einmal an mich und sprang dann von der Anrichte. Die restlichen Kekse stellte ich beim Rausgehen auf dem Küchentisch ab.

Raphael fand ich ihm Wohnzimmer auf der Couch. Ich wollte ihm sofort die gute Neuigkeit mitteilen, aber da bemerkte ich, dass er sein Handy am Ohr hatte und den Finger auf die Lippen legte. Also setzte ich mich einfach still neben ihn und wartete.

„Hm, ja Mittwoch, ich werde da sein.“

Ich beugte mich ein wenig vor, um herauszufinden, mit wem er da telefonierte, aber er schob mich sofort wieder weg.

„Ist mir schon klar, dass das erstmal nur zur Probe ist. Dein Boss soll mir einfach die Unterlagen zuschicken, dann fülle ich sie aus.“

Hm, um was ging es denn da? Ich schaute zu Lalamika, doch die interessierte sich gerade weder für mich, noch für Raphael. Ihre Aufmerksamkeit galt allein der Fliege am Fenster.

„Gut, wir sehen uns dann am Mittwoch um vier. Bis dann.“ Er schaltetet das Handy aus und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Erst dann wandte er sich mir zu. „Man belauscht die Telefonate von anderen Leuten nicht.“

„Ich wollte doch nur wissen, wer da dran war.“

„Macht keinen Unterschied.“

Oh, okay. Ich hatte mich also nicht getäuscht, er war doch verärgert. Scheu hob ich den Blick. „Ich wollte nicht lauschen, nur … das mit den Keksen tut mir leid.“

„Ach Gnocchi.“ Er nahm meine Hand und drückte sie leicht. „Vergiss es einfach.“

„Nein.“ Das würde ich sicher nicht und jetzt konnte ich meinen Fehler ja auch wieder gut machen. „Ich kaufe dir neue, okay? Nur für dich. Dann brauchst du nicht mehr böse zu sein.“

„Ich bin dir nicht böse, ich hätte nur auch gerne welche abbekommen.“

„Genau und deswegen gehen wir jetzt zum Laden und kaufen dir welche. Amber hat mir das Geld dafür geliehen. Hier, siehst du?“ Ich hielt ihm den Geldschein vor die Nase.

Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Das ist wirklich unnötig.“

Ich fand, dass es sogar sehr nötig war. Darum sprang ich auch auf die Beine und griff nach seinem Arm. „Das muss ich jetzt tun, ich will mich entschuldigen. Und du musst mitkommen.“ Ich begann mit ganzer Kraft an seinem Arm zu ziehen, aber man, er war schwerer als er aussah und bewegte sich kein Stück. Konnte aber auch daran liegen, dass er sich mit dem anderen Arm am Sofa festhielt.

„Ähm, warum muss ich mitkommen, wenn du Kekse kaufen willst?“

„Na weil ich ich nicht weiß, wo der Laden ist.“ Da ich ihn so nicht bewegt bekam, ließ ich seinen Arm wieder fallen. Stattdessen kletterte ich hinter ihn auf die Couch und schob ihn mit ganzem Körpereinsatz von seinem Platz.

„Okay“, lachte er, als ich ihn bereits halb von der Couch geschoben hatte. „Schon gut, ich komme ja mit.“

„Ja!“ Ich sprang zurück auf den Boden und rannte in den Flur. Meine violetten Schuhe standen direkt neben der Tür und waren innerhalb von Sekunden angezogen. „Fertig!“, rief ich und riss die Haustür auf.

Raphael war auch schon im Flur, aber da er mir zu langsam war, nahm ich ihn wieder an der Hand und zog.

„Hey, Moment, ich will wenigstens noch meine Schuhe anziehen.“

Als Amber aus der Küche kam, begann sie bei unserem Anblick zu lachen. Raphael, der halb in der Haustür hing und versuchte seine Turnschuhe an die Füße zu bekommen und ich, wie ich drückte und schob, bevor er es sich noch mal anders überlegen konnte.

Der Kerl war wirklich stark und als ich ihn endlich in den Garten bekommen hatte, war ich völlig außer Puste. Wenigstens lachte er wieder.

„Oh Mann, wo ist in solchen Momenten nur Anouk und seine Kamera?“, kicherte Amber und schloss die Haustür hinter uns.

Anouk? „Ist der nicht bei Vivien?“

Warum auch immer, Amber begann noch neuem zu lachen. Sie legte mir einen Arm um die Schultern und bewegte sich dann mit mir auf den Ausgang zu. „Weißt du meine Süße, ich hoffe, dass du immer so bleibst, wie du jetzt bist.“

„Du auch.“ Auch ich legte ihr einen Arm um die Schultern.

Raphael lief schmunzelnd vor uns her. Er war sogar so höflich, uns das Gartentor aufzuhalten und uns als erstes hinaus zu lassen, bevor er uns auf den Gehweg folgte. Als wir dann jedoch an seinem Motorrad vorbei gingen, blieb er kurz stehen.

Mir rutschte fast das Herz in die Hose, als er an die Maschine heran trat. Bisher hatte er noch nichts zu seinen Schlüsseln gesagt, aber früher oder später würde er sicher mitbekommen, dass sie verschwunden waren.

„Was machst du denn da?“, schimpfte Amber. „Komm endlich.“

„Ja, Moment, ich will nur etwas schauen.“

Amber verdrehte die Augen. „Kerle und ihre Spielsachen.“

„Sei noch mal so abwertend zu meinem Baby und ich schubse dich in den nächsten Brunnen. Wasser ist für Hexen ja bekanntlich nicht so gut.“

„Ha ha.“

Ich fand das nicht lustig. Eigentlich wartete ich nur nervös darauf, dass er feststellen würde, dass seine Schlüssel fehlten. Aber er strich nur über seinen Sattel und schloss sich uns dann wieder an.

„Weißt du“, bemerkte Amber, als wir die Straße hinunter gingen. „Ara sah gestern auf dem Motorrad echt niedlich aus. Vielleicht solltest du es ihr beibringen.“

„Wer du?“ Raphael schaute sich nach hinten um und zeigte dann auf sich selber. „Ich?“

„Ja du Blödmann, wer den sonnst? Ich kann ja kein Motorrad fahren und es wäre bestimmt nicht schlecht, wenn sie selber etwas hätte, womit sie sich fortbewegen kann.“

Es war faszinierend, wie schnell mein Körper sich bei diesen Worten anspannte. Oh nein. Nein, nein, nein. Nicht das mich diese Idee nicht begeisterte, aber wie bereits gesagt, da war noch immer die Sache mit den Schlüsseln.

Raphael jedoch schaute nur zweifelnd zu seiner kleinen Schwester. „Wie soll ich das bitte machen, Gnocchi kann bestimmt nicht mal Fahrendfahren. Und außerdem darf niemand außer mir mein Baby fahren.“

„Tristan hat es hergefahren.“

„Das war etwas ganz anderes. Gnocchi ist nicht Tristan.“

Amber winkte ab, als sei diese Kleinigkeit völlig unbedeutend. „Also, was ist?“, fragte sie dann direkt mich. „Willst du es lernen?“

„Ähm …“

„Sie muss erst Fahrradfahren können“, unterbrach er sie, ohne mir die Möglichkeit zum Antworten zu geben.

Sie verdrehte die Augen. „Dann eben erst Fahrrad und dann Motorrad. Am besten fangt ihr beide gleich morgen an.“

Raphael runzelte die Stirn. „Wann habe ich zugestimmt, dass ich das mache?“

Und wann hatte ich zugestimmt, das ich das wollte? Na gut, ich wollte es. Nicht nur weil es sicher Spaß machte, mit einem eigenen Motorrad würde er mir auch nicht wieder so einfach entkommen können. Wenn ich so darüber nachdachte, gefiel mir die Idee immer besser. „Ich mach mit“, erklärte ich begeistert.

„Dann habt ihr beide wohl ein Date.“

„Ähm … hallo?“ Raphael winkte mit der Hand vor Ambers Gesicht herum, bis sie seine Hand einfach wegschlug. „Ich habe nicht zugestimmt.“

„Hör auf dich so zu sträuben, du hast doch sowieso nichts besseres zu tun. So hast du eine Beschäftigung und Ara lernt noch etwas.“

„Ach, und was hindert dich daran?“

„Nichts, aber ich bringe ihr bereits Lesen und Schreiben bei. Das nennt man Arbeitsaufteilung. Außerdem machst du sowas doch gerne, du hast mir auch das Fahrradfahren beigebracht.“

„Ich hätte dich besser in einen Graben schubsen sollen“, murmelte er.

Okay, nun war ich verwirrt. „Heißt das jetzt, du bringst es mir bei?“

Amber nickte. „Genau das heißt es. Und keine Angst, Raphael ist ein großartiger Lehrer. Mich hat er damals nur zwei Mal in ein Gebüsch fahren lassen.“

Ähm, ich war mir nicht sicher, ob das wirklich gut war, aber ich freute mich, dass er es mir zeigen wollte, also fiel ich ihm um den Hals und gab ihm als Dank einen einen Schmatzer auf die Wange.

„Lass das“, murrte er, doch ich beachtete ihn gar nicht weiter. Amber Überlegung, welches Fahrrad wir dafür am Besten benutzten, fand ich viel interessanter. Am Ende entschied sie, dass wir ihr eigenes aus der Garage holen würden und ich darauf üben konnte.

Der Einkaufsladen von den beiden Vampiren May und Enzo befand sich am Marktplatz von Arkan. Wir mussten nicht lange laufen, bis wir ihn betreten konnten und wow, hatte ich schon geglaubt, in Maricas Kühlschrank gäbe es viel Essen, so war das gar nichts im Gegensatz zu dem, was mich hier erwartete. Reihe um Reihe reihten sich Regale gefüllt mit Essen aneinander. Sie waren alle so voll damit, dass es gar nicht meine Schuld war, dass wir außer den Keksen für Raphael auch noch Frühstücksflocken, Gummibärchen, Bananen und Spagetti fürs Abendessen holten. Ich durfte sogar den Einkaufswagen zur Kasse schieben und die ganzen Sachen auf das Warenband legen.

Es war wirklich faszinierend, wie die Sachen so von ganz alleine zur Kasse fuhren. Und die ganzen bunten Süßigkeiten, die direkt daneben standen.

Amber lächelte bei meinem erstaunten Blick. „Nimm dir ruhig etwas.“

Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen, doch mit der Entscheidung haperte es ein wenig. Am ende legte ich eine kleine Dose mit Bonbons aufs Band und grinste Raphael zufrieden an.

„Oh, schau mal, da ist Zora. Bin gleich wieder da.“ Und weg war Amber.

Raphael schaute ihr etwas verdutzt hinterher und kräuselte dann verärgert die Lippen. „Und wer darf jetzt bezahlen?“

„Das mache ich“, erklärte ich und gab ihn den Schein von Amber. „Reicht das?“

Er schaute den Schein an und begann dann zu schmunzeln. „Amber hat recht, bleib unbedingt so wie du bist.“

„Okay.“

Die Kassiererin fertigte die Frau vor uns ab und begann dann unsere Sache über die Kasse zu ziehen.

Ich ging um Raphael herum, um die Sachen in die Tüte zu räumen. Tomatensoße, Parmesankäse, Gummibärchen. Als mir die Bannen in die Hände fielen, hielt ich einen Moment inne. Die hatten wirklich große Ähnlichkeit mit dem Teil, dass ich gestern gesehen hatte. „Du, Ys-oog?“

„Hm?“ Er griff in seine Hosentasche und holte schon mal sein Portemonnaie heraus.

Ich ließ die Bananen zu den anderen Sachen in der Tüte verschwinden. „Erklärst du es mir jetzt?“

„Was?“

„Was ein Dildo ist.“

Alles erstarrt, sowohl Raphael, als auch die Leute in der Schlange.

Die Frau hinter der Kasse schaute ihn entgeistert an.

„Ähm“, machte Raphael nicht sehr gescheit und lächelte ein wenig schief. „Sie ist ein wenig weltfremd.“

Die Kassiererin starrte noch immer.

„Sie hat das Ding in der Handtasche meiner Schwester gefunden.“

Die Kassiererin starrt weiter.

„Ich will ihr nicht erklären, was das ist“, sagte er schon beinahe kläglich.

Schmunzelnd zog die Frau den nächsten Artikel über den Scanner. „Ein Dildo ist ein Sexspielzeug.“

„Oh, was Sex ist, das weiß ich, das hat Amber mir erklärt.“ Ich ließ auch noch die restlichen Sachen in der Tüte verschwinden. „Aber ich dachte immer, Spielzeug sei nur etwas für Kinder.“

„Ich werde Amber umbringen“, murmelte Raphael und bezahlte den Einkauf.

„Warum?“

„Damit sie aufhört, dich an ihren Weisheiten teilhaben zu lassen.“ Er nahm das Wechselgeld entgegen und schob mich dann eilig aus dem Laden.

 

°°°°°

Nicht nur Sonnenschein

 

Lauernd spähte ich über die Kante von Raphaels Bett. Er lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen, sein Mund jedoch ganz leicht geöffnet und die Decke war nur noch ein unordentliches Knäuel zu seinen Füßen. Eine Hand lag auf seinem Bauch, die andere hatte er sich unter den Kopf geschoben.

Ganz vorsichtig hob ich meinen Arm und pikte ihm mit Finger in die Wange. Er schlief einfach weiter.

Hm, dann eben anders.

Ich schlich um das Bett herum, kletterte auf die Matratze und hockte mich so dicht neben ihn, dass mein Gesicht direkt über seinem schwebte. Dann stach ich ihm erneut mit dem Finger in die Wange. Wieder gab er keine Regung von sich. Dabei waren wir gestern doch gar nicht so lange wach gewesen.

Okay, wenn er nicht aufwachen wollte, gab es nur noch eins was ich tun konnte. Ich schob seinen Arm weg, setzte mich dann rittlings auf seinen Bauch und beugte mich so nahe über ihn, dass unsere Nasen fast aneinander stießen. „Wach auf“, flüsterte ich und behielt ihn dabei ganz genau im Auge, damit mir auch keine seiner Regungen entging. „Du musst mir doch Fahrradfahren beibringen.“ Deswegen war ich bereits seit zwei Stunden wach. Ich hatte mir sogar schon eine Jeans und ein kurzärmliges Top angezogen.

In seinem Gesicht regte sich etwas. Er schloss den Mund, zog die Augenbrauen ein wenig zusammen und drehte den Kopf auf die andere Seite. Aber dann geschah gar nichts mehr.

Du könntest ja versuchen ihn wachzuküssen, schmunzelte Lalamika. Sie kauerte oben am Kopfende des Bettes und sah genauso interessiert zu ihm herunter, wie ich.

„Meinst du das funktioniert?“

In Anouks Märchen tut es das.

Ja, aber da war es um Prinzessinnen gegangen. Raphael war aber keine Prinzessin. Andererseits, schaden konnte es ja nicht und küssen machte Spaß. Also stützte ich mich mit den Händen auf seiner Brust ab und beugte mich vor, bis meine Lippen seine berührten.

Es war irgendwie seltsam. Nicht nur weil er den Kuss nicht erwiderte, sondern auch, weil er die letzten beiden Male damit angefangen hatte.

Auf eine Reaktion von ihm musste ich jedoch nicht lange warten. Erst war da nur eine kurze Berührung an meinem Bein. Seine Hand strich sanft daran hinauf. Dann begannen sich auch eine Lippen zu bewegen. Die Augen waren noch immer geschlossen, aber er war eindeutig dabei zu erwachen.

Einen Moment genoss ich den Kuss und die Nähe zu Raphael, doch als er auch noch seine andere Hand hob und sie mir an die Hüfte legte, löste ich meinen Mund von seinem, blieb aber direkt über seinem Gesicht. „Bist du jetzt wach?“

Er gab ein äußerst leidiges Seufzen von sich und öffnete sein rechtes Auge einen ganz kleinen Spalt. „Und wenn ich nein sage?“ Seine Stimme klang noch ganz schläfrig.

Dann musst du ihn noch mal küssen, beteiligte sich auch Lalamika an dem Gespräch.

Ich beachtete sie nicht. „Du hast ein Auge offen. Ich kann es sehen.“

„Warum weckst du mich? Ich bin noch müde.“

„Aber du hast versprochen mir Fahrradfahren beizubringen.“

Seine Antwort bestand darin, sein Auge wieder zu schließen.

„Ach bitte, Ys-oog.“ Unleidlich rutschte ich an ihm herunter und hampelte ein wenig auf ihm herum. „Komm, schon, wach auf.“

Auf einmal gab er ein seltsames Geräusch von sich. Er griff hastig nach meinen Hüften und hielt mich fest.

Zwischen uns war etwas Hartes. Mit großen Augen schaute ich nach unten. „Was ist das?“ Ich hätte schon öfters auf ihm drauf gesessen, aber sowas hatte ich noch nie gespürt.

„Nicht wichtig.“ Er hob mich von sich herunter und platzierte mich neben sich im Bett. Als er sich dann aufsetzte und eilig nach der Decke am Fußende angelte, überlegte ich einen Augenblick, ob ihm vielleicht kalt war. Doch bevor er sie sich über seinen Schoß raffte, da bemerkte ich es und mir ging ein Licht auf.

„Oh ich weiß was los ist“, freute ich mich, auch wenn ich nicht ganz verstand, wie das passiert war. „Amber hat es mir erklärt. Wenn ein Mann …“

Plötzlich lag Raphaels Hand auf meinem Mund und hinderte mich so sehr wirksam am weitersprechen. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dieses Thema in meiner Gegenwart nicht weiter vertiefen würdest, okay?“

Da er mir den Mund zuhielt, konnte ich nur nicken.

Das schien ihn zu erleichtern. Er ließ seine Hand wieder sinken, atmete einmal tief durch und schloss dann die Augen.

Nanu, was war denn jetzt los?

Nachdenklich schaute ich von seinem Gesicht in seinen Schoß. Durch die Decke war alles verdeckt, aber ich konnte mich noch gut daran erinnern, was ich eben gespürt hatte. Amber hatte mir ja auch ein paar Sachen auf ihrem Computer gezeigt, aber das war irgendwie anders gewesen. Und wo er jetzt so neben mir saß … irgendwie wurde ich neugierig. Amber hatte gesagt, es wäre Hart, aber auch weich. Wie genau sich das allerdings anfühlte, konnte ich mir nicht vorstellen. „Ys-oog?“

„Ja?“ Er schlug die Augen nicht auf. Stattdessen schien er angestrengt über etwas nachzudenken. Seine Stirn war schon voller Furchen.

„Darf ich ihn mal anfassen?“

„Was!?“ Erschrocken riss er die Augen auf und schaute mich schon beinahe panisch an. „Nein! Nein, darfst du nicht, niemals!“ Er raufte die Decke um seine Hüfte zusammen und stieg so hastig aus dem Bett, dass er beinahe hinfiel. „Und frag mich das ja nie wieder, sonst erkläre ich das hier ab sofort zu einer Katzensperrzone!“

Die Gelegenheit für eine Erwiderung bekam ich nicht mehr. Er eilte so fluchtartig aus seinem Zimmer, dass nur noch die sprichwörtliche Staubwolke zurück blieb. Dann hörte ich nur noch, wie die Tür zum Bad zugeknallt wurde.

Ich verstand zwar nicht, was an meiner Frage so schlimm war, aber wenigstens war er endlich aufgestanden.

Zufrieden kletterte ich aus dem Bett und ging wieder nach oben in die Küche.

Marica saß in ihrem Morgenmantel mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Tisch und plauderte mit Amber. Als ich den Raum betrat, unterbrachen die beiden sich jedoch.

„Und“, fragte Amber. „Hast du den Morgenmuffel wach bekommen?“

Nickend ließ ich mich neben ihr auf den Stuhl fallen und griff mir einen Apfel aus der Obstschale. „Aber dabei ist was komisches passiert.“

„So? Was denn?“

„Ähm.“ Wie hieß das noch mal? Ich hatte es vergessen. Egal. „Na das, was passiert, wenn ein Mann gleich Sex hat.“ Ich biss genüsslich in meinen Apfel, kaute ordentlich und schluckte dass Stück dann runter. „Und als ich ihn gefragt habe, ob ich mal anfassen darf, ist er ganz schnell aufgesprungen und ins Badezimmer gerannt.“ Erst als ich meinen zweiten Bissen im Mund hatte, fiel mir ein, dass die beiden mich nur still mit großen Augen anschauten. „Was denn?“, fragte ich mit vollem Mund.

Amber schien sich schwer das Lachen verkneifen zu müssen. Marica dagegen richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihren Kaffee. Naja, zumindest, bis es an der Tür klingelte.

„Ich mach mal auf“, erklärte sie und verließ den Raum.

„Hab ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein.“ Grinsend schüttelte sie den Kopf. „Aber wenn sowas mit Raphael passiert, darfst du das nicht vor Marica sagen.“

„Warum nicht? Du hast doch gesagt, dass man mit der Familie darüber sprechen darf.“

„Ja, aber nur mit Einschränkungen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. „Weißt du, wenn ein Kind zu seinen Eltern geht und mit ihnen darüber spricht, dann ist das okay. Aber es ist nicht gut, wenn du Marica sowas über ihren Sohn erzählst, weil … naja, das macht man einfach nicht. Nur Raphael selber dürfte zu ihr gehen und mit ihr darüber reden.“

„Ähm … okay.“ Mein Gott, gab es bei diesem Thema viele Regeln, die man beachten musste. Wie sollte ich da jemals den Durchblick bekommen?

„Keine Sorge“, sagte Amber und tätschelte mir die Hand, als sie meine Verwirrung bemerkte. „Spätestens wenn du selber mal Sex hast, wirst du das alles verstehen.“

Ja, aber wer wusste schon, wann das geschah. Oder ob das überhaupt jemals passierte. Ich hatte ja nun schon einige Männer kennengelernt, aber bisher hatte ich bei niemanden den Wunsch verspürt, mich an ihn zu kuscheln, um mich gut zu fühlen. Naja, außer bei Raphael, aber das war ja etwas anderes. Auf ihn musste ich schließlich aufpassen.

Vom Flur hörte ich Schritte und Stimmen. Kurz darauf kamen Tristan und Lucy in die Küche. Lucy hatte einen Laptob in der Hand, den sie direkt auf dem Tisch abstellte. Marica verabschiedete sich mit den Worten, dass sie sich erstmal anziehen würde, in ihr Schlafzimmer.

„Wo ist Raphael?“, fragte Tristan und holte sich zwei Tassen aus dem Hängeschrank neben der Spüle und befüllte die dann mit Kaffee. Eine davon reichte er an Lucy weiter, die sich mit dem Hintern an die Anrichte gelehnt hatte.

„Duschen.“ Amber grinste boshaft. „Kalt duschen.“

Tristan setzte sich mit einer hochgezogenen Augenbraue auf einen der Stühle und stellte seine Tasse vor sich auf den Tisch. „Hast du ihm das heiße Wasser abgedreht?“

„Nein.“ Grinsend nahm sie einen Schluck von ihrem Saft. Amber mochte keinen Kaffee. Nachdem ich einmal probiert hatte, verstand ich sie. Das Zeug war wirklich eklig. „Aber jetzt wo du es sagst, dass wäre sicherlich hilfreich.“

„Ich glaube, ich will gar nicht wissen, was hier schon wieder los war.“ Genüsslich nahm er einen Schluck von seiner Tasse. „Ich habe den Helm und die anderen Sachen herausgesucht. Sie liegen im Flur.“

„Cool, danke.“

Ein paar Minuten später tauchte auch Raphael in der Küche auf. Ich hatte meinen Apfel aufgegessen und wollte diese Reste gerade wegschmeißen, doch als er den Raum betrat, hielt ich inne und schaute ihm neugierig in den Schritt. „Hm“, machte ich. „Jetzt ist er wieder ganz normal.“

Raphaels Mund klappte auf, aber kein Ton kam heraus. Amber dagegen konnte sich ihr Lachen dieses Mal nicht verkneifen und Lucy verschüttete sogar fast ihren Kaffee.

„Amber sagst, damit das weggeht, muss man …“

Klatsch. Wie schon vorhin, landete seine Hand ein weiteres Mal auf meinem Mund. „Wenn du willst, dass ich mit dir rausgehe, um dir Fahrradfahrern beizubringen, rate ich dir dringend, dieses Satz nicht zu beenden. Am besten du vergisst das ganze Thema einfach komplett, in Ordnung?“

Ich nickte mit großen Augen, verstand aber nicht, was daran jetzt schon wieder falsch war. Marica war doch gar nicht mehr im Raum und Amber hatte doch erklärt, dass das etwas ganz Normales war.

„Gut.“ Er nahm seine Hand wieder runter und drehte sich zu seiner Schwester um. „Und du hörst auf ihr diese Flausen in den Kopf zu setzen.“

„Ich weiß gar nicht wovon du sprichst.“

„Natürlich weißt du das.“ Er nahm sich eine Banane aus der Obstschale und ließ sich zwischen mir und Tristan auf den Stuhl fallen. „Und jedes Mal wenn du ihr etwas neues beibringst, dann bin ich es, der es ausbaden darf. Also lass es einfach.“

„Irgendjemand muss sie doch aufklären.“

„Dann werde ich das machen. Du hältst dich ab sofort da raus.“

„Du?“, fragte Lucy ungläubig und gab dann noch ein Lachen von sich. Allein die Vorstellung schien sie köstlich zu amüsieren. „Was weißt du schon über Frauen?“

Oh, wenn Blicke töteten könnten. „Genug.“

Diese Antwort schien ihr nicht zu reichen. „Das heißt, du wirst dich mit ihr hinsetzen und ihr den Zyklus einer Frau erklären? Regelschmerzen, Blutungen, Hormone? Dann musst du mit ihr aber auch über Verhütung, Krankheiten und das Kinder kriegen sprechen.“

„Das kann ich“, sagte er, nicht bereit nachzugeben.

„Wenn du das machst“, erklärte Tristan, „möchte ich dabei sein.“

Amber nickte. „Ich auch. Vielleicht leihe ich mir dann sogar die Videokamera von Anouk. Sowas muss schließlich für die Nachwelt festgehalten werden.“

Raphael schaute sie alle finster an. „Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund, warum ihr euch hier herumtreibt, oder hat Papa euch alle rausgeschmissen, weil ihr so unerträglich seid?“

„Ich wohne hier“, erklärte ich ihm. „Darum darf ich hier sein.“

Er seufzte nur und begann seine Banane zu schälen.

„Ich müsste da etwas mit dir besprechen“, verriet Tristan und schob seine Tasse etwas weiter auf den Tisch. „Wir haben einen …“ Kurzer Blick zu Amber. „… Auftrag.“

Seine kleine Schwester verdrehte nur genervt die Augen. „Mein Gott, hört doch mal mit dieser Geheimniskrämerei auf.“

Meine Aufmerksamkeit galt nur noch Raphael. Er hatte wieder diesen Zug um den Mund. Das gefiel mir nicht. Am liebsten hätte ich Tristan rausgeschmissen. Warum machte er das immer? Hatte ihm das vor zwei Tagen nicht gereicht.

„Wir bräuchten …“

„Ich habe dir bereits gesagt, dass ich raus bin“, unterbrach Raphael ihn grob. „Außerdem habe ich schon einen neuen Job.“

„Ach ja?“ Tristan runzelte die Stirn. „Und wo?“

„Im Illunis. Ich arbeite da ab morgen hinter der Bar.“

„Du?“, kam es ungläubig von Amber. „Du hast den Job wirklich angenommen?“

Über seine Banane hinweg, funkelte er sie an. „Ja, hab ich. Hast du ein Problem damit?“

Ihre Augen glänzten vor Erheiterung. „Ich nicht, aber du wirst wahrscheinlich eines bekommen. Ich denke, dir ist nicht so ganz bewusst, auf was du dich da einlässt.“

„Ich gebe Getränke aus.“

„Oh ja.“ Auf seinen misstrauischen Blick hin, begann sie zu grinsen. „Ich hoffe nur, du hast dir die Brust rasiert.“

„Die kann man sich auch rasieren?“ Ich zog meinen Ausschnitt nach vorne und warf einen Blick hinein. „Aber da sind doch gar keine Haare.“

Raphael griff nur seufzend nach meiner Hand und zupfte sie von meinem Hemd. Irgendwie seufzte er in meiner Gegenwart ziemlich oft, viel öfter als die anderen.

„Es gibt da übrigens noch eine Sache die du wissen solltest“, sagte zu Lucy zu Raphael und stieß sich von der Anrichte ab. „Dein kleiner Ausflug vor zwei Tagen wurde publik gemacht.“ Sie setzte sich zwischen Raphael und Tristan an den Tisch und zog ihren Laptop heran.

Stirnrunzelnd beugte Raphael sich zu ihr rüber.

Ich reckte den Hals, um auch etwas zu sehen. Funktionierte nicht. Also erhob ich mich und trat hinter Lucy, die gerade eine Videodatei aufrief.

Zuerst waren nur ein paar junge Leute in einem Auto zu sehen, die miteinander herumalberten. Dann brach plötzlich Aufregung aus, weil da etwas vor dem Fenster war. Die Kamera schwenkte herum und ein schwarzer Leopard, der neben dem Auto herrannte, geriet ins Bild.

„Das bin ich!“, rief ich aufgeregt.

Alle wandten mir einen Moment ihre Gesichter zu.

„Was denn?“ Hatte ich was falsches gesagt?

Keiner antwortete. Stattdessen widmeten sie sich wieder dem Film und lauschten den aufgeregten Stimmen.

Halt drauf, halt drauf!“

Lass das Fenster runter!“

Es klemmt!“

Auf dem Video war zu sehen, wie ich den Wagen langsam überholte und zu Raphael aufschloss

Scheiße, ich glaub, der will den Motorradfahrer fressen!“

„Das ist gar nicht wahr!“, sagte ich empört. „Ich wollte Raphael noch nie essen!“ Ich war doch bei ihm, damit ich das nicht machen musste.

„Ich bin ehrlich froh das zu hören“, murmelte Raphael.

Fuck! Tritt auf die Bremse!“, rief einer der Männer in dem Wagen.

Das Bild wurde verwackelt und unruhig. Man hörte quietschende Reifen und dann Autotüren, die hektisch geöffnet wurden.

Hast du das gesehen?“, rief einer der Männer plötzlich. „Oh scheiße, hast du das gesehen?!“

Die Kamera wurde hochgerissen und dann war wieder ich im Bild. Dieses Mal jedoch nicht als Panther. Es war direkt nach meiner Verwandlung, als ich versuchte auf die Beine zu kommen und Raphael auf mich zumarschierte.

Lucy stoppte das Video. „Ich habe Future schon gebeten dafür zu sorgen, dass das Video aus dem Netz verschwindet, aber du weißt ja, das Internet vergisst nie.“

„Dein Gesicht ist nicht zu erkennen“, fügte Tristan noch hinzu. „Genauso wenig, wie dein Kennzeichen, oder die Verwandlung von Tarajika, aber ihr Gesicht sieht man sehr deutlich und es gibt noch einige Leute, die auf der Suche nach einem freilaufenden Panther sind.“

Raphael drückte seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. „Das ergibt keinen Sinn. Ich habe dem Kerl den Speicherchip abgenommen und ihn kaputt gemacht.“

„Vielleicht hatte er die Aufnahme ja nicht auf dem Chip, sondern auf dem internen Speicher der Kamera“, überlegte Amber.

„Wie sie an die Aufnahme gekommen sind, ist eigentlich egal.“ Lucy klappte ihren Rechner wieder zu. „Viel schlimmer sind die Kommentare dazu, in denen mehrere Leute behaupten, sie hätten gesehen, wie der Panther sich in die Frau verwandelt hat.“

Raphael winkte ab. „Ohne Videobeweis sind das nichts als leere Worte von Spinnern. Du weißt doch wie die Menschen sind.“ Das es diese Aufnahme trotz seines Eingreifens gab, schien ihn viel mehr zu verstimmen.

„Ich war nur der Meinung, du solltest das wissen und würde Vorschlagen, Tarajika hält sich eine Weile von der Öffentlichkeit fern, bis Gras über die Sache gewachsen ist.“

Er nickte. „Ja, das wird wohl das Beste sein.“ Allerdings schien ihn diese Lösung nicht wirklich zu befreidigen.

Ich verstand die ganze Aufregung nicht. Es war doch gar nichts weiter passiert, doch in diesem Moment hielt ich es für angebracht, meinen Kommentar für mich zu behalten.

Nach dem Frühstück wurde ich von Amber in Schutzkleidung eingepackt. Helm, Jacke, Handgelenkschoner, das ganze Programm. Es war ein wenig eng, aber den Helm fand ich lustig. Als Lucy mir auf den Kopf klopfte, tat das gar nicht weh.

Das Fahrrad hatte Amber bereits mitgebracht. Es war schwarz und blau und wartete schon im Garten auf mich, doch als ich mich begeistert darauf stürzen wollte, schlang Raphael mir einfach einen Arm um die Taille und hielt mich zurück.

„Zuerst zuhören, dann fahren“, erklärte er und schob das Fahrrad dann selber hinaus auf den Gehsteig.

Ich hüpfte vor Aufregung um ihn herum und konnte es kaum erwarten aufzusteigen, doch zuerst erklärte Raphael mir wie ein es funktionierte. Lenker, Kette, Pedale, Klingel.

„Und lass die Finger von der Gangschaltung“, mahnte er mich. „Dazu kommen wir erst, wenn du fahren kannst, okay?“

Ich nickte eifrig.

Der Himmel war klar und die Sonne schien strahlend vom Himmel. Das würde heute sicher ein warmer Tag werden.

Tristan und Lucy stellten sich zusammen mit Amber an den Zaun, um nicht im weg zu sein.

„Na gut, dann setz dich mal drauf.“

„Ja!“ Ich hüpfte beinahe in den Sattel, blieb dann aber mit dem Fuß an der Querstange hängen und wäre fast hingefallen. Beim zweiten Versuch klappte es schon besser und dann saß ich grinsend auf einem Fahrrad.

„In Ordnung. Am Anfang werde ich dich festhalten, damit du nicht umfällst. Du trittst in die Pedale und hältst den Lenker gerade. Wir fahren erstmal nur geradeaus. Und bleib auf dem Gehweg.“

„Verstanden.“

„Gut. Und versuch niemanden umzufahren.“ Er trat hinter das Fahrrad und griff nach dem Gepäckträger. „Wenn du dann so weit bist, können wir anfangen.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich schob die Zunge zwischen die Lippen, griff den Lenker fester und stellte die Beine auf die Pedale. Leider verlor ich dadurch mein Gleichgewicht und kippte zur Seite, weswegen ich die Füße ganz schnell wieder auf den Boden stellte.

„Du musst schon während du die Beine hochstellst, anfahren. Ein Fuß auf die Pedale und dann einfach treten.“

Das tat ich. Trotzdem brauchte ich noch mehrere Versuche, bevor ich den Dreh heraus hatte. Aber dann fuhr ich endlich. Naja okay, es war mehr ein langsames Schlingern, aber wenigstens rollte das Fahrrad. Leider verlor ich aber immer wieder das Gleichgewicht und musste die Beine auf den Boden stellen, damit ich nicht hinfiel, doch Raphael blieb geduldig und erklärte mir jedes Mal von Neuem, was genau ich machen musste. Das war wirklich schwieriger, als es aussah.

Es dauerte fast eine Stunde, bis ich es endlich schaffte, mehr als ein paar Meter zu fahren und Raphael mich anwies, schneller in den Pedale zu treten. Einmal fuhr ich fast in einen Strauch und ein anderes Mal musste ich abrupt anhalten, um nicht gegen ein Straßenschild zu knallen.

Als ich das nächste Mal anfuhr, war ich zu schnell und rollte Raphael mit dem Fahrrad ausversehen über den Fuß. Er gab einen derben Fluch von sich, die anderen jedoch lachten belustigt. Und dann fuhr ich plötzlich. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich das machte, aber ich fuhr.

Okay, Raphael hielt mich noch immer am Gepäckträger fest, aber ich schaffte es die Straße einmal hoch und wieder runter zu fahren. Das war toll!

Wir drehten das Fahrrad wieder herum, brachten uns beide wieder in Position und fuhren wieder los. „Guck mal, ich kann fahren!“, rief ich begeistert und trat noch ein bisschen schneller in die Pedale. „Fahre ich jetzt alleine?“

„Nein.“ Raphaels Schritte klatschten auf den Gehweg.

„Ich will alleine Fahren!“

„Nein.“

Doch, das wollte ich. „Fahr ich jetzt alleine?“

„Nein.“

„Fahr ich jetzt alleine?“

„Ja.“

Was?! Vor Schreck warf ich einen Blick über die Schulter und da passierte es. Ich verriss das Lenkrad, kippte zur Seite und landete zusammen mit dem Fahrrad auf dem Gehweg. Der Aufprall war hart und ich schürfte mir den Arm auf.

Raphael war sofort an meiner Seite. „Alles okay?“

Nein, nein das war es nicht! „Du hast einfach losgelassen!“, warf ich ihm vor.

Statt reuig zu sein, grinste er nur und schaute sich die Schürfwunde auf meinem Arm an. „Ja, und zwar schon lange, bevor du es gemerkt hast.

Was? Er hatte schon vorher losgelassen? Aber das bedeutete ja … „Ich bin alleine gefahren.“

„Ja, das bist du.“ Er steckte sich den Finger in den Mund und rieb den Speichel dann vorsichtig über die Wunde. Dass Brennen hörte sofort auf und ich konnte dabei zuschauen, wie die Haut in Zeitraffer verheilte.

„Das will ich noch mal machen.“ Ich schob ihn zur Seite, sprang wieder auf die Beine und setzte mich erneut auf das Fahrrad. Dann wiederholten wir die ganze Prozedur noch einmal. Ich fiel wieder, aber ich gab nicht auf. Fünf, sechs, sieben Versuche und dann klappte es plötzlich. Raphael ließ los und ich fuhr ganz allein.

Lachend trat ich in die Pedale.

„Lass den Blick nach vorne gerichtet!“, rief er mir hinterher, als ich wieder über die Schulter schauen wollte.

Ich trat noch ein wenig fester in die Pedale und fuhr ganz alleine, bis ans Ende der Straße. Ich schaffte es sogar anzuhalten, ohne runterzufallen. Dann drehte ich mich herum und versuchte es zum ersten Mal ganz alleine.

Es klappte nicht sofort, das Anfahren war ein wenig schwierig, doch dann gelang mir auch das und ich fuhr nicht nur zurück, ich fuhr an den anderen einfach vorbei, bis die Straße zu Ende war. In dem Moment war ich so stolz auf mich selber, dass ich einfach lachte und vor Freude sogar einen Ruf ausstieß. Die anderen applaudierten mir sogar zu. Das war toll.

Eilig drehte ich wieder herum und fuhr zurück zu den anderen. Ich bremste etwas zu hastig und kippte deswegen leicht zur Seite, aber das war mir egal. „Ich hab es geschafft!“, rief ich begeistert, hüpfte vom Fahrrad und sprang Amber freudig an den Hals. „Ich kann Fahrtfahren!“

„Ja, ich habe es gesehen!“

Glücklich hüpfend hielt ich sie im Arm, ließ dann aber auch wieder von ihr ab und schlang meine Arme um Raphaels Hals. „Danke, danke, danke!“

„Schon gut.“ Auch er grinste.

Aus einem Impuls heraus, griff ich nach seinem Gesicht und küsste ihn mitten auf den Mund. Ich freute mich so sehr und wollte, dass er es auch spürte.

Dass er sich dabei anspannte, merkte ich erst, als er mich plötzlich so heftig von sich stieß, dass ich nicht nur ins Stolpern geriet, sondern auch noch auf den Rücken krachte und mir dabei meine verletzte Schulter stieß. Ich zischte vor Schmerz und kniff die Augen zusammen. Das tat wirklich weh.

„Ara!“ Amber stürzte an meine Seite und griff nach mir, doch ich hatte nur Augen für Raphael. Warum hatte er das gemacht? „Bist du nicht mehr ganz dicht?!“, fauchte sie ihn an.

Er schaute mich nur entsetzt an und wich dann sogar einen Schritt vor mir zurück. Doch auf einmal verzerrte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. „Was sollte das denn werden?!“, tobte er los und wischte sich angewidert über den Mund. „Du hast sie doch nicht mehr alle!“

In meiner Brust verspürte ich einen schmerzhaften Stich. Er hatte mich noch nie so angeschrien, oder war derart wütend geworden. „Ich dachte nicht, dass dich das stören würde“, sagte ich vorsichtig und setzte mich langsam auf.

„Falsch gedacht!“

„Aber … in deinem Zimmer …“

„Das war nichts als Mitleid!“, fauchte er mich an. Die Sehen an seinem Hals waren angespannt und er sah so wütend aus. „Du hast ja geradezu darum gebettelt! Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mir so auf die Pelle zu rücken! Weißt du wie man sowas wie dich nennt? Schlampe!“

„Jetzt halt mal die Luft an!“, schrie nun auch noch Amber und sprang wütend auf die Beine. Sie sah aus, als wenn sie ihn schlagen wollte.

Das sah Lucy wohl genauso, denn sie machte hastig einen Schritt nach vorne und hielt Amber am Arm fest.

„Die einzige Schlampe hier bist ja wohl du! Du hast doch früher alles gevögelt, was nicht bei drei auf den Bäumen war und …“

„Halt deine Schnauze, Amber, das ist doch alles deine Schuld! Du hast sie doch erst auf diese ganzen, schwachsinnigen Ideen gebracht, weil du zu dumm bist zu kapieren, dass sie nichts weiter als ein kleines, dummes Kind ist, das mit solchen Sachen völlig überfordert ist!“

„Ein Kind?!“ Sie gab ein scharfes Lachen von sich. „Und das kommt ausgerechnet von dem Arschloch, das bei ihr ständig einen Ständer bekommt?!“

„Hey, jetzt kommt mal langsam wieder runter“, griff nun auch Tristan ein. „Das ist doch alles halb so …“

„Halt dich da raus!“, brüllte Raphael nun auch noch seinen Bruder an und fuhr dann wütend zu mir herum. „Ich habe euch kleinen Huren so satt! Wenn du vögeln willst, dann such dir einen anderen Trottel, der sich die Scheiße antun will, aber lass mich gefälligst in Ruhe!“

Was? Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Ich war doch nur neugierig gewesen und dachte … ich hatte gedacht, er wollte das auch und auch, dass es ihm gefallen hatte. „Aber, Ys-oog, du hast doch …“

„Und hör auf mich so zu nennen, ich hasse das!“

Ich wusste nicht warum, aber das zu hören, tat beinahe noch mehr weh, als die ganzen Gemeinheiten, die er zu mir gesagt hatte. „Okay, Raphael.“

Seine Augen funkelten vor Wut. „Kommst du mir noch einmal zu nahe, sonst …“

Tristans Hand landete auf seiner Schulter, doch er schüttelte sie einfach ab.

„Fass mich nicht an!“

„Dann hör auf hier so herumzubrüllen. Wir …“

„Lass mich in Ruhe, du hast doch keine Ahnung!“

„Wir wäre es denn dann, wenn du es mir erklären würdest“, sagte er ganz ruhig. „Wir gehen rein und dann können wir …“

„Verpiss dich einfach!“ Als seine Augen sich wieder auf mich richteten, wäre ich fast vor ihm zurückgewichen. Da war so viel Zorn drinnen. „Bleib in Zukunft weg von mir!“, fauchte er mich noch mal an, kehrte uns dann allen den Rücken und marschierte dann wütend aufs Haus zu.

Lalamika, die mit gesträubtem Fell auf dem auf dem Zaun stand, fuhr ihre Krallen aus und stürzte sich fauchend auf ihn. Da sie aber nur ein Geist war, flog sie einfach durch ihn hindurch. Das hinderte sie aber nicht daran, fauchend und grollend immer wieder an ihm hinauf zu springen und zu versuchen ihre Krallen in ihn hinein zu jagen.

Ich konnte nur dasitzen und dabei zuschauen, wie er bebend vor Wut, durch den Garten stampfte. Als er auf die Veranda trat, schlug er sogar so fest gegen den Stützbalken, dass ich zusammenzuckte. Dann verschwand er einfach im Haus und ich hörte nur noch Lalamikas Fauchen.

„Hey.“ Amber hockte sich wieder neben mich und nahm mich in den Arm. „Ignoriere ihn einfach. Er ist nichts weiter als ein Idiot mit Komplexen. Du hast nichts falsch gemacht.“

„Naja“, sagte Tristan. „Sie hätte nicht …“ Er verstummte augenblicklich, als Amber und Lucy ihn warnend anfunkelten. „Ähm … ich gehe ihm mal hinterher.“

Auch Lucy kniete sich neben mich und legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter. „Lass das nicht an dich heran. Manche Männer sind nicht besonders helle und Raphael war schon immer ein besonderes dummes Exemplar dieser Gattung.“

„Sie hat Recht“, stimmte Amber ihr zu. „Raphael ist ein Schwachkopf und du solltest nichts auf das geben, was er sagt.“

Aber es tat so weh. Er hatte mich dumm genannt und Hure und dass er nur Mitleid mit mir hatte. Für ihn war ich nichts weiter als ein mitleiderregendes, dummes Kind. Und genauso fühlte ich mich im Moment auch. Klein und dumm.

„Ach Süße.“ Als Amber etwas näher rückte, drehte ich mich von ihr weg und stand auf. Meine Schulter schmerzte wieder. Das Fahrrad lag noch immer neben mir auf dem Bürgersteig.

Plötzlich begannen meine Augen zu brennen. Eben war doch noch alles in Ordnung gewesen, aber jetzt … jetzt wusste ich nicht mal, was ich machen sollte.

„Komm“, sagte Amber und legte mir wieder einen Arm um die Schulter. „Lass uns erstmal reingehen.“

Rein? Zu ihm? Aber ich wollte nicht zu ihm. Am liebsten wäre ich einfach weggelaufen, aber ich durfte nicht verschwinden. Es war egal, wie gemein er war, ich musste bei ihm bleiben, doch sehen wollte ich ihn im Moment nicht. „Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und machte mich von ihm frei. „Ich gehe nicht rein.“

„Das ist in Ordnung“, sagte Amber sofort. „Wir können auch zu mir gehen.“

„Nein.“ Ich wollte auch nicht zu ihr. Im Moment wollte ich allein sein. Ich war immer allein gewesen und hatte nie solche Probleme gehabt. Und ich hatte mich auch noch nie so verletzt gefühlt.

Als auf einmal eine Träne über meine Wange kullerte, wischte ich sie hastig weg und wandte mich einfach von den Beiden ab.

„Wo willst du hin?“, fragte Amber, doch ich achtete gar nicht auf sie. Ich wusste es selber nicht so genau. In mein Zimmer konnte ich nicht, dahin würden sie mir einfach folgen. Ich wollte … keine Ahnung. Ich ging einfach in den Garten, aber nicht ins Haus, sondern drumherum.

„Ara?“

Hier hinten sah der Garten noch verwilderter aus. Das verdorrte Gras reichte mir fast bis an die Hüfte und von den beiden Stühlen an dem zugewucherten Gartentisch war einer umgefallen. Der Efeu in den Beeten war teilweise bis hinauf zum Schrägdach gewachsen.

Das war es, aufs Dach würden sie mir sicher nicht folgen.

Zwar hörte ich, wie Amber und Lucy mir hinterher eilten, aber ich achtete nicht darauf, als ich die Krallen ausfuhr und nach den Reben an der Wand griff. Es war ein wenig schwieriger, als auf einen Baum zu klettern und das nicht nur wegen der Schutzkleidung, die ich noch trug, aber ich wollte allein sein, also ließ ich mich davon nicht abhalten.

„Was machst du denn da, Ara?“, wollte Amber wissen, als ich die Dachkante zu fassen bekam und mich hinauf zog.

Die Schindeln waren dreckig und mit Flechten und Moos bewachsen. Ich entdeckte sogar eine alte Frisbee und zwei Bälle, die von der Regenrinne oben gehalten wurden. Wahrscheinlich stammten die noch aus Raphaels Kindheit.

Als ich mich vorsichtig über das Dach auf die Spitze bewegte und mich dort hinsetzte, wurden meine Lippen eine Spur schmaler. Ich wollte jetzt nicht an ihn denken, aber ich bekam ihn nicht aus meinen Kopf.

„Ara, komm da runter, das ist gefährlich.“

Alles war so kompliziert geworden, dabei wollte ich ihm doch nur helfen. Ich verstand nicht, warum er auf einmal so ausrastete. Noch heute Morgen beim Aufstehen hatte ich ihn geküsst und da war alles in Ordnung gewesen. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass es ihn störte, oder er abgeneigt. Ganz im Gegenteil. Aber jetzt, nachdem was geschehen war … ich hatte mich doch einfach nur gefreut.

Niedergeschlagen zog ich die Beine an die Brust und schlang die Arme darum. In meinem Leben war erst einmal jemand so wütend auf mich gewesen. Damals, als Lalamika den Wasserfall hinunter gestürzt war. Pandu und mein Vater … noch nie hatte ich einen solchen Zorn gespürt. Und so einen Schmerz.

Raphael hatte seine Hand nicht gegen mich erhoben, doch es schmerzte viel schlimmer als die vielen wütenden Schläge, die ich damals bekommen hatte. Das was ich jetzt gerade spürte … sowas hatte ich noch nie gefühlt. Dieser Schmerz in meiner Brust, riss an mir und stach mit Messern auf mich ein.

Ich hatte doch gar nichts Falsches gemacht.

Als es unten auf der Veranda auf einmal laut wurde, zog ich meine Beine noch etwas enger an mich.

„… nicht mit mir machen!“, fauchte Raphael und trat wütend in den Garten, wo er sich sofort nach allen Seiten suchend umschaute. In seiner Hand hielt er eine Reisetasche und sein Motorradhelm. „Wo ist diese verdammte Katze!“

„Raphael.“ Auch Tristan kam von der Veranda. Keiner der beiden bemerkte mich hier oben auf dem Dach. „Jetzt beruhige dich doch mal. Schlaf einfach mal eine Nacht darüber.“

„Schlafen?“ Er fuhr zu seinem Bruder herum. „Glaubst du wirklich, dass ich noch eine Minute länger mit diesem geisteskranken Mädchen unter einem Dach verbringe? Du spinnst wohl!“

Lalamika schlich unruhig mit peitschendem Schwanz um ihn herum und schien ihm am liebsten den Hintern zerkratzen zu wollen.

„Ich sage ja nicht, dass es richtig war was sie gemacht hat, aber …“

„Kein Aber. Ich habe keinen Bock mehr auf diese Scheiße und sobald ich sie zwischen die Finger bekomme, war es das!“

„Was?“, fragte Amber und bog wütend um die Ecke. Lucy folgte ihr auf dem Fuße. „Willst du sie noch mal in den Boden rammen, weil du mit deinem eigenen Leben nicht klarkommst? Lass sie ja in Ruhe, sonst werde ich dir den Arsch aufreißen!“

„Ich komme mit meinem Leben nicht klar?!“, fragte er fassungslos. „Sie ist doch nicht mehr ganz dicht! Und jetzt hat sie mir auch noch meine verdammten Motorradschlüssel geklaut! Also sag mir, wo sie steckt, damit ich hier endlich verschwinden kann!“

Das nahm ihr einen Moment die Luft aus den Segel, doch statt zu antworten, warf sie nur einen Blick zu mir aufs Dach.

Er folgte ihr mit den Augen und als er mich bemerkte, schien er noch wütender zu werden. „Komm auf der Stelle da runter und gib mir meine Schlüssel!“

Ich senkte meinen Kopf ein wenig und versteckte ihn halb hinter meinen Knien. „Nein.“

Raphael verwandelte sich in einem Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch war. „Ich schwöre dir, wenn du mir nicht sofort sagst, wo meine Schlüssel sind, dann komme ich hoch und hole dich runter!“

„Vielleicht solltest du aufhören sie anzuschreien“, sagte Lucy etwas schnippisch. „Dann würde sie vielleicht auch machen was du willst.“

„Nein, würde ich nicht!“, rief ich. „Er bekommt die Schlüssel nicht!“

Das ließ die Vier etwas verdutzt dreinschauen, nur Raphael nicht, denn der ging nun hoch.

„Du verdammte Hure, du willst mich doch verarschen! Was bildest du dir eigentlich ein wer du bist?! Erst machst du so eine Scheiße und jetzt bestiehlst du mich auch noch?! Ich habe von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler war dich mitzunehmen und jetzt …“

„Raphael Jeremiel Steele, würdest du bitte aufhören, hier so herumzuschreien?“ Das war Marica. Mit einem Handtuch in der Hand, kam sie aus dem Haus und gesellte sich nun auch noch dazu. Dabei ging ihr Blick zu seiner Reisetasche. „Was ist hier los?“

„Was los ist? Die durchgeknallte Schlampe hat mir meine Schlüssel geklaut und weigert sich sie mir wieder zu geben!“ Er zeigte zu mir auf das Dach.

„Ja, weil du dann einfach wegläufst!“, rief ich hinunter.

Überrascht drehte Marica sich zu mir um und bekam große Augen, als sie mich auf dem Dach sitzen saß. „Was machst du da oben?“

„Das ist doch völlig egal!“, fuhr Raphael dazwischen, bevor ich antworten konnte. „Sie soll einfach nur meine Schlüssel rausrücken!“

„Wo willst du denn hin?“

„Dahin, wo ich von Anfang an hinwollte! Und hättest du mich nicht daran gehindert, wäre ich das auch schon! Aber nein, du bist ja auch so schlau und weißt ja alles besser! Und jetzt sitzt die Geisteskranke auf unserem Dach und …“

„Du solltest jetzt besser den Mund halten“, sagte Marica auf einmal sehr ruhig. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber Raphael veranlasste es dazu zu verstummen. „Ich habe keine Ahnung was hier los ist, aber ich werde es nicht dulden, dass du so mit mir sprichst. Wenn du mit diesem Theater nicht sofort aufhörst, dann …“

„Was?!“, höhnte er. „Schickst du mich auf mein Zimmer? Ich bin ein erwachsener Mann und du kannst mir nichts mehr sagen!“

„Nein, das kann ich nicht, aber ich bin noch immer deine Mutter.“ Sie erhob die Stimme nicht und das war beinahe noch unheimlicher als sein Herumgebrülle.

Er starrte sie einfach nur an. Sein Körper bebte geradezu vor Wut. „Scheiß drauf!“, fauchte er dann plötzlich und schleuderte seine Reisetasche einfach von sich. „Fickt euch doch einfach alle!“ Er wirbelte herum und stapfte zornig aus dem Garten.

Tristan warf noch einen Blick zu mir herauf und folgte ihm dann.

Ich versuchte mich ganz klein zu machen, als die drei Frauen zu mir nach oben schauten.

„Du kommst da auf der Stelle runter“, sagte sie dann zu mir. „Ohne Widerrede“, fügte sie noch hinzu. Damit war sie aber noch nicht fertig. Sie drehte sich zu Lucy und Amber um. „Und dann will ich wissen, was hier eigentlich los ist.“ Ihre Stimme ließ keine Widerworte zu.

 

°°°

 

„ … jetzt bitte das Handy weglegen und mit mir reden?“

„Nein, ich rufe jetzt Murphy an, damit er sie abholt. Das hätte ich von Anfang an tun sollen. Jemand wie sie kann einfach nicht in einem normalen Haushalt leben.“

„Nein, das wirst du nicht machen.“

„Hey, gibt das wieder her!“

Ein paar laute Schritte waren zu hören, dann gab Raphael ein leises Grollen von sich.

Ich saß oben an der Treppe und bohrte mit dem Zeh im Teppich auf der Stufe. Fast vierundzwanzig Stunden waren vergangen, aber Raphael war noch immer böse auf mich. Er ignorierte mich bereits den ganzen Tag. Naja, mit einer Ausnahme. Vor zehn Minuten war ich in die Küche gegangen, um mir ein paar Kekse zu nehmen. Er hatte mich angefaucht, ob ich ihm die jetzt auch noch klauen wollte und war dann aus dem Raum gestürmt.

Marica hatte verärgert ihre Zeitung auf den Tisch geworfen und war ihm hinterher gelaufen.

Ich nicht. Ich hatte die Kekse stehen gelassen und wieder diesen schmerzhaften Stich verspürt. Ich hatte ihm doch nie etwas Böses gewollt, aber jetzt hatte ich das Gefühl, der schlimmste Mensch auf diesem Planeten zu sein. Eigentlich hätte es mir klar sein müssen, dass sowas früher oder später geschah. Ich war eben doch nur ein Dirus.

Als die beiden dann angefangen hatten zu diskutieren, war ich zur Treppe gegangen, aber ich traute mich nicht nach unten zu gehen. Ich würde es wahrscheinlich sowieso nur schlimmer machen, wenn ich auch noch nach unten ginge.

„Hör jetzt sofort damit auf, Raphael. Du kannst sie nicht einfach abschieben, nur weil du einen Fehler gemacht hast und das nicht einsehen möchtest.“

„Ich?!“ Seine Stimme klang ungläubig. „Wie kommst du bitte darauf, dass ich einen Fehler gemacht habe? Sie ist doch wie eine notgeile …“ Er verstummte. Diesen Effekt schien Marica öfters auf ihn zu haben.

„Raphael, du selber hast es mir doch gesagt. Vieles von dem was für uns ganz normal ist, muss sie erst noch lernen. Du hast sie nun einmal geküsst, das Warum spielt dabei überhaupt keine Rolle. Woher sollte sie denn wissen, dass es in dem einen Moment in Ordnung war, danach aber nicht mehr? Hast du ihr das gesagt?“

Er antwortete nicht und was Marica da sagte, stimmte auch gar nicht. Seit dem ersten Mal hatten wir uns öfter geküsst, nur eben immer allein und so, dass uns niemand sehen konnte.

„Du hättest nur mit ihr reden müssen. Tarajika hört doch zu. Sie saugt alles was sie hört wie ein Schwamm auf und hält sich an die Regeln, die wir ihr vorgeben. Du musst nur …“

„Sie hält sich dran?“, unterbrach er sie und lachte scharf auf. „Dann ist es in diesem Haushalt neuerdings also erlaubt zu klauen? Falls du es nicht mitbekommen hast, sie hat mir meine Schlüssel noch immer nicht wiedergegeben. Deswegen musste ich auch noch Josh anrufen und ihn bitten, mich nachher zur Arbeit zu fahren.“

„Doch nur, weil sie Sorge hat, dass du dann einfach verschwinden wirst.“

Er schnaubte. „Warum nimmst du sie immer in Schutz? Sie hat Scheiße gebaut und mich dann auch noch beklaut!“

„Schrei mich nicht an.“ Einen Moment kehrte Ruhe ein, dann seufzte Marica leise. „Du hast Recht, das was sie gemacht hat war falsch und ich werde deswegen auch noch mal mit ihr reden, aber du kannst nicht leugnen, dass du selber an dieser Situation schuld bist. Das was du zu ihr gesagt hast, hat sie wirklich getroffen. Darum wirst du dich auch bei ihr entschuldigen.“

„Bitte? Ich soll mich entschuldigen? Das kannst du vergessen. Das einzige was ich tun werde ist Murphy anrufen, damit er uns von dieser Plage befreit.“

„Ich sage es dir nur ein Mal Raphael: Wenn du Tarajika abholen lässt, dann werde ich dir das nie verzeihen. Du willst es vielleicht nicht sehen, aber sie gehört mittlerweile zu dieser Familie und deswegen wirst du dich auch bei ihr entschuldigen. Und zwar anständig.“

„Aber …“

„Kein Aber, du tust was ich dir sage.“

„Verdammt, Mama, ich bin keine sechs mehr, du kannst mich nicht wie ein kleines Kind herumkommandieren.“

„Aber ich bin noch immer deine Mutter und ich kann ja wohl erwarten, dass du das Richtige tun wirst.“ Wieder wurde es einen Moment still. „Spring über deinen Schatten, Spatz, jeder von uns macht mal einen Fehler und Tarajika ist nicht nachtragend.“

Raphael erwiderte darauf nichts mehr. Ich hörte nur wie sich die Tür schloss und kurz darauf tauchte Marica am Fuß der Treppe auf. Als sie mich bemerkte, hielt sie kurz an, kam dann aber nach oben und setzte sich neben mich auf die oberste Stufe.

Nach einem Moment der Stille sagte sie: „Weißt du, manchmal wenn es uns nicht gut geht, dann tun wir Dinge, die wir eigentlich gar nicht so meinen. Dabei kann es auch passieren, dass wir die verletzten, die wir gerne haben.“

„Aber ich wollte ihn doch gar nicht verletzen.“

Ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Ich hab nicht dich gemeint, Mäuschen, sondern ihn. Seit Raphael wieder hier ist … es geht ihm nicht gut. Er versucht es zu verbergen, weil er sich selber nicht damit auseinander setzten will und ich kann ihm nicht helfen, weil ich nicht weiß, was genau los ist.“

Ich wusste was passiert war. „Er ist traurig, weil seine Freundin ihn verlassen hat.“ Und dieses Mal war es endgültig.

„Er hat also Liebeskummer.“ Sie nickte, als wäre sie sich dem bereits bewusst. „Das habe ich mir schon gedacht. Leider ist das nichts, was so einfach weggeht. Darum müssen wir Geduld haben und ein wenig Rücksicht auf ihn nehmen.“

„Es hat aber wehgetan“, sagte ich leise und legte die Hände in den Schoß. „Ich bin nicht dumm und auch nicht geisteskrank und ich wollte auch nie mit ihm vögeln. Ich habe mich doch nur gefreut.“

„Ja und ich bin sicher, dass er sich auch bei dir entschuldigen wird. Vielleicht dauert es ein wenig, aber er wird es machen und dann liegt es an dir, ob du großherzig genug sein kannst, ihm diesen Fehltritt zu verzeihen.“ Sie legte mir eine Hand auf meine. „Auch wenn du das im Moment vielleicht nicht glaubst, er hat dich gerne.“

Da war ich mir nicht so sicher.

„Aber nicht nur er hat Fehler gemacht.“ Sie sah mich sehr eindringlich an. „Du weißt was ich meine, nicht wahr?“

Ich presste meine Lippen fest aufeinander. Natürlich wusste ich das, denn ich war ja nicht dumm. „Ich kann ihm die Schlüssel nicht geben, er wird einfach weggehen.“

„Du kannst sie aber auch nicht behalten, denn sie gehören dir nicht und wenn Raphael gehen will, darfst du ihn nicht daran hindern. Er ist ein erwachsener Mann und auch wenn ich ihn gerne um mich habe und mich freue, dass er mal wieder zu Hause ist, er hat sein eigenes Leben.“

„Er darf nicht weggehen.“ Jedenfalls nicht ohne mich und wenn ich ihm die Schlüssel zurückgeben würde, würde er genau das tun.

„Weißt du Mäuschen, wenn er wirklich gehen wollen würde, könnten ein paar verschwundene Motorradschlüssel ihn nicht davon abhalten. Er könnte sich einfach ein anderes Fahrzeug besorgen, einen Freund fragen, oder die regionalen Verkehrsmittel benutzen.“

„Wirklich?“

Sie nickte. „Das gestern war eine Kurzschlussreaktion. Ich glaube nicht, dass er wirklich verschwinden wollte. Ihm ist es in diesem Moment einfach nur zu viel geworden und er sah keinen anderen Ausweg sich der Situation zu entziehen. Das Amber dann auch noch auf ihn losgegangen ist, hat es nur noch schlimmer gemacht. Amber ist nun mal sehr impulsiv und sie wollte dich in dem Moment beschützen. Leider hat diese überstürzte Handlung keinem von euch geholfen.“

Bedeutete das, wenn Amber nichts gesagt hätte, wäre das Ganze gar nicht so eskaliert? „Du denkst, er wäre zurückgekommen?“

„Ja, davon bin ich überzeugt, denn hier gibt es etwas, das er nirgendwo sonst findet.“

Ach ja? „Was denn?“

„Dich, mich, seine ganze Familie. Sowas ist für ihn sehr wichtig.“

„Aber er war schon mal verschwunden.“ Das wusste ich mit Sicherheit.

„Ja“, sagte sie traurig. „Doch ich bin mir sicher, dass er früher oder später wiedergekommen wäre. Er brauchte nur etwas Zeit. Raphael ist viel sensibler, als er die Leute gerne glauben lässt.“

Das mochte schon stimmen, aber auch wenn er wiedergekommen wäre, erstmal wäre er fort gewesen und hätte etwas Unverzeihlichen tun können. Wenn ich ihm die Motorradschlüssel geben würde, wäre es für ihn noch einfacher. Das durfte ich nicht erlauben.

„Hab Vertrauen, Tarajika und gestehe ihm die Freiheit zu, die er braucht. Es macht euch beide nur unglücklich, wenn du versuchst ihn einzusperren.“

Das wollte ich ja, aber … „Ich kann nicht.“

Ihre Lippen wurden ein wenig schmaler. Sie hatte sich wohl etwas anderes erhofft. Doch dann schnaubte sie noch. „Du bist genauso stur wie er. Kein Wunder, dass ihr beide …“ Bei dem Klopfen an der Haustür, unterbrach sie sich und schaute auf. „Denk einfach mal über das nach, was ich gesagt habe“, empfahl sie mir und erhob sich.

Ich brauchte nicht mal von meinem Platz aufzustehen, um zu erfahren, wen sie ins Haus ließ. Ich musste mich nur etwas drehen, um die schwarzgekleidete Gestalt zu sehen.

„Hey“, sagte Amber, sobald sie mich sah. „Alles klar?“

Ich schüttelte den Kopf.

Ihr Lächeln verrutschte etwas. Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Marica und kam dann zu mir. „Ach das wird schon wieder. Wie wäre es, hast du Lust ein bisschen Lesen und Schreiben zu üben?“

„Nein.“ Das würde doch auch nichts besser machen.

„Ach Süße.“ Amber hockte sich neben mich. „Lass dich von diesem Blödmann doch nicht …“

„Amber“, mahnte Marica.

Sie warf einen kurzen Blick zu Raphaels Mutter und drückte die Lippen zusammen. „Okay, weißt du was? Wir vergessen ihn einfach für eine Weile und machen uns einen schönen Vormittag. Wir können ja den Wellnesstag nachholen, den ich dir versprochen habe. Was hältst du davon? Danach geht es dir sicher besser.“

„Wirklich?“

„Klar, oder glaubst du, ich würde dich anlügen?“

Da ich das nicht glaubte, schüttelte ich den Kopf.

„Na siehst du. Dann komm, zieh dir die Schuhe an und dann gehen wir zu mir rüber. Später können wir dann ja noch was zusammen kochen. Papa würde sich sicher darüber freuen.“

Meine Lust hielt sich in Grenzen. Besonders heute wollte ich Raphael trotz allem nur ungern aus den Augen lassen. Gleichzeit wollte ich aber auch nicht in seiner Nähe sein. Das fand ich so verwirrend, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich denken sollte.

„Nun komm schon“, sagte Amber, als sie meinen Unschlüssigkeit bemerkte. „Gib dir ein Ruck, damit würdest du mir eine Freude machen.“

„Okay“, stimmte ich leise zu.

Damit war es entschieden. Amber schleppte mich nach drüben in ihr Haus und dann machten wir Wellness. Sogar Lucy schloss sich uns an. Dazu mussten wir uns als erstes bis auf die Unterwäsche ausziehen und uns und dicke Bademäntel wickeln. Ein paar der Sachen die wir dann machten, waren sogar ganz lustig, wie der Schlamm, den wir uns ins Gesicht schmierten. Sie nannte es Maske. Oder auch die Fußmassage. Wobei ich das nicht so gut hinbekam wie sie. Obwohl ich mir Mühe gab, machte ich irgendwas falsch, denn Amber begann immer zu kichern, weil es kitzelte.

Was mir nicht so gefiel, war das Zupfen der Augenbraue. Das zwickte. Als Amber dann mit der ersten fertig war und sich der zweiten zuwenden wollte, hatte ich keine Lust mehr. Da war es mir auch egal, dass es albern aussah, mit einer unfertigen Braue herumzulaufen. Ich ergriff einfach die Flucht.

Was folgte war eine Treibjagd durch das ganze Haus, ich vorne weg und Lucy und Amber mit der Pinzette in der Hand hinter mir her. Es endete im Wohnzimmer, wo Amber mich einfach auf die Couch schubste und sich dann auf mich drauf hockte, damit ich nicht mehr weglaufen konnte. Da half es auch nicht zu betteln und zu flehen. Da ich die ganze Zeit lachen musste, nahm sie mich einfach nicht ernst.

An dem Peeling für die Haut fand ich wiederum gefallen Gefallen und das nicht nur, weil es so gut roch.

Nach einer Dusche und einer ordentlichen Portion Bodylotion, machten wir uns dann in dem modernen und offenen Wohnzimmer breit. Ich streckte mich auf dem Bauch aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Amber setzte sich auf meinen Hintern und begann mir meine Schultern zu massieren. Das war so schön.

Lucy setzte sich noch ein Weilchen neben uns und malte sich ihre Fußnägel in einem hellen Grün an. Als Tristan dann jedoch von wo-auch-immer auftauchte, verschwanden die beiden nach oben in die kleine Einliegerwohnung unter dem Dach.

„Als ich noch klein war, hab ich immer da oben wohnen wollen“, erzählte Amber und schob ihre Hände in gleichmäßigen Bewegungen über meinen nackten Rücken. Dabei achtete sie sorgsam darauf, nicht an meine Schulter zu kommen. Die sah zwar nicht mehr ganz so schlimm wie gestern aus, aber es tat noch immer weh, wenn sie zu viel Druck ausübte.

„Und warum wohnt dann jetzt Tristan da?“

„Weil er sein Recht als großer Bruder geltend gemacht hat.“ Sie grinste. Sie benutzte irgendein duftendes Öl, darum war meine Haut ganz glitschig. „Außerdem sind die beiden durch ihre Arbeit so viel unterwegs, dass es sich für sie nicht lohnen würde etwas eigenes zu kaufen. Und Papa freut sich, wenn er nicht so alleine ist.“

„Aber du bist doch auch noch da.“

„Die Betonung liegt hier auf noch.“ Ihre Hände glitten nach unten und fuhren dann wieder an meinen Seiten hinauf. Ich bekam eine Gänsehaut. „Ich suche schon seit einer Weile nach einer eigenen Wohnung, irgendwo in der Nähe von meinem Arbeitsplatz, damit ich nicht immer hin und her pendeln muss. Leider habe ich bisher noch nichts Passendes gefunden.“

„Wo arbeitest du denn?“

„Drüben in Pforzheim in einem Kosmetiksalon. Wir renovieren gerade, deswegen habe ich auch die ganze Zeit frei, aber ab nächste Woche beginnt wieder der Ernst des Lebens. Leider.“

„Leider?“

„Na dann habe ich nicht mehr so viel Zeit und auch wenn mir die Arbeit Spaß macht, manchmal kann sie auch anstrengend sein.“

Ich richtete mich ein wenig auf und schaute sie über die Schulter hinweg an. „Dann sehe ich dich nicht mehr so oft?“

Dafür bekam ich ein Lächeln. „Keine Sorge, für dich werde ich immer ein bisschen Zeit finden. Du bist doch meine Lieblingskatze.“

„Wirklich?“

„Natürlich. Und jetzt leg dich wieder hin.“ Ohne mir die Chance zu geben, ihre Bitte in die Tat umzusetzen, drückte sie mich mit dem Gesicht zurück ins Polster. „Und entspannen.“

Hm, das war aber nicht sehr nett gewesen. Trotzdem bettete ich meinen Kopf wieder auf meinen Armen und atmete einmal tief durch. Das war schön. Sowas hatte noch nie jemand mit mir gemacht und trotz allem was los war, konnte ich hier liegen und es einfach nur genießen. Den Geist mit dem langen Bart, der immer wieder seinen Kopf durch die Wand steckte, beachtete ich dabei gar nicht.

Nach ein paar Minuten der Stille, in denen ich einfach nur da lag und die Behandlung genoss, bemerkte Amber: „Du hast zugenommen.“

„Ich weiß, meine Hosen sind jetzt viel enger. Sie rutschen nicht mehr.“ Und meine eine Bluse konnte ich gar nicht mehr schließen, ohne das die Knöpfe einfach wieder aufsprangen. Dabei mochte ich diese Bluse doch so gerne.

„Dann sollten wir bald mal zusammen shoppen gehen.“

„In ein Einkaufszentrum?“

„Klar.“

Mit Amber ins Einkaufszentrum gehen, das wäre sicher toll.

Als ihr Handy auf dem Tisch klingelte, warf sie einen Blick auf das Display. „Das ist eine Freundin“, erklärte sie und griff nach dem Handtuch, um sich die Hände abzuwischen. Dann hielt sie es sich ans Ohr. „Hey Süße, was gibt es?“ Da sie zum Telefonieren nur eine Hand brauchte, begann sie mir mit der anderen wieder über den Rücken zu streichen. „Nein, heute nicht. Ich habe eine Freundin hier und wir wollen uns einen schönen Tag … nein, nicht so eine Freundin.“

Ich konnte es zwar nicht sehen, aber mir gut vorstellen, wie sie die Augen verdrehte.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie darauf Lust hat.“ Sie verstummte kurz. „Du wirst ja wohl mal einen Abend ohne mich ins Illunis gehen können.“

Der Name ließ mich aufhorchen. War das nicht der Tanzclub, in dem Raphael ab heute arbeiten würde?

„Glaubst du wirklich, dass du mich so überzeugen kannst? Du solltest mich eigentlich besser kennen.“ Sie lachte lauthals auf. „Okay du kleines Biest, ich wünsche dir viel Spaß und … ja mache ich, bis dann.“ Das Telefonat wurde beendet und das Handy landete wieder auf dem Tisch.

„Wer war das?“, fragte ich neugierig.

„Felicita, meine Ex-Freundin. Sie wollte mit mir und ein paar Freunden tanzen gehen.“

„Ich war noch nie tanzen.“ Aber ich hatte im Fernseher Leute gesehen, die getanzt hatten. Sie schienen dabei Spaß gehabt zu haben.

Amber verharrte einen Moment und beugte sich dann vor, bis sie mir ins Gesicht schauen konnte. „Möchtest du tanzen gehen?“

„Im Illunis?“

Sie nickte. „Da ist es aber ziemlich laut und auch voll. Selbst unter der Woche werden sich ein paar hundert Leute in den Laden drängen. Und die Gerüche sind extrem.“

„Macht es den Spaß?“

Sie lächelte. „Und ob. Man trifft zwar immer mal wieder auf ein paar Idioten, aber die kann man getrost ignorieren.“

Außerdem könnte ich so in der Nähe von Raphael sein und ihn so im Auge behalten. „Okay.“ Ich nickte. „Ich will tanzen gehen.“

„Na wenn das so ist, dann rufe ich noch mal kurz Felicita an und dann gehen wir in mein Zimmer, um ein passendes Outfit zu suchen. Das wird super werden.“

Bevor wir dann allerdings ihren Kleiderschrank bis in seine verborgenen Tiefen genaustens unter die Lupe nahmen, musste ich erstmal duschen gehen, um das Öl wieder runter zu bekommen. Dann gab es noch Essen und einen Film, der von dem Untergang eines großen Schiffes auf dem Ozean erzählte. Erst danach ging die Klamottenschlacht los, an deren Ende ich in einer schwarzen Cargohose mit hundert Taschen und einem engen, schwarzes Shirt mit einem tiefen Ausschnitt stecke.

„Bei mir ist das Shirt nicht so eng“, entschuldigte Amber sich und zog sich ihre Netzstrümpfe an. Sie trug ein kurzes, schwarzes Kleid mit langen Glockenärmeln, über das sie ein enges Lederkorsett gezogen hatte. Sie sah hübsch aus.

„Mir gefällt es“, sagte ich und schaute mich von allen Seiten in dem Bodenlangen Spiegel an. „Ich sehe ganz anders aus, als sonst.“

„Und das, bevor ich dich überhaupt geschminkt habe.“ Sie grinste und schnappte sich dann einen von den hohen Stiefeln, die sie als Overknees bezeichnet hatte. Die gingen ihr nicht nur bis übers Knie, die Absätze waren auch so hoch, dass sie praktisch auf den Zehenspitzen stand.

„Darauf kannst du laufen?“

„Alles nur eine Sache der Übung.“ Auch der zweite Stiefel fand seinen Platz an ihrem Bein. „So, dann setz dich mal hin, damit ich dich noch schminken kann.“

Ich ließ mich auf den Stuhl vor ihrem Kosmetiktisch sinken und dann musste ich eine ganze Weile stillhalten. Langsam wurde ich wirklich aufgeregt und freute mich richtig auf den Abend. Das würde bestimmt toll werden.

Sich selber schminkte Amber auch, aber nicht ganz so dezent wie mich, sondern so … naja, wie sie eben immer herumlief.

Es war schon fast zehn und draußen bereits dunkel, als ihr Handy klingelte. Ihre Freundin war dran, sie wartete mit dem Auto vor der Tür. Also rief Amber noch mal kurz bei Marica an und sagte ihr, dass ich heute mit ihr unterwegs sein würde und dann waren wir auch schon auf den Weg nach draußen.

„Hast du deinen Personalausweis?“, fragte Amber noch, während sie bereits die Haustür aufzog.

Ich nickte. „Ich soll ihn ja immer bei mir tragen.“

„Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen.“ Sie hakte sich bei mir ein, zog die Tür zu und führte mich durch den Garten.

Am Straßenrand stand ein roter Wagen. Durch die offenen Fenster konnte ich die laute Musik hören und auch ein Brummen, dass ich gleich darauf als die Stimme von dem Mann auf der Rückbank erkannte. Wow, ich hatte noch nie eine so tiefe Stimme gehört.

Amber trat direkt an das Auto und zog die hintere Tür auf. „Hey“, grüßte sie die Insassen und rutschte auf die Rückbank. „Mach mal Platz, da kommt noch jemand.“ Sie drückte und schob den Mann neben sich so lange, bis auch ich in den Wagen passte. „Kannst du die Musik etwas leiser machen?“

Der Kerl auf dem Vordersitz stöhnte genervt, beugte sich aber vor. „Kaum ist sie hier, bellt sie schon wieder Befehle.“

Ich zog die Wagentür zu und schaute mich dann neugierig um.

„Unser kleiner Schwerenöter da vorne ist Fabrizio“, stellte Amber mir den Fahrer vor. Er hatte sehr kurze Haare, in das ein wellenartiges Muster geschnitten war. Das sah toll aus, sowas wollte ich auch.

Er hob zur Begrüßung die Hand und betrachtete mich seinerseits.

„Die Zicke auf dem Beifahrersitz ist seine Schwester Felicita.“

„Ha ha“, machte die Frau vor mir, klang aber nicht wirklich belustigt. Da die Kopfstütze direkt vor mir war, konnte ich nicht viel von ihr sehen, außer dass sie langes, braunes Haar hatte.

„Und dieser Grummel hier ist mein absoluter Lieblingsmann Bronco“, stellte sie den Mann neben sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Sollte ich jemals das Bedürfnis verspüren auf Männer umzusteigen, dann nur wegen ihm.“

„Hey“, grüßte er mich und musterte mich interessiert. Sein Kopf war voller kurzer Rastazöpfe und sein kurzärmliges Hemd war komplett aufgeknöpft. Auf dem Bauch hatte er eine kleine Narbe. „Ein Ailuranthrop?“ Seine Augenbraue ging ein wenig hoch. Sie alle waren Lykaner.

Amber grinste nur. „Das, ihr Süßen, ich meine allerliebste Ara.“

„Ara? Was ist sie, ein Vogel?“

Warum fragten die Leute das immer? Ein Vogel hatte mit mir doch überhaupt keine Ähnlichkeit. „Das ist mein Spitzname. Ich heiße Tarajika.“

„Sie hat ja gar keinen Akzent“, bemerkte Fabritio.

„Das ist wirklich das erste, was dir an ihr auffällt?“, fragte Felicita.

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Können wir dann jetzt bitte mal ziehen?“, kam es von Bronco. Sein Knie drückte ungeduldig in den Vordersitz.

„Hey, lass das“, schimpfte Fabrizio.

„Ara brauch nicht ziehen“, sagte Amber sofort. „Sie hat keinen Führerschein.“

War es etwa schlimm keinen Führerschein zu haben? „Aber ich kann Fahrradfahren.“

„Oh, wow“, sagte Felicita gespielt begeistert. „Vielleicht sogar schon ohne Stützräder? Schnell, jemand muss die Zeitung benachrichtigen.“

Ich hatte keine Ahnung, was Stützräder waren und kam auch nicht mehr zu einer Antwort, denn Amber beugte sich vor und haute sie.

„Hey!“

„Dann hör auf so ein Biest zu sein, sonst erzähle ich Fabrizio, wohin sein komisches Computerteil letztes Jahr verschwunden ist.“

Fabrizio drehte sich zu ihr um. „Was?“

Das gab von Felicita einen bösen Blick. „Vielen Dank auch.“

„Bitte, immer wieder gerne.“

„Hey“, beschwerte Fabrizio sich und schaute von einem zum anderen. „Ignoriert mich nicht. Was für ein Computerteil?“

Bronco wedelte mit der Hand. „Ziehen.“

„Ist ja schon gut“, murrte Felicita und kramte in ihrer Tasche herum. Sie zog etwas heraus und hielt es genau in die Mitte von den dreien. Waren das Strohhalme?

Amber zwinkerte mir zu. „So entscheiden wir, wer heute trinken darf und wer nüchtern bleiben muss, um die anderen nach Hause zu fahren.“

„Aha“, machte ich und wusste trotz der Erklärung nicht recht, was das bedeuten sollte. Warum durfte man denn nichts trinken, wenn er die anderen fahren musste? Das ergab doch keinen Sinn.

Die beiden Männer und Amber griffen praktisch gleichzeitig nach den Halmen. Amber nahm sich den gelben, hielt ihn hoch und führte dann ein kleines Tänzchen auf. Naja, so gut das im Sitzen eben möglich war. „Super, wieder davongekommen!“

In der gleichen Sekunde kam von Fabrizio ein: „Verdammt, warum immer ich?“

„Immer?“ Bronco schnaubte und schnippste seinen grünen Strohalm nach vorne zum Fahrer. „Die letzten beiden Male war ich ja wohl dran gewesen.“

Fabrizio grummelte etwas Unverständliches, startete dann den Motor und lenkte den Wagen auf die leere Straße.

„Okay, hier.“ Wieder tauchte Felicitas Arm in dem Zwischenraum auf. Sie hielt drei kleine Flaschen in der Hand, die Amber ihr sofort abnahm. Eine gab sie Bronco, den anderen drückte sie mir in die Hand. Fabrizio bekam keine.

Die waren wirklich winzig. „Ich hab aber gar keinen Durst.“

„Ach, das ist egal“, winkte Amber ab. „Das ist wie Schokolade, auch wenn man kein Hunger hat, die schmecken immer.“

Oh, Schokolade in Flaschen? Das hörte sich lecker an.

„Hier, schau, so geht das“, erklärte sie mir, drehte ihre Flasche auf den Kopf und tockte mit dem Deckeln ein paar Mal auf die Handfläche. „Das sind sogenannte Klopfer. Los, mach.“

„Sie weiß nicht was Klopfer sind?“ Fabrizio warf einen zweifelnden Blick durch den Rückspiegel, woraufhin Amber ihn warnend anfunkelte.

„Ich weiß vieles nicht“, sagte ich und folgte Ambers Anweisungen. Einmal, zweimal, dreimal klopfen. „Als ich zehn war, hat mich die Fängerin geholt und dann saß ich acht Jahre in einem Käfig. Da hab ich nicht viel gesehen und die anderen Sklaven haben sich meist von mir ferngehalten. Sie hatten Angst vor mir.“ Als ich die entgeisterten Blicke bemerkte, hörte ich mit dem Klopfen auf. Ähm … langsam und ohne sie aus den Augen zu lassen, beugte ich mich zu Amber. „Hätte ich das nicht erzählen sollen?“

„Ach quatsch.“ Amber legte einen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. „Solange du dich dabei wohlfühlst, darfst du alles erzählen. Die Leute sind es nur nicht gewohnt, mit diesem Thema allzu offen umzugehen.“ Sie schaute ihre Freund an. „Ja, Ara war bis vor ein paar Wochen eine Sklavin und nein, sie möchte deswegen nicht von euch bemitleidet werden. Würdet ihr jetzt also bitte aufhören, sie wie eine Kuriosität anzustarren, wir sind hier um Spaß zu haben.“

„Darauf trinke ich.“ Bronco schraubte seine kleine Flasche auf, hob sie dann einmal hoch, als wollte er sie und noch mal zeigen und leerte sie anschließend in einem Zug.

Amber tat es ihm gleich und auch ich folgte seinem Beispiel. Ich schraubte den Deckel ab und kippte mir den Inhalt in den Mund. Noch in der gleichen Sekunde riss ich die Augen auf, drehte mich dann hastig zur Seite und spuckte alles durch das offene Fenster aus. Das war keine Schokolade, das war widerlich.

„Igitt.“ Angeekelt wischte ich mir nicht nur mit der Hand über den Mund, sondern auch über die Zunge. Ich hoffte so diesen Geschmack wieder loszuwerden. „Warum trinkt ihr das?“ Und dann auch noch freiwillig.

Lachend drückte Amber mich gegen sich. „Das trinkt man um lustig zu werden.“

Felicita hielt drei weitere Flaschen nach hinten, die ihr dieses Mal Bronco abnahm. Eine ging an Amber, die zweite wollte er mir geben.

Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Das will ich nicht, das ist eklig.“

„Ich besorge dir was im Club was anderes.“ Amber schnappte sich auch noch meine Flasche. „Etwas das nicht eklig ist und lustig macht.“

„Etwas das nach Schokolade schmeckt?“

„Na, nicht unbedingt nach Schokolade, aber etwas dass dir sicher schmecken wird.“ Sie drückte mich noch einmal an sich. „Du wirst schon sehen, dieser Abend wird spektakulär!“

 

°°°°°

Reinigendes Feuer

 

Die Bässe in den Boxen hämmerten so stark, dass ich die Vibration bis auf meine Knochen spüren konnte. Bunte Lichtstrahlen zucken über die tanzende Meute, die sich im wilden Rhythmus der Musik bewegte. Über den Boden krochen künstliche Nebelschwarten und verliehen der Szene einen unwirklichen Präsenz. Ich hatte nie etwas Atemberaubendes gesehen.

Amber hatte recht gehabt. Es war laut, voll und der falsche Nebel kratzte unangenehm in der Nase, aber die Atmosphäre war einfach nur toll und dieses weiße Alkopop war wirklich lecker – auch wenn es nicht nach Schokolade schmeckte.

Wir saßen in einer der Sitznischen, die die Wände rundherum säumten. Genau in der Mitte war eine kreisrunde Bar. Durch die tanzenden Leute, die praktisch den ganzen Raum zwischen den Sitznischen und der Bar einnahmen, sah ich Raphael hin und wieder einen kurzen Moment. Er hingegen hatte mich noch nicht bemerkt und das war auch gut so. Es würde mich auch nicht stören, wenn er überhaupt nicht mitbekäme, dass ich hier war.

Ich hatte meinen Spaß und wie Amber bereits gesagt hatte, diese Getränke machten lustig und das wollte ich mir von ihm nicht vermiesen lassen. Ich wusste nicht, ob ich schon jemals in meinem Leben so ausgelassen gewesen war.

Als die Menge sich wieder einen kurzen Moment teilte, sah ich, wie Raphael ein paar Getränke an die Gäste ausgab. Genau wie alle anderen Kellner, trug er eine Jeans und sonst nichts. Naja, wie alle männlichen. Die Frauen trugen noch ein kurzes Top.

„Die Village People?“, Fabrizio schnaubte. „Also ich sehe hier weder Indianer, noch Bauarbeiter oder Cowboys. Du meinst wohl die Chippendales.“

Felicita winkte ab. „Dann sehen die Kellner hier halt aus wie die Chippendales. Ist doch auch egal, ich finde es trotzdem geschmacklos.“ Sie war hübsch, aber sie guckte mich immer so böse an. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich nicht mochte.

Amber schnaubte. „Und dennoch bist du immer die Erste, die nach dem Illunis schreit.“

Grinsend nahm Broco einen Schluck aus seinem Glas. „Das liegt an der Bühnenaufführung.“

Dafür gab es einen giftigen Blick.

Ich nahm noch einen Schluck von meiner Flasche und spürte wieder dieses Kribbeln unter der Haut. Wir waren noch noch lange hier, aber das war schon meine zweite Flasche. Die erste war blau gewesen, dieses hier schmeckte mir jedoch besser.

„Das hat nichts mit der Show zu tun“, widersprach Amber, „sondern mit den geschmacklosen Kellnern, die dann auf der Bar tanzen. Oder besser gesagt, mit den Kellnerinnen. Wenn sie dürfte, würde sie wohl jede einzelne von ihnen, von oben bis unten ablecken.“

„Und in der Mitte würde sie ein wenig länger halt machen“, fügte Fabrizio noch hinzu.

„Das verstehe ich nicht. Warum sollte man eine Frau ablecken wollen?“ Und an ihrem Bauch dann auch noch halt machen?

Amber rempelte mich spielerisch mit der Schulter an. „Weißt du noch das Video, dass ich dir gezeigt habe? Das mit den beiden Frauen?“

Ich nickte.

„Darum möchte sie es machen.“

Ah, es ging also mal wieder um Sex. Langsam wurde ich wirklich neugierig darauf. Dann kam mir wieder Raphael in den Sinn und das war er gestern zu mir gesagt hatte und auf einmal verflog mein Interesse daran einfach wieder.

„Also, ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber ich werde jetzt tanzen gehen.“ Bronco stellte sein Glas auf den Tisch und erhob sich.

„Warte, ich komme mit.“ Ich stand auf und da sowohl links, als auch rechts jemand neben mir saß, stieg ich kurzerhand auf die Bank und machte von da aus einen großen Schritt auf den Tisch.

„Hey!“, schimpfte Felicita. „Pass auf die Gläser auf.“

Fabrizo und Amber grinsten nur, als ich Brocos dargebotene Hand nahm und auf den Boden sprang.

„Wir wären auch aufgestanden“, lächelte Amber.

„Ist schon gut.“ Ich griff Broncos Hand ein wenig fester und zog ihn mit mir auf die Tanzfläche. Wie man tanzte, hatte ich ja schon die ganze Zeit beobachtet, also suchte ich mir einen halbwegs freien Platz und versuchte die anderen nachzumachen. Arme und Beine bewegen und auch noch die Hüften. Uh, das machte Spaß. Als ich mich dann auch noch drehte, fing Bronco mich mittendrin ab und zog mich ein Stück zurück, bevor ich ausversehen in die anderen Tänzer reinlief.

„Okay, meine Hübsche, du warst wohl auch noch nie tanzen.“

Ohje. „Merkt man das?“

„Nur ein bisschen“, schmunzelte er und drehte mich dann so, dass ich direkt vor ihm stand. „Aber das ist nicht schlimm. Du machst jetzt einfach das was ich machen und dann wird das schon.“ Es war so laut, dass er ein bisschen lauter sprechen musste.

„Ja, gut.“

„Okay, dann komm her, ein bisschen in die Knie gehen und zum Rhythmus bewegen. Nicht so viel mit den Armen zappeln. Ja, genau so.“

Ich versuchte genau das zu machen, was er mir zeigte. Zwar brauchte ich ein paar Versuche, aber dann klappte es.

„Ja“, lächelte er und tanzte dann selber etwas näher. „So ist gut.“ Als er eine Hand an meine Taille legte, wollte ich das auch bei ihm machen, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, du nicht, nimm deine Arme einfach ein Stück hoch und komm näher. Stell dein Bein zwischen meine, genau.“ Er kam noch ein Stück näher. „Ja, jetzt hast du es.“

Ich grinste ihn an.

„Und jetzt mach die Augen zu.“

Hä? „Warum?“

„Tu es einfach. Und dann lausch der Musik und spür den Rhythmus.“

Ich hatte zwar keine Ahnung was das bringen sollte, aber ich schloss die Augen und begann blind Zur Musik zu tanzen. Es war anders. Die ganze Atmosphäre schien sich zu verändern. Ich hörte die Musik nicht nur, ich konnte sie auch mit all meinen Sinnen fühlen. Das war … berauschend. Ich roch und hörte die Leute um mich herum noch, aber ich konnte sie ausblenden. Da war nur ich und der Rhythmus.

Bronco drängte sich etwas näher und hielt mich mit einer Hand fest. Es war seltsam jemand anderen so zu spüren, aber ich fühlte mich gut dabei. Genau wie ich bewegte er sich zur Musik und ließ sich einfach mitreißen.

Ich hatte das Gefühl, in eine ganz andere Welt abzutauchen. Dieser Ort war fremd und faszinierend und ganz anders als alles was ich kannte. Hier fühlte ich mich einfach nur wohl.

Die Lieder wechselten, der Rhythmus veränderte sich und ich ließ mich einfach hinein fallen. Die Zeit schien hier keine Bedeutung zu haben. Mein Herz klopfte vor Lebensfreude. Dieses Gefühl, es war unbeschreiblich.

Die Musik spielte gerade etwas länger, als ich spürte, wie sich von hinten jemand gegen mich drängte und sich zwei Hände auf meine Hüften legte. Ich musste die Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass es Amber war, ich konnte sie riechen. Trotzdem schaute ich sie an und lächelte.

Sie grinste zurück. „Das scheint dir Spaß zu machen“, rief sie über die Musik hinweg.

Ich nickt begeistert. „Ich finde es toll!“

Von Bronco kam ein leises Lachen. „Sie ist ein Naturtalent. Aber ich brauch mal eine kleine Pause.“

„Jetzt schon?“ Warum das denn?

„Wir tanzen schon seit fast einer Stunde“, ließ er mich wissen und überließ mich dann Amber. „Ich bin kurz an der Bar.“

„Bring uns auch etwas mit!“, rief sie ihm noch hinterher.

Er hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Ich mag ihn“, erklärte ich, als Amber mich noch ein wenig näher an sich heran zog.

„Bronco ist ja auch toll.“ Ihre Hand strich von meiner Hüfte zu meiner Taille und hinterließ ein Kribbeln auf meiner Haut. „Ich habe ihn vor drei Jahren auf der Arbeit kennengelernt. Er ist ein Kollege von mir.“

Dann war er also auch Kosmetiker. Vielleicht war er ja deswegen so hübsch. „Er kann gut tanzen.“

„Du weißt ja, was man über Männer sagt, die gut tanzen können.“

„Nein.“ Ich drehte den Kopf so weit, dass ich sie sehen konnte. „Was sagt man denn?“

Statt zu antworten, grinste sie nur und wiegte sich mit mir zum Takt der Musik. Dadurch geriet einer der Kellner mit einem Tablett in mein Blickfeld, der gerade ein paar Gläser von deinem Tisch abräumte. Moment, den kannte ich doch.

„Josh!“, rief ich begeistert und hob die Arme winkend in die Luft. „Hey, Josh!“

Erst bei meinem zweiten Ruf reagierte er und schaute sich suchend um. Als er Amber und mich dann bemerkte, wirkte er einen Moment erstaunt, kam dann aber mit einem Lächeln zu uns rüber. „Hey, was macht ihr den hier?“

Amber zog eine Augenbraue hoch. „Häkeln lernen, sieht man doch.“

„Stimmt gar nicht“, widersprach ich. „Wir tanzen.“

Josh ließ sich von Amber nicht ärgern. „Raphael hat gar nicht erwähnt, dass ihr hier seid.“

„Was wohl daran liegt, dass er es nicht weiß“, sagte Amber sehr kühl.

Ich wandte den Blick ab. An Raphael hatte ich die ganze Zeit keinen Gedanken verschwendet und wenn ich ehrlich war, wollte ich das auch gerade nicht ändern.

„Aber da du uns nun gesehen hast, wirst du es ihm sicher gleich brühwarm erzählen.“

„Wow, warum gleich so feindlich?“

Erst schien es, als wollte sie noch einen bissigen Kommentar ablassen, doch dann seufzte sie einfach nur. „Egal, sorry, vergiss es einfach. Wir sind nur hier um ein wenig Spaß zu haben und abzuschalten.“

„Na dann wünsche ich euch viel Erfolg.“ Er hob die Hand und tätschelte mir grinsend den Kopf. „Treibt es nicht zu wild.“

„Genau das ist es was wir vorhaben“, erklärte Amber und ließ die Augenbrauen hüpfen.

Joah lachte nur und begann dann wieder damit die Tische von den leeren Gläsern zu befreien.

Amber tat so, als hätte es diese kleine Unterbrechung gar nicht gegeben und tanzte einfach weiter. Sie drehte mich sogar zu sich herum und tanzte dann so mit mir, wie Bronco es vorher getan hatte – nur ein bisschen enger. Das machte Spaß. Naja, solange, bis Felicita neben uns auftauchte.

Es war nicht so, dass sie irgendwas Gemeines tat, als sie uns antanzte und es war lustig, zu dritt die Hüften zu schwingen, aber irgendwas an ihr irritierte mich. Sie schaute mich immer auf eine Art an, bei der sich mir die Haare sträubten. Deswegen hatte ich auch gar nichts dagegen, als Bronco zurück kam und mir im Vorbeigehen zwei Alkopops vor die Nase hielt.

„Ich mach auch mal Pause“, erklärte ich und folgte ihm an den Tisch.

Fabrizio saß noch gelangweilt auf seinem Platz und kaute auf einem Strohhalm herum.

„Bist du traurig?“, fragte ich ihn, als ich neben ihn auf die Sitzbank rutschte.

Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Nope.“

„Er ist nur eingeschnappt, weil er nichts trinken darf“, erklärte Bronco und schob mir eine der Flaschen rüber. Dabei war meine andere doch noch gar nicht … oh, die war ja doch schon leer.

Da ich den Deckel nicht alleine auf bekam, half Bronco mir dabei.

„Sag mal, warst du wirklich eine Sklavin?“, fragte Fabrizio auf einmal. „Du benimmst dich nicht so.“

„Alta, das hast du jetzt nicht wirklich gesagt.“ In Broncos Stimme schwang ein ungläubiger Ton mit.

Sein Freund zuckte nur mit den Schultern.

„Ich saß in einem Käfig. Die anderen Frauen waren Sklaven. Ich war …“ Ich stockte. Ich war mir nicht so sicher, was ich für Jegor gewesen war. Anfangs hatte er ein paar Mal versucht mit dazu zu bekommen, für ihn mit den Geistern zu sprechen. Als ich das nicht getan hatte, war sein Interesse an mir recht schnell verschwunden. Ein paar Mal hatte er sogar überlegt mich zu verkaufen. Ich wusste nicht, warum er es nicht getan hatte. „Ich war wohl ein Haustier.“ Eine bessere Erklärung fiel mir nicht ein.

„Sein Haustier?“ Fabrizio schaute zweifelnd drei.

„Ich hab mich nie verwandelt. Ich war vom ersten Tag an ein Panther.“

„Du bist ein Panther?“, fragte Bronco überrascht.

Diese Frage ließ mich einen Moment zurückschrecken. Wussten sie etwa etwas über Dirus? Wo war Lalamika, wenn man sie brauchte? Ein sehr vorsichtiges „Ja“ kam über meine Lippen.

„Wow, das ist ja geil.“

„Wirklich?“ Ich blieb misstrauisch.

„Klar. Ailuranthropen sind ja schon selten, aber dann noch ein schwarzer? Das ist was ganz Besonderes.“

„Findest du?“ So hatte mich noch nie jemand genannt.

„Oh nein“, kam es da auf einmal entsetzt von Fabrizio.

Erst glaubte ich, dass er seinem Freund widersprechen wollte, aber dann bemerkte ich, dass seine Aufmerksamkeit gar nicht mir galt. Sein Blick war auf die Tanzfläche gerichtet, wo Amber und Felicita eng umschlungen beieinander standen und sich sehr ausgiebig küssten.

„Verdammt, jetzt geht das wieder los.“

Was war denn daran so schlimm? Auf meine Ratlosigkeit hin erklärte Bronco. „Felicita und Amber führen eine On/Off-Beziehung. In der Zwischenzeit waren sie bestimmt schon fünf oder sechs Mal …“

„Acht“, unterbrach Fabrizio ihn. „Sie waren mittlerweile schon acht Mal zusammen. Und immer wenn sie sich trennen, heult Felicita erst tagelang, nur um anschließend zur größten Zicke der Welt zu mutieren, die sofort wieder anfängt zu heulen, wenn man etwas Falsches sagt.“

Bronco schmunzelte nur. „Vielleicht solltest du langsam doch mal bei deinen Eltern ausziehen. Dann musst du das nicht mehr ertragen.“

Er grummelte etwas unverständliches und nahm dann ein Schluck von seiner Limo.

Ich dagegen betrachtete die beiden mit schamloser Faszination. Das sah so ganz anders aus, als das was Raphael mit mir gemacht hatte. Felicita hatte Amber so dicht an sich herangezogen, dass zwischen ihnen nicht mal mehr ein Lüftchen Platz gefunden hätte. Dabei hatte sie einen Arm um Ambers Taille geschlungen, während sie mit ihrer Hand langsam über ihren Po strich.

Amber hatte ihre Arme um Felicitas Nacken gelegt und sah nicht so aus, als wollte sie demnächst wieder loslassen. Man könnte fast glauben, die beiden seien dabei miteinander zu verschmelzen.

Etwas daran störte mich. Erst drängelte sie sich in den Tanz und jetzt machte sie das. Ich war ihre Lieblingskatze, dass hatte sie mir erst heute gesagt. Ich sollte aufstehen und Felicita einfach wegschubsen, doch bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, lösten die beiden sich voneinander und Amber lächelte. Sie mochte das, was Felicita tat.

Meine Hand schloss sich ein wenig fester um meine Flasche. Wenn ich sie jetzt schubsen würde, wäre Amber sicher böse mit mir. Aber böse angucken, das durfte ich sie trotzdem.

„Hey.“ Bronco stieß mich mit dem Fuß an. „Wer hat dir den plötzlich in die Suppe gespuckt?“

Hä? „Welche Suppe?“

„Das ist nur so eine Redensart.“

„Verstehe ich nicht.“

Dafür bekam ich ein Lächeln. „Nicht so schlimm. Trink aus, dann tanz ich noch mal mit dir.“

Das klang in meinen Ohren nach einer super Idee, also leerte ich meine beiden Flaschen. Ich bekam sogar noch eine dritte und dufte auch mal von Broncos Getränk probieren. Das schmeckte nicht so schlimm, wie das im Wagen, also nahm ich sogar noch einen zweiten und dritten Schlick. Okay, am Ende trank ich es ganz aus. Das kribbelte halt so lustig.

Als wir dann wieder auf die Tanzfläche gingen, wurde mir ein kleinen wenig schummerig vor den Augen und irgendwie bekam ich leichte Schlagseite.

„Hoppla“, sagte Bronco und ergriff mich am Arm. „Immer schön langsam.“

„Da ist es irgendwie komisch“, sagte ich, als wir uns zwischen die Leute drängten. „In meinem Kopf.“ Ich zeigte auf selbigen.

„Du scheinst ein wenig zu viel getrunken zu haben“, bemerkte er lächelnd.

„Nein“, widersprach ich sofort. „Ihr habt genauso viel getrunken, das habe ich gesehen. Und jetzt bin ich ja auch lustig.“ Wie zum Beweis, machte ich eine Pirouette und das, ohne einen anderen der Gäste zu treffen.

Er drehte mich nur wieder lächelnd zu sich herum und bedrängte mich solange, bis ich anfing lachend mit ihm zu tanzen. Und das taten wir dann … ich wusste nicht wie lange. Ich tanzte mit ihm und mit Amber. Zwischendurch tanzte ich sogar mit jemanden, den ich gar nicht kannte, aber es machte Spaß.

Gegen eins am Morgen, als Bronco gerade mit Nachschub von der Bar zurück kam und mir wieder eine von den Alkopops in die Hand drückte, tanzte ich gerade mit Amber. Naja, eigentlich hampelten wir eher miteinander herum.

Plötzlich wurde die Musik von einem lauten und durchdringenden Ton durchbrochen.

Ich schaute überrascht auf, während alle um mich herum zu jubeln und hüpfen begannen und ihre Gläser und Flaschen hoben.

„Okay Leute, jetzt ist es wieder so weit!“, rief seine laute Stimme. Oben auf der Bar stand eine Frau mit einem Mikro in der Hand. Sie gehörte zu den Kellnern.

„Komm, das musst du sehen“, sagte Amber und zog mich mit sich weiter nach vorne.

„Wir vom Illunis haben schwer für euch gearbeitet, deswegen stehen uns auch ein paar Minuten zum feiern zu, oder wie seht ihr das?“

Die Antwort bestand in einem lauten Jubeln und Pfeifen, dass sogar die Musik übertönte. Auch ich johlte zusammen mit Amber und hüpfte ein dabei ein paar Mal auf und ab. Zeitgleich kletterten mehrere der Kellner hinter der Bar auf den Tresen rauf und begannen zur Musil zu tanzen. Josh war unter ihnen und schien sichtlich Spaß an der Sache zu haben.

Ich wollte da auch rauf, doch bevor ich nur einen Schritt machen konnte, bemerkte ich Raphael. Er war nicht hinauf geklettert und er schaute mich direkt an. Was in seinem Kopf vorging, verbarg er hinter einer undurchdringlichen Maske, doch sein Kiefer war angespannt und er wirkte nicht sehr glücklich, mich hier zu sehen.

Wieder verspürte ich diesen Stich in der Brust. Nachdem was er zu mir gesagt hatte, sollte ich ihn eigentlich anfauchen und ihm den Hintern zerkratzen, doch in diesem Moment wäre ich lieber wieder zu Fabritzio an den Tisch zurückgegangen.

„Hey, was ist los?“, fragte Bronco und legte mir einen Arm um die Schulter.

Raphaels Maske bekam Risse und auf einmal war da wieder seine Wut. Nicht so schlimm wie gestern, aber glücklich war anders.

Die Kellnerin hob wieder ihr Mikro an den Mund. „Da es langweilig ist, immer die gleichen Leute hier oben zu sehen, haben wir uns ein bisschen frisches Blut besorgt. Begrüßt mit mir zusammen alle unseren Frischling Raphael!“

Wieder jubelte die Menge los. Sogar Lalamika, die auf dem Tresen hockte, sprang freudig dort oben herum. Ich jedoch nicht. Genau wie Amber schaute ich nur dabei zu, wie Raphael sich ein Lächeln auf die Lippen zwang und der Menge zuwinkte.

„Nur nicht so schüchtern, komm rauf zu uns“, forderte die Kellnerin in ihr Mikro. „Los Leute, feuert ihn mal ein bisschen an, wir wollen dich tanzen sehen, Raphael!“

Die Rufe und Pfiffe um mich herum wurden noch lauter und auch wenn Raphael nicht so wirkte, als hätte er Lust auf der Bar zu tanzen, sprang er mit einem Satz herauf und schloss sich seinen Kollegen an.

„Komm“, sagte Amber und nahm mich an die Hand. „Lass uns weiter nach hinten gehen, hier Vorne stinkt es auf einmal.“ Sie warf Raphael einen bitterbösen Blick zu.

Ich ließ mich einfach mitziehen, während die Angestellten auf der Bar ihre Show abzogen. Nur einmal kurz schaute ich noch zurück und stellte dabei fest, dass er mich noch immer beobachtete, dann ließ ich mich zusammen mit Amber von der Menge verschlucken und tanzte einfach, um zu vergessen. Das sollte doch ein lustiger Abend werden und den wollte ich mir nicht kaputt machen lassen. Also tanzte ich. Mit Amber, mit Bronco, ja sogar Fabrizio ließ sich von mir auf die Tanzfläche ziehen und hüpfte mit mir zwischen den anderen herum. Naja, zumindest bis er ein anderes Mädchen fand.

Da ich sowieso Durst hatte, ging ich zurück zu unserem Tisch und nahm mir meine Flasche. Amber und Felicita saßen auf der Bank und knutschten wieder miteinander herum. Da wollte ich nicht stören, also stellte ich mich einfach an den Tisch und schnappte mir mein Flasche.

Als ich den Kopf in den Nacken legte, um zu trinken, drehte es sich in meinem Kopf ein wenig. Das war schon ein paar mal heute Abend passiert, aber nie so heftig wie jetzt. „Hu, oh“, machte ich und hielt mich mit der Hand am Tisch fest, um nicht umzufallen. Das fand ich lustig. Also setzte ich die Flasche erneut an, um sie zu leeren. In dem Moment fasste mir jemand an die Hüfte, und drängte sich von hinten ziemlich aufdringlich gegen mich.

„Hallo meine Hübsche.“

Etwas irritiert, weil Broncos Stimmer plötzlich nicht mehr so tief war, drehte ich den Kopf und musste dann feststellen, dass es gar nicht Bronco war. Genaugenommenen kannte ich diesen Kerl überhaupt nicht. Und er war auch nicht alleine. Hinter ihm waren noch drei andere Männer, die mich angrinsten.

„Geh weg“, sagte ich und versuchte ihn von mir wegzuschieben, doch er packte nur noch fester zu und zog mich mit sich.

„Ach komm schon, lass uns ein bisschen tanzen.“

„Nein, lass mich.“

„Hey!“, kam es da von Amber. Sie sprang auf und rutschte aus der Sitzecke. „Nimm deine Pfoten von ihr, sonst hast du gleich ein ernsthaftes Problem!“ Ohne dem Kerl die Chance für Widerworte zu geben, schubste sie ihn weg und zog mich dann hinter sich.

Ich geriet dabei ins Stolpern und wäre fast gefallen. Hui, warum drehte sich denn plötzlich alles? Das fand ich aber nicht lustig.

Der Kerl funkelte sie an. „Geht´s noch?!“, bluffte er sie an und stieß sie von sich weg. „Halt dich da raus und geh zurück zu deiner Lesbe.“

Auch Felicita erhob sich nun von ihrem Platz. „Verschwindet einfach“, zischte sie.

„Zwing mich doch.“

Seine Freunde rückten ein wenig näher.

„Vielleicht möchtest du ja auch, dass ich dich heile.“ Er schob sein Becken vor. „Du verstehst schon.“

Die anderen Männer begannen zu lachen.

Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollten und im Moment interessierte mich das auch nicht. Mir war einfach nur schwindlig.

Felicita zog nur eine Augenbraue nach oben. „Von dir?“ Sie musterte ihn einmal sehr gründlich von oben bis unten. „Da müsste ich mir ja vorher meine Lupe holen.“

„Oh glaub mir, eine Lupe wirst du nicht brauchen.“ Er umrundete uns, bis er wieder fast neben mir stand. „Nach dieser Nacht wirst du die nächsten paar Tage breitbeinig durch die Gegend laufen.“

Sie schnaubte nur.

„Na wenn du nicht willst, dann nehme ich eben doch das kleine Kätzchen hier.“

Kätzchen? Oh, der Kerl war ja ein Vampir. Das waren sie alle. Warum war mir das nicht aufgefallen? „Nehmen?“

Grinsend schlang er den Arm um mich und zog mich wieder an sich. Dann betatschte er mich auch noch am Hintern.

Ich versuchte mich sofort von ihm wegzudrücken, doch bevor mir das gelang, tauchte Bronco aus der Menge auf. Er packte den Kerl einfach am Arm, zerrte ihn von mir weg und stieß ihn zu Boden. Dabei riss der Kerl noch jemanden von der Tanzfläche mit sich.

Was dann genau geschah, bekam ich nicht so richtig mit. Die Leute um mich herum fingen an sich anzuschreien und herumzuschubsen. Ich jedoch war mit mir selber beschäftigt, da sich mir mein Magen umdrehte. Ich musste ein paar Mal angestrengt schlucken, um mich nicht zu übergeben.

Als ich blinzelte, war auf einmal auch Josh und noch ein anderer Keller da, die sich zwischen die Leute stellten. Bronco hatte einen Arm um Ambers Mitte geschlungen, während sie den Kerl und seine Freunde beschimpfte. „… die Zähne ausschlagen!“, fauchte sie.

Um sich herum hatte sich auch schon eine Traube gebildet, durch die sich jetzt auch noch die Frau von der Bar drängte. Raphael und Lalamika waren direkt hinter ihr. Sein Blick fand mich mit der Genauigkeit eines Laserstrahls.

Mir war das im Augenblick egal. Ich hielt mich einfach nur an der Rückenlehne der Bank fest und versuchte meinen Mageninhalt bei mir zu behalten.

„Was ist hier los?“, wollte die Kellnerin wissen und schaute zwischen den beteiligten hin und her.

„Das Arschloch hat Ara angefasst, obwohl sie ihm gesagt hat, er soll sie in Ruhe lassen!“, fauchte Amber. „Ich werde ihm den Schwanz abschneiden, damit ihm das Blut nicht mehr aus dem Kopf rutschen kann!“

„Wie reizend“, murmelte die Kellnerin.

Raphaels Blick ging von mir zu dem Kerl. Seine Hände ballten sich.

„Die ist ja nicht mehr ganz dich“, echauffierte der Typ sich. „Die ist wie eine Verrückte auf mich losgegangen und dann hat das Arschloch mich auch noch weggestoßen!“

Das Gesicht der Kellnerin verhärtete sich. „Ich kann hier niemanden gebrauchen, der nur auf Ärger aus ist. Alle raus, ihr könnt das draußen klären.“

„Was?!“ Amber glaubte sich verhört zu haben. „Der Arsch begrabscht uns und wir müssen gehen?!“

„Euch? Keiner will so 'ne durchgeknallte Lesbe betatschen!“

„Kettlin“, beteiligte sich nun auch noch Raphael. „Lass mich das mit ihr klären, das ist meine Schwester.“ Er funkelte Amber an.

Kettlin sah ihn einen Moment zweifelnd an. Da sie selber ein Lykaner war, fiel ihr sehr wohl auf, dass Raphael und Amber genetisch gesehen nicht miteinander verwand sein konnten. Trotzdem sage sie nach einem Momen: „Okay, meinetwegen, aber ihr verschwindet ihr sofort! Ich brauche keinen Perversling im Laden, den habe ich schon Zuhause.“

Das hatte natürlich allerhand Proteste zur Folge, die erst aufhörten, als die Türsteher auftauchten und die vier Kerle vor die Tür setzten.

„Und du bekomme deine Schwester in den Griff“, riet diese Kettlin Raphael, „sonst ist sie die Nächste die rausfliegt.“

„Ja, kein Problem, ich mach das schon.“

„Das will ich dir auch geraten haben.“ Sie warf uns allen noch einen warnenden Blick zu und verschwand dann in der Menge. Auch die Schaulustigen und Kellner wandten sich wieder ihr anderen Dingen zu. Nur Raphael nicht.

Er musterte mich einmal gründlich und wandte sich dann Amber zu. „Hast du ihr Alkohol gegeben?“

„Was geht dich das an?“ Sie machte sich von Bronco frei. „Sie ist alt genug um was zu trinken.“

Das waren wohl die falschen Worte. Raphael sah aus, als würde er jeden Moment in die Luft gehen. „Bist du eigentlich noch ganz dicht?!“

„Hey, ganz ruhig“, mischte sich Bronco ein. „Sie hatte nur ein paar Alkopops.“

„Nur!“, höhnte Raphael. „Sie hat in ihrem ganzen Leben noch nicht einen Tropfen Alkohol zu sich genommen! Schaut sie euch doch an, sie kann ja kaum noch gerade stehen!“

Erst jetzt ging den anderen wohl auf, dass es mir nicht mehr so gut ging und nur noch nicht auf dem Boden lag, weil ich mich an der Rückenlehne der Bank festhielt.

„Manchmal frage ich mich echt, ob du wirklich so dumm bist wie du immer tust!“, knurrte er Amber an und kam dann zu mir.

Ich wusste nicht was er vorhatte, aber als er die Hand nach mir ausstreckte, schlug ich sie weg und verlor dabei fast noch mein Gleichgewicht. Amber war sofort bei mir, um mich zu stützen. „Bleib weg von mir.“ Ich griff mir an den Kopf. Warum drehte der sich nur die ganze Zeit?

„Träum weiter.“ Er griff wieder nach mir und dieses Mal schaffte ich es nicht ihm auszuweichen. Er packte mich am Arm und zog mich von der Bank weg. „Du kommst jetzt mit.“

„Nein!“ Ich versuchte mich gegen ihn zu wehren, aber er legte mir einfach einen Arm um die Taille. „Lass mich.“

„Hör jetzt auf mit dem Scheiß, du bleibst sicher nicht länger hier. Du bist besoffen und ich habe keine Zeit dich im Auge zu behalten, ich muss arbeiten.“

„Aber ich will nicht mit dir gehen!“

„Lass sie“, schaltete sich jetzt auch noch Amber ein. „Ich kümmer mich schon um sie.“

„Du hast dich schon genug um sie gekümmert, man sieht ja was dabei herausgekommen ist.“ Seine Worte sprühten geradezu vor Gift.

Ich versuchte ihn wegzustoßen, doch statt seiner Brust, streifte ich nur seinen Arm. „Ich will nicht, dass du mich anfasst, du warst gemein zu mir und hast mich angebrüllt!“

„Ja, damit die Nachricht auch in deinem Hirn ankommt und jetzt beweg dich.“ Er zerrte mich weiter, aber ich stemmte die Beine in den Boden. „Hör auf damit!“

„Es war aber Falsch und es hat wehgetan!“, spie ich ihm ins Gesicht. „Es tut immer noch weh“, fügte ich etwas leiser hinzu. „Sowas Gemeines sagt man nicht.“

„Aber was du getan hast war in Ordnung? Du hast mich beklaut!“

„Das wusstest du da noch gar nicht!“

„Und das macht es besser?!“ Er lachte spöttisch.

„Hätte ich das nicht gemacht, wärst du einfach weggegangen!“

„Und wenn es so wäre, dann wäre es meine Sache! Es geht dich nichts an, was ich tue und lasse!“

„Und dich geht es nichts an, was ich mache!“ Ich versetzte ihn einen Stoß, doch das Einzige, was ich damit erreichte war, dass ich wegrutschte und mich an seinen Schultern festhalten musste. „Ich will nicht mehr bei dir sein, du bist gemein!“

„Und du bist …“ Er drückte die Lippen verärgert aufeinander, bevor er den Satz beenden konnte. „Verdammt, warum musstest du mich küssen?!“

„Ich wollte doch nur danke sagen!“, fauchte ich ihn an. „Du hast überreagiert!“

Ein paar der Umstehenden wurden auf den kleinen Disput aufmerksam. Unter ihnen tauchte auch Fabrizio auf und schaute stirnrunzelnd zwischen uns umher. „Was ist denn hier los?“

Raphael hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig, bevor seine alleinige Aufmerksamkeit wieder auf mir lag. Er schien einen inneren Kampf auszufechten, an deren Ende er sich einfach nur mit der Hand geschlagen übers Gesicht fuhr. „Verdammt, ja, ich habe überreagiert“, räumte er dann ein. „Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen und es tut mir leid, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht mich zu beklauen!“

Trotz meines benebelten Hirns, horchte ich auf. „Es tut dir leid?“

Er funkelte mich an, als wäre es ihm nicht Recht, dass ich ausgerechnet diesen Teil gehört hatte. „Ja, Gnocchi, es tut mir leid. Ich hätte …“

Ich ließ ihn gar nicht aussprechen. Ich schlang einfach die Arme um seinen Nacken und drückte ihn an mich. Marica hatte Recht. Egal wie er sich gab, es ging ihn nicht gut.

Einen Moment spannte er seinen ganzen Körper an, doch dann atmete er einmal tief ein und legte mir eine Hand auf den Kopf. „Es tut mir leid“, sagte er noch einmal so leise, dass nur ich es hören konnte.

Ich wusste nicht woran es lag, aber auf einmal konnte ich wieder freier atmen. Mir war noch immer übel und mein Kopf wollte einfach nicht aufhören sich zu drehen, aber ich spürte nicht länger diesen Schmerz in der Brust.

„Okay, komm.“ Er löste meine Arme von seinem Nacken und griff mich fester um die Taille. „Ich bring doch nach hinten und dann rufe ich Tristan an, damit er dich abholt.“

„Aber ich wollte doch noch tanzen.“

„Tanzen?“ Er schnaubte. „Gnocchi, du kannst kaum noch gerade stehen.“

„Aber vielleicht gleich …“

„Nein, heute nicht mehr.“ Er wandte sich noch einmal an Amber. „Mach keinen Ärger mehr. Nochmal bekomme ich Kettlin bestimmt nicht dazu, deine Eskapaden zu dulden.“

Amber funkelte ihn nur an, während ich zum Abschied die Hand hob.

„Sei nicht sauer auf sie“, nuschelte ich, als er mich am Rand der Menge vorbei führte und durch eine Tür brachte, die in einen kurzen Korridor führte. Hier waren keine Besucher, nur ein Kellner. Und sobald die Tür geschlossen war, war auch die Musik kaum noch zu hören. „Sie wollte mich nur aufmuntern.“

„Das hätte sie auch tun können, ohne dich abzufüllen.“ Er schob mich durch eine offene Tür, hinter der ein kleiner Raum mit einem Tisch und mehreren Stühlen stand. An der Seite gab es noch eine kurze Couch, auf der er mich absetzte. „Hier“, sagte er und stellte noch einen Mülleimer neben mich. „Falls du kotzen musst, da rein.“

Das war vielleicht gar keine so schlechte Idee.

„Lehn dich zurück und lass die Augen offen, dann ist es nicht so schlimm.“

Und das, obwohl ich meine Augen am liebsten einfach geschlossen hätte. Auf einmal war ich einfach nur noch müde und wollte nichts lieber tun, als zu schlafen, doch ich blieb sitzen und schaute dabei zu, wie Raphael sein Handy herausholte und Tristan anrief.

Es dauerte etwas, bis er ihn ans Telefon bekam und noch viel länger, bis er mit Lucy vor dem Illunis auftauchten.

Raphael übergab mich in die Obhut seines Bruders und machte sich dann wieder an die Arbeit. Ich befand mich halb im Delirium, als Tristan mich bei Marica ablieferte. Mir war nicht mehr ganz so übel, aber das drehen in meinem Kopf wollte einfach nicht aufhören. Marica erklärte mir, das würde aufhören, sobald ich geschlafen hatte, doch obwohl ich müde war, schaffte ich es nicht wegzudriften.

Ich lag in meinem Bett, die Augen nur halb geschlossen und musste immer wieder an das denken, was passiert war. Er hatte gesagt, es tat ihm leid und in dem Moment hatte sich das toll angefühlt, doch jetzt war ich mir nicht sicher, ob damit zwischen uns wieder alles in Ordnung war. Solange ich seine Schlüssel hatte, wahrscheinlich nicht.

Aber ich hatte Angst davor, sie ihm zurückzugeben. Das würde es ihm nur leichter machen, zu gehen. Das durfte ich nicht zulassen, es war wichtig, dass ich in seiner Nähe blieb – ob er das nun wollte, oder nicht. Leider fühlte es sich falsch an. Solange ich die Schlüssel behielt, konnte es zwischen uns nicht wieder alles gut sein.

Ununterbrochen kreiste dieser Gedanke in meinem Kopf. Stunde um Stunde, in denen ich mich immer wieder von einer Seite auf die andere drehte.

Draußen begann bereits die Dämmerung. Im Haus war es still. Marica schlief und Raphael war noch nicht wieder da. Eine Weile redete ich mir noch ein, dass das der Grund war, warum ich nicht schlafen konnte, doch irgendwann musste ich mir eingestehen, dass das Problem ganz woanders lag. Also kletterte ich trotz meiner Bedenken von meinem Hochbett und ging nach oben in die Küche. Der Schwindel und die Übelkeit hatten in der Zwischenzeit nachgelassen, jetzt war ich einfach nur noch müde.

Als ich vor dem Kühlschrank stand, zögerte ich jedoch wieder. Wenn ich das tat, gab es kein Zurück mehr. Nun gut, ich könnte sie ihm einfach wieder klauen, aber das wollte ich nicht.

Hab Vertrauen, hatte Marica gesagt und ich wollte vertrauen, was mich zögern ließ, war die Angst. Meine letzte Version war trotz allem was ich gesehen hatte, einfach nur erschreckend gewesen. Aber … wenn ich die Zukunft bereits jetzt beeinflusst hatte, konnte ich das auch weiterhin tun. „Hab Vertrauen“, murmelte ich leise und hockte mich dann vor den Gefrierer.

Die Schlüssel waren noch genau dort, wo ich sie versteckt hatte. Nicht mal die Tüte mit dem Tiefkühlgemüse war angerührt worden. Raphael hätte wahrscheinlich Jahre suchen können, ohne sie zu finden. Nur der Zufall hätte ihn darauf stoßen können.

Ich nahm die Schlüssel an mich und packte das Gemüse wieder zurück. Sie waren kalt und ein wenig vereist, aber das würde sicher einfach auftauen. Okay, ich würde es einfach tun und hoffen, damit keinen Fehler zu begehen.

Müde ging ich wieder nach unten ins Souterrain. Ich wollte die Schlüssel eigentlich einfach nur auf den Schreibtisch legen, doch als ich in sein Zimmer trat, wurde ich wie magisch von seinem Bett angezogen. Wenn ich neben Raphael lag, hatte ich nie Probleme einzuschlafen. Vielleicht, wenn ich mich nur mal ganz kurz hinein legte … ach, ich brauchte keine Entschuldigung, ich mochte es einfach dort zu liegen. Also krabbelte ich ins Bett und streckte mich auf Raphaels Seite aus. Es roch nach ihm. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir geradezu vorstellen, dass neben mir lag.

Leise Schritte veranlassten mich die Augen wieder zu öffnen. Der Morgen streckte bereits seine Fühler aus. War ich eingedöst? Jedenfalls trat Raphael nur mit einem Handtuch um die Hüfte in den Raum. Er war duschen gewesen, was bedeutete, er war nicht erst seit fünf Minuten Zuhause.

Er wirkte müde, lächelte jedoch ein kleines Lächeln, als er bemerkte, dass meine Augen offen waren. „Hey, ich wollte dich nicht wecken.“

„Hast du nicht.“ Glaubte ich zumindest. Verschlafen richtete ich mich auf und strich mir übers Gesicht. Dabei klimperte etwas in meiner Hand. Ich musste sie erst anheben, um mich daran zu erinnern, was es war. Ach ja, die Motorradschlüssel.

Auch er hatte das Geräusch gehört und schaute nun auf meine offene Handfläche, machte aber keinerlei Anstalten, sie mir abzunehmen. Nicht bis ich wortlos den Arm ausstreckte und sie ihm hinhielt. Erst dann wechselten sie wieder in seinen Besitz.

„Danke“, sagte er nur, schaute sie dann einen Moment an und legte sie offen auf seinen Schreibtisch. Als er dann zu seinem Schrank ging, um sich etwas anzuziehen, drehte ich den Kopf weg. Er mochte es ja nicht, wenn ich ihn ohne Kleidung sah.

Eigentlich sollte ich jetzt aufstehen und in mein eigenes Bett gehen, aber das wollte ich nicht. „Darf ich bleiben?“, fragte ich leise.

Stoff raschelte. „Wenn ich nein sage, würdest du dich später doch eh wieder reinschleichen.“ Seine Stimme klang belustigt.

„Nicht wenn du es nicht willst.“ Denn das hatte ich gelernt, es war besser seine Wünsche zu beachten. „Ich werde dich auch nicht mehr küssen, versprochen.“

Er antwortete nicht sofort, so als wunderte er sich über meine Worte. „Bleib, Gnocchi“, sagte er dann und stieg neben mir ins Bett. „Ich brauche doch jemanden, der mir nachts meine Decke klaut und sich anschließend auf meinen Rücken legt, damit ich nicht freiere.“

Ich begann sofort freudig zu grinsen, runzelte dann aber die Stirn. Meinte er das jetzt Ernst, oder neckte er mich gerade?

 

°°°

 

Interessiert beobachtete ich, wie Marica das geschnittene Gemüse zu dem Fleisch in die Pfanne warf. Es brutzelte und zischte und die leckeren Gerüche in der Küche … hm. Ich konnte es kaum noch erwarten, bis das Essen endlich fertig war. „Kann ich dir helfen?“

„Nein Mäuschen, jetzt gerade nicht.“ Sie nahm noch etwas von diesem roten Gewürz und streute es über das Essen. „Aber wenn du etwas tun möchtest, dann kannst du dir den Korb aus dem Badezimmer holen und eure dreckige Wäsche zusammensuchen. Dann kann ich sie nachher waschen.“

„Okay!“ Ich stibitzte mir noch ein Stück von der Paprika und holte mir dann den Wäschekorb aus dem großen Badezimmer.

Es war schon Nachmittag und Raphael war gerade in seinem Zimmer, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Heute würde ich nicht mitgehen und das gefiel mir nicht. Nicht nur weil er dann weit weg war, er hatte auch sein Motorradschlüssel wieder. Lalamika würde zwar bei ihm sein, aber ich nicht. Das machte mir Sorgen. Und dann kam noch der Streit dazu. Er hatte sich zwar bei mir entschuldigt, aber irgendwie war es noch immer komisch zwischen uns. Das mochte ich nicht. Leider wusste ich aber nicht, wie ich das ändern sollte.

Seufzend sammelte ich meine dreckige Kleidung ein und schmiss sie in den Wäschekorb. Dann schob ich ihn krabbelnd hinaus auf den Flur.

Die Tür zu Raphaels Zimmer war offen. Er war drinnen, ich konnte ihn an seinem Computer hören. Wollte er sich nicht für die Arbeit fertig machen?

Vorsichtig spähte ich um die Ecke und riskierte einen Blick in den Raum. Er saß mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch und bemerkte mich gar nicht.

Hm, ob ich es wohl schaffen würde, seine dreckige Wäsche einzusammeln, ohne dass er mich sah? Ein Versuch war es wert.

Okay, wo war seine Wäsche? Neben dem Bett lagen zwei Socken und vor seinem Schrank lag noch das Handtuch vom Duschen. Das würde schwierig werden. Aber nicht so schwierig, wie das T-Shirt, das über der Lehne seines Stuhls hing. Aber ich würde es schon schaffen.

Ich ließ den Wäschekorb direkt vor der Tür stehen und kletterte auf allen Vieren leise darüber hinweg. Da er mir den Rücken zukehrte, war es für mich ein Leichtes die Socken zu klauen und in den Korb zu schmeißen. Er bemerkte es nicht.

Bei dem Handtuch vor dem Schrank musste ich schon ein wenig geduldiger sein und so lange warten, bis er sich nach vorne zum Monitor beugte, aber dann bekam ich auch das in die Finger.

Gut, dann fehlte nur noch das T-Shirt.

Ich schlich direkt hinter den Stuhl und wartete, bis er sich wieder nach vorne lehnte. Langsam streckte ich den Arm aus und zupfte es schnell herunter. Leider drehte er sich in diesem Moment zur Seite, um etwas in den Papierkorb zu werfen. Er bemerkte mich aus dem Augenwinkel und zuckte vor Schreck so stark zusammen, dass sogar der Stuhl einen kleinen Hüpfer machte.

„Verdammt Gnocchi!“, fluchte er und drückte sich eine Hand gegen die Brust. „Willst du dass ich einen Herzinfarkt bekomme?“

„Nein.“

„Und warum schleichst du dich dann so an mich heran?“

„Ich hole die Wäsche.“ Wie zum Beweis, hob ich das Shirt hoch. „Ich wollte schauen, ob ich es schaffe, ohne das du mich bemerkst.“

Und da war es wieder, dieses leidige Seufzen. Aber dann erschien auf seinen Lippen ein kleines Lächeln. „Du scheinst ziemlich erfolgreich gewesen zu sein“, bemerkte er mit einem Blick durch sein Zimmer.

Das ließ mich grinsen. Ich erhob mich, warf das Shirt zu den anderen Sachen und schaute mich um. „Hast du noch mehr?“

„Nur noch die Socken an meinen Füßen.“

„Okay.“ Ich hockte mich zu ihm und griff nach seinem Bein.

„Hey, nein, warte.“ Als ich ihm das Hosenbein schon hochgezogen hatte, fasste er nach meinen Armen. „Das war ein Scherz gewesen.“

„Oh.“

Er lachte leise. „Auf meinem Bett liegt noch eine Hose. Die kannst du mitnehmen, wenn du möchtest.“

„Mach ich.“ Ich sprang zurück auf die Beine und schnappte mir die Jeans.

„Warte, ich muss noch die Taschen leeren.“ Er erhob sich von seinem Stuhl.

„Ich mach das schon“, erklärte ich und griff direkt in seine Taschen.

„Nein, lass mich …“

Bevor er mich erreichen konnte, hatte bereits einen Zettel aus der Tasche geholt. Nein, das war kein Zettel, es war ein Foto, ein Foto von … Cayenne.

Auf dem Bild war ihr Gesicht ganz mit weißer Farbe verschmiert, sie klebte ihr sogar im Haar. Darauf war sie noch etwas jünger und funkelte den Fotografen empört an, so als hieße sie es nicht gut, dass er sie in diesem Zustand fotografierte. Vom vielen Gebrauch war das Bild schon ganz zerknittert. Die untere Ecke fehlte und an der Seite war es ein bisschen eingerissen.

Wortlos und ohne mich anzusehen, nahm Raphael es mir aus der Hand und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. „Ich bin hier gleich fertig, dann komme ich hoch“, erklärte er und setzte sich zurück an seinen Schreibtisch. Das Bild erwähnte er mit keinem Wort.

Mein Griff um die Hose wurde ein wenig fester. Sie war also immer noch in seinen Gedanken. Natürlich war sie das und sie würde auch nicht so einfach verschwinden. Das machte mich traurig. Wenn ich ihm doch nur helfen könnte. Nicht nur, weil er dann keine Gefahr mehr wäre, oder ich meine Aufgabe damit erledigt hätte, ich wollte nicht, dass es ihm schlecht ging. Aber solange ihre Erinnerung noch präsent war, würde alles so bleiben, wie es war.

Bedrückt ging ich zurück zur Tür, warf die Hose zu den anderen Klamotten in den Korb und brachte ihn ins große Badezimmer. Ich könnte ja Amber fragen, vielleicht hatte sie ja eine Idee, was man da tun könnte. Wenn es da überhaupt etwas gab.

Es gibt eine Möglichkeit.

Die Stimme ließ mich aufschauen. Vor mir in der Luft hing der Geist mit den seltsamen Augen. Durch das helle Licht des Badezimmers, war er kaum zu erkennen.

Vielleicht, fügte er noch hinzu und ließ seine Konturen ein wenig verschwimmen.

„Ja? Welche denn?“

Befreiung.

Was?

Es könnte ihm helfen loszulassen.

Das hörte sich schon gut an, aber … „Was meinst du damit?“

Wenn er gegangen ist, komm zu mir, dann wirst du es erfahren. Und ohne mir die Gelegenheit für weitere Fragen zu geben, verschwand er einfach wieder.

„Wenn wer gegangen ist und wohin kommen?“, fragte ich in den leeren Raum, bekam aber keine Antwort mehr. In der Hoffnung ihn doch noch irgendwo zu entdecken, drehte ich mich um meine eigene Achse, aber ich war alleine. Warum musste dieser Geist immer so unverständlich sein? Die anderen konnten doch auch klar ausdrücken, was sie von mir wollten.

Als Marica oben rief, dass da Essen fertig war, flitzte ich direkt nach oben in die Küche und war die erste am Tisch. Raphael kam erst, als der Tisch bereits gedeckt war und auch Marica schon saß und während ich dabei zuschaute, wie er sich Essen auf seinen Teller häufte, wurde mir zumindest der erste Teil seiner Worte klar. Ich sollte zu ihm kommen, wenn Raphael gegangen war. Nur leider wusste ich damit noch immer nicht, wohin ich gehen solle.

Raphael bemerkte, wie ich ihn anstarrte. „Klebt mir etwas in meinem Gesicht?“

Ich schüttelte den Kopf. Antworten konnte ich nicht, ich sollte ja nicht mehr mit vollem Mund sprechen.

„Dann starrst du mich also nur so an, weil du nichts besseres zu tun hast?“

Da mein Mund noch immer voll war, zeigte ich auf meinen Kopf, zum Zeichen, dass ich nachdachte.

„Ah ja“, machte er. „Ich habe keine Ahnung was das heißen soll, aber bitte hör auf mir ein Loch in den Kopf zu starren.“

Ich schluckte meinen Bissen herunter. „So was geht gar nicht“, erklärte ich ihm und streifte mit meinem Blick zufällig das Küchenfenster. Da bemerkte ich ihn. Im Licht der Sonne war er kaum zu erkennen, aber draußen im Garten, inmitten des hohen Grases stand der Geist. Seine seltsamen Augen waren direkt auf mich gerichtet. Er wartete.

Okay, damit wäre auch das zweite Problem gelöst. Jetzt musste nur noch Raphael aus dem Haus verschwinden, dann würde … naja, ich wusste nicht so genau, was dann passieren würde, aber ich hoffte, dass ich dann einen Weg fand, um Raphael von seinem Kummer zu befreien.

„Du starrst mich schon wieder an.“

Ich grinste nur, woraufhin er sich kopfschüttelnd wieder seinem Essen widmete.

Bis er dann endlich das Haus verließ, verging vielleicht noch eine halbe Stunde, doch mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Ich zappelte die ganze Zeit unruhig auf meinem Stuhl herum, sodass Raphael und Marica mich mehrmals fragten, ob alles in Ordnung war. Als Raphael dann im Flur war, um sich seine Schuhe anzuziehen, spähte ich immer wieder ungeduldig durch die Tür und als er dann endlich draußen war, klebte ich mit dem Gesicht am Fenster und beobachtete, wie er durch den Garten ging.

Sobald er auf seinem Motorrad saß und zusammen mit Lalamika zur Arbeit fuhr, riss ich die Haustür auf. „Ich bin im Garten!“, rief ich Marica noch zu und schon war ich auf den Weg hinter das Haus. Dort brauchte ich mich gar nicht lange umschauen, der Geist stand noch immer zwischen dem hohen Gras und schaute durch das Küchenfenster. Beobachtete er da etwa Marica?

„Du wolltest mir sagen, wie ich Raphael helfen kann“, sprach ich ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Seine Reaktion ließ auf sich warten. Sein Blick klebte geradezu auf Raphaels Mutter. Erst als sie die Küche verließ und ich bereits ungeduldig herumzappelte, drehte er sich in einer fließenden Bewegung zu mir herum, bei der seine Konturen wieder verschwammen.

Langsam fragte ich mich, ob er das wirklich mit Absicht tat, oder vielleicht irgendwas bei ihm kaputt war. Ich hatte es auf jeden Fall noch nie mit einem Geist zu tun gehabt, der sich ständig unkenntlich machen wollte.

Es ist nur eine Möglichkeit, sagte der Mann leise. Ich weiß nicht, ob und wie gut sie funktioniert.

Eine Möglichkeit war auf jeden Fall mehr, als ich im Moment hatte. „Sag mir was ich tun soll.“

Mach das Gras großflächig weg und grabe ein Loch.

Hä? Wie sollte ein Loch im Boden Raphael helfen?

Tu was ich dir sage, oder ich gehe wieder.

Ein besonders freundlicher oder umgänglicher Zeitgenosse schien er ja nicht zu sein, aber wenn ich Raphael damit helfen konnte, würde ich einfach darüber hinweg sehen. Also hockte ich mich hin und begann damit das Gras auszurupfen.

Nein, so brauchst du zu lange. Geh in die Küche und hol dir eine Schere.

Über seinen ungeduldigen Tonfall runzelte ich die Stirn, holte mir dann aber eine Schere aus der Küche und rückte dem Gras damit zu Leibe. Er hatte recht, damit ging es nicht nur schneller, sondern auch besser. Trotzdem verging über eine Stunde, bis die freigeschnittene Fläche seinen Ansprüchen genügte.

Er stand die ganze Zeit nur schweigend neben mir und beobachtete mich. Das genügt, sagte er dann irgendwann. Tu das lose Gras zur Seite und mach genau in der Mitte ein Loch.

„Okay.“ Das Gras zur Seite zu räumen, war einfach. Da der Boden aber sehr trocken war und ich so nicht so einfach hinein kam, holte ich mir aus der Küche auch noch einen großen Löffel.

Nicht so tief. Und breiter, erklärte der Mann.

Ich machte was er wollte, auch wenn ich noch immer nicht den Sinn dahinter verstand. „Verrätst du mir deinen Namen?“, einfach weil ich mich nebenbei unterhalten wollte.

Mein Name hat kein Bedeutung.

„Erinnerst du dich nicht mehr an ihn?“ Das war keine dumme Frage. Ich hatte schon mehrere Geister kennengelernt, die nicht mehr wusste, wer sie einmal waren.

Ich weiß noch alles. Seine Stimme war gleichgültig. Aus meinem Leben. Aus meinem Tod.

Hm, langsam hatte ich das Gefühl, dass er nichts von sich preisgeben wollte. Da musste ich mich doch unweigerlich nach dem Grund fragen. „Hattest du ein schönes Leben?“

Seine Konturen verblassten wieder ein wenig, bis er kaum noch mehr als weißer Nebel in der Luft war. Ich habe mein Leben genossen. Doch erst als ich tot war, habe ich verstanden was wichtig ist.

Der Löffel kratzte über den trockenen Erdboden. „Was ist denn wichtig?“

Das was wir hinterlassen, wenn wir sterben.

Hm, von ihm würde ich wohl nie eine klare Antwort bekommen.

Das reicht, unterbrach er mich, als ich mit dem Löffel am Rand herumkratzte. Geh zu den Beeten und hol Steine. Leg sie rund um das Loch hin.

Steine? Ich sah auf das Loch. „Baue ich hier gerade ein Lagerfeuer?“

Ja.

Meine Brauen zogen sich ein wenig zusammen. „Und wie hilft ein Lagerfeuer dabei Raphael zu helfen?“

Feuer reinigt.

Das verstand ich nicht.

Bau es zu Ende, dann erkläre ich es dir.

Er könnte es mir ja auch erklären, während ich es baute, aber da er nicht den Eindruck machte, über diesen Punkt diskutieren zu wollen und ich ihn nicht verscheuchen wollte, fügte ich mich einfach.

Ich holte die Steine, die eigentlich das Beet einrahmten, durch das hohe Gras aber kaum noch zu sehen waren und drapierte sie ordentlich um das Loch herum an. Dann ging ich nach vorne in den Garten und sammelte die vertrockneten Äste und Zweige ein, die sich unter dem Baum gesammelt hatten. Dadurch, dass sich niemand wirklich um den Garten kümmerte, hatten sich da über die Zeit genug angesammelt, mit denen ich ein manierliches Lagerfeuer aufbauen konnte. Ich schob sogar noch etwas von dem abgeschnittenen Gras zwischen die Äste. Dann setzte ich mich daneben und schaute den Mann abwartend an.

Wie auch zuvor, ließ er sich nicht von mir drängen, doch dann setzte er sich zu meiner Überraschung direkt gegenüber von mir in den Schneidersitz. Dabei wurden seine Konturen so klar, dass ich ihn zum ersten mal richtig sah.

Nun wurde mir auch bewusst, was ich an seinen Augen so seltsam fand. Das eine war hell, das andere dunkel. Wie ging das denn?

Schon in alter Zeit glaubte man an die heilenden Kräfte von Feuer, erzählte er leise. Sein Blick war dabei auf das Lagerfeuer gerichtet. Wo es wütet, bringt es Vernichtung, doch aus der Asche, kann etwas Neues erwachsen. Das Feuer bereitet den Weg für die Zukunft.

Sollte das heißen, Raphael sollte seine Vergangenheit verbrennen?

Ja, das soll es heißen. Er schaute mich an. Dieses Foto in seinem Besitz, steht für all die Erinnerungen an diese Frau. Er holt es immer wieder hervor und muss dann an all das denken, was er verloren hat. Es ist sozusagen ein Anker für seine Erinnerungen. Darum fällt es ihm so schwer zu vergessen. Dieses Feuer ist eine symbolische Befreiung von allem, was ihm solchen Kummer bereitet.

„Wenn er es also verbrennt, vergisst er das alles?“

Nein. Erinnerungen lassen sich nicht so einfach auslöschen. Aber vielleicht kann er sie dann endlich loslassen und weiterziehen. Wenn er nichts mehr hat, was die Vergangenheit immer wieder ans Licht zerrt, kann er heilen.

Das war ja toll!

Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird. Er muss bereit sein, sich von dem was einmal war zu lösen. Wenn du das Bild einfach nehmen und vernichten würdest, würde es nichts bringen. Du musst ihn also dazu bekommen, es aus eigenem Antrieb zu tun. Nur dann kann es Erfolg haben. Vielleicht.

Hm. Das klang nicht besonders vielversprechend, aber es war eine Chance, die ich auf jeden Fall nutzen würde. Nur, wie sollte ich ihn dazu bringen, das Foto zu verbrennen? Er schien ja sehr daran zu hängen und Dinge die einem wichtig waren, machte man nicht so einfach kaputt. „Weißt du auch, wie ich ihn …“ Ich verstummte, der Platz mir gegenüber war verwaist. Ein Blick durch den Garten zeigte mir, dass ich allein war. Der Geist war verschwunden – ohne sich zu verabschieden.

Das hieß dann wohl, er wusste es nicht. Oder er hatte einfach keine Lust mehr sich noch weiter mit mir zu unterhalten. Geister waren manchmal wirklich seltsam. Der hier war sogar besonders schlimm. Aber davon würde ich mich nicht entmutigen lassen. Er hatte es doch selber gesagt, an dem Tag als wir bei Oliver gegrillt hatte, sie sollte einfach nur aus seinen Gedanken verschwinden.

Am besten sagte ich ihm einfach das gleiche, was der Geist mir gesagt hatte und dann würde er es schon tun. Ja, das war eine gute Idee.

Zufrieden mit meinem Plan, brachte ich die Schere und den Löffel zurück in die Küche und suchte in der Schublade dann nach einem Feuerzeug. Ich wusste das eines hier drin war, ich hatte es schon ein paar Mal gesehen. Es waren sogar mehrere Feuerzeuge, wie ich feststellte. Ich nahm das Gelbe und steckte es in meine Hosentasche. Dann hieß es warten. Leider schien die Zeit sich ins unendliche zu ziehen. Zum Glück tauchte Amber später noch auf. Zum einen wollte sie schauen, ob mit mir nach dem gestrigen Abend alles in Ordnung war und dann musste ich ja auch noch Schreiben lernen.

Als Marica zu Bett ging, war es draußen schon dunkel. Amber leistete mir noch eine Weile Gesellschaft, ging dann aber auch irgendwann nach Hause, sodass ich alleine vor dem Fernseher endete und versuchte nicht einzuschlafen. Es war ein Kampf meine Augen offen zu halten. Immer wieder wollten sie sich von ganz alleine schließen. Vielleicht sollte ich ja das Licht einschalten, aber ich hatte keine Lust aufzustehen.

Ich wusste nicht wie spät es war. Im Fernseher war ein Mann, der ein Küchengerät immerzu anpries und erklärte, man sollte ihn anrufen, wenn man es auch haben wollte. Meine Augenlider waren schon wieder auf dem Weg nach unten, da hörte ich das Geräusch. Es war ein Röhren und Knattern und es kam von draußen.

Das war er! Augenblicklich war ich wieder wach. Ich sprang auf, rannte zum Fenster und schaute hinaus. Tatsächlich, Raphael stellte gerade sein Motorrad vor dem Garten ab.

„Ja!“ Ich eilte zum Fernseher, schaltete ihn aus und rannte dann zur Haustür, wo ich schnell in meine Schuhe schlüpfte. Dann konnte ich durchs Fenster beobachten, wie er langsam durch den Garten ging. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein, während er in seiner Hosentasche nach dem Hausschlüssel suchte.

Ich wartete, bis er auf der Veranda stand, dann riss ich die Tür auf. „Ich habe eine Überraschung für dich!“

Vor Schreck sprang Raphael regelrecht an die Decke. „Gottverdammt, Gnocchi! Wie oft willst du mich heute noch erschrecken?!“

Ähm … sollte ich darauf antworten? Ich wollte ihn doch gar nicht erschrecken.

„Eu“, machte er und rieb sich über das Gesicht. „Warum bist du noch nicht im Bett?“

„Weil ich dir noch etwas zeigen muss. Komm.“ Ich nahm seine Hand und zog ihn wieder von der Veranda herunter nach hinten in den Garten.

„Gnocchi“, nörgelte er. „Ich bin müde und ich will ins Bett.“

„Es dauert nicht lange“, versprach ich ihm und zerrte ihn mit mir auf die Rückseite des Hauses. Aufgeregt führte ich ihn direkt bis an das Lagerfeuer und zeigte darauf. „Hier, schau.“

„Aha, sehr hübsch“, war alles was er sagte und wollte sich dann wieder umdrehen, aber ich hielt ihn fest. „Gnocchi, bitte.“

„Nein, warte, hör mir zu, okay?“

Er seufzte übertrieben genervt, verschränkte dann aber die Arme vor der Brust und schaute mich abwartend an.

Okay, jetzt musste ich es nur richtig angehen. „Ähm … weißt du noch in deinem Zimmer, nachdem wir bei Oliver im Garten gegrillt haben?“

So wie sein Gesicht daraufhin versteinerte, erinnerte er sich sehr wohl daran. Die Richtung in die sich dieses Gespräch entwickelte, schien ihm nicht sonderlich zu gefallen.

„Du hattest gesagt, du möchtest nicht mehr an sie denken und als ich vorhin das Foto gesehen habe … ich glaube ich kann dir helfen.“

Er sagte nichts.

„Weißt du, es gibt Leute die sagen, dass Feuer heilen kann. Erstmal zerstört es alles, aber aus der Asche kann Gutes werden.“

Seine rechte Augenbraue wanderte ein Stück nach oben.

Mist, ich konnte das nicht so gut erklären, wie der Geist. „Ähm … das Foto. Immer wenn du es ansiehst, erinnert es dich an Cayenne und fesselt so alle Erinnerungen von ihr an dich. Das macht es dir schwer loszulassen und zu vergessen. Darum dachte ich, wir könnten es verbrennen.“ Ich zog das Feuerzeug aus meiner Hosentasche und hielt es ihm hin. „Zusammen.“ Dass er nicht antwortete und auch nicht das Feuerzeug nahm, verunsicherte mich. „Es wäre sowas wie eine symbolische Befreiung, von all dem was dich belastet.“

Nun endlich reagierte er, doch leider nicht so, wie ich mir das erhofft hatte. Er seufzte wieder und strich sich dann mit der Hand durch das Gesicht. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber davon abgesehen, dass es dich nichts angeht, bringt es rein gar nichts, ein altes Foto zu verbrennen. Dadurch verschwinden die Probleme nicht einfach.“

„Aber, wenn du bereit bist loszulassen …“ Bei seinem Blick, sank meine Hand mit dem Feuerzeug wieder hinunter. „Wir könnten es doch wenigstens versuchen.“

„Der Versuch würde nichts bringen“, versuchte er geduldig zu erklären. „Es wäre nur ein Foto in einem Feuer, mehr nicht.“ Als er meine Enttäuschung bemerkte, legte er mir einen Arm um die Schultern. „Komm, lass uns reingehen, wir gehören beide ins Bett.“

Wiederstandastlos und entmutigt, ließ ich mich mit hängenden Schultern von ihm zurück ins Haus führen. Während er noch zu einer Dusche im Bad verschwand, krabbelte ich bereits in sein Bett. Das hatte ja super geklappt. Aber wie hätte ich ihn denn von meiner Idee überzeugen können? Es schien fast, als wollte, oder konnte er noch nicht loslassen. Er war für diesen Schritt einfach nicht bereit.

Ratlos, bette ich mein Kopf auf dem Kissen und wartete auf ihn. Vielleicht sollte ich morgen noch mal versuchen, ihn davon zu überzeugen. Vielleicht, wenn ich es nur besser erklärte, würde er es verstehen. Ich musste ihn dazu bringen, es wenigstens zu versuchen.

Ich hörte wie sich die Tür zum großen Bad öffnete. Kurz darauf erschien Raphael mit einem Handtuch um die Hüften im Zimmer. Er löschte das Licht, bevor er zu seinem Schrank ging und sich im Halbdunkel etwas über zog.

In der Zeit tapste Lalamika zum Bett, sprang auf die Matratze und machte es sich am Fußende schnurrend bequem. Geister mussten nicht schlafen, aber ich mochte es, wenn sie bei mir lag.

Als er sich dann neben mich ins Bett legte, atmete er einmal tief durch. „Komm her“, sagte er und breitete den Arm aus, damit ich mich an seine Brust kuscheln konnte. Erst als er dann die Decke über uns ausgebreitet hatte, schloss er die Augen.

„Es könnte dir vielleicht wirklich helfen“, flüsterte ich.

„Bitte Gnocchi, ich möchte davon nichts mehr hören.“

Unwillig drückte ich die Lippen aufeinander, aber ich konnte ihn ja nun nicht dazu zwingen. Leider. Vielleicht würde mir ja morgen noch etwas einfallen, aber jetzt merkte ich, wie die Müdigkeit an meinem Geist zerrte und auch wenn ich versuchte mich dagegen zu wehren, so war der Sog zu stark, um ihm lange zu entgehen. Er riss mich einfach mit sich und brachte mich in eine herbstliche Straße. Links und rechts befanden sich gepflegte Einfamilienhäuser. Ein Mann stand in seinem Vorgarten und harkte die roten und goldenen Blätter von seinem Ahorn zusammen. Er war fast fertig mit seiner Arbeit, als ein kräftiger Wind aufzog und einen Teil des trockenen Laubs davon blies.

Ein einzelnes Blatt flog hoch über den Zaun hinweg und segelte dann langsam zu Boden, direkt vor die Füße eines kleinen, schwarzhaarigen Mädchens mit tiefblauen Augen, die hinter der Brille sogar noch größer wirkten. Sie bemerkte es und bückte sich danach. Ihr gepunktetes Lieblingskleid flatterte um ihre Beine.

Das Blatt war wirklich schön. Rot und Gelbtöne verschmolzen darauf zu einem Regenbogen an Farben. „Guck mal Papa, was ich gefunden habe“, rief sie begeistert und lief zu ihrem Vater zurück. Genau wie sie hatte er schwarze Haare und blaue Augen. Und er war auch viel größer. Und stärker. Deswegen hatte er auch keine Angst vor Spinnen und konnte sie von ihnen retten. Sie musste nur rufen, dann kam er sofort und machte die Spinnen weg.

„Das ist hübsch, mein Schatz, aber denk dran, den Mund nicht so weit zu öffnen. Du weißt warum.“

Natürlich wusste sie das, ihr Vater hat ihr das ja schon oft genug gesagt. Die Menschen durften ihre Vampirzähne nicht sehen, sonst würden sie komisch werden. Sie verstand nur nicht warum. Trotzdem sagte sie „Okay“ und ergriff dann die Hand ihres Vaters. „Glaubst du, Mama findet das auch hübsch?“

„Mit Sicherheit.“ Er lächelte zu seiner Tochter hinunter. „Genau wie die ganzen anderen Blätter, die du jeden Tag mit nach Hause bringst.“

Zufrieden mit dieser Antwort, hüpfte das kleine Mädchen an der Hand ihres Vaters die Straße entlang, bis sie zu einer Kreuzung kamen. Dort bogen sie nach links ab und steuerten ein Wohnhaus hundert Meter weiter an.

Während ihr Vater den Schlüssel aus der Jackentasche holte, hüpfte die Kleine ungeduldig um ihren Vater herum. Sie wollte ihrer Mutter unbedingt das Blatt zeigen und ihr erzählen, wo sie mit ihrem Vater gewesen war. Darum flitzte sie auch als erstes in das Haus und rannte direkt nach oben in die erste Etage.

Vor der Wohnungstür begann sie sich ihre Schuhe auszuziehen und wurde rechtzeitig fertig um ihn die Wohnung zu laufen, sobald ihr Vater die Tür aufgeschlossen hatte. „Mama!“, rief sie ganz laut und eilte ins Wohnzimmer, um ihre Mutter zu suchen. Dabei merkte sie gar nicht, dass sie das Blatt in der Aufregung im Hausflur vergessen hatte. Das Wohnzimmer war aber leer. „Mama?“

„In der Küche, Donasie“, rief eine Stimme aus den Tiefen der Wohnung.

Sofort machte das kleine Mädchen kehrt und nahm Kurs zur Küche. Dabei rannte sie fast noch in ihren Papa hinein.

„Hey, immer langsam Schatz, wir sind hier nicht auf der Rennbahn.“

Sie achtete nicht auf ihn und eilte einfach weiter in die Küche. „Weißt du wo wir waren?“, sagte sie sofort aufgeregt.

Ihre Mutter hockte hinter der Kochinsel und kramte im Schrank herum. Nur ihr Po war zu sehen. „Nein, wo wart ihr denn?“

„Bei der Schwanentanzschule.“ Sie drehte begeistert eine Pirouette auf dem gefliesten Küchenboden. „Papa hat mich heute angemeldet. Jetzt lerne ich tanzen, wie eine richtige Prinzessin!“

„Das ist ja toll“, freute sich auch sie und tauchte hinter der Kochinsel auf. Sie war eine kleine Frau, mit ganz dunkler Haut und kurzen Krauselocken auf dem Kopf. „Dann kannst du bald durch die ganze Wohnung tanzen.“

Sie grinste. „Tanzt du mit mir zusammen, Mama?“

Ich schreckte hoch und saß wie eine Eins im Bett. Meine Augen waren vor Schreck geweitet. Diese Vision … es war das erste Mal, dass sie nicht von Raphael und dem drohenden Unheil handelte und auch … oh, bei den Geistern, der Vater, das war Raphael gewesen und die Mutter war … „Ich.“ Das kleine Mädchen hatte mich Mama genannt. Mit einem Mal schlug mir mein Herz bis in den Hals. Bedeutete das, Raphael und ich ein Kind haben würden. Oder könnten? Aber das war doch gar nicht möglich, oder? Er wollte mich doch nicht mal küssen.

Verwirrt schaute ich neben mir ins Bett, nur um mit Schrecken festzustellen, dass ich allein darin lag. Raphael war weg!

Erschrocken schaute ich mich im Zimmer um. Die Sonne dämmerte bereits und so konnte ich ohne Schwierigkeiten feststellen, dass ich mich allein im Raum befand. Lalamika war auch nicht da. Das sollte mich eigentlich beruhigen, aber nicht zu wissen wo er war, machte mich seltsam nervös. Vielleicht bemerkte ich diese drückende Präsenz deswegen erst, als ich aus dem Bett stieg. Das war die Aura eines Alten. Nein, nicht nur einer, das mussten mehrere sein.

Sofort blieb ich stehen und schaute mich suchend um. Die Alten hatte ich mehr gesehen, seit ich Raphael über die Autobahn gefolgt war. Dass ich sie nun hier spürte, war nicht gerade beruhigend.

Trotz intensiver Suche, konnte ich sie in dem Raum aber nicht entdecken. Erst als ich einen Blick aus das halbhohe Fenster warf, sah ich mehrere Dunstgebilde in der Luft hängen. Was mich aber noch mehr überraschte, war die Gestalt, die ich durch sie durchschimmern sah. Raphael, er war hinterm Haus. Was machte er denn da?

Ich trat ans Fenster heran und bekam große Augen. Mein Lagerfeuer, es brannte!

Mich hielt nichts mehr in dem Zimmer. Ich zog mir nicht mal eine Hose oder Schuhe an, als ich nach oben stürmte. In nichts als einem alten T-Shirt von Raphael, rannte ich hinaus in den Garten. Bevor ich jedoch um die Ecke bog, wurde ich langsamer und sobald ich ihn sah, blieb ich sogar ganz stehen, weil ich nicht sicher war, ob ich mich ihm näheren durfte.

In dem Loch brannte lichterloh ein Feuer und warf seltsame Schatten ins Halbdunkel. Raphael stand keinen Meter davon entfernt. Er hatte den Blick auf das Foto in seiner Hand gesenkt.

Überall um ihn herum, schwebten durchscheinende Nebelwolken in der Luft. Ihre leisen Stimmen flüsterten im Wind. So viele Alte hatte ich noch nie gesehen. Ihre Gegenwart war … erdrückend.

Lalamika saß zu Raphaels Füßen und schaute mir ruhig entgegen. Hilf ihm, sagte sie zu mir. Er schafft es nicht alleine. Er hat Angst loszulassen.

Aber er war schon mal hier, was bedeutete, dass er es wollte. Trotzdem setzte ich mich nur langsam in Bewegung. Nicht nur wegen den Alten, die überall in der Luft hingen, ich wollte ihn auch nicht verschrecken.

Als ich kaum noch drei Schritte von ihm entfernt war, drehte er den Kopf ein wenig zur Seite und schaute mich an. Seine Augen waren vor Kummer getrübt und die Lippen kaum mehr als ein schmaler Strich.

Ich trat an seine Seite und legte meine Hand über seine. Dann führte ich sie langsam zum Feuer. „Lass los“, sagte ich sanft. „Lass die Vergangenheit ruhen.“

Seine Hand krampfte sich um das zerknitterte Foto zusammen und ich fürchtete schon, dass er es sich noch mal anders überlegte, doch dann öffneten sich die Finger langsam und das Bild fiel ins Feuer, wo es sofort von den Flammen gefressen wurde.

Augenblicklich verstummten die Stimmern der Geister. Sie begannen sich aufzulösen, bis sie alle verschwunden waren.

Ich konzentrierte mich ganz auf Raphael. Er starrte in die Flammen und sah dabei zu, wie das Foto von den Flammen verzehrt wurde, bis nichts mehr davon übrig war und selbst dann konnte er den Blick nicht abwenden.

Ich schob mich direkt vor ihn und legte meine Arme um seine Mitte. „Du hast das Richtige gemacht, Raphael“, sagte ich leise und kuschelte meinen Kopf an seine Brust.

Auch er legte seine Arme um mich und dann standen wir einfach nur da, während der Morgen langsam zum Leben erwachte.

„Gnocchi?“

„Hmh?“

„Nenn mich wieder Ys-oog, ich mag es wie das klingt.“

„Ich auch.“ Ganz ohne mein Zutun, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Vielleicht war das wirklich der Anfang und er konnte endlich heilten.

„Gnocchi?“

„Hmh?“

„Trägst du noch was anderes, als diese T-Shirt?“

„Ähm … nein.“

Und da war es wieder, dieses leidige Seufzen, das er immer in meiner Gegenwart ausstieß.

 

°°°°°

Der Kuss

 

Acht Monate später …

 

„Okay, weiter, wir sind dran.“ Raphael nahm eine Karte vom Stapel und reichte sie Anouk. Der nahm sie entgegen, studierte dann die fünf Worte darauf und legte sie verdeckt auf den Tisch.

Alle warteten gespannt, bis er sagte: „Papa sitzt drauf.“

„Sofa!“, kam es sofort von Tristan.

„Kissen!“, steuerte Oliver dazu.

Von Raphael kam: „Stoff!“

„Po!“, sagte Roger. „Hintern!“

Oliver rutschte aufgeregt an die Kante der Couch. „Arsch!“

„Oliver!“, empörte Marica sich.

Amber lachte. „Aber nein, Roger sitzt doch nicht auf Papa.“

Alle im Raum brachen in Gelächter aus, auch Roger und Oliver.

Es war Silvester und bis Mitternacht war es nicht mal mehr eine halbe Stunde. Wir saßen in dem offenen Wohnzimmer von Oliver und spielten ein Kartenspiel, dass sich Fünf nannte. Da musste man eine Karte ziehen und eines der fünf Worte darauf auswählen. Hatte man sich für eines entschieden, musste man es erklären, durfte dafür aber nicht mehr als fünf Worte benutzen und die anderen aus dem Team mussten dann innerhalb von zwei Minuten herausfinden, um was für ein Wort es sich handelte. Wir spielten Jungs gegen Mädchen und jetzt gerade waren die Männer dran. Das hinderte Lucy aber nicht daran, immer wieder völlig unpassende Worte in den Raum zu werfen.

„Sellerie!“, rief sie. „Telefon! Jackpot! Astronaut! Gänseblümchen!“

„Hörst du wohl auf“, schimpfte Tristan, schlang seine Arme um sie und riss sie mit sich nach hinten, sodass sie lachend gegen ihn fiel. Er biss ihr spielerisch in die Schulter und knurrte übermütig, was sie nur noch mehr lachen ließ.

Die beiden saßen zusammen auf dem Sessel. Ihnen gegenüber auf dem Zweisofa hatten sich Marica und Vivien niedergelassen. Oliver saß zwischen Roger und Raphael auf der anderen Couch. Amber, Anouk und ich hatten uns Plätze auf dem Boden gesucht.

„Hose!“, rief Raphael. „Sitz! Hosenboden!“

„Couch!“, warf Roger ein.

Ich lehnte mich kichernd zwischen Raphaels Beinen an das Sofa und aß den Rest von meinem Pfandkuchen. Auf dem Tisch, zwischen Konfetti, Luftschlangen und Tischfeuerwerken stand ein Teller, wo sich ein ganzer Berg der gepuderten Berlinern stapelte. Die Marmelade darin war echt lecker.

„Pobacke!“, sagte Tristan und hielt Lucy dabei den Mund zu, damit sie mehr dazwischen rufen konnte. Sie wehrte sich. „Jeans!“

„Taschentuch!“, kam es noch von Oliver.

„Und die Zeit ist um!“, rief Amber mit dem Blick auf die kleine Sanduhr. „Das bedeutet, dieser Punkt geht an uns.“ Sie machte einen Strich auf dem kleinen Zettel vor sich. „Damit steht es achtundzwanzig zu vierundzwanzig für die Frauen.“

Die Frauen jubelten begeistert, wohingegen die Männer nur stöhnten.

„Was war es denn nun?“, wollte Roger wissen.

„Ohr“, antwortete Anouk.

Vivien begann schallend zu lachen.

Tristan runzelte die Stirn. „Ohr?“

Der Kleine nickte.

Oliver lehnte sich wieder nach hinten. „Das musst du mir erklären.“

Anouk schob die Karte zurück unter den Stapel. „Wenn Mama was sagt und Papa nicht hört, sagt sie immer, er sitzt wohl mal wieder auf seinen Ohren.“

Amber prustete los, während die Männer mit Roger schimpften, weil er das doch hätte wissen müssen. Raphael warf sogar eine Luftschlange nach ihm, die sich in seiner Brille verfing.

„Ich hab es gleich gewusst“, verkündete Vivien und nahm sich lächelnd einen Berliner vom Tisch. „Der Hinweis war so eindeutig.“

Grinsend griff Amber nach dem Kartenstapel. „Wer ist dran?“

„Tarajika.“ Mit der Hand fegte Marica ein paar Konfetti von der Couch. „Aber das ist die letzte Runde, ich muss mich dann erstmal um den Sekt kümmern.“

„Aber wie sollen wir dann noch gewinnen?“, fragte Oliver beinahe weinerlich.

„Wir können ja später weiterspielen“, erklärte Amber und hielt mir den Kartenstapel entgegen.

Ich zog die oberste Karte runter und hielt sie so, dass niemand aus meinem Team sie sehen konnte. Dann versuchte ich die fünf Worte darauf zu entziffern. Das dauerte ein bisschen. Zwar konnte ich jetzt Lesen und Schreiben, aber noch nicht so gut wie die anderen. Deswegen beugte Raphael sich auch vor und las über meine Schulter mit. Aber er blieb still. Solange ich ihn nicht um Hilfe bat, würde er nichts sagen und erstmal wollte ich es selber versuchen.

Das oberste Wort entzifferte ich mit einigen Schwierigkeiten als Badeanzug.

Ich beugte mich zu Raphaels Ohr und flüsterte es ihm zu, um zu erfahren, ob ich richtig war. Als er nickte, grinste ich. Das zweite Wort war einfach: Eis. Dann kamen noch Sonnenbrille, Schwimmbecken und Liegestuhl. Bei dem letzten Wort musste ich mir von ihm helfen lassen. I und E hintereinander fand ich einfach irritierend. Die Wahl viel mir nicht schwer. „Amber verliert sie immer“, erklärte ich und drückte die Karte gegen meine Brust.

„Schlüssel!“, rief Oliver sofort.

Tristan rollte mit den Augen. „Papa, wir sind nicht dran.“

„Oh.“

„Schlüssel“, sagte Amber dann, aber ich grinste nur, weil es ja falsch war.

„Handtasche!“, kam es von Vivien.

Amber schaute sie etwas irritiert an. „Wann bitte habe ich schon mal meine Handtasche verloren?“

„Taschentücher“, warf Marica ein. „Ohrringe, Stifte.“

Von Lucy kam: „Ihre Unschuld“, woraufhin Amber eine Handvoll Konfetti vom Tisch sammelte und sie nach ihr warf. Aber da Lucy lachend zur Seite abtauchte, bekam Tristan das Meiste ab.

„Handy!“ Vivien rollte die Hand, als wollte sie sich selber antreiben. „Socken, Sonnenbrille …“

„Ja!“, rief ich begeistert und warf die Arme in die Luft. „Sonnenbrille.“

Wieder jubelten die Frauen, während von den Männern nur ein gemeinsames Stöhnen kam.

„Ihr schummelt doch“, beschwerte sich Tristan.

Lucy drehte sich halb auf seinem Schoß und grinste ihn an. „Oh, ist da jemand ein schlechter Verlierer?“, zog sie ihn auf und gab ihn einen Kuss auf den Mund, der ihn nicht wirklich zu besänftigen schien.

„So“, sagte Marica dann und erhob sich von ihrem Platz. „Ich bin dann erstmal in der Küche.“

„Ich helfe dir.“ Auch Vivien erhob sich.

„Ich auch!“ Doch noch bevor ich es schaffe aufzuspringen, schlang Raphael von hinten seine Arme um mich und zog mich halb auf seinen Schoß. „Hey!“

„Du bleibst hier“, verkündete er und hielt mich fest.

„Aber ich will helfen.“

„Das geht nicht.“

„Warum?“

„Weil nur Mütter und Väter das machen dürfen“, erklärte Amber. „Und da du nun mal kein eigenes Kind hast, musst du hier mit uns anderen warten.“

Wirklich? Das war ja eine seltsame Regel. Zuhause durfte ich doch auch immer helfen. Das musste etwas mit Silvester zu tun haben. Aber als Marica und Vivien dann das Wohnzimmer verließen, folgte Anouk ihnen und keiner sagte etwas dagegen. „Hey, Anouk hat noch kein Kind.“

„Ja aber er ist Minderjährig“, sagte Lucy schnell. „Da gilt diese Regel nicht.“

Also langsam wurde ich misstrauisch. Ich hatte fast das Gefühl, als wollten sie mich von der Küche fernhalten, nur warum?

„Hier“, sagte Amber und hielt mir einen Berliner vor die Nase. „Koste den mal, der ist lecker.“

Oh ja, den mit den bunten Streuseln hatte ich noch nicht probiert. Also schob ich Raphaels Arme weg, setzte mich bequemer auf seinen Schoß und nahm den Pfannkuchen entgegen. Beim Essen jedoch merkte ich sehr schnell, dass er genauso wie die drei anderen schmeckte, die ich gegessen hatte. Der einzige Unterschied waren die Streusel. Darum drehte ich mich halb und hielt ihn Raphael vor die Nase. Er durfte einmal abbeißen. Der Rest gehörte mir.

Es ging ihm besser. Ich wusste nicht, ob es wirklich daran lag, dass er vor so vielen Monaten dieses Foto verbrannt hatte, aber ich bildete es mir gerne ein. Natürlich war es nicht sofort besser geworden. Wie Marica schon gesagt hatte, es brauchte Zeit, aber so etwas wie auf der Autobahn, war nicht mehr geschehen. Selbst diese aus Verzweiflung geborenen Wutausbrüche waren schon seit Wochen nicht mehr aufgetreten.

Letzten Monat hatte ich kurzzeitig gefürchtet, dass er noch einmal in diesen Loch fallen könnte, denn jedes Jahr im November gab es hier in Arkan eine Ratssitzung der Lykaner, an der auch die Königin teilnahm. Cayenne war hier gewesen. Sie hatte sogar Tristan und Lucy Zuhause besucht. Amber hatte es mir erzählt. Ich war ihr nicht begegnet, genauso wenig wie Raphael, denn wir waren gar nicht vor Ort gewesen.

Zwei Tage vor ihrem Besuch hatte Raphael seine alte Campingausrüstung aus dem Hobbyraum geholt, sie auf sein und mein Motorrad geladen und war mit mir zusammen für eine Woche in die Natur gefahren. Nachts war es zwar ziemlich kalt gewesen, aber es hatte Spaß gemacht. Und ja, ich hatte jetzt nicht nur meinen Motorradführerschein, ich hatte auch eine eigene Maschine bekommen. Sie war nicht so toll wie die von Raphael und auch viel älter, aber sie gehörte mir.

Als ich das letzte Stück vom Pfandkuchen in meinen Mund schob, rieselte etwas von dem Puderzucker auf Raphaels Hose. Da er gerade mit Tristan einen Luftschlangenkrieg führte, wischte ich es einfach weg. Es war schön zu beobachten, wie er wieder frei lachen konnte, aber ich wusste, dass es noch nicht vorbei war.

Die Geister schickten mir noch immer Visionen vom Weltuntergang. Ich konnte es mir nicht erklären, einfach weil es ihm so viel besser ging, aber ein bis zwei Mal im Monat, schickten sie mir ihre Nachrichten. Was ich allerdings nicht mehr bekam, waren Visionen von dem kleinen, schwarzhaarigen Mädchen, das wie eine Prinzessin tanzen wollte.

Die Wochen nach diesem Traum, hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht und mich immer wieder gefragt, ob er mich vielleicht doch noch mal küssen würde. Aber abgesehen davon, dass er Abends mit mir kuschelte, war nichts geschehen. Mittlerweile glaubte ich sogar, dass es gar keine Vision war, sondern wirklich nur ein Traum.

Ich hatte Amber davon erzählt. Sie hatte mich zwar etwas seltsam angeschaut, mir dann aber erklärt, dass Ailuranthropen und Vampire keine gemeinsamen Kinder haben konnten. Das bestärkte mich in meiner Vermutung nur. Irgendwie machte mich das traurig. Ich hatte ihn wirklich gerne.

Als er merkte, wie ich ihn anschaute, zog er eine Augenbraue nach oben. „Alles klar?“ Am Kinn hatte er jetzt ein niedliches Bärtchen und die Haare auf seinem Kopf waren nun länger. Wenn er morgens aufwachte, standen sie ihm immer ganz verstrubbelt vom Kopf ab.

Statt zu antworten, grinste ich nur, griff mir den Haufen an Luftschlangen, der neben ihm auf der Couch lag und legte sie ihm auf den Kopf. „Sehr schick.“

Mit einem gespielt bösen Blick, zupfte er sie sich wieder vom Kopf und begann damit, sie mir um den Hals zu wickeln.

„Es geht gleich los!“, rief Amber begeistert und klopfte neben sich auf den Boden. „Ara, komm her.“

Ich sprang von Raphaels Schoß und eilte an Ambers Seite. Dabei rannte ich fast durch Lalamika durch, die auf dem Boden kauerte und mit peitschendem Schwanz eine Luftschlangen belauerte, die von der Tischkante hing.

Oliver griff die Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Dort lief eine Musikshow mit einer riesigen Uhr im Hintergrund, auf der sie Zeit rückwärts ging. Noch knapp zwei Minuten, dann war Mitternacht, Neujahr und auch mein Geburtstag. Aber den würden wir erst am Nachmittag feiern. Amber hatte mir gesagt, es würde sonst zu viel auf einmal werden. Es sollte sogar einen Kuchen geben. Ich freute mich schon drauf.

Mit einem „Hier kommt der Sekt“ trat Marica ins Wohnzimmer. Auf einem Tabelle balancierte sie mehrere gefüllte Gläser und begann sie an alle zu verteilen.

Hinter ihr kam Anouk hereingestürmt. In seiner rechten Hand hielt er eine Tröte, in seiner linken die teure Fotokamera, die er zu Weihnachten bekommen hatte. Videos zu drehen, war ihm bereits vor Monaten zu langweilig geworden, er hatte nur noch die Fotofunktion genutzt und alles fotografiert, was ihm vor die Nase gekommen war.

„So, hier, auch für dich.“ Marica drückte mir eine Sektflöte in die Hand, nur war die nicht mit Sekt, sondern mit Saft gefüllt. Ich mochte keinen Sekt, der war eklig.

Der Moderator im Fernseher plapperte dummes Zeug. Die Uhr im Hintergrund zeigte noch dreißig Sekunden an. Langsam wurde ich aufgeregt. Amber hatte mir erzählt, was um Mitternacht passieren sollte und ich war wirklich schon gespannt. In Jegors Haus hatten wir nie Silvester gefeiert.

„Vivien Schatz, kommst du?“, rief Marica. „Es ist gleich so weit.“

Noch zwanzig Sekunden.

Die anderen im Raum lachten und quatschten. Ich hatte die Familie noch nie so ausgelassen erlebt. Es war wirklich toll.

Als Vivien den Raum betrat, sprang die Uhr im Fernseher gerade auf zehn Sekunden. Marica drückte auch ihr ein Glas in die Hand und dann begannen alle im Raum rückwärts zu zählen. Bei sechs stieg ich mit ein.

„ … fünf, vier, drei, zwei, eins. Post Neujahr!“

Alle im Raum begannen zu laut jubeln. Raphael und Lucy bliesen in ihre Tröten. Amber nahm mich in den Arm und drückte mich an sich. Und draußen vor dem Fenster … wow. Hunderte von bunten Lichtern explodierten am Himmel. Rot und blau und gelb und grün.

Ich sprang auf die Beine und rannte zur Trassentür, damit mir auch nichts entgehen konnte. Das war so schön. All die Farben und Lichter, sowas hatte ich noch nie gesehen.

Als Raphael neben mich trat, grinste ich zu ihm hinauf.

„Gefällt es dir?“

Ich nickte begeistert.

„Frohes neues Jahr“, wünschte er mir, legte mir einen Arm, um die Schultern und drückte mich an sich.

„Okay!“, rief Amber enthusiastisch und sprang auf die Beine. „Lasst uns die Batterie zünden.“ Sie ging zur Wand und schaltete das Licht aus, während Roger sich auf die Beine erhob und zur Trassentür kam.

Ich schaute mich verwundert um. „Was macht ihr?“

Raphael grinste mich nur an. „Schau einfach zu“, sagte er und zeigte auf Roger, der die Tür aufschob und nach draußen in die Kälte trat.

Auch die anderen im Raum kamen lachend und quatschend zu uns und beobachteten, wie Roger sich die bunte Kiste mit den ganzen Löchern von der Terrasse schnappte und damit in die Mitte des Gartens ging. Er zückte ein Feuerzeug und zündete die Kiste dann genau wie das Tischfeuerwerk vorhin an. Danach ging er sofort eilig in Deckung.

Zehn Sekunden musste ich warten und dann war der Garten plötzlich erhellt von pfeifenden Explosionen, grellen Lichtern und Raketen, die hoch zu den Sternen rasten.

Anouk drängte sich ganz nach vorne an die Tür und begann Fotos zu machen, während ich mit offenem Mund dastand und dieses Schauspiel in all seinen Facetten beobachtete. Es nahm gar nein Ende. Immer wieder explodierten leuchtende Farben am Himmel.

Wow.

„Happy Birthday to you“, begann Amber plötzlich hinter mir zu singen.

„Happy Birthday to you“, stimmten auch die anderen mit ein, als ich mich verwundert umdrehte – ja, selbst Anouk. „Happy Birthday dear Ara …“

Meine Augen wurden riesig, als Marica einen Servierwagen in den Raum schob, auf dem eine riesige Torte mit vielen leuchtenden Kerzen thronte. Auf dem Fach darunter waren mehrere Geschenke in buntem Papier gestapelt.

„… happy Birthday to you!“

Alle um mich herum begannen zu jubeln und zu applaudieren. Raphael drückte mich an sich und wünschte mir alles Gute zu meinem neunzehnten Geburtstag. Und Amber drückte mich an sich und wünschte mir alles Gute. Und Lucy. Und Marica. Und Oliver. Ja selbst Anouk kam zu mir und tätschelte mir flüchtig die Hand.

Und was machte ich? Ich stand da, starrte den Kuchen und die Geschenke an und plötzlich begann ich zu weinen. Ich wusste nicht warum und konnte es auch nicht verhindert. Ich spürte nur, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und überliefen und dann weinte ich einfach.

Alle schauten mich erschrocken an.

Amber legte sofort die Hände an meine Gesicht. „Hey, Süße, was ist denn los?“, fragte sie besorgt.

Als Raphael sich dann auch noch verwirrt vorbeugte, schlug ich eine Hand vor den Mund und begann zu schluchzen. Sie feierten meine Geburt. Noch nie hatte jemand meine Geburt gefeiert. Ich war immer nur verteufel worden, doch hier in diesem Moment … die Gefühle überrumpelten mich einfach. Ich meine, ich hatte ja gewusst, dass wir heute meinen Geburtstag feiern würden, doch ich hatte nicht geahnt, dass es so überwältigend sein würde.

„Gnocchi“, sagte Raphael sanft und drehte mich zu sich um. Ich ließ mich einfach von ihm in den Arm nehmen und mir tröstend über den Rücken streichen. „Schhhh“, machte er. „Ganz ruhig.“

Die anderen standen etwas ratlos um uns herum und schienen nicht recht zu wissen, was sie machen sollten, während die Batterie draußen im Garten ihre letzten Schüsse abfeuerte und die Nacht noch einen Moment erhellte.

„Ich glaub, dass ist ein wenig viel für sie“, sagte Amber und legte mir zaghaft eine Hand auf die Schulter.

Ich schüttelte an Raphaels Brust den Kopf. „Nein“, weinte ich, es war nicht zu viel, es war einfach nur toll. Ich konnte es selber nicht erklären, das war doch toll, also warum musste ich so doll weinen? Ich weinte sonst nie.

Raphael beugte sich zu meinem Ohr hinunter. Ich konnte seinen warmen Atem spüren. „Freust du dich?“, fragte er leise.

Zu antworten brachte ich einfach nicht fertig, aber ich schaffte es wenigstens verweint an seiner Brust zu nicken.

„Weinst du, weil du dich freust?“

Ja, ich schaffte es sogar noch ein zweites Mal zu nicken.

„Ach Gnocchi.“ In seiner Stimme schwang ein Hauch von Belustigung mit. Er schob eine Hand unter mein Kinn und drückte es hoch, bis ich ihn mit verweinten Augen anschaute. Ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen. „Möchtest du deine Kerzen auspusten?“

Ich nickte noch ein drittes Mal.

Seine eisblauen Augen funkelten mich vergnügt an. „Na dann komm.“ Er schob mich vor den Servierwagen.

„Und vergiss nicht dir etwas zu wünschen“, erinnerte Amber mich. „Aber du musst es für dich behalten, damit es auch in Erfüllung geht.“

Ich nickte und beugte mich dann vor. Noch immer liefen mir Tränen über die Wangen. Vor mir funkelten neunzehn kleine Kerzen. Ich wusste auch schon ganz genau, was ich wollte. Ich wünsche mir, dass Raphael wieder glücklich wird. Ich holte einmal tief Luft und blies dann alle Kerzen auf einmal aus.

Alle um mich herum applaudierten und endlich schaffte ich es wieder zu lächeln, obwohl da immer noch einzelne Tränen aus meinen Augen rannen.

„Und jetzt die Geschenke“, sagte Amber und zog mich mit sich zu Boden, um an das untere Fach des Servierwagens heranzukommen. Sie nahm eines vom Stapel und drückte es mir in die Hand. „Das ist von mir.“

Ich schniefte noch einmal, wischte mir dann mit der Hand die Tränen aus den Augen und löste vorsichtig das bunte Papier. Darin war ein dünnes Buch. „Memories“, lass ich mit einigen Schwierigkeiten.

„Schlag es auf“, befahl Amber begierig.

Das tat ich und was mich darin erwartete, waren keine Wörter, sonder Bilder. Bilder von mir und ihr und Raphael und dem Rest der Familie. Wie ich in der Küche saß und mit Amber lesen lernte, oder wie ich mit Raphael am Herd stand und er mir Kochen beibrachte. Es gab sogar ein Foto, wie ich meinen gerade erst erworbenen Führerschein hoch hielt und freudig in die Luft sprang. Oder von dem Fernsehabend, den wir oben bei Lucy und Tristan veranstaltet hatten. Und vom See mit Josh, Vico Zora und Mariella und sogar eines vom Campingausflug mit Raphael. Unter den Bildern standen kurze Texte.

Wieder krochen mir die Tränen in die Augen. Ich legte das Buch zur Seite und nahm Amber in den Arm. „Danke“, flüsterte ich.

„Ach Süße, das habe ich doch gerne gemacht.“

Danach widmete ich mich den anderen Geschenken. Von Marica bekam ich einen grauen Pullover mit Glockenärmeln. Tristan, Lucy und Oliver schenkten mir gemeinsam einen Motorradhelm, der links und rechts an den Seiten einen Panther aufgedruckt hatte. Sogar von Vivien und Roger bekam ich etwas. Zwei Leinwände mit Acrylfarben und Pinseln. Anouk hatte für mich ein Bild gemalt, das ich nach genauer Betrachtung in das Buch mit den Fotos legte, bevor ich ihn kurz in den Arm nahm.

„Mein Geschenk bekommst du später“, erklärte Raphael und zog mich zurück auf die Beine.

Amber zog eine Augenbraue nach oben. „Warum gibst du es ihr nicht jetzt?“

„Weil es noch in meinem Zimmer liegt. Kommt, lasst uns knallen gehen.“

Damit fiel der Startschuss in einer Schlacht um Jacken und Schuhe im Flur. Alle drängten sich gleichzeitig um die Garderobe. Es war ein heilloses Durcheinander und ich brauchte ewig, um meinen zweiten Schuh zu finden. Aus irgendeinem Grund lag der halb in der Küche.

Sobald alle soweit fertig waren, gingen wir nach draußen in den Garten. Die Luft war so kalt, dass sich weiße Wölkchen vor meinem Mund bildeten. Das Gras war gefroren, aber Schnee war bisher keiner gefallen.

Raphael stellte Raketen in leere Flaschen und schoss sie in den Himmel. Roger warf bunte Kreisel und ich schmiss mit Anouk Knallerbsen auf die Terrasse. Lucy und Tristan standen an der Seite und schauten einfach nur zu.

Als wir keine Knallerbsen mehr hatten, ging ich zu Raphael und durfte selber Mal eine Rakete abfeuern. Er gab mir dafür ein Stäbchen, das an der spitze glühte. Ich musste es nur an die Zündschnur halten und sobald es Funken sprühte, packte Raphael mich an der Taille und zog mich zurück.

Die Rakete schoss mit einem Pfeifen in den Himmel und Explodierte dort in einem Meer aus blauen Funken.

„Wooh!“, machte ich begeistert, hüpfte auf und ab und schnappte mir gleich die nächste Rakete. Als ich gerade die dritte abgefeuert hatte, fiel mir auf, das Amber gar nicht bei uns war. Ich schaute mich suchend nach ihr um und entdeckte sie auf der Terrasse, wo sie mit dem Hintern an dem großen Tisch lehnte und uns beobachtete. Sie hielt sich ihr Handy ans Ohr. Ihr Blick war nachdenklich auf Raphael gerichtet.

„Hier, Gnocchi.“ Raphael drückte mir noch eine Rakete in die Hand, die ich sogleich nahm und in die Flasche steckte.

Als das Farbenmeer hoch über unseren Köpfen explodierte, drehte ich mich vor Freude im Kreis. Dabei bemerkte ich, dass Amber ihr Handy weggesteckt hatte, aber immer noch am Tisch lehnte. Warum kam sie denn nicht zu uns?

„Bin gleich wieder da“, sagte ich zu Raphael und hüpfte durch den Garten direkt vor ihre Nase. „Willst du nicht mitmachen?“

„Doch, aber …“ Sie verstummte.

„Was aber?“

Sie schaute mich etwas eigenartig an. Ihre Hand griff vorsichtig nach meiner. „Weißt du, ich würde dir gerne noch etwas schenken.“

„Aber ich hab doch schon etwas von dir bekommen.“

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Und deswegen darf ich dir noch noch etwas schenken?“

Hm, eigentlich sprach nichts dagegen, es wunderte mich nur. „Was möchtest du mir den schenken?“

Statt zu antworten, zog sie mich ein wenig näher an sich und legte mir eine Hand an die Taille. Mit der anderen Hand strich sie mir vorsichtig über die Wange. „Ich würde es dir gerne zeigen.“ Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden und ihr Gesicht dem meinen auf einmal sehr nahe.

Meine Augen wurden ein Stück größer. Sie würde doch nicht …

„Wenn du es nicht willst, musst du es nur sagen.“ Die Worte fielen wie ein Hauch von ihren Lippen. Sie war mir so nahe, dass ich ihren warmen Atem auf meiner kalten Haut spürte. „Nur ein Wort und ich höre auf.“

Aber ich sagte nichts. Ich wusste selber nicht, warum still blieb. War es Neugierde? Oder vermisste ich dieses Gefühl einfach nur? Raphael war bisher der einzige gewesen, der mich geküsst hatte und das … naja, es würde wohl nie wieder passieren.

Da ich nichts weiter tat, als sie stumm anzuschauen, zog sie mich noch ein wenig näher an sich heran. Nur unsere dicken Jacken waren zwischen uns. Ihre Lippen strichen zärtlich über meine, als wollte sie meine Reaktion austesten.

Mein Mund öffnete sich ganz leicht und dann küsste sie mich. Im ersten Moment war es das gleiche Gefühl wie damals bei Raphael, ein Blitz, der durch meinen ganzen Körper zuckte und meine Haut kribbeln ließ, doch schon im nächsten Moment wurde es ganz anders. Es war angenehm und verlockte mich dazu den Kuss zu erwidern, doch es war bei weitem nicht so intensiv wie mit ihrem Bruder.

Als Amber spürte, dass ich den Kuss erwiderte, wanderte ihre Hand in meinen Nacken und zog mich fester an sich. Sie streifte mich mit ihrer Zunge, bis unser Atem sich vermischte. Ich spürte wie sie nach diese Nähe gierte und drängender wurde. Ihre langen Haare kitzelten mich an der Wange und ein angenehmer Schauder rann mir über den Rücken, der mich dazu verleitete, ihr noch ein wenig entgegen zu kommen.

Meine Hand legte sich an ihre Hüfte. Raphael war mir nie so nahe gekommen, er hatte immer darauf geachtet, einen gewissen Abstand zu waren. Amber machte das nicht. Ihre Hand grub sich ein wenig in meine Taille, ihr Mund drängte gegen meinen und beschleunigte meinen Herzschlag, doch dieser Kuss löste nicht mal annähend das in mir aus, was Raphael mich hatte fühlen lassen.

Ihre Lippen strichen über meine, berührten sanft meine Wange. Ihr Atem streifte meine Haut, als sie sich langsam von mir löste und mir dann forschend in die Augen sah. „Okay?“, fragte sie leise.

„Ja.“ Ich neigte den Kopf zur Seite. „Aber anders.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem äußerst seltsamen Lächeln. Es wirkte nicht sehr glücklich. „Du meinst Raphael.“

Ich nickte.

„Besser anders?“, fragte sie sehr leise.

Ich musste nicht antworten, sie bemerkte den bedauernden Blick in meinen Augen.

„Okay.“ Sie wich meinem Blick aus und löste sich von mir. „Ich habe es wenigstens versucht.“ Ihr Lächeln bekam einen bitteren Zug.

„Bist du jetzt böse?“

„Nein.“ Sie schaute mich wieder an und strich mir noch einmal über die Wange, bevor sie ihre Hand zurückzog. „Niemand kann etwas für das was er will. Oder wen.“

Das verstand ich nicht, aber dafür merkte ich etwas anderes. „Du bist traurig.“

Dafür bekam ich ein schiefes grinsen. „Nein. Vielleicht ein wenig enttäuscht, aber das ist in Ordnung.“ Sie nahm meine Hand in ihre und hauchte mir einen Kuss auf den Handrücken. „Wirklich, du brauchst dir keine Gedanken zu …“ Als ihr Blick an mir vorbei ging, verstummte sie.

Ich drehte mich herum, um zu erfahren was los war und bemerkte Raphael, der uns beobachtete. Sein Gesicht schien zu Stein erstarrt und seine Lippen waren kaum mehr als ein dünner Strich. Er senkte den Blick, wandte sich ab und verließ dann langsam den Garten.

Ich runzelte die Stirn. „Wo geht er hin?“ Wir wollten doch noch feiern.

Amber schaute mich nachdenklich an und seufzte dann. „Ich glaube, er will sich ein wenig die Beine vertreten. Du solltest ihm hinterher laufen, dann ist er nicht so allein.“ Sie drückte noch mal kurz meine Hand und ließ mich dann los. „Na los, geh zu ihm.“

„Okay.“ Verwundert wandte ich mich ab und folgte Raphael dann zum Garten hinaus.

Er war bereits ein Stück die Straße hinuntergelaufen. Die Hände steckten in den Hosentaschen und seine Schultern hatte er hochgezogen. Er wirkte irgendwie … gebeugt.

„Ys-ogg!“, rief ich und beeilte mich, um ihn einzuholen. Dabei war das gar nicht nötig. Sobald er seinen Namen hörte, blieb er stehen und drehte sich zu mir herum. Was in seinem Kopf vor sich ging, konnte ich nicht erkennen. „Wo gehst du hin?“, fragte ich, sobald ich ihn erreicht hatte.

„Nach Hause.“ Die Farbe seiner Augen vertiefte sich ein wenig. „Ich bin müde.“

„Aber wir müssen doch noch feiern. Und dieses Bleigießen, das wollten wir doch auch noch machen.“

Seine Lippen verzogen sich zu eine traurigen Lächeln. „Das kannst du doch mit Amber machen.“

„Aber ich möchte es auch mit dir machen.“ Als er nicht reagierte, neigte ich den Kopf zur Seite. „Was hast du?“

Anstatt zu antworten, hob er den Kopf und schaute hinauf in den Himmel.

„Ys-oog?“

„Was war das gerade?“, fragte er leise. „Mit Amber.“

„Meinst du den Kuss? Sie hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.“ Ich begann zu lächeln. „Aber der Kuss mit dir hat mir besser gefallen.“

Erst tat er nichts, dann schnaubte er und schüttelte den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden. „Gott, ich bin sowas von im Arsch“, sagte er und schaute mich dann wieder an.

„Warum?“

„Nicht so wichtig.“ Er zog seine Hand aus der Hosentasche, schaute sie dann einen Moment und hielt sie mir hin. „Hier, das ist für dich. Zum Geburtstag.“ In seiner offenen Handfläche lag ein langes Lederband, an dem eine tropfenförmige Phiole hing. Sie war mit geschwungenen Ornamenten verziert. Darin befand sich ein graues Pulver.

„Das ist hübsch“, sagte ich und nahm die Phiole in die Hand, um mir ihren Inhalt anzuschauen. „Was ist da drin?“

Er zögerte kurz. „Asche.“

„Asche?“

Ein Nicken. „Du erinnerst dich doch sicher noch an das Lagerfeuer, dass du für mich gemacht hast.“

Natürlich tat ich das. „Das ist Asche von dem Feuer?“

Ein schiefes Grinsen erschien auf seinen Lippen. „Du hast es mir doch gesagt. Feuer zerstört, doch aus der Asche kann etwas Gutes entstehen.“ Er schabte mir dem Fuß über den Boden. „Ich habe es damals nicht geglaubt, aber seit diesem Tag ist alles besser geworden und das habe ich dir zu verdanken. Darum dachte ich … naja, die Asche hat mir Glück gebracht.“

„Das ist also ein Glücksbringer?“

„Ja.“

Ich gab ein Quietschen von mir und fiel ihm dann um den Hals. Raphael schaffte es gerade noch aus seine zweite Hand aus der Tasche zu ziehen, um mich aufzufangen. „Das ist toll!“, freute ich mich und ließ ihn wieder los. „Machst du ihn mir um?“

Er grinste. „Das geht aber nur, wenn du mich loslässt.“

Oh, natürlich. Ich ließ von ihm ab und drückte ihm die Kette wieder in die Hand.

„Dreh dich um“, sagte er, also machte ich das. Links und rechts tauchten kurz seine Arme auf, dann lag der Anhänger auf meinem Schal.

Ich spürte wie der das Band in meinem Nacken verknotete. Sein Finger streifte dabei ein paar Mal meine Haut und ein kleiner Schauder rann mir über den Rücken. Fasziniert nahm ich die Phiole zur Hand. „Du hast gelogen.“

„Wobei hab ich gelogen?“ Er zupfte meinen Schal wieder zurecht und ließ dann von mir ab.

Ich drehte mich wieder zu ihm um. „Du hast zu Amber gesagt, dass das Geschenk noch in deinem Zimmer liegt, aber es war in deiner Hosentasche.“

Daraufhin grinste er ein wenig verlegen. „Ja. Ich wollte es dir eigentlich gleich geben, aber … keine Ahnung, so vor der ganzen Familie … er kam mir irgendwie albern vor.“

„Warum? Das ist doch ein tolles Geschenk.“

Statt zu antworten, zog er mich in seine Arme und drückte mir einen Schmatzer auf die Schläfe. „Alles gute zum Geburtstag, Gnocchi.“

 

°°°

 

Drei Wochen später …

 

„In Deckung!“

Lachend sprang ich hinter den Baum, gerade rechtzeitig, um dem Schneeball zu entkommen. Raphael hatte nicht so viel Glück, er wurde von Vivien am Kopf getroffen, bevor er sich hinter dem breiten Stamm in Sicherheit bringen konnte. Grinsend schaute ich dabei zu, wie er versuchte den Schnee aus seinem Kragen zu bekommen.

„Na los ihr Feiglinge, kommt raus!“, rief Amber quer durch den Garten. „Oder fürchtet ihr euch etwa vor ein bisschen Schnee?“

Ich schaute am Baum vorbei, zog den Kopf aber gleich wieder zurück. „Amber steht links am Zaun“, sagte ich vergnügt. „Vivien und Anouk haben sich hinter dem Schneehaufen geduckt.“

Raphael bückte sich, um neue Munition zu machen. Zwei der Bälle reichte er mir. „Okay, du schnappst dir Vivien und ich kümmere mich um Amber.“ Er richtete sich mit zwei eigenen Schneebällen wieder auf. „Fertig?“

Ich nickte begeistert.

„Okay. Drei, zwei, eins, los!“ Wir sprangen beide Gleichzeitig aus unserer Deckung und warfen unsere Bälle.

Mein erster Ball verfehlte Vivien nur ganz knapp, der zweite flog einen ganzen Meter daneben. Dafür bekam ich aber einen Ball von Anouk gegen die Brust.

„Ja!“, rief Amber begeister, doch schon in der nächsten Sekunde traf sie der Ball von Raphael direkt im Gesicht.

Auf der Freifläche zwischen den Parteien lauerte Lalamika und sprang jedes Mal hoch, wenn ein Schneeball an ihr vorbei flog.

Jubelnd sprang ich zurück in meine Deckung.

Es war Nachmittag und wir waren in Maricas Garten. Gestern Abend hatte es angefangen zu schneien und über Nacht war so viel runtergekommen, dass die Welt sich heute in einem unschuldigen Weiß präsentierte. Noch nie hatte ich Schnee leibhaftig erlebt. Ich kannte ihn aus dem Fernseher und auch von Bildern. Selbst durch das Fenster in Jegors Flur hatte hatte ich ihn schon gesehen, doch es war das erste Mal, dass ich in ihm spielte und auch wenn er kalt war, es machte richtig Spaß.

Ich hatte heute schon mit Raphael einen Schneemann gebaut und mit Anouk mehrere Schneeengel gemacht. Als Vivien dann gekommen war, um ihren Sohn abzuholen, haben wir angefangen uns mit Schneebällen abzuwerfen.

„Okay, dieses Mal werfen wir von unserer Deckung aus“, sagte Raphael und bückte sich wieder, um den Schnee in Form zu bringen. „Wie machen …“

„Pass auf!“, schrie ich, als Amber plötzlich um dem Baum herumgerannt kam.

Raphael sprang auf, während ich einen Satz zur Seite machte. Ich wollte mich nach einem Schneeball bücken, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Als ich den Kopf herumriss, sah ich gerade noch wie Vivien ausholte. Natürlich versuchte ich dem Ball noch auszuweichen. Leider rutschte ich dabei mit dem Fuß weg. Ich verlor das Gleichgewicht, kippte zur Seite und knallte auf meine Hüfte. Irgendwie schaffe ich es dabei mir den Fuß zu verdrehen. „Au!“ Mein Gesicht verzog sich vor Schmerz.

Amber und Raphael unterbrachen sich mit noch erhobenen Schneebällen und schauten erschrocken zu mir rüber. Anouk registrierte es nicht so schnell und nutzte seine Chance. Sein Ball traf Raphael am Arm, doch der hatte sich schon in Bewegung gesetzt.

„Hast du dir wehgetan?“

„Mein Fuß“, sagte ich und setzte mich vorsichtig auf. „Ich hab ihn mir umgeknickt.“ Und das tat wirklich weh.

Raphael hockte sich an meine Beine und schob vorsichtig mein Hosenbein nach oben. Als er dabei den Knöchel berührte, zischte ich vor Schmerz. „Kann sein, dass du ihn dir verstaucht hast“, murmelte und schob mir dann kurzerhand einen Arm unter die Beine und den Rücken. Im nächsten Moment verlor ich den Kontakt zum Boden und griff eilig nach seinem Hals, um nicht runterzufallen.

„Was ist los?“, fragte Amber und kam näher.

„Sie hat sich nur den Fuß umgeknickt“, erklärte Raphael. „Ich bring sie rein und schau mir das mal an.“

Auch Anouk kam ein wenig näher. „Spielen wir jetzt nicht mehr?“

Vivien schaute ihn bedauernd an. „Nein Schatz. Wenn Tarajika verletzt ist, kann sie nicht mehr spielen.“

Enttäuscht sanken seine Mundwinkel nach unten.

„Weißt du was?“, sagte Amber und nahm seine Hand. „Ich komme noch ein bisschen mit zu euch rüber und dann können wir bei euch im Garten noch einen Schneemann bauen. Okay?“

Das ließ ihn eifrig nicken.

„In Ordnung.“ Sie hob den Blick noch mal zu mir. „Und wenn ihr irgendwas braucht, dann meldet ihr euch.“

„Klar“, sagte Raphael. „Wir sehen uns.“ Damit wandte er sich ab und während Vivien, Amber und Anouk den Garten verließen, trug er mich ins Haus. Das war ein wenig umständlich. Da er mich im Arm hielt, konnte er nicht nach den Schlüsseln in seiner Hosentasche fischen, also trat er mit Schuh ein paar Mal gegen die Tür, bis Marica uns hinein ließ.

„Was ist los?“, fragte sie auch sofort besorgt und eilte hinterher, als Raphael mich ins Wohnzimmer trug und dort vorsichtig auf der Couch absetzte.

„Ich bin ausgerutscht“, erklärte ich. „Mein Fuß tut weh.“

Raphael zog seinen Wintermantel aus und warf ihn achtlos auf den Sessel. „Ich glaube, sie hat sich den Knöchel verstaucht.“ Er setzte sich neben mich, hob mein Bein und legte es sich über den Schoß. Dann schob er mein Hosenbein wieder nach oben und zog mir vorsichtig den Schuh und den Strumpf aus.

Ich drückte die Lippen zusammen, um nicht wieder vor Schmerz zu zischen.

Achtsam begann Raphael meinen Knöchel abzutasten. „Ist auf jeden Fall nicht gebrochen.“

„Ich geh mal die Salbe aus dem Bad holen“, sagte Marica und huschte wieder hinaus.

Raphael wickelte sich in der Zeit seinen Schal vom Hals und warf ihn zu seinem Mantel auf den Sessel. Dann half er mir aus den Winterklamotten heraus. Als Marica wieder herein kam, schmiss er sie gerade auf seine Sachen.

„Hier“, sagte sie und stellte den Tiegel vor Raphael auf den Tisch. „Soll ich auch Eis zum kühlen holen?“

„Nein, ich glaub es ist gar nicht so schlimm.“ Raphael strich vorsichtig über das Gelenk. Ich bekam davon eine Gänsehaut. „Ich glaub nicht mal, dass er verstaucht ist. Sie hat ihn sich wirklich nur umgeknickt.“

„Das heißt wir können weiterspielen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Die Frage brachte mir ein Lächeln ein, bei dem ich sogar Raphaels Fangzähne sah. „Nein Gnocchi, du wirst den Fuß trotzdem ein oder zwei Tage schonen müssen, bevor du damit wieder durch die Gegend hüpfen kannst.“

„Manno.“ Missmutig griff ich nach der Phiole an meinem Hals und drehte sie zwischen meinen Fingern. „Dabei hat es doch gerade erste geschneit.“

„Der Schnee bleibt bestimmt ein paar Tage liegen.“ Raphael griff nach dem Tiegel und schraubte den Deckel ab. Es war die gleiche Salbe, die er schon für meine Schulter benutzt hatte.

„Okay, wenn ihr mich hier nicht mehr braucht, dann gehe ich wieder in die Küche, bevor das Essen anbrennt.“

Essen? Ich wurde hellhörig. „Was gibt es denn?“

„Gulasch mit Knödeln. Es dauert nicht mehr lange. Soll ich dir deinen Teller dann hier her bringen?“

„Ist wahrscheinlich besser“, antwortete Raphael anstatt meiner und trug sehr vorsichtig eine Schicht von der Salbe auf meinem Knöchel auf.

„In Ordnung, dann essen wir heute alle im Wohnzimmer. Wenn ihr noch etwas braucht, ich bin nebenan.“ Sie schaute noch einen Moment zu, als wollte sie sichergehen, dass Raphael auch alles richtig machte und verschwand dann aus dem Wohnzimmer.

„Ich will, dass du den Fuß heute nicht mehr belastest. Das heißt, ich bring dich nach dem Essen runter und dann bleibst du auch unten.“

„Was? Aber …“

„Kein Aber“, sagte er bestimmt, verschloss den Tiegel und stellte ihn zurück auf den Tisch. „Ich machte dir unten den Fernseher an, dann hast du was zu tun. Wenn du magst, rufe ich auch noch Amber an, damit sie dir Gesellschaft leistet.“

„Amber hat nachher keine Zeit“, murmelte ich eingeschnappt. Sie war seit einer Woche wieder mit Felicita zusammen und war deswegen Abends meistens bei ihr.

„Ach komm schon, Gnocchi.“ Raphael hob eine Hand und strich mir über die Wange. Seine Finger rochen noch nach den Kräutern in der Salbe. „Du willst doch sicher nicht, dass der Knöchel schlimmer wird, oder?“

Natürlich wollte ich das nicht, aber deswegen musste mir das noch lange nicht gefallen. Eigentlich hatte ich vorgehabt den ganzen Abend im Schnee zu spielen, aber jetzt musste ich nach dem Essen nicht nur ins Bett, ich musste dort auch bleiben. „Blöder Fuß“, murrte ich.

Das Essen war eine halbe Stunde später fertig. Raphael half seiner Mutter die Teller ins Wohnzimmer zu tragen und brachte mich anschließend wie versprochen nach unten in sein Bett – meine Proteste wurden einfach igrnoriert. Meinen Fuß legte er auf ein dickes Kissen und dann schaltete er seinen Computer ein, damit ich darauf fernsehen konnte.

„Ich hol dir noch was zu trinken.“

Während er also noch mal nach oben ging, machte ich es mir bequem und griff nach der Fernbedienung.

Soll ich bleiben?, fragte Lalamika. Sie balancierte über das Fußende das Bettes und nahm mir damit die Sicht auf den Monitor. Ich glaube nicht, dass etwas geschehen wird, nur weil ich ihn mal einen Abend aus den Augen lasse.

Ich schüttelte bereits den Kopf, bevor sie ausgesprochen hatte. „Die Alten schicken mir immer noch Visionen.“ Das bereitete mir Sorge, denn es bedeutete, dass es noch nicht ausgestanden war. Irgendwas würde noch passieren, nur hatte ich keine Ahnung, was das sein könnte.

Und du glaubst, dass ausgerechnet heute etwas passieren wird?

„Ich weiß es nicht“, sagte ich ehrlich. „Ich weiß ja nicht mal was da noch kommt, oder wie gravierend es sein wird. Vielleicht ist es ja wirklich schon vorbei und … keine Ahnung. So wie er im Moment ist …“ Ich suchte nach den richtigen Worten. „Es geht ihm gut. Aber wenn wirklich alles gut wäre, würden die Alten mich doch in Ruhe lassen, oder?“ Schließlich hatten sie mich früher auch nicht beachtet. Meine allererste Vision in meinem Leben, hatte mir Raphaels Tod gezeigt und seit dem hatte sich jede folgende um ihn gedreht. Ich ging einfach mal davon aus, dass die Visionen wieder verschwinden würden, wenn keine Gefahr mehr bestand. Es war sowieso äußerst selten, dass die Geister so viele Nachdichten an ein und dieselbe Person schickten. Manche Ailuranthropen starben in einem hohen Alter, ohne jemals auch nur eine Vision zu haben.

Es ist schwer zu sagen, was die Alten warum tun. Sie neigte ihren Kopf leicht zur Seite. Ich bin bei weitem noch nicht lange genug tot, um sie zu verstehen.

Das klang vielleicht makaber, entsprach aber der Wahrheit. Nur die Alten selber, konnten die Alten verstehen. „Willst du denn einmal zu den Alten gehören?“

Nein. Wäre es ihr möglich, hätte sie wohl gelächelt. So schaute sie mich nur weich an. Im ersten Moment klingt es vielleicht verlockend alles zu wissen und sagen zu können, was in der Zukunft geschehen wird, aber jäh länger man im Reich der Geister wandelt, umso schwerer fällt es einem, sich an das Leben zu erinnern. Man vergisst nicht nur, wer man einmal war, man vergisst auch das, was einem einst Freude bereitet hat, oder wie es ist zu fühlen. Man wird zu etwas … anderem.

„Vergisst du denn schon?“, fragte ich leise. Das zu hören machte mich traurig.

Nein, dafür bin ich noch lange zu jung. Aber nach hundert, oder vielleicht auch zweihundert Jahren, beginnt man sich zu verändern.

„Und was wirst du tun? Willst du wiedergeboren werden?“

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie hüpfte zu mir aufs Bett und tapste über die Decke. Im Moment jedenfalls, werde ich noch hier gebraucht.

Ich hob die Hand und versuchte ihren Kopf zu streicheln. Wenn ich mich ganz genau darauf konzentrierte, konnte ich spüren, wie die Luft sich ein wenig veränderte. „Du meinst Raphael.“

Raphael?, fragte sie überrascht und schüttelte dann belustigt den Kopf. Nein, nicht Raphael ist es, um den ich mich kümmern muss, er ist bei dir in sehr guten Händen.

„Wenn meinst …“ Als ich Schritte auf dem Flur hörte, verstummte ich eilig. Nur Sekunden später trat Raphael in den Raum und schaute sich stirnrunzelnd um.

„Mit wem sprichst du?“

„Ähm.“ Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und warf Lalamika einen Blick zu, doch die schien einfach nur interessiert zu sein, was ich nun sagen würde. „Mit der Frau im Fernseher.“

Wir schauten beide zum Bildschirm. Drei Männer rannten gerade über den Monitor.

Mist. „Das war gerade noch eine Frau gewesen.“ Als Lalamika leise lachte, hob ich die Hand und wedelte damit durch ihren Körper hindurch.

Hey!, protestierte sie, als ihre Konturen verschwammen und sie damit begann sich aufzulösen. Nicht dass ich sie wirklich wegwedeln konnte. Lass das!

„Eine blonde Frau“, fügte ich noch hinzu.

Seinen Zweifel konnte ich damit nicht vertrieben, doch er behielt seine Gedanken für sich und stellte eine Flasche mit Saft und ein Glas neben das Bett auf den Nachtisch. Dann setzte er sich noch mal neben mich auf die Matratze. „Wenn du etwas brauchst, ruf einfach nach meiner Mutter. Sie ist oben und wird sicher auch mal so nach dir schauen kommen.“

„Okay.“

„Ich schau mal, dass ich heute vielleicht ein wenig früher Feierabend machen kann.“ Als er mir eine Hand ans Gesicht legte und mir mit dem Daumen über die Wange strich, bekam ich wieder eine Gänsehaut. „Dann bist du nicht solange allein. Und bitte versprich mir, dass du liegen bleiben wirst.“

„Versprochen.“

Meine schnelle und vor allen Dingen ernste Antwort ließ ihn lächeln.

Ich drehte den Kopf zur Seite. „Wann hast du denn mal wieder frei?“ Wie sooft in den letzten Tagen, griff ich schon ganz automatisch zu der kleinen Phiole an dem Lederband. Es war blöd, wenn er immer die ganze Nacht weg war.

Seine Augen folgten der Bewegung. „Heute und die nächsten beiden Tage muss ich noch in den Club. Am Wochenende habe ich frei.“

„Können wir dann wieder einen Fernsehabend machen? Mit Popcorn und Cola?“ Ich griff hastig nach seiner Hand, als mir noch eine bessere Idee kam. „Oder ist Kino. Wir waren schon lange nicht mehr im Kino.“

„Wir werden schauen, wie es deinem Fuß geht, in Ordnung?“

„In Ordnung“, sagte ich und kuschelte mich an seine Hand. Ich mochte es, wenn er mich streichelte. Das war ein schönes Gefühl und ich glaubte, er tat es gerne. Dabei fiel mir auf, wie eigenartig er mich auf einmal anschaute. Sein Mund war leicht geöffnet und das Blau seiner Augen ein wenig dunkler.

Ruhig und abwartend erwiderte ich seinen Blick. Etwas veränderte sich. Sein Daumen strich nicht mehr über meine Wange, er streifte ganz zärtlich meine Unterlippe. Die Berührung war kaum zu spüren, doch sie sorgte dafür, dass mein Herzschlag sich beschleunigte und ein leichtes Prickeln durch meinen Körper zog.

Als er sich nach vorne beugte, wurden mein Augen ein kleinen wenig größer. Wollte er mich küssen? Ich hielt den Atem an, doch sein Gesicht kam nicht nahe genug. Es schwebte direkt vor meinem. Es würde mich nicht viel kosten, die Distanz zu überwinden, aber ich hatte ich versprochen, dass ich das nicht mehr tun würde, also blieb ich einfach wo ich war und wartete.

Leider seufzte er dann und der Augenblick war vorbei. Er gab mir nur einen kleinen Schmatzer auf die Stirn und erhob sich dann mit einem Blick auf die Uhr. „Ich muss los“, sagte er, ohne mich noch einmal anzuschauen und setzte sich in Bewegung.

„Ys-oog?“

Er verharrte mitten in der Bewegung und nach kurzem Zögern, schaute er noch mal zu mir zurück, sagte aber nichts.

„Geht es dir gut?“ Zwar wusste ich nicht warum, aber auf einmal hatte ich irgendwie das Gefühl, dass dem nicht so war.

Stumme erwiderte er meinen Blick, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Mit mir ist alles in Ordnung und jetzt ruhe dich ein bisschen aus.“

Nickend schaute ich dabei zu, wie er das Zimmer verließ. Auch Lalamika sprang aus dem Bett, doch nahm sie nicht den Weg durch die Tür, sondern schwebte nach oben durch die Decke.

Ich blieb allein zurück und musste mich einfach fragen, ob er mich gerade hatte küssen wollen. Nur … warum? Oder besser noch, warum hatte er es nicht getan, wenn er es wollte? Wollte er es überhaupt? Vielleicht hatte ich es mir ja nur eingebildet. Seit meinem Geburtstag dachte ich wieder öfters daran, wie es sich angefühlt hatte ihn zu küssen. Ich vermisste das ein bisschen, aber wenn ich mir versuchte vorstellten, es mit einem anderen Mann zu machen, war es immer Raphaels Gesicht, dass in meinem Gedanken auftauchte.

Vielleicht war es ja besser, gar nicht so viel darüber nachzudenken, sondern es einfach mal zu tun. Mit Josh zum Beispiel, oder Bronco. Ich mochte Bronco und tanzte gerne mit ihm. Ich konnte es machen, wenn wir das nächste Mal in den Club gingen. Das machten wir schließlich alle paar Wochen und da er mich auch mal ganz gerne knuddelte, würde das sicher nicht schwer werden. Doch als ich nun versuchte ihn in Gedanken zu küssen, wurden aus den kurzen Rastazöpfen sofort schwarzes Haar und es waren die eisblauen Augen von Raphael, die zurückschauten.

Von mir selber genervt, seufzte ich und lehnte mich zurück in die Kissen.

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit gelangweilt von einem Sender zum nächsten zu schalten. Zwischendurch blieb ich immer mal wieder kurzzeitig an einem Film oder einer Serie hängen, doch alleine fern zu sehen war langweilig.

Marica kam nach einer Weile zwar runter und leistete mir dann auch ein wenig Gesellschaft, doch um zehn ging sie wie jeden Abend zu Bett und ich war wieder alleine.

Draußen war es schon lange dunkel, als ich einen Film fand, der mich interessierte. Darin ging es um einen jungen König, der das halbe Herz eines Drachen bekam, um nach einen schweren Unfall zu überleben. Leider wurde der König dadurch böse und nun war es an dem Drachen, die tyrannische Herrschaft des Königs zu beenden.

Der Film gefiel mir und der Drache war wirklich toll. Und witzig. Naja, eigentlich war eher sein menschlicher Begleiter witzig, aber auch nur, weil der Drache bei ihm war.

Als eine Werbepause begann, drehte ich mich zur Seite und erschreckte mich halb zu Tode, als ich den Geistermann neben meinem Bett bemerkte.

„Himmel!“ rief ich und drückte mir eine Hand auf mein viel zu schnell schlagendes Herz.

Der Geist mit den seltsamen Augen blieb völlig ungerührt neben mir stehen und schaute mich an. Er wirkte auch nicht so, als sei er erst vor einer Sekunde dort aufgetaucht.

„Warum erschreckst du mich?“

Ich wollte nicht stören.

Nein, die Erklärung fand ich nicht sehr gut. Mit einem tiefen Atemzug ließ ich mich wieder ins Kissen sinken. Dabei wurde mir etwas bewusst. Der Geist stand neben meinem Bett. Okay, das hatte ich vorher schon gemerkt, aber er stand hier neben mir. Normalerweise kam er nicht zu mir. Ich sah ihm am Ende des Flurs, oder draußen im Garten, wie er durchs Fenster schaute. Immer nur aus der Entfernung. Und sprechen tat er auch nur mit mir, wenn ich zu ihm ging.

Es gab nur eine einzige Ausnahme und das war das Lagerfeuer gewesen. Wie von selbst griff ich nach dem Anhänger an meinem Hals. „Ist etwas mit Raphael?“ Aber dann hätte mir Lalamika doch Bescheid gegeben, oder?

Raphael geht es gut.

Irgendwie beruhigte mich das gerade nicht. „Warum bist du dann hier? Möchtest du mir Gesellschaft leisten?“

Nein.

Jetzt fing das wieder an. Trotz der vielen Monate, die wir uns nun schon kannten, wusste ich im Grunde rein gar nichts über ihn. Nicht nur, weil er meine Fragen meist nicht beantwortete, oder schlicht ignorierte. Wenn er dann doch mal etwas sagte, war es nie mehr als das Nötigste. „Ich würde mich aber über etwas Gesellschaft freuen.“

Ich habe keine Zeit.

Er hatte keine Zeit? Er war ein Geist. Wenn die etwas hatten, dann war es Zeit ohne Ende. Geister schliefen ja nicht mal mehr. „Was hast du denn vor?“

Ich muss gehen.

„Wohin?“

Weiter.

Jetzt war ich genauso schlau wie vorher.

Ich wollte mich nur bei dir verabschieden.

Moment. „Du gehst weg? So richtig? Du kommst nicht wieder?“

Hier gibt es nichts mehr für mich. Ich habe Bereut, ich habe gewacht, jetzt bleibt nur noch die Hoffnung, doch die wartet an einem anderen Ort.

Das verstand ich nicht.

Pass auf Raphael und Marica auf. Du hast Licht in ihr Leben gebracht. Seine Gestalt begann auf einmal merkwürdig zu schimmern, wie das innere einer Muschel. Seine Stimme kam nicht länger von ihm, sie schien überall im Raum zu sein. Wenn Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart verschmelzen, muss zwei geteilt werden.

„Was?“

Eins zum Mond und eins zum Blut. Er begann ganz leicht zu leuchten und auf einmal wurde die durchscheinende Gestalt fest und … farbig. Und seine Augen. Das eine war blau, das andere grau. Die Heilung liegt verborgen, im Schatten der Venus. Langsam begann er im Licht zu verblassen und sich aufzulösen. Danke, flüsterte die Stimme noch wie ein Hauch an meinem Ohr, dann ließ das Leuchten einfach nach und im Zimmer wurde es wieder dunkel. Nur das Flackern des Fernsehers blieb zurück. Und ich. Verwirrt und auch ein kleinen wenig verunsichert.

Nicht nur wegen der rätselhaften Worte, die für mich absolut keinen Sinn ergeben wollten. War er gerade vergangen? Ich hatte noch nie gesehen, wie ein Geist diese Welt verließ. Nur … warum hatte er sein Dasein ausgerechnet jetzt beendet. Ich wusste ja, dass die Geister diese Welt verlassen konnten, wann immer sie das wollten. Aber dann auch noch diese Abschiedsworte. Wie war das noch mal gewesen?

„Wenn Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart verschmelzen, muss zwei geteilt werden. Eins zum Mond und eins zum Blut. Die Heilung liegt verborgen, im Schatten der Venus.“ Die Venus war laut den Legenden der Ursprung der Ailuranthropen. Ich hatte diese Geschichten nie richtig verstanden und wusste nur noch, dass es irgendwas mit ihrer Liebe zum Mond zu tun hatte. Musste ich das wörtlich nehmen, oder war ich selber damit gemeint. Lag die Heilung in meinem Schatten?

Mein Blick richtete sich auf die dunkle Silhouette, die durch das flackernde Licht des Monitors neben mich auf das Bett projiziert wurde. „Warum kann er sich nie deutlich ausdrücken?“ Vielleicht bereitete es ihm ja einfach Vergnügen, dabei zuzuschauen, wie andere sich über seine Rätsel den Kopf zerbrachen.

Ich grübelte so lange über dieses Problem nach, dass ich gar nicht bemerkte, wie der Film endete. Ich war nur etwas verwundert, dass ich anstatt mittelalterlicher Burgen und dem Feuerspeienden Drachen plötzlich einen Messerschwingenden Typen mit einer Maske über den Bildschirm laufen sah, der eine kreischende Frau durch eine moderne Einbauküche jagte.

Ich schnappte mir sofort die Fernbedienung und schaltete weg. Sowas wollte ich nicht sehen, ich mochte keine Horrorfilme. Auf den anderen Sendern lief aber auch nichts Gutes. Ich zeppte von einem zum Anderen, ohne etwas zu finden, was mir gefiel. Doch auf einmal war da eine Großaufnahme von einem küssenden Paar, bei der ich faszinierend hängen blieb. Die Kamera zoomte weg und mir wurde sehr schnell klar, dass die weitaus mehr taten, als sich zu küssen.

 

°°°°°

Die Botschaft

 

„Ys-oog?“

„Geh weg, ich schlafe.“

„Tust du gar nicht.“ Das wusste ich genau. Wenn er schlafen würde, könnte er nicht reden.

„Doch, tu ich“, murmelte er in sein Kissen und rollte sich nicht nur auf seinen Bauch, er wandte auch gleich sein Gesicht ab.

Hm, ich hatte aber Hunger und deswegen brauchte ich Raphael. Also hüpfte ich durch den Raum und sprang neben ihn ins Bett. Das war kein Problem, meinem Knöchel ging es wieder besser. Es war ja auch schon zwei Tage her, dass ich draußen im Schnee ausgerutscht war.

Die Matratze wackelte einen Moment, aber er reagierte nicht. Also krabbelte ich auf seinen Rücken und wartete. Leider störte er sich nicht daran. Auch nicht, als ich damit begann ihn mit den Fingern im Nacken zu kitzeln. Er entspannte sich sogar und schien wieder in einen schlafähnlichen Dämmerzustand zu fallen.

„Manno“, beklagte ich mich und streckte mich auf seinem Rücken aus. Selbst als ich wieder damit begann, ihn im Nacken zu streicheln, regte er sich nicht. Okay, dann eben anderes.

Ich rutschte an ihm hinauf und schob meine Nase in seinen Nacken. Er roch wirklich gut und war so schön warm. Außerdem wusste ich, dass er immer reagierte, wenn man diese eine, bestimmte Stelle berührte. Also beugte ich mich noch ein wenig vor und zwickte ihm mit den Zähnen ganz zart in die Halsbeuge, genau in die Stelle, unter der mein Puls pochte.

Die Reaktion kam prompt. Er fuhr hoch, wodurch ich neben ihn ins Bett kippte und starrte mich dann entgeistert an.

„Wir wollen frühstücken“, teilte ich ihm frech grinsend mit. „Deine Mama wartet schon am Tisch, nur du fehlst noch.“

Seine Augen huschten zum Wecker, dann verzog er das Gesicht und ließ sich wieder bäuchlings ins Bett fallen. „Ich werde mir ein Vorhängeschloss kaufen.“

Da er das nicht zum ersten Mal androhte, beachtete ich das gar nicht mehr. Ich krabbelte einfach wieder näher, beugte mich dann über ihn rüber, sodass ich praktisch auf dem Kopf stand und schaute ihm ins Gesicht. „Stehst du jetzt auf?“

Er blinzelte mich durch halb geschlossene Augen an. „Nein.“

Das hatte ich nicht hören wollen. „Aber ich hab Hunger.“

„Dann iss etwas.“ Seine Augen schlossen sich wieder.

„Aber du musst auch kommen. Wir müssen alle zusammen frühstücken.“ Als er nicht reagierte, rüttelte ich ihn an der Schulter, sodass nicht nur er, sondern gleich das ganze Bett bebte. „Komm schon, Ys-oog, bitte, aufstehen! Sonst klaue ich dir die Decke und schubse dich aus dem Bett.“

Da ich das wirklich schon mal gemacht hatte, beachtete er mich dieses Mal. „Ist ja gut, ich komme ja schon“, grummelte er und rieb sich müde über die Augen. Seine Haare waren vom Schlaf noch völlig zerzaust. „Vorher will ich aber noch schnell unter die Dusche springen.“

„Aber du warst doch erst vorm Schlafen duschen.“

Er schaute mich an, drehte sich dann ein wenig, sodass ich wieder neben ihm landete und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich springe erst unter die Dusche.“

Nachdenklich glitt mein Blick an ihm herab und blieb auf der Decke in seinem Schoß hängen. Mein Gesicht hellte sich auf. „Ah, ich weiß warum. Du willst immer duschen gehen, wenn du …“

„Raus!“

Kichernd trat ich den Rückzug an und eilte zurück zu Marica in die Küche, die mit gerunzelter Stirn am Tisch saß und in einer Zeitung las. „Er kommt gleich“, teilte ich ihr mit und hockte mich auf einen der Stühle. „Er geht vorher nur kurz duschen.“

Aus dem Kurz wurde eine halbe Stunde, aber als er dann frisch geduscht und fertig angezogen in die Küche trat, strahlte ich über das ganze Gesicht und hüpfte zum Kühlschrank. „Ich will Rührei machen“, teilte ich ihm mit und nahm die Eier heraus. „Zeigst du mir, wie das geht?“

Sein Blick galt einem Moment dem leeren Tisch. „Ich dachte das Frühstück sei schon fertig.“ Ein Gähnen entrang sich ihm, bevor er mir die Eier aus der Hand nahm und sie neben den Herd stellte.

Da ich nie behauptet hatte, dass das Essen schon fertig war, brauchte ich mich auch nicht schuldig fühlen. „Wir machen zusammen Frühstück“, erklärte ich ihm und holte die Pfanne aus dem Unterschrank. Leider bemerkte ich den Topf daneben erst, als ich ihn dabei mit zwei anderen ausversehen mitriss. Es gab ein lautes Scheppern, das Marica kurz aufschauen ließ, aber nicht interessant genug war, um sie dauerhaft von ihrer Lektüre abzulenken.

Ich räumte die Töpfe eilig zurück, ohne darauf zu achten, wo sie gestanden hatten und stellte die Pfanne dann auf den Herd.

Da Raphael schon vor ein paar Wochen damit begonnen hatte mir kochen beizubringen, wusste ich, dass ich auch einen Kochlöffel brauchen würde. Also holte ich auch den aus der Schublade und stellte mich dann neben ihn. „So, ich bin bereit, was muss ich tun?“

Er beugte sich an mit vorbei, holte Speiseöl aus dem Schrank und gab davon ein wenig in die Pfanne. „Wie man Spiegelei macht, habe ich dir ja schon gezeigt. Rührei ist beginnt man genauso. Eier aufschlagen, in die Pfanne und dann musst du umrühren. Du kannst dann auch noch Speck und Zwiebeln, oder Pilze, oder sowas dazu machen. Auch Paprika geht, aber …“

„Oh, ich will Speck!“ Der war lecker. Also rannte ich wieder zum Kühlschrank und begann systematisch die einzelnen Fächer nach Speck abzusuchen, musste jedoch enttäuscht feststellen, dass ich keinen fand. „Wir haben keinen Speck.“

Raphael trat hinter mich und steckte seinerseits die Nase in den Kühlschrank. Natürlich fand auch er keinen Speck, dafür nahm er aber ein Glas mit Würstchen heraus und hielt sie mir hin. „Hiermit geht es auch“, erklärte er. „Schneide sie in kleine Stückchen und dann ab damit in die Pfanne.“

„Okay.“ Also brauchte ich noch ein Messer und ein Brettchen.

Drei der Würstchen landeten beim Schneiden in meinem Mund. Zwei weitere fielen mir auf den Boden und so blieben nur zwei übrig, die ich kleingeschnitten in die Pfanne werfen konnte. Das Ei rutschte mir aus der Hand und fiel mir komplett mit Schale in die Pfanne – zwei Mal – und dann verbrannte ich mir auch noch einmal die Hand am Herd, sodass Raphael sie erst unter dem Wasser kühlte und die Stelle dann vorsichtig mit seinem Speichel benetzte, damit sie schneller heilte.

Trotz dass Raphael die Schalen aus der Pfanne gefischt hatte, knirschte es beim Essen das eine oder andere Mal. Aber keiner beklagte sich. Es war wenigstens nicht so schlimm, wie mein Versuch einen Kuchen zu backen. Ich hatte versehentlich den Zucker mit dem Salz verwechselt. Als Raphael dann probiert hatte, hatte er den Bissen sogleich in den nächsten Mülleimer gespuckt.

Ich war furchtbar beleidigt gewesen, aber nur bis ich ihn selber gekostet hatte. Dann war ich seinem Beispiel gefolgt und hatte im Anschluss den ganzen Kuchen im Müll verschwinden lassen. Das hätte ich nicht mal gegessen, wenn ich am verhungern gewesen wäre.

Als es an der Haustür klopfte, drehten wir uns alle herum, doch keiner hatte ein Interesse daran, das Frühstück zu unterbrechen – nicht mal Marica. Wir schauten und alle abwartend an und benutzte ich einfach die Fernsteuerung. „Herein!“, rief ich so laut, dass es wohl noch drei Häuser weiter zu hören war. Das entnahm ich zumindest Raphaels Reaktion. Erst faste er sich ans Ohr, dann schaute er mich böse an.

Ich lächelte nur zurück und schob mir noch eine Gabel mit Rührei in den Mund.

Da Amber um diese Zeit bei der Arbeit war und Tristan mit Lucy vor zwei Tagen in den Hof gefahren war, rechnete ich mit Vivien und Anouk, um draußen im Schnee zu spielen. Dennoch waren es Tristan und Lucy, die da mit ernsten Gesichtern in die Küche traten und einen Blick auf das Essen warfen.

Ich verengte die Augen ein wenig und zog alles Essbare in der Nähe zu mir heran. Es störte mich nicht, wenn sie hier aßen, aber ich hatte nicht genug Rührei gemacht, um fünf Leute damit satt zu bekommen, darum würden sie sich etwas anderes nehmen müssen.

„Hey“, begrüßte Tristan und wandte sich dann sofort an Raphael. „Hast du einen Moment?“ Er wirkte … angespannt. Auch Lucy schien ein wenig unruhig. Sie beide hatten dunkle Ringe unter den Augen, so als hätten sie seit Tagen nicht geschlafen.

Das bemerkte wohl auch Raphael. „Was ist denn los?“

Er wechselte einen Blick mit Lucy. „Das sollten wir unter vier Augen besprechen.“

Raphael schaute zwar etwas verwundert, legte aber sein Essen zur Seite und erhob sich ohne weitere Fragen von seinem Platz.

Das wollte mir nicht gefallen. Darum warf ich auch einen Blick zu Lalamika, die sofort vom Tisch sprang und sich Raphael an die Fersen heftete. Ich hatte es kaum geschafft, meinen Bissen herunter zu schlucken, da kam sie auch schon wieder durch die Wand geschossen, die das Wohnzimmer von der Küche trennte.

Geh zu ihm, sofort!

Mein Löffel landete mit einem lauten Klirren auf meinen Teller. Ich war so schnell aus dem Raum, dass Marica mir nur verwirrt hinterherschauen konnte. Aber ich erinnerte mich noch sehr genau an das letzte Mal, als Tristan hier gewesen war und Lalamika mich aufgescheucht hatte. Es hatte in einer Verfolgungsjagd auf der Autobahn geendet.

„Es ist wirklich wichtig“, hörte ich Tristan sagen, als ich um die Ecke in das Wohnzimmer trat. „Du weißt, sonst würde ich dich damit auch nicht behelligen.“

„Natürlich ist es wichtig“, spottete Raphael. Sein Blick huschte kurz zu mir. Im Gegensatz zu den beiden anderen, stand er nicht mit dem Rücken zu mir. „Was Cayenne zu sagen hat, ist doch immer überaus wichtig, nur leider lässt mein Terminplaner es im Augenblick nicht zu, dass ich eine längere Reise auf mich nehme, also tut mir leid, aber ich werde nicht in den Hof fahren.“

Was? Cayenne? Er tauchte wirklich hier auf, um diesen Namen nach Monaten wieder in dieses Haus zu tragen?

„Raphael, du musst wirklich zu ihr gehen“, beschwor Tristan seinen Bruder und verstellte ihm den Weg, als der sich an ihm vorbei drängen wollte.

Raphael funkelte ihn an. In seinen Augen lass ich Ärger, aber da war auch Unsicherheit und dieser Kummer, von dem ich geglaubt hatte, dass er schon längst verschwunden war. „Warum? Was könnte so überaus wichtig sein, dass die Königin der Lykaner, mich, einem unbedeutenden Vampir des Fußvolkes, zu einer persönlichen Audienz einlädt, die ich – nur nebenbei erwähnt – gar nicht haben möchte?“

„Das will sie dir selber sagen.“

„Natürlich will sie das.“

Lalamika tauchte wieder durch die Wand auf und schlich leise grollenden um Raphael herum. Wre die Situation nicht so ernst, würde ich das niedlich finden.

„Das ist kein Spaß, Raphael, du musst wirklich zu ihr gehen.“

„Warum sollte ich?“, fuhr er ihn an. „Ich habe dieser Frau nichts mehr zu sagen. Wenn sie Probleme hat, ist das ihr Ding!“

„Jetzt komm mal langsam über deinen verletzten Stolz hinweg“, zickte Lucy. „Du hast dich lange genug in deinem Selbstmitleid gebadet und Cayenne brauch dich.“

Eine ungewohnte Wut erhob zornig ihr Haupt und ich spürte, wie meine Krallen ausfuhren. Ich schlug mit meiner Hand so heftig gegen die Tür, dass sie nicht nur gegen die Wand knallte. Es blieben auch vier tiefe Kratzer in der Lackierung zurück.

Tristan und Lucy wirbelten erschrocken zu mir herum, Raphael war einfach nur erstaunt.

„Raus“, sagte ich gefährlich leise und spürte wie mein Pelz durch meine Haut brach. „Verlasst dieses Haus. Sofort.“

„Das hier geht dich nichts an, Tarajika“, sagte Tristan mit gerunzelter Stirn. „Also halt dich bitte …“

Ich stand so plötzlich vor ihm, dass er einen erschrockenen Schritt zurück wich. „Hat es dir nicht gereicht, was du beim letzten Mal angerichtet hast?!“, fauchte ich ihn an und konnte mich gerade noch so zusammenreißen, meine Krallen nicht zu benutzen. Ich spürte, wie die Zähne in meinem Mund länger wurden und auch mein Gesicht sich verformte. „Dieser Name ist in diesem Haushalt unerwünscht!“

Seine Augen bekamen einen gelben Schimmer, als er Wolf in ihm erwachte. „Das hier hat nichts mit dir zu tun, darum …“

„Wenn du ihm Kummer machst, hast das sehr wohl mit mir zu tun!“ Ich hob die Hände, um ihn einen Stoß vor die Brust zu geben, doch bevor ich ihn berühren konnte, hatte Raphael seine Arme um meine Mitte gewickelt und mich mit einem Ruck zurück gerissen. „Das erlaube ich nicht und jetzt verschwindet!“

„Sie hat Recht“, sagte Raphael, auch wenn er mich auf eine Art festhielt, als befürchtete er, dass ich seinem Bruder sonst das Gesicht in Scheiben schneiden würde. „Es ist wohl besser, wenn ihr jetzt geht.“

„Und kommt nicht wieder, solange ihr ihn quälen wollt!“ Aus meiner Kehle kroch ein Grollen, dass ihn zeigen sollte, wie erst es mir war. Ich würde es nicht erlauben, dass sie ihm wehtaten, indem sie die Vergangenheit wieder ans Tageslicht zerrten.

„Tarajika“, begann Lucy. „Du …“

„Raus hier!“ Ich schlug nach ihr. Zwar war ich zu weit weg, um sie zu erreichen, aber sie zuckte trotzdem davor zurück.

„Gnocchi, nicht.“

Aber ich war so wütend! Ich verstand einfach nicht, warum sie ihm das schon wieder antaten. Sie wussten doch, dass er damit abschließen wollte.

Als Marica in der Wohnzimmertür auftauchte, schaute sie erstaunt von einem zum anderen. „Was ist denn hier los?“

„Nichts“, sagte Raphael. Seine Augen wurden eine Spur schmaler. „Tristan und Lucy wollten nur gerade gehen.“

Da ich aussah, als hätte ich die Tollwut, glaubte sie und natürlich nicht. Ihr Blick ging wachsam von einem zum anderen und blieb dann an ihrer Tür mit den Kratzern hängen. „Tarajika, geh bitte in die Küche und räum den Tisch ab. Und ihr beide habt sicher auch noch etwas zu tun.“ Ihr strenger Blick blieb solange auf Lucy und Tristan liegen, bis die beiden sich langsam abwandten und an ihr vorbei zur Haustür gingen.

Der Ausdruck in Lucys Gesicht machte deutlich, dass die Sache damit noch lange nicht erledigt war, Tristan dagegen wirkte einfach nur erschöpft.

„Du auch, Tarajika“, sagte sie noch einmal. „Bitte.“

Ich wollte nicht, aber als Raphael mich losließ, setzte ich mich trotzdem in Bewegung und funkelte Tristan und Lucy noch einmal wütend hinterher. Außerdem achtete ich sehr genau darauf, dass die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, bevor ich in die Küche ging und damit begann den Tisch abzuräumen.

Mir war klar, dass ich das nur machen sollte, damit Marica in Ruhe mit ihrem Sohn sprechen konnte, aber es gefiel mir nicht, ihn ausgerechnet jetzt aus den Augen zu lassen. Darum behielt ich die Haustür auch die ganze Zeit aufmerksam im Auge. Wenn er wieder versuchen würde abzuhauen, wäre ich sofort zur stelle.

Aber nichts dergleichen geschah. Ich hörte nur die murmelnden Stimmen nebenan und langsam begann auch mein Ärger zu verrauchen. Meine Krallen verschwanden und als mein Fell sich zurückzog, bekam ich von der kühlen Luft eine Gänsehaut. Trotzdem begann ich mir Sorgen zu machen.

Es hatte lange gedauert, doch in den letzten Monaten war Cayenne langsam aus seinen Gedanken gewichten. Aber jetzt, nachdem er das gehört hatte … ich befürchtete das Schlimmste. Vielleicht konnte ich es ja schaffen ihn zu trösten und abzulenken, nur wie?

Als ich die Teller in die Spüle stellte, fiel mein Blick auf den Hängeschrank in der Ecke. Einmal war es mir wirklich schlecht gegangen. Es war der Todestag von Lalamika gewesen. Raphael hatte nicht gewusst, was los war, aber er hatte sich zu mir gesetzt und mit eine Packung von seinen Schokoladenkeksen gegeben. Das hatte mich wieder lächeln lassen. Vielleicht würde das ja bei ihm auch funktionieren.

Gerade als ich mich nach den Keksen streckte und sie zu fassen bekam, trat Marica wieder in die Küche. Sie wirkte unzufrieden. „Ist alles in Ordnung?“

Sie schaute auf und schüttelte den Kopf. „Er weigert sich mit mir zu sprechen.“

Ja, weil er einfach damit abschließen wollte. „Ich gehe mal zu ihm.“ Ich schloss noch die Schranktür und ging dann wieder nach nebenan.

Raphael saß auf der Couch. Er hatte die Ellenbogen auf die Beine gestützt und das Gesicht in seinen Händen vergraben. Sein Kopf war in durchscheinenden Dunst gehüllt. Lalamika versuchte seine Gedanken zu beruhigen.

Mit auf dem Rücken verschränkten Armen trat ich an ihn heran und stellte mich so dich vor ihm, dass meine Füße in sein Sichtfeld gerieten und er meine bunten Zehennägel sehen konnte. „Ys-oog?“

Er brauchte einen Moment, bevor er die Hände sinken lief und den Kopf hob. In seinen Augen stand wieder der Kummer. „Ja?“

Verdammt sollten Tristan und Lucy sein! „Ich hab dir was mitgebracht.“ Ich löste die Hände hinter meinem Rücken und hielt ihm die Schachtel mit den Keksen hin. „Die sind alle für dich, also nicht traurig sein.“

Seine Augen richteten sich auf das Päckchen und nach einem Augenblick nahm er sie auch. Aber nicht um sie zu essen. Er legte sie neben sich auf die Couch, griff dann nach meiner Hand und zog mich rittlings auf seinen Schoß, einfach nur, um mich in den Arm zu nehmen.

„Denk einfach nicht an sie“, sagte ich leise und drückte ihn an mich. Mit den Fingern strich ich sanft durch sein Haar. „Es ist egal was sie möchte, nur du bist wichtig.“

„Wenn das nur so einfach wäre“, murmelte er und löste sich wieder ein Stück von mir. Seine schönen Augen schauten mich direkt an. „Dir ist aber hoffentlich klar, dass wir jetzt die Tür neu lackieren müssen?“

„Ähm“, machte ich schuldbewusst. „Das war keine Absicht.“ Ich war nur so unglaublich sauer gewesen.

Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippern. „Besser die Tür, als Tristan.“

Ja, weil man die Familie nicht kratzen durfte – egal wie dumm sie war.

Als ich mich bewegte, um mich etwas bequemer hinzusetzten, glitt sein Blick auf meine Füße.

„Sag mal, mit was hast du dir da die Fußnägel bemalt?“

Dumme Frage, das sah man doch. „Mit Farbe.“

„Mit was für Farbe?“

„Mit der, die ich zum Geburtstag bekommen habe.“

Ein belustigtes Schnauben kam aus seinem Mund. „Dir ist schon klar, dass die nicht für die Füße geeignet ist?“

„Doooch!“, widersprach ich sofort. „Amber macht das auch, das habe ich genau gesehen.“

„Amber benutzt dafür Nagellack und keine Acrylfarbe.“

„Da gibt es einen unterschied?“ Farbe war doch schließlich Farbe.

Etwas an dieser Aussage, schien ihn sehr zu amüsieren. „Los komm, wir machen dir das ab und wenn Amber von der Arbeit kommt, kannst du dir das von ihr richtig machen lassen.“

Artig nickte ich und folgte ihm dann nach unten ins große Bad, wo er eine handbreit warmes Wasser in die Wanne laufen ließ. Er kontrollierte die Temperatur und platzierte mich dann auf dem Wannenrand, damit ich meine Füße ins Wasser stellen konnte.

„Schieb deine Hose noch ein bisschen hör“, sagte er mir und holte dann aus dem Schrak in der Ecke einen Waschlappen. Lalamika war noch immer in seinen Gedanken. Die Sache ließ ihm also keine Ruhe. Ich sollte ihn ablenken. Es gab da sowieso noch eine Frage, die mich beschäftigte. Eigentlich wollte ich sie Amber stellen, aber bei ihrem Besuch gestern hatte ich es vergessen.

„Ys-oog?“, fragte ich, als er sich neben mich hockte und das Wasser abdrehte.

„Ja?“

„Ich würde dich gerne etwas fragen, aber du darfst nicht böse werden.“

Das brachte mir einen zweifelnd Blick ein. Trotzdem sagte er „Frag ruhig“ und beugte sich über den Rand, um meine Zehennägel vorsichtig von der Farbe zu befreien. Jeder Nagel hatte eine andere Farbe, wie ein kleiner Regenbogen.

„Naja, vor zwei Tagen, als ich wegen meinem Fuß ihm Bett lag … also … ich hab …“ Ich verstummte. Wie erklärte ich das am Besten?

Er hielt kurz inne und sah mich an. „Was hast du?“

„Ich hab auf dich gewartet, bis du aus dem Club gekommen bist.“ So wie eigentlich jeden Abend. Nur war dieses Mal etwas passiert und damit meinte ich nicht den Abschied von dem Geist.

„Und weiter?“

„Ich war ein bisschen länger auf als sonst und da habe ich was in dem Fernseher gesehen.“

„Ich warte noch immer auf die Pointe.“

Ich zuckte, weil es kitzelte. „Aber nicht böse werden.“

„Solange du nicht versucht hast, meinen Computer in Brand zu stecken.“ Er widmete sich wieder meinem Fuß.

„Nein, das wollte ich nicht. Ich darf Feuer ja nicht mehr anfassen.“ Und das auch nur, weil ich versucht habe, unter der Decke eine Kerze anzuzünden.

„Na dann mal raus mit der Sprache.“ Er kratzte noch ein Stück Farbe von dem kleinen Zeh ab und machte sich dann über den anderen Fuß her.

„Okay. Also, da waren nackte Menschen. Ich weiß ja, du magst nackte Menschen nicht, aber ich war neugierig, weil sie sich geküsst haben und dann hatten sie Sex.“

„Wie unartig von ihnen.“ Lächelnd tauchte er den Lappen ins Wasser, um ihn auszuspülen.

Hm, er schien doch nicht verärgert. „Ich hab das gesehen und, naja, hab mich dabei komisch gefühlt, irgendwie wie am Anfang, wo wir uns geküsst haben und ich dachte schon dass das toll sein muss, aber dann hat die Frau das Gesicht verzogen und angefangen zu schreien. Ich hab den Fernseher schnell ausgemacht und mich unter der Decke versteckt.“

Sein Lächeln wurde noch ein bisschen breiter.

Ich verstand allerdings nicht, was daran lustig war. „Ys-oog, warum tun Männer den Frauen beim Sex immer weh?“

Perplex schaute er zu mir auf. „Wie kommst du darauf, dass Männer Frauen immer wehtun?“

„Naja, das war im Fernseher und bei Jegor, da habe ich Vivien auch manchmal schreien gehört. Ganz am Anfang. Er muss ihr wehgetan haben.“ Niemand würde so schreien, wenn es ihm gut ging.

„Hey, nein, das ist falsch, das darfst du nicht denken“, sagte er geradezu entsetzt. Er ließ den Lappen fallen, setzte sich neben mich auf den Rand und nahm mein Gesicht zwischen seine nassen Hände. „Markis Jegor war ein Schwein. Du darfst diesen Mistkerl niemals als Maßstab nehmen, nur die wenigsten Männer sind so wie er. Hast du das verstanden?“

Ich nickte. „Aber die Frau im Fernseher hat auch geschrien.“

„Ja, aber doch nur weil es ihr so gefallen hat“, erklärte er eindringlich.

Das verwirrte mich. „Sie hat geschrien, weil es ihr gefallen hat, dass er ihr wehtut?“

„Nein, weil es ihr gefallen hat, was der Mann mit ihr tut.“ Er ließ mein Gesicht los und setzte sich ein wenig zurück. „Manchmal wenn du dich sehr stark über etwas freust, dann schreist du auch, einfach um deinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Du schreist vor Freude“, fuhr er fort. „Wenn man miteinander schläft, dann bekommt man ganz tolle Gefühle – nur gute Gefühle – und mache werden dabei so euphorisch, dass sie eben anfangen zu schreien.“

„Das heißt er hat ihr gar nicht wehgetan?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Hm. „Aber Amber hat auch gesagt, dass es bei Männern wehtut. Wenn das Jungfernhäutchen reißt, dann schmerzt es und blutet auch.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde bedauernd. „Das lässt sich leider nicht verhindern. Aber wenn du einen einfühlsamen Partner hat, wird er vorsichtig mit dir sein. Es wird wahrscheinlich trotzdem ein wenig wehtun, aber nur beim ersten Mal und auch nur am Anfang.“

„Aber ich will nicht, dass es wehtut.“ Das war doch doof. Warum musste es erst wehtun, wenn man schöne Gefühle haben wollte?

„Dann wirst du eben niemals Sex haben, aber das ist nicht weiter schlimm.“ Er hockte sich wieder neben die Wanne, um seine Aufgabe zu beenden.

Niemals Sex? „Aber ich will das auch machen! Alle machen es, Amber hat das gesagt, also will ich auch. Ich will auch vor Freude schreien.“

Irgendwie wirkte er nach meinen Worten leicht gequält. „Nicht alle machen es. Ich zum Beispiel mache es nicht.“

Das stimmte. „Möchtest du es denn nicht machen?“

„Nein.“ Der Ton in seiner Stimme ließ mich wissen, dass er das Thema in diese Richtung nicht weiter verfolgen würde und ich fragte mich unweigerlich, ob ich es damit wirklich geschafft hatte, ihn abzulenken.

Sobald meine Füße sauber waren, gingen wir nach oben ins Wohnzimmer, um uns einen Film anzuschauen. Raphael war nicht unbedingt begeistert, aber ich wollte auch nicht, dass er sich allein auf sein Zimmer zurückzog. Also ging ich noch schnell in die Küche, um die Tüte mit dem Popcorn zu holen und kuschelte mich dann neben ihn. Der Film lief gerade mal ein paar Minuten, als er einfach einschlief. Er musste wirklich noch müde sein. Vielleicht hätte ich ihn doch nicht zum Frühstücken wecken sollen.

Ich ließ ihn schlafen, knabberte mein Popcorn und schaute dabei meinen Film. Anschließend half ich Marica ein wenig bei der Hausarbeit. Erst suchte ich die Wäsche zusammen, dann räumte ich mein Zimmer auf.

Es war schon Nachmittag, als ich wieder ins Wohnzimmer kam. Raphael schlief noch immer, Lalamika jedoch lang nun friedlich auf der Rückenlehne und schnurrte leise.

„Geht es ihm gut?“, fragte ich leise und setzte mich direkt vor seinem Gesicht auf den Boden. Im Schlaf jedenfalls wirkte er friedlich.

Es tut ihm weh an sie zu denken. Er fragt sich immer wieder, warum Cayenne ihn so dringen sprechen will.

Das war nicht gut. „Will er zu ihr?“

Nein. Sie legte ihren Kopf auf ihre Pfoten. Aber du solltest die nächste Zeit trotzdem wieder mehr in seiner Nähe bleiben.

Daran würde mich auch nichts hindern können.

Vorsichtig hob ich eine Hand und strich ihm über das Kinnbärtchen. Sein Augenlid zuckte und öffnete sich einen kleinen Spalt. Der Blick war noch vom Schlaf getrübt, doch die Gedanken in seinem Kopf schienen sich augenblicklich wieder in Bewegung zu setzen. Ich konnte nicht sagen, an was er dachte, doch der Blick war irgendwie merkwürdig.

„Alles okay mit dir?“

Er blinzelte einmal und legte mir dann eine Hand an die Wange. Sein Daumen strich unter meinem Auge entlang. Nur ganz vorsichtig, so als traute er sich nicht, mich richtig zu berühren.

„Ys-oog?“

„Hab ich dir eigentlich mal gesagt, wie hübsch du bist?“

Um meine Lippen breitete sich ein schüchternes Lächeln aus. „Ja, ein Mal, direkt bevor wir uns das erste Mal geküsst haben.“

Langsam wanderte sein Daumen zu meiner Unterlippe und strich vorsichtig darüber. Genau wie vor zwei Tagen in seinem Bett. „Heute bist du sogar noch hübscher als damals.“

Das Kompliment freute mich. „Ich finde dich auch hübsch.“

Er verzog das Gesicht, ließ seine Hand sinken und richtete sich beschwerlich auf. „Männer sind nicht hübsch. Die sind heiß, in meinem Fall auch noch außerordentlich attraktiv. Hübsch ist was für Mädchen.“

„Das heißt ich bin hübsch, aber nicht heiß?“

Eine Antwort bekam ich nicht mehr, da in diesem Moment Marica mit der Frage „musst du nicht schon längst auf dem Weg zur Arbeit sein?“ in den Raum geschneit kam und fahrig etwas in ihrem Aktenschrank suchte. Uns beachtete sie dabei nicht wirklich.

Sein Blick glitt zu der Uhr im Regel. „Scheiße!“ Sofort sprang er auf die Beine und stolperte auch noch fast über mich rüber. Im nächsten Moment war er zur Tür raus und rannte hinunter in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Fünf Minuten später befand er sich bereits auf dem Weg zur Haustür. Während er sich das T-Shirt überzog, versuchte er gleichzeitig in seine Schuhe zu schlüpfen und angelte mit der Hand nach seinem Motorradhelm.

Ich beobachtete ihn von der Wohnzimmertür. „Nimmst du mich mit?“

Er unterbrach sich nur eine einzige Sekunde. „Du hast eine Minute, dann fahre ich.“ Und schon war er halb zur Haustür raus.

Ich flitzte sofort nach unten, schnappte mir meinen Helm und rannte dann wieder nach oben zur Garderobe. Schuhe, Jacke, Schal, mehr brauchte ich nicht. Raphael wollte nicht, dass ich nachts mit dem Motorrad herumfuhr, besonders nicht, wenn ich ihn in den Club begleitete, weil es dann immer sehr spät wurde. Ich würde also bei ihm mitfahren.

„Bin weg!“, rief ich Marica noch zu, in der nächsten Sekunde war ich bereits im Garten. Der Anblick, der mich dort erwartete, brachte mich einen Moment aus dem Tritt. Raphael schwang gerade ein Bein über sein Motorrad und zog sich dem Helm über den Kopf. Tristan stand direkt neben ihn und redete auf ihn ein.

„Das gibt es doch nicht“, schimpfte ich und wurde ein wenig schneller.

„… es dir selber sagen“, waren die ersten Worte, die ich auffing. „Nein, sie muss es dir selber sagen. Bitte, vertrau mir einfach, es ist das Beste so.“

Die Worte seines Bruders schienen Raphael einen Moment zu verunsichern. Doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein.“

Tristan baute sich vor der Maschine auf, um Raphael am wegfahren zu hindern. „Okay, du willst es nicht anders. Dir bleiben jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder du fährst zu ihr, oder ich werde ihr sagen wo du steckst, dann kommt sie zu dir. So oder so, du wirst dich mit ihr unterhalten und zwar von Angesicht zu Angesicht. Bis morgen früh kannst du darüber nachdenken, dann werde ich sie anrufen.“

Raphael spannte sich deutlich an. „Stellst du mir gerade ein Ultimatum?“

Ich nahm Anlauf und sprang dann mit einem Satz über den Zaun. Ich berührte kaum den Boden, da stieß ich meine Arme auch schon nach vorne und schubste Tristan weg. Er stolperte zur Seite und funkelte mich dann böse an.

„Du warst unachtsam!“, grinste ich. Es war kein nettes Lächeln. Mit einem Blick schickte ich ihm noch eine deutliche Warnung, bevor ich hinter Raphael in den Sattel sprang.

„Hey!“, protestierte er. „Das hier ist kein Trampolin.“

Ich setzte mir meinen Helm auf den Kopf und knallte dabei ausversehen mit ihm gegen Raphaels. Da das nicht zum ersten Mal geschah, ging ich davon aus, dass es auch nicht das letzte Mal war. Bevor ich das Visier herunter klappte, funkelte ich Tristan noch einmal an. „Hör auf ihn mit Cayenne zu belästigen, er will nichts mehr mit ihr zu tun haben.“

Uh, konnte der böse gucken. „Halt dich da raus, Tarajika, das hier geht dich nichts an und das hier ist wichtig – für Raphael.“

„Ist mir egal, Raphael will davon nichts hören, also lass damit ihn in Frieden.“ Ich schob ein Visier runter und klammerte mich an den Vampir.

Trsitan beachtete mich nicht weiter. „Denk daran was ich dir gesagt habe, das war mein Ernst“, erklärte er noch, als Raphael bereits das Motorrad startete.

 

°°°

 

„Hör auf mich zu bewachen und geh tanzen.“ Raphael griff unter die Theke und holte eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit hervor. Er trug das Gleiche wie immer, wenn er im Illunis war. Eine Jeans und eine Fliege. Sonst nichts. Für einen Freitagabend war es noch ziemlich leer. „Es macht mich nervös, wenn du mich die ganze Zeit so anstarrst.“

Ich hob mein Glas mit der Limo, nippe einmal daran und stellte es dann schweigend zurück auf den Tresen.

„Na los, weg mit dir.“ Er wedelte mit der Hand, um mich zu verscheuchen und reichte dem Kunden dann seine Bestellung.

Zwar verließ ich meinen Platz an der Bar nicht, aber ich hörte wenigstens auf, ihn zu beobachten. Den Kopf konnte ich mir auch zerbrechen, wenn ich der Menge beim Tanzen zuschaute. Was konnte nur passiert sein, dass Tristan so energisch darauf bestand, Raphael müsste Cayenne aufsuchen?

Eigentlich würde mich das gar nicht interessieren, nur war mir nicht entgangen, dass Raphael das gleiche Thema beschäftigte. Ich bemerkte es an seiner ständig gerunzelten Stirn und auch daran, dass er heute sehr unkonzentriert arbeitete. Deswegen hatte ihn seine Vorgesetzte Kettlin sogar schon einmal gerüffelt.

Ich glaubte nicht, dass er zu Cayenne fahren wollte, aber ich war mir nicht sicher, ob er es nicht vielleicht trotzdem tun würde. Und Raphael an den Hof zu lassen, war gefährlich. Wenn es geschah, würde es dort geschehen, weswegen ich ihn eigentlich von dort fernhalten müsste.

Nicht unbedingt, sagte Lalamika. Sie saß direkt vor mir auf dem Tresen und störte sich auch nicht daran, dass Raphael ein Glas direkt durch sie hindurch schob. Ihre Konturen verschwammen an dieser Stelle kurz, setzten sich aber sofort wieder zusammen. Er darf nur nicht ohne Aufsicht dorthin. Wenn du an seiner Seite bleibst und ein Auge auf ihn hast, dürfte eigentlich nichts geschehen.

Eigentlich war leider sehr vage. All die Visionen von früher hatten sich in den letzten Monaten zum Teil stark verändert und das nur, weil ich mit ins Spiel gekommen war. Es war nicht auszuschließen, dass ein Besuch am Hof trotz meiner Anwesenheit zum Auslöser einer Katastrophe werden konnte.

Haben dir die Alten denn etwas in diese Richtung gezeigt?

Ich schüttelte den Kopf. Das was Raphael tun würde, hatte ich in meinen Visionen nur zwei Mal gesehen. Einmal kurz bevor ich das erste Mal auf Cayenne getroffen war und einmal, direkt bevor mich die Themis aus meinem Käfig gelassen hatten. Das war beides vor meiner ersten Begegnung mit Raphael geschehen. Deswegen konnte ich auch nicht sagen, ob sich das in der Zwischenzeit auch verändert hatte, oder immer noch gleich geblieben war.

Wieder wurde ein Glas durch Lalamika geschoben und gleich darauf noch Wechselgeld. Wenn sie diese Vision nicht korrigiert haben, dann wird sie sicher gleichgeblieben sein.

Leider half mir das nicht, denn ich hatte kein Datum dazu bekommen. Ich wusste weder in welchem Jahr, noch in welcher Jahreszeit es geschehen war, denn er hatte sich in einem Raum befunden. Das einzige was ich wusste war, dass es bei Nacht passieren würde.

Außerdem hatte es anfangs geheißen, dass ich allerhöchstens ein paar Wochen haben würde, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Mittlerweile waren Monate vergangen, was bedeutete, dass es gar nicht mehr sein konnte, wie in meinen Visionen.

Die Zeit mag sich verschoben haben, aber der Rahmen könnte der gleiche geblieben sein, überlegte Lalamika. Als Raphael ihr direkt durch den Kopf griff, schlug sie mit der Pfote nach seiner Hand. Zwar spürte er das nicht, doch das konnte sie nicht einfach so auf sich sitzen lassen. Es war einfach unhöflich jemanden durch den Kopf zu fassen. Vielleicht haben die Alten die Vision deswegen nicht korrigiert.

Das war natürlich möglich, aber … warum nur hatte Tristan überhaupt wieder mit diesem Mist anfangen müssen? Es war ihm doch endlich gut gegangen. Wenn Raphael nun wirklich in den Hof fuhr, konnte das alles zunichte machen.

Unruhig griff ich nach der Phiole an meinem Hals. Die einzig ungefährliche Lösung war ihn davon abzuhalten, dem Hof der Lykaner einen Besuch abzustatten.

Aber dann wird Tristan der Königin sagen, wo sie Raphael finden wird, bemerkte Lalamika.

Mist, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

Und sollte dieses Fall eintreten, kann es durchaus passieren, dass Raphael einfach wieder verschwindet. Alleine.

Und dann könnte ich gar nicht mehr auf ihn einwirken – nicht bis ich ihn wiedergefunden hätte. Doch bis es so weit war, könnte es zu spät sein, noch etwas auszurichten.

Lalamika schaute mich sehr Ernst an. Du darfst ihn in der nächsten Zeit nicht mehr aus den Augen lassen.

Das war leichter gesagt, als getan. Raphael duldete meine Gegenwart zwar mehr als bei anderen, doch auch er zog sich hin und wieder zurück, um mal allein zu sein. Er würde es mir sicher übel nehmen, wenn ich ihn bis aufs Klo folgen würde.

Als sich von hinten locker ein Arm um meine Schulter legte, schaute ich auf und begegnete Broncos lächelndem Gesicht.

„Hey du Zwerg, du bist ja auch hier.“

Gespielt finster verzog ich das Gesicht. „Ich bin kein Zwerg. Du bist nur riesig.“

Dafür gab es einen Schmatzer zur Begrüßung auf die Wange. „Ist Amber auch hier?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin mit Raphael hier.“ Ich zeigte zu dem Vampir, der gerade etwas gehetzt versuchte drei Bestellungen gleichzeitig zu erledigen. Als er dabei ausversehen ein Glas umwarf und dann fluchend nach dem Lappen griff, musterte Kettlin zum … ich wusste nicht genau, wie oft sie es in den letzten drei Stunden schon getan hatte, aber es war nicht das erste Mal und langsam wirkte sie wirklich unzufrieden.

Wenn ich ihm doch nur helfen könnte.

Als er die Sauerei beseitigt hatte und von Bronco die Bestellung aufnahm, warf er mir einen kurzen Blick zu. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst aufhören mich anzustarren?“

Fast hätte ich die Augen verdreht. Ich verstand ihn ja, aber ich konnte ja nun am allerwenigsten etwas für diese Situation.

„Ich nehme sie mit“, verkündete Bronco und hob mich mit einem Arm vom Hocker, als würde ich nichts wiegen, während er mit seiner anderen Hand seine Flasche festhielt.

„He!“, beschwerte ich mich und zappelte so lange, bis Bronco mich wieder abstellte. „Wer sagt denn, dass ich mit will?“

„Geh, Gnocchi.“

Ich behalte ihn im Auge, versprach Lalamika und sprang direkt in seine Gedanken hinein.

Unzufrieden ließ ich mich von Bronco auf die Tanzfläche ziehen, aber nur an den äußersten Rand, damit ich Raphael trotz seiner Proteste im Auge behalten konnte.

„Er scheint heute ein wenig neben sich zu stehen“, bemerkte Bronco und drehte mich zu sich herum. Dabei zog er mich so nahe, dass unsere Körper sich berührten.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Sein Bruder hat was Dummes gesagt und das beschäftigt ihn nun.“

„Und dich auch.“ Seine braunen Augen lachten mich vergnügt an. Sein Arm schlang sich um meine Taille und zwang mich so, mich mit ihm zu bewegen, wenn ich nicht auf den Boden klatschen wollte. „Oder warum klebst du auf dem Barhocker, anstatt auf der Tanzfläche rumzuhüpfen?“

„Ich hab nicht auf dem Barhocker geklebt“, protestierte ich. „Ich war schon tanzen.“ Für fünf Minuten.

Bronco nahm lächelnd einen Schluck aus seiner Flasche und hielt sie dann mir hin, doch ich schüttelte dankend den Kopf. Seit meinem ersten Besuch im Club, vermied ich es meistens Alkohol anzurühren. Das Gefühl betrunken zu sein, hatte mir nicht gefallen.

„Komm schon“, murmelte Bronco. „Mach die Augen zu und tanz mit mir.“

Seufzend schloss ich die Augen und begann mich alleine zum Rhythmus zu bewegen.

Er lachte leise. „Nun tu mal nicht so, als würde es dir keinen Spaß machen.“

Damit brachte er mich zum Lächeln und schaffte es wirklich mich von meinen Gedanken abzulenken.

Ich hatte festgestellt, dass ich wirklich gerne tanzte. Besonders mit Bronco, weil ich dann alles andere um mich herum ausblenden konnte. Er passte immer ziemlich genau auf, dass mir von den anderen Kerlen keiner zu nahe kam. Manche von den Männern hier waren wirklich aufdringlich. Einem hatte Raphael sogar fast geschlagen, weil der ein Nein einfach nicht hatte akzeptieren können und mir selbst dann noch nachgelaufen war, als ich mich zu ihm hinter die Bar hatte retten wollen. Mit Bronco allerdings hatte er keine Probleme und das obwohl ich immer mit ihm tanzte, wenn wir beide hier waren.

Mit der Zeit schaffte ich es wirklich in der Musik zu versinken. Gegen zwei, als die Kellner wieder auf die Bar stiegen, um ihre abendliche Show abzuziehen, hatte ich sogar fast vergessen, was heute geschehen war. Ich stand einfach auf der Tanzfläche und amüsierte mich.

„Ohje“, rief Bronco lachend, als eine Brünette im kurzen Top und enger Jeans versuchte zu den tanzenden Kellnern auf die Bar zu klettern. Das geschah häufiger, als man meinen sollte. Als die gute Dame dann auch noch nach Joshs Hüfte griff, obwohl er lächelnd den Kopf schüttelte und dazu auch noch verneinend mit dem Finger wackelte, tat Kettlin das, was sie in einem solchen Moment immer tat. Sie schnappte sich den kurzen Schlauch hinter der Bar und spritzte sie mit kaltem Wasser ab.

„Manchmal müssen die erhitzten Gemüter etwas abgekühlt werden“, hatte sie einmal zwinkernd zu mir gesagt und so wie die Frau aufkreischte und eilig vom Tresen sprang, war es wirklich kalt.

Josh drehte sich nur einmal grinsend im Kreis und jubelte dann, was aus hunderten von Kehlen auf der Tanzfläche erwidert wurde.

Auch Raphael stand oben und zog grinsend seine Show ab. Wer ihn nicht gut kannte, hätte meinen können, dass es ihm blendend ging. Aber sein Lächeln war ein wenig zu breit, um echt zu sein und seine Augen wirkten trüb. Als dann auch noch eine Frau nach seinem Bein griff und er sich mit einem Seitenschritt von ihr entfernen wollte, trat er ihr auch noch fast auf den Arm.

Bronco griff meine Hand und wirbelte mich einmal im Kreis. Ich reagierte nicht schnell genug und fiel lachend gegen seine Brust, wodurch wir beide ins Stolpern gerieten und gegen einen Mann stießen, der uns sofort anmachte, dass wir doch besser aufpassen sollten.

Kichernd entschuldigten wir uns und traten wieder etwas zurück.

„Ich sehe schon“, schmunzelte Bronco. „Du brauchst keinen Alkohol, um ins Schlingern zu geraten.“

„Hey“, beschwerte ich mich und schlug ihm ganz leicht gegen die Brust. „Du hast mich doch rumgeschubst.“

„Ich?!“, fragte er so ungläubig, dass ich wieder anfing zu lachen. Seine Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lachen und auf einmal musste ich an meine Überlegung denken.

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite, schaute ihn an und sagte: „Klopf klopf.“

Seine Augenbraue schob sich ein Stück nach oben. „Was?“

„Das heißt nicht was, sondern: Wer ist da?“ Das es wirklich Leute gab, denen man das erklären musste. Also noch mal: „Klopf klopf.“

Sein Schmunzeln wurde breiter. „Wer ist da?“

„Versuch.“

„Versuch, wer?“

Ah, er kannte das Spiel also doch. „Die Versuchung.“ Ich grinste zu ihm nach oben. „Würdest du mich küssen?“, fragte ich ihn dann ganz direkt.

Zuerst schien er zu glauben mich falsch verstanden zu haben, doch dann wurden seine Bewegungen langsamer, bis er ganz stand. „Du willst mich küssen?“

„Ich will nur etwas ausprobieren.“

„Und mich zu deinem Versuchskaninchen machen?“

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Naja, ich mag dich und wen soll ich den sonst fragen?“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Deine Direktheit ist immer wieder faszinierend.“

„Ist das ein Ja, oder ein Nein?“

„Ein Ja, aber nur einmal. Ich hab dich zwar gern, du Zwerg, aber du bist absolut nicht mein Typ. Viel zu kurz geraten.“

„Ich bin nicht kurz“, erwiderte ich sofort empört. „Du bist nur viel zu groß.“ Ein ewiges Streitthema zwischen uns beiden.

„Das liegt wohl im Auge des Betrachters“, sagte er und zog mich ganz nahe an sich heran. „Bereit?“

„Ich warte nur auf dich.“

„Das höre ich leider nicht allzu oft von einer Frau.“ Er beute sich mir langsam entgegen. Seine Augen funkelten vergnügt, doch anstatt mich zu küssen, drückte er mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange.

„Iiih“, machte ich und wischte mir über den Fleck. „Nicht so, richtig. Komm schon Bronco, ich will etwas ausprobieren.“

Er grinste nur, beugte sich dann aber wieder zu meinem Gesicht hinunter. „Ein Mal“, sagte er leise und kam meinen Lippen immer näher. Uns trennte kaum noch ein Hauch, als seine Finger vorsichtig über meine Seite strichen.

Ich zuckte, dann begann ich zu kichern. „Das kitzelt!“Als er es noch mal versuchte, begann ich wieder zu kichern. Dieses Mal war es einfach sein Blick, den fand ich irgendwie lustig.

„Also so wird das nie etwas“, teilte er mir mit.

„Ja, aber auch nur, weil du herumalberst.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde ein wenig ernster. „Was erhoffst du dir von diesem Kuss?“

„Ich will wissen, ob es genauso wie bei Raphael ist, oder doch eher wie bei Amber.“

Seine Augenbraue ging erstaunt nach oben. „Du hast Amber geküsst?“

„Naja, eigentlich hat sie mich geküsst, aber ja.“

„Ohje, erzähl das bloß nicht Felicita.“

Das hatte ich auch nicht vor. Ich wusste nicht warum, aber ich mochte sie nicht. Wahrscheinlich weil sie immer so gemein zu mir war. Und weil Amber schon einmal wegen ihr geweint hatte. Das nahm ich ihr immer noch übel. „Ich hab Durst“, sagte ich, weil ich nicht mehr daran denken wollte. Felicita machte mich immer sauer.

„Dann solltest du wohl etwas trinken.“

„Gute Idee.“ Also ließ ich ihn stehen und machte mich auf den Weg zur Bar. Erst als ich schon fast da war, ging mir auf, dass er mich jetzt doch nicht geküsste hatte. Toll, jetzt war ich also auch nicht schlauer als vorher. Dabei wollte ich doch nur wissen, ob es sich bei jemand anderen genauso anfühlte, wie bei Raphael. Ich vermisste das einfach.

Mit einem tiefen Seufzer setzte ich meinen Weg vor, doch schon bevor ich die Bar erreichte, blieb ich wieder stehen.

„Ach, scheiß drauf!“, fauchte Raphael gerade Kettlin an und warf seinen Lappen wütend auf den Tresen.

„Raphael!“, rief sie ihm verärgert nach, als er ihr einfach den Rücken kehrte und einfach die Bar verließ. „Bleib stehen.“ Sie folgte ihm.

Oh nein.

Da er auf den hinteren Teil zuhielt, war mir sofort klar, dass er nicht verschwinden wollte, sondern auf dem Weg in die Räume der Angestellten war. Zwar konnte ich ihn schon nach wenigen Metern nicht mehr sehen, doch ich folgte ihm trotzdem.

Es war Kettlin, die ich als erstes einholte und am Arm festhielt. Sie wirbelt sofort zu mir herum.

„Darf ich mit ihm reden?“, fragte ich, ohne ihr die Chance zu geben als erstes das Wort zu ergreifen. Eigentlich durfte ich nicht nach hinten. „Ich weiß was mit ihm los ist.“

Sie schnaubte, schüttelte den Kopf und strich sich dann einmal durchs Haar. „Ja, bitte, tu dir keinen zwang an. Dann kannst ihm auch gleich sagen, er soll sich wieder einkriegen und seinen Arsch hinter die Bar bewegen, sonst kann er sich einen neuen Job suchen.“ Sie funkelte mich an, als sei es meine Schuld, machte sich dann von mir los und ging selber wieder hinter die Bar.

Normalerweise war Kettlin umgänglicher. Wahrscheinlich war sie einfach nur gestresst, weil es so voll war und man bei so vielen Leuten alle Hände brauchte, die man bekommen konnte. Das mit dem Job allerdings machte mir schon ein wenig Sorgen. Raphael mochte seine Arbeit im Illunis, auch wenn er sich immer wieder mal darüber beklagte, auf der Theke tanzen zu müssen.

Die Räume der Angestellten lagen im Hinteren Teil des Clubs, hinter einer Tür, die man mit dem Schild „Privat“ versehen hatte. Raphael aufzuspüren war nicht weiter schwer. Selbst ohne seiner Fährte zu folgen, hätte ich ihn mit Leichtigkeit ausgemacht. Er stand in dem kleinen Aufenthaltsraum, in den er mich auch schon bei meinem ersten Besuch hier gebracht hatte. Die Arme hatte er auf den Tisch gestützt und den weißumnebelten Kopf ließ er einfach hängen.

Ich trat an ihn heran und legte ihm zaghaft eine Hand auf die Schulter. Durch die kühle Luft hier drinnen hatte er eine Gänsehaut, aber das schien er gar nicht zu merken. „Sag mir, was in deinem Kopf vor sich geht.“

Bei meinen Worten spannte er sich leicht an. Er wandte mir das Gesicht zu und schnaubte bitter. Seine Augen funkelten vor Wut. „Das hat einfach nie ein Ende“, murmelte er, stieß sich vom Tisch ab und begann ein paar Mal unruhig auf und ab zu laufen. „Ich hab geglaubt diese ganze Scheiße endlich hinter mir zu haben, ja es gibt mittlerweile sogar Tage, an denen ich nicht mal mehr einen Gedanken an sie verschwende und jetzt fängt es schon wieder an!“

Er blieb stehen und drehte sich zu mir herum. „Jetzt bleiben mir nur drei Möglichkeiten. Ich könnte auf Nimmerwiedersehen verschwinden, aber das will ich nicht. Ich mag mein Leben wie es ist. Ich habe sogar schon überlegt, meine Wohnung in Berlin zu verkaufen und mir hier etwas zu suchen.“

Das war mir neu.

„Ich könnte es natürlich auch einfach darauf ankommen lassen und nichts tun, aber ich bin mir sicher, dass Tristan ihr dann sagen wird, wo ich bin und sie spätestens morgen bei mir auftauchen wird.“ Seine Hände ballten sich zu Fäuste. „Dabei scheint es allen völlig gleich zu sein, dass ich nicht will, dass sie weiß wo ich bin.“

Nein, mir war das nicht egal, aber ich würde Tristan nicht daran hindern können, seine Drohung in die Tat umzusetzen.

„Die letzte Möglichkeit ist, genau das zu tun was sie will und zu ihr zu fahren, aber ich will sie nicht sehen. Ich will nicht wissen, was sie jetzt schon wieder angestellt hat und ich will da auch nicht mit hineingezogen werden. Ich kann nicht mal einfach ein paar Wochen wegfahren, bis Gras über die Sache gewachsen ist, weil sie die verdammte Königin ist. Wenn sie will, findet sie mich und wenn sie mich wirklich so dringend sehen will, wird sie auch nicht so einfach aufgeben. Also los, sag es mir, was soll ich tun, denn ich weiß nicht mehr weiter.“ Er war nicht nur ratlos, er schien geradezu verzweifelt.

Das gleiche war mir auch schon durch den Kopf gegangen. „Welche von den drei Möglichkeiten wäre denn am wenigsten schlimm für dich?“, fragte ich leise und trat an ihn heran. Ich nahm seine geschlossene Hand, öffnete sie und verschränkte seine Finger mit meinen.

Er rieb sich über die Stirn, als wäre er einfach nur noch müde darüber nachzudenken. „Ich weiß nicht“, sagte er dann ein wenig leiser. „Ich will nicht, dass sie hier her kommt und alles wieder kaputt macht.“

Weil er hier bleiben wollte. Damit blieb nur eine Option übrig und das war die, die mir am wenigsten gefiel. „Dann müssen wir zu ihr fahren, uns anhören was sie uns zu sagen hat und dann können wir sie vergessen.“

„Und wenn mir nicht gefällt, was sie zu sagen hat?“ Sein Arm sang hilflos herab. „Oder noch schlimmer, wenn sie mich doch wieder dazu bekommt das zu machen was sie will?“

„Ich glaube nicht, dass sie noch solche Macht über dich hat“, sagte ich ernst, fügte dann aber mit einem Lächeln hinzu: „Und falls doch, rufe ich Amber an. Dann stecken wir dich in einen Sack, legen dich in ihren Kofferraum und fahren wieder nach Hause.“

Nun begann auch er zu lächeln, wenn auch nur ein kleinen wenig. Leider verblasste es genauso schnell wieder. „Sie soll mich einfach nur in ruhe lassen“, sagte er leise. „Ich hab das alles so satt.“

„Dann ist das vielleicht genau das, was du ihr sagen solltest.“ Ich ließ seine Hand los und wickelte meine Arme um ihn. Er zitterte ganz leicht und das kam sicher nicht von der Temperatur. „Und wenn du es ihr nicht sagen kannst, dann mache ich das.“ Und zwar so nachdrücklich, dass sie es auch verstehen würde.

 

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Schneewittchen und Goldlöckchen

 

Ein Tag, so viel Zeit war vergangen, seit Tristan seinen Bruder vor die Wahl gestellt hatte. Ungefähr acht Monate waren vergangen, seit ich mich damals an den Hof der Lykaner geschlichen hatte. Fast sechs Stunden, solange hatte es gedauert mit dem Motorrad von Arkan durch die winterliche Landschaft nach Silenda zu fahren, die Hauptstadt der Lykaner, in der auch die Königin ihren Sitz hatte. Und nun würde es nicht mehr lange dauern, bis wir vor Cayenne treffen würden. Raphael wurde mit jedem Meter den wir zurücklegten, angespannter. Ich konnte es spüren, weil ich mich an ihn klammerte, um nicht vom Motorrad zu kippen.

Da ich noch nie so eine lange Strecke gefahren war und Raphael eindeutig der bessere Fahrer war, war ich auf seinem Motorrad aufgestiegen und hatte meines in der unordentlichen Garage stehen gelassen. Außerdem dämmerte es bereits. Im Winter wurde es wirklich früh dunkel.

Das Schloss der Königin stand auf einem hohen Hügel knapp außerhalb der Stadt und war von allen Seiten von einem dichten Wald eingeschlossen, der sich dahinter ewig auszudehnen schien. Es gab nur eine Straße die nach oben führte und alle paar Meter von einer vereinzelten Laterne erhellt wurde.

Über uns ragte das Geäst hoher Eichen in den Himmel, die links und rechts die Straßen säumten. Ihre Kronen wölbten sich wie ein Tunnel über die Auffahrt und ließen nur spärlich das dämmernde Tageslicht hindurch, das den Schnee auf den Bäumen glänzen ließ.

Als aus den Schatten die alte Burgmauer vor uns auftauchte, verringerte Raphael langsam das Tempo. Er war angespannt und auch ich spürte langsam eine leichte Nervosität. Ich hatte einfach keine Ahnung, was uns hier erwarten würde und das bereitete mir Sorgen.

Das große Tor geriet in unser Sichtfeld, doch zu meiner Verwunderung war es geschlossen und wurde von einem Dutzend Wächtern der Königsgarde bewacht. Die Männer und Frauen dort trugen alle schwarze Militäruniformen. Außer die vier Wölfe bei ihnen, die trugen nur Pelz.

Schneematsch spritzte auf, als Raphael seine Maschine langsam ausrollen ließ und dann vor ihnen zum Stehen kam. Zwei der Wachen setzten sich sofort in Bewegung und kamen direkt auf uns zu. Der eine legte sogar eine Hand an die Waffe an seiner Hüfte, so als fürchtete er eine Gefahr.

Der andere blieb direkt neben uns stehen. Er hatte eine sehr große Nase und einen sehr kleinen Mund. Seine Augen waren wachsam und musterten uns beide sehr gründlich. „Kann ich ihnen helfen?“

Einen Moment zögerte Raphael und kurz glaubte ich, dass er einfach wieder einen Gang einlegen und wegfahren würde. Doch dann schob er sein Visier hoch und sagte über das Knattern der Motors hinweg: „Ich bin auf den Wunsch von Königin Cayenne hier.“

Der Kerl schaute etwas verwundert zwischen uns hin und her. „Königin Cayenne ist zurzeit für niemanden zu sprechen.“

Was? Was sollte das denn?

„Besonders nicht für einen Vampir“, fügte der andere Mann noch hinzu.

Auch ich schob mein Visier hoch. „Sie will aber mit ihm sprechen. Deswegen sind wir extra hergekommen.“

„Ich kann mich nur wiederholen, Königin Cayenne ist im …“

„Wir sind nicht taub, wir haben sie verstanden“, unterbrach Raphael ihn rüde. „Mein Name ist …“ Er zögerte kurz und sagte dann: „Ryder Randal und ich werde von der Königin erwartet, darum schlage ich vor, dass jemand von ihnen sich erkundigen geht. Wenn ich nämlich gehe, komme ich nicht wieder und das wird sie ganz sicher nicht erfreuen.“

Und wahrscheinlich nur noch mehr Probleme machen. Ich drückte mich ein wenig fester an ihn. Wie ich das finden sollte, dass er sich mit dem Decknamen anmeldete, den er bis vor einem Jahr noch für seine Arbeit genutzt hatte, wusste ich nicht. Es schien fast, als wollte er, dass was er jetzt hatte und das was hinter ihm lag, voneinander trennen. Er zog gewissermaßen eine Grenze.

Der Mann mit der Riesennase ließ sich nicht anmerken, was in seinem Kopf vor sich ging. „Ich werde nachfragen, aber machen sie sich nicht zu große Hoffnungen.“

Raphael schnaubte. „Meine Hoffnung ist, dass ich einfach wieder gehen kann“, murmelte er.

Das hatte der Mann gehört. Auch wenn Raphael leise gesprochen hatte, das Gehör eines Lykaners war ausgesprochen gut und auch wenn er Raphael daraufhin noch einmal musterte, drehte er sich nur schweigend um und ging zu den anderen zurück. Es wurden ein paar Worte gewechselt, dann verschwand eine Frau durch eine kleine Seitentür in der Außenmauer.

„Geht es dir gut?“, fragte ich leise.

„Frag mich das noch einmal, wenn wir wieder weg sind.“

„Okay.“

Er legte mir eine Hand auf den Arm und drückte ihn sachte.

Vorne auf dem Lenker saß Lalamika. Ihr Schwanz zuckte hin und her. Immer wieder schaute sie von den Wächtern zum Schloss und wieder zurück. Irgendwas geht hier vor, sagte sie leise.

Ja, das Gefühl hatte ich auch.

Schweigend warteten wir, bis die Frau wieder heraus kam und mit einem seltsamen Blick in unsere Richtung etwas zu dem Mann mit der großen Nase sagte. Der nickte zwei Mal und als er sich dann zu uns umwandte und wieder zu uns kam, öffnete sich hinter ihm das große Tor.

„Fahren sie durch den Vorhof und dann nach links durch Tor zwei in den Innenhof. Am Portal werden sie in Empfang genommen.“

„Danke“, murrte Raphael, auch wenn er sich nicht besonders dankbar anhörte.

Sobald der Wächter zur Seite getreten war, gab Raphael wieder Gas und fuhr an den fragenden Blicken der Wächter vorbei in den Vorhof. Würde man jetzt einfach geradeaus weiterfahren, käme man zur Menagerie und den Wirtschaftsgebäuden. Wir aber mussten nach links, wo gerade ein weiteres Tor für uns geöffnet wurde.

Der Innenhof vor dem großen Schlossportal mit den Schnitzereien, war ein kleiner Garten mit strategisch platzierten Beeten, die sich sowohl mittig, als auch außen um die kreisrunde Auffahrt befanden. Die Straße selber war vom Schnee befreit worden, alles andere war von einer gepuderten Schicht bedeckt.

Seitlich am Schloss vorbei gab es noch einen schmalen Weg. Würde man diesem folgen und dann nach rechts abbiegen, würde man in ungefähr fünfzig Metern auf das Hauptquartier der Themis stoßen. Dort hatte ich Raphael zum ersten Mal leibhaftig gesehen.

Ich wusste noch genau, wie er da mit seinem Bruder und ein paar Kollegen, in ein Gespräch vertieft, gestanden hatte. Schon damals hatten seine Augen traurig gewirkt. Ich wollte gar nicht wissen, wie lange ihn die Situation mit Cayenne schon belastete.

Wir fuhren jedoch nicht zum Hauptquartier, sondern hielten direkt am unteren Ende der großen Freitreppe, vor dem Schlossportal, von wo aus uns zwei Wächter misstrauisch im Auge behielten.

Als Raphael den Motor ausstellte, ließ ich ihn los und versuchte mir den Helm vom Kopf zu ziehen, musste aber gleich darauf feststellen, dass das eine wirklich dumme Idee war, denn plötzlich bekam ich Übergewicht und noch während ich die Arme hochriss, um mich irgendwo festzuhalten, landete ich bereits mit einem „Uff“ auf dem Rücken.

Raphael drehte seinen Kopf herum, schob das Visier hoch und begann zu lächeln. Das ich wie ein auf dem Rücken gedrehter Käfer da lag und verdutzt blinzelte, schien sehr amüsant zu sein.

„Ich bin runter gefallen“, erklärte ich das Offensichtliche.

Sein Mundwinkel zuckte. „Und da soll noch mal einer behaupten, Katzen landen immer auf ihren Füßen.“

Als er sich aus dem Sattel schwang, setzte ich mich bereits auf und ließ mich dann von ihm zurück auf die Füße ziehen. „Das nächste Mal solltest du erst absteigen, bevor du versuchst den Helm abzunehmen“, belehrte er mich. Seine Finger tasteten unter meinem Kinn nach dem Klipp und befreiten mich dann von meiner Kopfbedeckung. „Weniger schmerzhaft.“

„Ich hab mir nicht wehgetan.“ Mit den Händen klopfte ich mir den Dreck von der Jeans. Sie war nass.

Raphael ließ unsere Helme in dem Fach unter dem Sattel verschwinden, öffnete seine Motorradjacke und wickelte sich den Schal vom Hals. Vor Anspannung waren seine Schultern ganz steif.

In Erwartung jemanden zu sehen, der uns in Empfang nahm, schaute ich mich um, aber da waren nur die beiden Wächter am Portal und ein breitschultrige Mann, der sich mit langen Schritten am Schloss entlang bewegte. Irgendwie war es im Hof heute sowieso ziemlich leer. Lag das an der Kälte? Sonst war hier doch auch viel mehr Betriebsamkeit.

Als der Mann näher kam, kniff ich die Augen leicht zusammen. Den kannte ich doch. Ja genau, das war der Kerl, der mich bei Jegor aus meinem Käfig gelassen hatte. Ich hatte seinen Namen vergessen. „Guck mal Ys-oog.“ Ich sprang an seine Seite und drehte ihn so, dass er ihn auch sehen konnte.

„Murphy“, sagte er und schien einen Moment erleichtert. Wahrscheinlich hatte er mit jemand andere gerechnet.

Auch Murphy bemerkte uns jetzt. Er stoppte einen Moment, begann dann zu grinsen und kam direkt auf uns zu. „Verdammt, Ryder, was machst du den hier?“, begrüßte er Raphael überschwänglich, nahm die ausgestreckte Hand entgegen und klopfte dem Vampir dann auch noch kameradschaftlich auf den Rücken. „Tyrone hat gesagt, du würdest jetzt ein zivilisiertes und anständiges Leben führen.“

Na ob es so zivilisiert war, fünf Mal die Woche halbnackt auf einem Tresen zu tanzen?

Raphael grinste ein wenig schief. „Ja, ich brauchte mal einen Tapetenwechsel.“

Murphy nickte, als würde er das verstehen. Dann glitt sein Blick auf mich. „Und wen haben wir da?“ Sein Haar war ziemlich kurz, die Hüfte sehr schmal und die Nase in seinem Gesicht krumm, so als wäre sie schon ein paar Mal gebrochen gewesen.

„Erkennst du mich denn nicht?“, fragte ich schmunzelnd und zeigte mit beiden Händen auf meinen Kopf. An der Musterung in meinen Haaren, erkannten die Leute meist sofort, dass ich ein Ailuranthrop war.

Erst runzelte er die Stirn, dann nahm er meine Witterung auf. Seine Augen wurden vor Erstaunen ein wenig größer. „Tarajika?“

„Jup.“ Grinsend drehte ich mich einmal im Kreis, damit er meine Motorradjacke bewundern konnte. Ich hatte sie zum bestandenen Führerschein bekommen. „Genau die.“

„Wow“, sagte er und zog mich in eine kräftige Umarmung, in der ich fast gänzlich verschwand. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass wir dich noch mal wiedersehen.“ Er hielt mich eine Armlänge von sich entfernt und musterte mich einmal von oben bis unten. „Wo hast du nur gesteckt?“

„Bei Ys-oog.“

„Was?“

„Bei Ys-oog“, wiederholte ich und hakte mich in Raphael Arm ein.

„Du warst bei …“ Mit einem sehr merkwürdigen Blick schaute er den Vampir an. „Okay.“

„Ich hab mich in sein Auto gesetzt und seinen Reisepass gefressen. Da musste er mich mitnehmen.“

„Ähm.“ Mit gerunzelter Stirn schaute er von einem zum anderen. „Ist das ein Code für etwas, das ich nicht verstehe?“

Raphael schnaubte, hatte aber ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Nein, das ist wörtlich gemeint. Sie hat meinen Reisepass zu Konfetti verarbeitet und …“

„Ryder“, wurde er da von hinten gerufen.

Wir drehten uns gleichzeitig um.

Im offenen Portal des Schlosses stand ein richtiger Hüne, mit braunen Haaren und einer eisernen Mine. Auch ihn erkannte ich wieder. Das war Diego, einer der Leibwächter von Cayenne. Obwohl man sie hier ja Umbra nannte. Ich hatte ihn noch nie lachen gesehen. Na gut, ich war ja auch nur ein paar Tage hier gewesen.

Dadurch dass ich ihm so nahe war, spürte ich sehr genau, wie Raphael sich wieder anspannte.

Auch Murphy sah zu dem Umbra hinüber und schlagartig wurde sein Gesicht ernst. „Seid ihr wegen Cayenne hier?“

„Ja“, war alles war Raphael sagte.

„Sie möchte mit ihm sprechen“, fügte ich noch hinzu und warf dem Schloss einen bösen Blick zu. „Sie macht alles kaputt.“

„Nicht, Gnocchi.“

Murphy zog die Augenbrauen zusammen. „Hat sie dir gesagt, was los ist?“

Verwirrt drehte sich Raphael zu ihr um. „Nein, warum?“

„Hast du das gar nicht mitbekommen?“ Als wir ihn nur verständnislos anschauten, fuhr er fort. „Seit drei Tagen hat sie niemand mehr gesehen. Dienstag Abend war sie noch zu einer Besprechung im HQ und Mittwoch kam sie nicht mehr aus ihrem Zimmer. Ihr Leibarzt ist ständig bei ihr. Keiner weiß was los ist und niemand sagt uns was.“

Das gefällt mir immer weniger, ließ Lalamika mich wissen. Sie saß noch immer auf dem Lenker des Motorrads.

Auch ich bekam langsam ein mulmiges Gefühl.

„Ryder“, rief Diego wieder, dieses Mal mit leichter Ungeduld in seiner Stimme.

Raphael leckte sich einmal nervös über die Lippen. „Ja dann, ich muss dann mal.“ Er drehte sich noch einmal zu ihm um und schlug zum Abschied in Murphys Hand ein. „Falls wir uns nicht mehr sehen, mach´s gut.“

„Klar, du auch.“ Auch mich drückte er noch einmal kurz an sich. „Und du pass schön auf ihn auf, ja? Wir wollen ja nicht, dass er verloren geht.“

Ich nickte ernst. „Das mache ich schon die ganze Zeit.“

Etwas an dieser Aussage ließ ihn grinsen, dabei hatte ich das genauso so gemeint, wie ich es gesagt hatte.

„Komm“, sagte Raphael. Er legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich dann auf die Freitreppe zu. Er wirkte … unruhig.

Ich kam direkt nach Lalamika oben an und erwiderte dort Diegos Blick genauso stumm wie er meinen. Als Raphael dann neben mich trat, schaute er ihn an und zog eine Augenbraue nach oben, aber Raphael schien nicht bereit, irgendwas dazu zu sagen.

Lalamika spazierte schon mal hinein.

„Es freut mich, dass du gekommen bist“, sagte Diego leise. „So ist es einfacher.“ Was genau er damit meinte, erklärte er allerdings nicht. Er kehrte uns einfach den Rücken und trat an den Wächtern vorbei durch das Portal. „Kommt.“

Ich hob das Gesicht zu Raphael, aber er merkte es nicht. Als er sich in Bewegung setzte, war sein Blick starr nach vorne gerichtet. War er vorher schon angespannt gewesen, so schien er nun kurz vor dem Zerspringen zu stehen. Vielleicht war es ja doch keine gute Idee gewesen hier her zu kommen. Leider war es nun zu spät, um es sich noch einmal anders zu überlegen.

Okay, ich durfte ihn jetzt nur nicht aus den Augen lassen, dann würde schon alles gut werden.

Direkt hinter ihn trat ich in das Schloss und augenblicklich wurde es ein wenig wärmer. Mein Blick schweifte einmal durch die große Eingangshalle. Hm, seit meinem letzten Besuch hatte sich hier nichts geändert. Auf dem Boden lag noch immer dieser hässliche Läufer, der links und recht zu den Treppen ging, die hinauf auf die offene Galerie führten. Die Einrichtung war … alt und die Tür zwischen den Treppen verbarg den Thronsaal dahinter.

Gold und Stuck verzierten die Malereien an Wände und Decke und bei den stolzen Persönlichkeiten in den Ölgemälden hatte ich das Gefühl, sie würden uns mit ihren Blicken durch den Raum folgen. Das hatte ich schon bei meinem letzten Besuch unheimlich gefunden.

Lalamika entdeckte ich balancierend auf dem Handlauf der Treppe.

„Cayenne geht es im Augenblick nicht so gut“, erklärte Diego leise, als wir die ersten Stufen der Treppe betraten. „Darum möchte ich euch bitten, sie nicht aufzuregen.“

Raphael schnaubte bitter. „Dann sollte ich wohl besser wieder gehen. Allein dass sie mich gezwungen hat hier her zu kommen, regt mich derart auf, dass ich ihr am liebsten den Hals umdrehen möchte.“

Diego warf einen Blick über die Schulter. „Es ist mir egal, was da zwischen euch geschehen ist, im Augenblick zählt nur das, was gerade passiert, also reiß dich bitte zusammen.“

„Oh“, spotte Raphael und kräuselte die Lippen. „Noch mehr kryptische Worte. Wäre ja auch zu leicht, einfach zu sagen was verdammt noch mal hier los ist.“

Am Ende der Treppe, warf Lalamika mir einen kurzen Blick zu und marschierte dann den Handlauf in die nächste Etage hoch.

Das wollte ich auch machen. Also kletterte ich einfach auf den Handlauf, schob die Zunge zwischen die Lippen und folgte ihrem Beispiel. Nur benutzte ich nicht meinen Schwanz, sondern meine Arme, um mein Gleichgewicht zu halten.

Diego schaute etwas seltsam, sagte aber nichts dazu. „Sie will es dir selber sagen.“

„Und wenn die Königin etwas will, werden wir uns ihren Wünschen natürlich beugen.“ Die Züge um seinen Mund waren grimmig.

„Du wirst es gleich verstehen“, sagte Diego noch und führte uns ganz nach oben.

Auch hier im Schloss war war es so gut wie ausgestorben. Die Leute die uns auf unserem Weg begegneten, warfen uns irritierte Blicke zu, hielten uns aber nicht auf. Sie wunderten sich wahrscheinlich, was ein Vampir im Schloss machte, wo denen der Zutritt doch normalerweise verboten war. Konnte natürlich auch sein, dass sie sich fragten, warum ich nicht einfach die Treppe benutzte.

Oben angekommen, reichte Raphael mir seine Hand und half mir beim runterspringen.

„Ich bin bis ganz nach oben geklettert“, erklärte ich grinsend und hoffte ihn damit ein wenig abzulenken.

„Ich habe es gesehen“, war jedoch alles, was er dazu sagte. Er versuchte es zwar mit einem kleinen Lächeln, aber es war deutlich, dass er mit den Gedanken ganz woanders war, darum beließ ich es einfach dabei und griff nach seiner Hand. So konnte ich auch darauf aufpassen, dass er nichts Unüberlegtes tat. Es würde nicht nur Cayenne sein, den wir gleich sahen. Ich ging auch davon aus, das ihr komischer Gefährte bei ihr sein würde, der Mann, der Raphaels Platz an ihrer Seite eingenommen hatte.

Das Aufeinandertreffen mit ihm, bereitete mir fast noch größere Sorge.

Meine Schwester tapste bereits den Gang hinunter und hielt vor einer Tür auf halber Höhe. Sie warf einen Blick darauf, schaute noch mal kurz zu mir und schlüpfte und schlüpfte durch das Holz in den Raum dahinter.

Wir brauchten noch einen Moment, bis wir die große Doppeltür mit den goldenen Beschlägen und der kunstvollen Schnitzerei darauf, erreichten.

Diego legte seine Hand auf den in der Wand eingelassenen Wandscanner. Das rote Lämpchen daneben sprang auf grün und die Tür klickte. Er legte eine Hand auf die Klinke, doch bevor er die Tür öffnete, drehte er den Kopf noch einmal zu uns herum. „Egal wie das hier jetzt ausgeht, ich muss euch bitten Stillschweigen über das zu bewahren, was ihr hier nun erfahrt.“

„Ich kann auch einfach wieder gehen“, erwiderte Raphael schlicht und schaute den Lykaner herausfordernd an.

Einen Moment wirkte es, als wollte Diego noch etwas sagen wollen, doch dann schüttelte er einfach den Kopf und trat mit uns im Anhang in ein großes, offenes Wohnzimmer. Genau in der Mitte gab es eine lederne Wohnlandschaft, auf der eine wirklich kleine Blondine im Schneidersitz saß und bei unserer Ankunft ansah. Sie war auch eine von Cayennes Umbras. Dann gab es noch ein paar Regale, ein Sideboard und … war das ein Aquarium, neben den bodenlangen Fenstern? Interessiert reckte ich den Hals.

Von dem Raum gingen vier weitere Türen ab. Die eine an der linken Wand war offen und gab den Blick auf ein erleuchtetes Kinderzimmer frei, in dem ein kleiner Wolf herumtapste und spielerisch in ein Kuscheltier biss. Ein Jugendlicher mit weißem Haar, beaufsichtigte ihn. Das waren Cayennes Sohn Aric und ihr Cousin … hm, ich hatte den Namen vergessen.

Die anderen drei Türen waren geschlossen. Nein, gar nicht, die eine rechts war nur angelehnt. Dahinter war eine leises Summen zu hören, eine sanfte Melodie.

Wen ich nicht sah, war Lalamika.

„Wartet bitte einen Moment“, bat Diego und trat dann zu der angelehnten Tür. Als er den Kopf dort hinein steckte, drehte ich mich zu Raphael um.

„Das sind Fische“, sagte ich und zeigte auf das lange Aquarium.

Er warf einen sehr desinteressierten Blick dorthin und machte nur: „Hmh.“ Dann schaute er auch schon wieder zu Diego. Nervös verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Seine Unsicherheit umgab ihn wie eine Aura. Doch da war auch ein kleiner, wütender Funke in seinen Augen. Er wollte nicht hier sein und hasste es nun trotzdem in diesem Raum zu stehen.

Gerne hätte ich etwas gesagt, das ihn beruhigen würde, aber ich wusste nicht was, also hielt ich einfach nur seine Hand fest, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm war. Vielleicht half das ja schon. Wenigstens ein bisschen.

Als Diego sich wieder zu uns umdrehte und uns zu verstehen gab, zu ihm zu kommen, warf Raphael einen unruhigen Blick zur Zimmertür, als überlegte er, doch schnell zu verschwinden. Erst als ich seine Hand ganz leicht drückte und er sich einmal nervös über sein Kinn gestrichen hatte, setzte er sich zögernd und ein wenig steif in Bewegung.

„Bitte sprecht leise“, bat Diego uns noch, bevor er als erstes in den Raum ging und dann zur Seite trat, um uns hinein zu lassen.

Was uns erwartete, war ein helles und sehr großes Schlafzimmer mit einem offenen Kamin, dessen Herzstück wohl das Designerhimmelbett mit den luftigen Vorhängen und den zur Mitte geneigten Holzbalken war. Und dort lag sie auch, Cayenne, die Königin der Lykaner.

Sie war eine junge Frau mit kurzem, blonden Haar und stürmischen, grauen Augen, nur wirkte sie heute gar nicht königlich. Ihre Jogginghose hatte einen Fleck am Oberschenkel und das weite T-Shirt ein kleines Loch am Bauch. Ihr schüchternes Lächeln konnte nicht über die Erschöpfung hinwegtäuschen, die sich tief in ihr Gesicht gegraben hatte.

Was mich aber wohl am meisten überraschte, war das in eine rosa Decke eingewickelte Bündel in ihren Armen. Erst als ich das sah, bemerkte ich, dass sie gar nicht mehr schwanger war.

Neben ihr im Bett lag ein riesiger, sandfarbener Wolf mit strubbeligen Fell. Sein Gesicht und sein Körper waren mit kleinen und großen Narben übersät. Ich hatte ihn schon ein paar Mal gesehen, jedoch immer nur in seiner jetzigen Gestalt. Das war Sydney, der Mann den Cayenne gewählt hatte. Obwohl, konnte man ihn wirklich als Mann bezeichnen, wenn er immer nur ein Wolf war?

Lalaika entdeckte ich sitzend auf dem Nachttisch.

Bisher hatte Raphael nur still und angespannt dagestanden, doch sobald er den Wolf bemerkte, begann seine Hand ganz leicht zu zittern. Seine Lippen wurden ein wenig schmaler und ich sah mich gezwungen seine Hand etwas fester zu drücken, damit er nicht auf komische Gedanken kam.

Cayennes Blick glitt einen kurzen Moment auf mich, bevor er sich schüchtern auf Raphael richtete. „Du siehst anders aus.“ Sie wartete, aber er sagte nichts. „Es gefällt mir.“

Etwas an diesen Worten schien ihn furchtbar aufzuregen. „Nur um das gleich mal klarzustellen: Ich bin nur hier, weil mir keine andere Wahl blieb. Also sag mir einfach, was du mit so unbedingt persönlich mitteilen musst, damit damit ich schleunigst wieder verschwinden kann.“

Das Lächeln in ihrem Gesicht geriet ein wenig schief. „Ist es für dich wirklich so schlimm hier zu sein, dass du sofort wieder gehen möchtest?“

„Ja.“ Kurz und knapp. Sein Blick glitt einen kurzen Moment zu Sydney, der sofort wachsam den Kopf von den Pfoten hob. „Überall ist es besser als bei dir.“

Diese Worte schienen nur darauf abzuzielen, sie zu kränken und so wie sie die Lippen aufeinander drückte, funktionierte es wohl auch. „Ich weiß, dass es zwischen uns nicht optimal verlaufen ist, aber …“

„Nicht optimal?“ Er schnaubte. „Ich will keine Entschuldigungen oder Rechtfertigen hören“, fuhr er sie an. „Genaugenommen will ich überhaupt nichts von dir hören, also sag mir einfach, was du willst.“ Als er bei seinen Worten einen drohenden Schritt nach vorne machte, legte ich ihm hastig ein Hand auf die Brust. Sein Herz schlug viel zu schnell.

Cayenne runzelte bei dieser Geste die Stirn. „Wer ist das?“, fragte sie nach einem Moment leise.

Da Raphael nicht so aussah, als wollte er auch nur ein Wort zu viel von sich geben, lächelte ich sie mit perlweißen Zähnen an und sagte: „Klopf klopf.“

Ihre Augen wurden eine Spur größer. „Tarajika? Aber wie …“ Sie verstummte.

Ich schüttelte den Kopf. „Du musst fragen: Wer ist da?“

Daran schien sie im Moment absolut kein Interesse zu haben. „Was macht sie bei dir?“

Seine Stimme wurde eisig kalt. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

Diese Antwort stellte sie definitiv nicht zufrieden, aber da ich ja nicht ihr Hauptanliegen war, ließ sie dieses Thema ruhen. „Es ist nicht so einfach zu erklären“, sagte sie leise und richtete ihren Blick auf das Bündel in ihrem Arm. „Ich bin selber noch dabei es richtig zu begreifen, dabei weiß ich es schon seit drei Tagen.“

Sydney rückte etwas näher, als wollte er sie trösten. Dabei bemerkte ich etwas, dass mir bisher entgangen war, weil er es mit seinem Körper verdeckt hatte. Schlafend in einem schneeweißen Strampler und bis zum Bauch zugedeckt, lag da noch ein Baby mit einem goldenen Flaum auf dem Kopf. Die kleinen Händchen zuckten kurz, als der Wolf sich bewegte, aber es wachte nicht auf.

Cayenne hob die Hand und zupfte etwas nervös die weiche Babydecke zurecht. „Vor drei Tagen kamen die Zwillinge zur Welt.“

Nun bemerkte auch Raphael das zweite Bündel. Wenn überhaupt möglich, wurden seine Lippen noch schmaler. Das zu sehen, tat ihm weh.

„Ich habe sie Kiara und Zaira genannt.“ Ein sehr liebevoller Zug erschien in ihrem Gesicht. „Sie sind wunderschön.“

„Na dann, herzlichen Glückwunsch“, spottete er. „Wenn das dann alles war, können wir ja gehen. Komm Gnocchi.“ Er hatte sich schon halb abgewandt, als Cayenne die Hand nach ihm ausstreckte, als könnte sie ihn so zurückhalten.

„Nein, warte, das war nicht alles.“ Sie warf einen flüchtigen Blick zu Sydney, legte dass Bündel dann sehr sorgsam neben ihm ab und stieg vorsichtig aus dem Bett, als hätte sie schmerzen. Dabei sagte sie. „Du musst mir zuhören, es ist wichtig.“

„Dann komm endlich zum Punkt!“, bluffte er sie gereizt an.

Diego runzelte bei dem Ton die Stirn, tat aber sonst nichts.

Auf dem Nachtisch erhob sich Lalamika und sprang mit einem Satz ins Bett. Als sie einen Blick auf das eingewickelte Bündel warf, wurden ihre Augen groß.

Einen knappen Meter vor Raphael blieb sie stehen und suchte Händeringend nach Worten. „Kiara und Zaira … sie sind deine Töchter.“

„Was?“, quietschte ich. Meine Augen wurden groß wie Untertassen. Raphael sollte der Vater sein? Vielleicht war an den Gerüchten ihres Geisteszustandes doch etwas Wahres dran.

Raphael bekam kein Wort heraus. Er stand einfach nur da, starrte sie mit großen Augen an und schien sogar verlernt zu haben, wie man atmete. Um die Nase herum war er sehr blass geworden. Das war eindeutig ein Schock für ihn.

Komm her, sagte Lalamika in die Stille hinein. Das musst du dir anschauen.

Ich sollte Raphael jetzt loslassen? War sie wahnsinnig?!

„Du bist der Vater von Zaira und Kiara“, wiederholte Cayenne noch mal, weil Raphael einfach nichts sagte. Sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen. „Du …“

„Nein“, schnitt er ihr das Wort ab und unterstützte es auch noch mit einer Handgeste. Er schüttelte den Kopf und wich sogar vor ihr zurück. „Das sind nicht meine Töchter. Lykaner und Vampire können keine Kinder bekommen. Das hat es noch nie gegeben und das wird es auch nie geben.“

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er damit sich selber oder sie überzeugen wollte.

Ara, komm her und guck!, verlangte meine Schwester wieder.

Cayenne strich sich unruhig mit der Hand durch die Haare. „Das weiß ich sehr wohl, ich bin ja nun nicht völlig bescheuert.“

Nur zögernd löste ich mich von Raphaels Seite und huschte zum Bett hinüber.

Raphael schien das nicht mal zu merken. „Was soll dann der Mist? Ist dir der scheiß Köter nicht mehr gut genug, dass du mich herlocken musst, oder was funktioniert in deinem Kopf nicht mehr richtig?“

Sydney legte die Ohren an und grollte leise, als ich mit einem Knie auf das Bett stieg und mich über das kleine Bündel beugte.

Sofort war Raphaels Aufmerksam bei ihm. „Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, wird dich niemand mehr vor mir retten können“, drohte er ihn mit einem sehr gefährlichen Ton in der Stimme.

Neugierig lupfte ich die Decke um das Gesicht ein wenig. Vor Staunen öffnete sich mein Mund. Das andere Baby hatte kleine, goldenen Löckchen, dieses jedoch war schwarzhaarig und besaß eisblaue Augen. Genau wie die von Raphael. Die Augenfarbe von dem anderen Baby konnte ich leider nicht überprüfen, da es schlief und die kleine würde es mir sicher übel nehmen, wenn ich sie jetzt weckte.

„Ryder“, versuchte Cayenne sein Interesse zurückzubekommen. „Es ist richtig, Lykaner und Vampire können keine gemeinsamen Kinder bekommen, aber du vergisst eins: Ich bin kein reinrassiger Lykaner.“

Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit. Mit einem Mal sah er einfach nur entsetzt aus.

Vorsichtig hob ich einen Finger und wackelte damit vor dem Gesicht des kleinen Mädchens herum. Sie schaute mich nur mir großen, unschuldigen Augen an.

Süß, nicht wahr?, fragte Lalamika.

„Ich bin ein Misto“, fuhr Cayenne unerbittlich fort. „Ich bin nur zur Hälfte Lykaner, mein Vater war ein Mensch. Menschen und Vampire können sehr wohl Babys zeugen und das weißt du auch.“

Mein Blick hob sich zu Raphael. Er hatte schon immer eine helle Haut gehabt, doch nun war er weiß wie ein Laken.

„Nein“, sagte er, als könnte er es so ungeschehen machen. „Woher willst du wissen, dass es meine sind und nicht die Brut von deiner dreckigen Töle?“

„Zaira hat Vampirzähne“, sagte Cayenne ohne das geringste Zögern. „Sie trinkt Blut und hat sowohl deine Augen, als auch deine Haare. Sie ist eindeutig deine Tochter, daran führt kein Weg vorbei.“

Vorsichtig schob ich die Lippen von dem schwarzhaarigen Mädchen nach oben. Wirklich, Vampirzähne. Bei dem kleinen Goldlöckchen waren die Schneidezähne ein wenig spitzer als normal, aber eindeutig keine Vampirzähne. Das bedeutete, die Kleine in der Decke war Zaira. Demnach musste die andere Kiara sein.

Zweieiige Zwillinge, erklärte Lalamika.

„Ich hätte es dir schon früher gesagt, aber ich weiß es selber erst seit ihrer Geburt“, fuhr Cayenne fort. „Vorher habe ich geglaubt, ich sei von Sydney schwanger.“ Sie drückte die Lippen fest aufeinander und strich sich nervös die Haare hinter die Ohren. „Doktor Ambrosius hat es mir erklärt. Es kommt sehr selten vor, einfach weil Vampire und Lykaner sich einander so gut wie nie annähern, nicht Mal wenn sie nur Halbmenschen sind. Unsere Instinkte verbieten es uns. Du weißt selber, welche Probleme ich damals gehabt habe.“

Raphael schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. „Das kann nicht stimmen“, murmelte er leise.

Cayenne ging nicht darauf ein, sie war mit ihren Erläuterungen noch nicht fertig. „Es ist kaum bekannt, weil es nur sehr selten geschieht, aber manchmal passiert es eben doch und dann … naja.“ Sie deutete aufs Bett.

Um die Babys nicht zu erschrecken, stieg ich nur sehr langsam aus dem Bett. Meine Schritte waren auf dem dicken Teppich gar nicht zu hören und als ich Raphael am Arm berührte, reagierte er überhaupt nicht.

„Warum erzählst du mir das?“, fragte er leise und rieb sich über sein Gesicht. Seine Nerven lagen blank. „Sie sind meine Töchter? Und nun? Was erwartetest du jetzt von mir?“ Er riss die Arme hoch und wirkte auf einem Mal einfach nur noch wütend und verzweifelt, genau wie damals, als ich ihn in Frankreich mitten auf der Straße abgefangen hatte. „Soll ich wieder den alten Wohnwagen ziehen und hier einen auf glücklichen Familienvater machen? Soll ich einfach vergessen, was du mir angetan hast? Scheiße, Cayenne! Warum machst du das? Warum lässt du mich nicht endlich gehen?“

Darauf schien sie keine Antwort zu haben. Stattdessen tat sie etwas sehr Dummes. Sie streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihn an der Brust berühren.

Noch bevor ich ihren Arm wegschlagen konnte, tat Raphael das und dann explodierte er. „Komm mit nicht zu nahe!“

Die Wut in seiner Stimme, ließ sie einen Schritt zurück weichen. Aus dem Bett kam ein kurzes Quengeln, doch es war Diego, den ich im Auge behielt. Er hatte sich beweg und schien kurz davor, dazwischen zu gehen.

„Ich brauche deine Hilfe“, sagte Cayenne leise. „Seit der Geburt der Zwillinge habe ich diesen Raum nicht mehr verlassen. Das kann ich nicht, das Rudel darf niemals etwas von Zaira erfahren.“

„Was?“

Die gleiche Frage spukte auch in meinem Kopf herum.

„Kiara hat zwar etwas spitzere Schneidezähne, aber sie hat sich bereits mehrmals verwandelt. Nichts deutete darauf hin, dass sie mehr als ein Lykaner ist, aber Zaira …“ Sie verstummte kurz. „Ihre Abstammung lässt sich nicht verleugnen. Wenn das Rudel erfährt, dass sie meine Tochter ist, dann wird ihnen sofort klar sein, das ich kein reinrassiger Lykaner bin und einen Misto als Alpha würden sie niemals akzeptieren. Du weißt besser als alle anderen, dass es ein Geheimnis ist, das unter allen Umständen bewahrt bleiben muss. Wenn sie es erfahren, würde das ganze Rudel auseinanderbrechen. Das kann und will ich nicht zulassen. Wenn das Rudel keinen Alpha hat … die Folgen wären nicht auszudenken.“

Die Richtung, in die sich dieses Gespräch entwickelte, schien ihm gar nicht zu gefallen. „Und was soll ich da bitte tun? Ich bin ein Vampir, ich habe auf diesen Rudelmist überhaupt keinen Einfluss!“

Sie atmete ein paar Mal hektisch ein, als müsste sie sich selbst auf das Kommende vorbereiten. „Ich möchte dass du Zaira mit zu dir nimmst“, stieß sie dann eilig hervor. „Sie ist auch deine Tochter.“

Mir seiner folgenden Reaktion hatte wohl niemand gerechnet. Er lachte ihr fassungslos ins Gesicht. „Ich? Ich soll dein Baby mitnehmen? Wie stellst du dir das bitte vor? Ich kann doch nicht einfach ein Kind mit nach Hause bringen. Das ist doch kein Hund!“

„Du bist der Vater“, sagte sie ruhig.

„Und du die Mutter, verfluchte Scheiße!“ Er machte ein unruhigen Schritt zur Seite, nur um sich gleich wieder zurück zu drehen. „Wenn dir dein Kind etwas bedeutet, dann tritt doch einfach als Königin zurück!“

„Das kann ich nicht, und das weißt du auch. Es gibt keinen Nachfolger und das Rudel würde zerbrechen. Du kannst dir nicht vorstellen, was das bedeuten würde. Blutige Kämpfe, jeder Idiot würde glauben ein Anrecht auf den Thron zu haben. Das ist schon seit Jahrhunderten nicht mehr passiert und wir können uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das plötzliche Fehlen eines Alphas auslösen würde.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Glaub mir, ich habe dieses Problem in den letzten Tagen mehr als einmal gewälzt, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Ich muss sie dir geben, um den Frieden zu bewahren und meine Wölfe zu schützen – auch vor sich selbst.“

Wieder strich er sich mit der Hand über den Mund. „Ich fasse es einfach nicht.“

„Bitte, Raphael“, flehte Cayenne. In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Du darfst mich jetzt nicht im Stich lassen, es sind doch unsere Tochter.“

„ES GIBT KEIN UNS!“, brüllte er sie mir ausgefahrenen Fängen an, machte er einfach kehrt und stürmte aus dem Zimmer.

Ich heftete mich sofort an seine Fersen und auch Lalamika sprang eilig vom Bett und folgte uns. Ich hatte das Wohnzimmer gerade mal zur Hälfte hinter mir gelassen, da war er schon draußen auf dem Korridor. „Ys-oog!“

Lalamika flog an mir vorbei, direkt durch die Wand durch.

Gerade als ich in den Flur sprang, knallte es laut. Raphael stand nur ein Stück weiter und hatte eine Vase vom Tisch geschlagen. Die Scherben lagen über den ganzen Boden verteilt. Sein Kopf war in weißen Dunst gehüllt, doch nicht mal Lalamikas direkt Kontakt zu seinen Gedanken schien ihn beruhigen zu können.

Ich war vielleicht noch einen halben Meter entfernt, als er wütend eine Delle in die Wand schlug. Ohne zu zögern griff ich nach seinem Arm und schreckte auch nicht zurück, als er wütend zu mir herumfuhr, denn sobald er mich sah, verblasste diese verzweifelte Wut und ließ nichts als Kummer zurück. „Ich kann das nicht“, flüsterte er. „Das kann sie nicht machen.“

„Ich bin bei dir, Ys-oog.“ Sanft strich ich ihm über die Wange. Dieser Schmerz in seinen Augen tat mir selber weh. „Ich lass ich dich nicht allein.“ Als er gequält die Augen schloss, nahm ich ihn einfach in den Arm und drückte ihn ganz fest an mich. Sein ganzer Körper zitterte.

Hinter mir kamen Schritte auf. „Ryder“, rief Cayenne. „Wir müssen …“

Fauchend fuhr ich zu ihr herum. „Bleib weg von ihm!“

Sie blieb abrupt stehen und verengte die Augen ganz leicht. „Misch dich da nicht ein, Tarajika, das geht dich nichts an. Das ist eine Sache zwischen mir …“

„Und ob mich das etwas angeht, wenn du ihn so quälst!“ Die Krallen an meinen Fingern fuhren aus. „Merkst du gar nicht, was du ihm antust? Er will nichts mehr mit dir zu tun haben, aber du kapierst es nicht! Nicht nur dass du sein Herz zerbrochen hast, nein, du trampelst auch noch darauf herum! Du hast kein Recht mehr auf ihn, du hast dich für einen anderen entschieden und trotzdem kannst du nicht aufhören ihn leiden zu lassen. Sein Schmerz wird nicht vergehen, wenn du seine Wunden immer wieder aufreißt, also lass ihn verdammt noch mal endlich in Ruhe, oder du wirst lernen, warum mit Ailuranthropen nicht zu spaßen ist!“

Als Raphael nach meiner Hand griff, wurde Cayennes Blick eiskalt. „Du solltest mir nicht drohen.“

„Und du solltest lernen, dass du nicht alles haben kannst!“, fauchte ich sie an und spürte wie mein Fell durch die Haut brach.

Raphael zog an meiner Hand und auch wenn ich der Königin am liebsten das Gesicht zerkratz hätte, ließ ich mich widerstandslos mitnehmen.

Cayenne wollte oder konnte jedoch nicht aufgeben. „Ryder, bitte, du kannst doch nicht …“

Diesen Mal war Raphael es, der zu ihr herumfuhr. „Halt dich von mir und von meiner Familie fern, ich stehe dir nicht länger zur Verfügung!“

„Aber Zaira …“

„Ist allein dein Problem!“ Ohne ein weiteres Wort, stürmte er die Treppe hinunter. Er achtete nicht mal darauf, dass meine Beine viel kürzer als seine waren und ich deswegen mehr als einmal ins Stolpern geriet. Er wollte diesen Ort einfach nur hinter sich lassen.

In der Eingangshalle wartete er nicht mal darauf, dass man uns das Portal öffnete, er zog es kurzerhand selber auf. Noch bevor wir am Motorrad waren, riss er den Schlüssel aus der Hosentasche. Er nahm sich nicht mal die Zeit die Helme hervorzuholen und schwang sich einfach direkt in den Sattel. Ich musste schnell hinter ihm aufspringen und hatte kaum die Arme um seinen Bauch geschlungen, da jagte er auch schon den Motor hoch und fuhr so schnell los, dass der Kies spritzte.

Da die Tor wegen uns noch offen waren, konnte er direkt hindurchfahren. Ich drückte das Gesicht in seinen Rücken und spürte, wie sein ganzer Körper bebte. Was auch immer ich erwartet hatte, das hier war schlimmer, als meine schlimmsten Vorstellungen.

Jetzt wurde mir auch klar, warum mir die Geister noch immer Visionen geschickt hatten. Das Band zwischen den Beiden, ich konnte es nicht trennen. Diese Babys waren eine unzerstörbare Verbindung zwischen ihnen.

Noch bevor wir die Silenda erreichten, bremste Raphael plötzlich so abrupt ab, dass das Hinterrad herumrutschte und wir quer über der Straße standen. Ich stieß einen überraschten Schrei aus und klammerte mich dabei so fest ich konnte an Raphael fest.

Er schien es nicht mal zu merken. „Fuck!“, rief er wütend und schlug mit der Faust auf sein Lenker. „So eine Scheiße!“ Seine Schultern waren so angespannt, dass ich schon befürchte, er würde jeden Moment einfach zerspringen. Ich musste ihn beruhigen. Also löste ich eine Hand und begann ihm sanft über den Nacken zu streichen. Manchmal hatte er das gerne.

Das Zittern verschwand nicht, aber nach ein paar Minuten ließ seine Anspannung ein wenig nach. „Ich kann nicht einfach verschwinden und mein Baby nicht im Stich lassen, ich bin nicht wie mein Vater“, sagte er auf einmal gequält.

Einen Moment zögerte ich. Dann fragte ich vorsichtig: „Möchtest du dass wir zurück fahren?“

„Nein“, sagte er sofort, ließ dann aber kraftlos den Kopf hängen.

„Was möchtest du dann tun?“

Seine Antwort bestand aus einem Schnauben. „Wenn ich das nur wüsste“, murmelte er. „Aber ich kann nicht gehen, nicht wenn das wirklich meine Kinder sind.“

Es fiel mir nicht ganz leicht, trotzdem sagte ich. „Ich habe zwar nicht so viel Ahnung davon, aber ich habe sie gesehen. Zaira sieht genauso aus wie du.“

Seine Schultern spannten sich wieder ein wenig an. „Ich habe sie mir nicht mal angesehen“, sagte er leise. „Aber ich war einfach so …“ Ihm schienen die Worte zu fehlen.

Ich schlang meine Arme wieder um ihn und kuschelte mich an seinen Rücken.

„Lass uns ein wenig rumfahren, Ys-oog. Du fährst doch gerne herum, wenn du nachdenken musst.“

„Okay“, sagte er leise und fuhr wieder an.

 

°°°

 

„Sergio am Apparat.“

„Ähm, ja … sind da die Themis?“

„Ja. Kann ich ihnen helfen?“

Oh gut, also hatte ich doch richtig gelesen. „Ich würde gerne mit Murphy sprechen.“ Mit dem Handy am Ohr, huschte mein Blick zu Raphael, der sein Glas einfach zur Seite schob und die Flasche dieses Mal direkt an den Mund setzte.

„Moment, ich schau mal, ob er im Haus ist.“ Es klickte einmal, dann drang durch das Handy eine seltsam nervtötende Melodie an mein Ohr. Ich wagte es nur einen Moment es irritiert in Augenschein zu nehmen, bevor ich mich wieder auf Raphaels gebeugte Gestalt konzentrierte. Warum hörte ich denn plötzlich Musik?

Wir waren nicht sehr lange herumgefahren, bevor Raphael auf diese Kneipe aufmerksam geworden war und sich an der Bar mit einer Flasche Brandy eingedeckt hatte.

Anfangs hatte ich nur still neben ihm gesessen, doch mittlerweile war er irgendwie komisch geworden. Ich hatte bereits betrunkene Leute gesehen, doch Raphael war gerade dabei die Grenze zwischen gut und Böse zu überschreiten, also hatte ich ihm sein Handy geklaut und versucht Amber anzurufen – leider ohne Erfolg. Der Einzige, der dann noch geblieben war, war Tristan. Zwar hatte es mich nicht gerade fröhlich gestimmt ihn anrufen zu müssen, aber eine große Wahl blieb mir ja nicht. Also hatte ich in den Kontaktdaten gescrollt, bis ich bei T angekommen war. Bevor ich jedoch Tristan gefunden hatte, war ich auf die Themis gestoßen und musste unweigerlich an Murphy denken – wahrscheinlich, weil wir ihn vorhin erst getroffen hatten. Was war also besser gewesen? Sein Bruder, der erst Stundenlang herfahren musste, oder Murphy, der ganz in der Nähe war?

Die Antwort war nicht weiter schwer.

Die Melodie brach ab. „Hallo?“

„Murphy?“

„Oh, Tarajika.“ In seiner Stimme klang ein Lächeln mit. „Erst hört man monatelang gar nichts von dir und nun schon zum zweiten Mal an einem Tag. Was gibt es?“

„Kannst du herkommen?“

Als Raphael anfing an dem Etikett der Flasche zu pulen, wirkte er einfach nur niedergebeugt.

„Wohin.“

„Zu mir.“

Er lachte leise. „Vielleicht solltest du ein wenig genauer werden.“

„Nach Silenda.“ Ich rückte ein wenig näher an Raphael und strich ihm mit der freien Hand über die Wange. Er reagierte überhaupt nicht. „Ich weiß nicht was ich machen soll.“

„Was ist den los?“

„Ys-oog geht es nicht gut. Er hat schon fast eine Flasche leer getrunken.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er wieder etwas sagte. „Wenn du von Flasche sprichst, meinst du sicher keine Limo, oder?“

„Nein, Alkohol. Er will nicht gehen.“

Murphy seufzte. „Okay, wo in Silenda seid ihr denn?“

„In einer Bar. Ich weiß nicht wie sie heißt, aber ich kann rausgehen und gucken.“

„Nein, bleib mal bei ihm, wir orten euer Handy einfach. Bin gleich bei euch.“

„Okay, danke. Bis gleich.“ Ich legte auf und steckte das Handy wieder zurück in seine Jackentasche. Dann rutschte ich halb hinter ihn und schlang meine Arme um ihn, während er erneut eine Schluck aus der Flasche nahm.

So still und grübelnd hatte ich ihn noch nie erlebt und das fand ich unheimlicher, als wenn er rumgebrüllt hätte.

Ich hatte gleich gewusst, dass es keine gute Idee war, zu Cayenne zu fahren, doch nachdem was wir erfahren hatten, musste ich mir auch eingestehen, dass es dir richtige Entscheidung gewesen war – auch wenn ich nicht wusste, was nun passieren sollte.

Auch wenn es sich grausam anhörte, Cayenne hatte recht. Solange es keinen Nachfolger für den Thron gab, war es unverantwortlich zurückzutreten. Aber eines der Zwillinge an Raphael abzugeben … ich wusste nicht wirklich, was ich davon halten sollte. Sie gehörten doch zusammen, genau wie Lalamika und ich. Und wenn man es genau betrachtete, dann waren die beiden auch wie Lalamika und ich. Die eine ein leuchtendes Licht, der jetzt schon eine rosige Zukunft bevorstand. Und die andere … schwarz.

Auf einmal fühlte ich mich so sehr an mich selber erinnert, dass ich mich ein wenig fester an Raphael drückte. So wie Zaira geboren war, war sie falsch und musste weg, um das empfindliche Gleichgewicht nicht zu stören. Dabei war sie doch nur ein unschuldiges Baby, das nichts dafür konnte, in diese Welt hineingeboren worden zu sein.

Ich diesem Moment schwor ich mir, dass ich niemals zulassen würde, dass man ihr das gleiche antat wie mir. Egal was passieren würde, ich dafür sorgen, dass sie ein gutes Leben haben würde.

Warum nur hatten die Alten mir nie eine Warnung zukommen lassen? Da sie mir noch immer Visionen schickten, mussten sie von den Mädchen gewusst haben. Hatten sie es einfach nicht für wichtig gehalten? Oder hatten die Zwillinge gar nichts damit zu tun?

Die ganze Zeit war alles so gut gelaufen und nun schien es mit jeder Minute komplizierter zu werden. Das musste doch irgendwann Mal ein Ende haben.

Als die Tür zur Bar aufging und Murphy hereinkam, bemerkte ich ihn sofort. Wahrscheinlich, weil ich die Tür in der letzten halben Stunde nicht aus den Augen gelassen hatte. Ich hob den Arm, um ihn auf uns aufmerksam zu machen.

Schon beim Näherkommen musterte er Raphael mit der Flasche und nickte mir zum Zeichen, dass er uns bemerkt hatte, einmal zu.

Raphael kniff die Augen leicht zusammen, als ihm gegenüber der Stuhl unter dem Tisch hervorgezogen wurde, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Er setzte einfach noch mal die Falsche an den Mund und nahm einen weiteren Schluck aus der fast leeren Flasche.

Murphy tauschte mit mir einen kurzen Blick. „Gibt es hier etwas zu feiern?“

Nur langsam hob Raphael das Gesicht und richtete den Blick auf seinen Gegenüber. Er schien Probleme zu haben, Murphy zu fokussieren. „Ja“, sagte er dann mit schwerer Zunge und einem besorgniserregenden Lallen. „Ich bin Papa geworden. Von Zwillingen!“ Wobei Zwillinge sich eher wie Schwillingn anhörte. Wieder hob er die Falsche an den Mund und kleckerte dabei ein paar Tropften auf seine Jacke. „Sowas muss man doch feiern.“

Ich tauschte einen vielsagenden Blick mit Murpy und strich dabei sanft über Raphaels Bauch.

„So so, Vater, hm?“ Murphy lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Und wer ist die Glückliche, wenn man fragen darf?“

„Das errätst du nie“, teilte er ihm nuschelnd mit.

„Na dann sag es mir doch einfach.“

„Cayenne.“ Seine trüben Augen wurden ein kleinen wenig dunkler. „Alle glauben, dass die hässliche Töle der Papa ist, aber das stimmt nicht, ich bin das!“ Er klopfte sich sehr nachdrücklich auf die Brust, was zur Folge hatte, dass uns die drei Männer vom Nachbartisch einen Moment ihrer Aufmerksamkeit schenkten. „Das sind meine Babys, alle beide!“

Murphys Augen wurden eine Spur größer. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. „Du willst mich doch auf den Arm nehmen“, stieß er dann ungläubig hervor. Als er nichts weiter dazu sagte, wandte er sich direkt an mich. „Kannst du mir bitte erklären, was hier los ist?“

„Das was er sagt. Darum versteckt sie sich die ganze Zeit.“ Als Raphael ein wenig an mich lehnte, warf ich ihm einen besorgten Blick zu. „Zwei kleine Mädchen, eine von ihnen ist unbestreitbar zum Teil Vampir.“

Murphy starrte uns einfach nur an. Dann konnte er nur noch eines sagen: „Schöne Scheiße.“

„Hey, nicht in diesem Ton!“, bluffte Raphael ihn an und hob sehr unkontrolliert einen Finger. „Ich bin Vater geworden, also auf meinen Nachwuchs!“ Seine Worte wurden immer undeutlicher und als er erneut zur Flasche griff, warf ich Murphy einen hilfesuchenden Blick zu.

„Er ist schon die ganze Zeit so, ich weiß nicht was ich tun soll.“

Das Problem schien Murphy nicht zu haben. Als Raphael die Flasche wieder anheben wollte, griff er einfach über den Tisch und nahm sie ihm kurzerhand weg.

„Hey, gib die wieder her!“ Raphael versuchte danach zu greifen und fiel dabei auch noch halb auf den Tisch, wodurch der knarrend ein Stück über den Boden geschoben wurde.

Murphy hielt die Flasche ohne große Anstrengung einfach außerhalb seiner Reichweite. „Nichts da, du hast genug. Wir bringen dich jetzt erst mal an die frische Luft, damit du wieder zu dir kommst. Du bist hier drin ja schon eine Gefahr für die Brandschutzbestimmungen.“

„Ich lass mich von dir nicht herumschubsen, ich gehe wann es mir gefällt und jetzt gib die wieder her!“

Murphy ignorierte ihn einfach und stellte die Flasche mit den Worten „Lasst es euch schmecken, Jungs“ auf den Nachbartisch. Dann umrundete er den Tisch und griff nach Raphaels Arm. Allerdings hatte Raphael keine Lust zu gehen und versuchte sich gegen Murphy zu wehren. Zu seinem Pech waren Lykaner selbst im nüchternen Zustand stärker als Vampire, so betrunken wie er war, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich von ihm nach draußen schleifen zu lassen.

Ich heftete mich ihnen sofort an die Fersen.

„Ihr seid mit dem Motorrad hier, oder?“, fragte Murphy mich.

Ich nicke. „Es steht da drüben.“

„Ich fahre“, verkündete Raphael.

„Aber sicher doch. Und anschließend kratzen wir deine Einzelteile vom Asphalt und setzten dich im Krankenhaus wieder zusammen“, spottete Murphy und schleifte ihm dann zu einem schwarzen Wagen am Straßenrand. Es war bereits so spät, dass kaum noch Leute hier draußen waren.

Während er Raphael mit dem einen Arm balancierte, zog er mit der anderen Hand einen Schlüssel aus der Hosentasche und sobald der Wagen offen war, wuchtete er ihn auf die Rückbank. „Wenn du kotzen musst, sag mir rechtzeitig Bescheid.“

Raphael beachtete weder ihn, noch seine Versuche ihn auf der Rückbank festzuschnallen. Er streckte die Hand nach mir aus. „Du kommst doch mit“, nuschelte er mit schwerer Zunge und schaute mich schon beinahe flehentlich an.

Nein, in diesem Zustand gefiel er mir absolut nicht. Ich hatte ihn noch nie so hilflos erlebt.

„Lass bitte die Fenster runter“, sagte Murphy, als ich an ihm vorbei in den Wagen schlüpfte und dann ging es an den wohl einzigen Ort, den Raphael im Moment absolut nicht besuchen würde: Der Hof der Lykaner. Doch er war so betrunken, dass er um sich herum gar nichts mehr mitbekam. Er nuschelte nur die ganze Zeit unverständliches Zeug vor sich hin, hielt meine Hand vor und kurz bevor wir durch die Hintertür in den Hof fuhren, begann er auf einmal zu singen. Irgendwie war das schon lustig.

Als wir dann vor dem HQ standen, einem einfachen Betonklotz mit Türen und Gittern vor den Fenstern, half Murphy ihm beim Aussteigen. Das war der Moment, in dem Raphael Magen ins Trudeln geriet. Eben noch trällerte er munter vor sich hin und im nächsten Moment kotzte er Murphy vor die Füße.

Ich schaffte es noch rechtzeitig zur Seite zu springen, Raphael jedoch saute sich selber ein.

„Einfach nur phantastisch“, knurrte Murphy und trug Raphael halb in das Gebäude hinein.

Ich schaute mich neugierig in den Fluren und Räumen um, an denen wir vorbei kamen. Zwar kannte ich das HQ von außen, aber drinnen war ich noch nie gewesen.

Um die Zeit war es hier ziemlich ruhig. Nur vereinzelt liefen ein paar Leute herum und die Zentrale war von nur zwei Männern besetzt.

„Kannst du mir mal helfen“, fragte Murphy einen etwas jüngeren Mann, als wir an der Zentrale vorbei kamen.

„… come the Man in Black“, sang Raphael nuschelnd.

Der Kerl am Schreibtisch rümpfte die Nase. „Ist das Ryder?“

„Hör auf dumme Fragen zu stellen.“ Er zog Raphael ein wenig höher. „Gib dem Kätzchen mal ein Zimmer, während ich unsere Nachtigall unter die Dusche stelle.“

„… good guys dress in black, remember that …“

Ich schaute unsicher zwischen ihnen hinterher. Ob das so eine gute Idee war, Raphael allein zu lassen? Lalamika saß zwar noch immer in seinem Kopf, aber ich bezweifelte, dass sie in diesem Zustand irgendeinen Einfluss auf ihn nehmen konnte.

„Unten sind glaub ich noch ein paar frei“, erklärte der Kerl und erhob sich von seinem Platz.

„… what you think you saw, you did not see … oh Gott, mir wird schlecht.“

Murphy schaute sofort alarmiert auf, doch wie es schien, musste Raphael sich nicht noch mal übergeben, sondern nur mal kräftig aufstoßen.

Wir gingen alle gemeinsam nach unten in die Kelleretage, doch an einer T-Gabelung verschwand Murphy mit Raphael nach links zu den Duschen, währen der junge Mann mich nach rechts in ein leeres Zimmer mit einem Etagenbett führte. Es gab hier noch einen Schrank, dafür aber keine Fenster. Der Raum war wirklich klein. „Frische Laken und Bettwäsche findest du im Schrank“, erklärte er ein wenig mürrisch. Es war die gleiche Stimme wie die, die ich vorhin am Telefon gehabt hatte. „Brauchst du sonst noch etwas?“

„Raph- … ich meine Ryder.“ Der Name fühlte sich äußerst ungewohnt an.

„Den wird Murphy dir gleich bringen. Wenn sonst noch was sein sollte, es ist immer jemand in der Zentrale.“

„Okay.“

„Na dann.“ Und ohne weitere Worte, verschwand er einfach wieder und ließ die Tür offen stehen.

Einen Moment wusste ich nicht so recht was ich tun sollte und überlegte schon, ob ich nicht auch zu den Duschen gehen sollte, aber so wie es aussah, würden wir, entgegen unserer Pläne, die Nacht hier verbringen. In diesem Zustand konnte Raphael nicht nach Hause fahren. Also besann ich mich auf das was der Mann gesagt hatte und bezog das untere Bett. Es war ziemlich schmal, aber das war kein Problem. In seinem großen Bett, brauchten wir auch nicht mehr Platz.

Ich versuchte gerade die Bettdecke zu beziehen – das war wirklich kompliziert – als Murphy mit dem torkelnden Raphael auftauchte. Der Lykaner trug nur noch eine Hose, eine sehr nasse Hose. Der Vampir trug bis auf ein notdürftig umgewickeltes Handtuch gar nichts mehr.

„… you and me, we used to be together …“

„Komm schon, Beethoven, ab ins Bett mit dir.“ Murphy nahm Raphaels Arm von seiner Schulter und wuchtete den Vampir dann ins untere Bett.

Wie ein Schluck Wasser, landete er auf der Matratze. „… cant't believe. This could be the end.“ Die Worte waren mittlerweile so genuschelt, dass man sie kaum noch verstehen konnte.

Murphy atmete einmal tief ein. „Lass ihn einfach seinen Rausch ausschlafen. Morgen hat er vielleicht ein paar Kopfschmerzen, aber ansonsten wird er wieder normal sein.“

„Danke“, sagte ich ehrlich und schaffte es endlich die Decke ordentlich in den Bezug zu schütteln.

„Ich kümmere mich mal um seine Sachen. Pass du einfach auf, dass er liegen bleibt.“ Er schaute zu Raphael, der jetzt nur noch leise vor sich hin summte und mich dabei mit glasigen Augen beobachtete. „Obwohl ich ja nicht glaube, dass er heute noch irgendwo groß hinkommt.“

Da hatte er wahrscheinlich recht. „Sowas hat er noch nie gemacht.“

„So eine Nachricht kann auch ein ziemlicher Schock sein. Zwillinge.“ Das letzte Wort war nur ein Murmeln. Es schien es immer noch nicht richtig fassen zu können. „Naja, falls du etwas brauchst, komm einfach bei mir klopfen. Mein Zimmer ist drei Türen weiter.“

„Okay.“

„Gut, dann wünsche ich euch eine gute Nacht.“ Er grinste schief und drückte mir kurz die Schulter. „Oder das was noch davon übrig ist.“

Sobald wir alleine waren, knöpfte ich den Bezug zu und deckte Raphael damit zu. Die ganze Zeit hatte er sich nicht bewegt, doch nun drehte er sich auf die Seite und griff etwas unbeholfen nach meinem Arm. „Geh nicht weg“, murmelte er mit schwerer Zunge.

„Ich wollte mir nur die Jacke und die Hose ausziehen.“

„Aber du gehst nicht weg“, versicherte er sich noch mal.

„Versprochen“, versicherte ich ihm. Trotzdem gab er mich nur zögerlich frei.

Bis auf Slip und Top entledigte ich mich all meiner Kleidung und setzte mich dann auf die Bettkante. Das Licht an der Decke ließ sie einfach an. Es gab hier weder Fenster, noch eine Nachtschlampe und seit meiner Kindheit mochte ich enge und dunkle Orte nicht mehr. Bevor ich die Gelegenheit bekam, zu ihm unter die Decke zu schlüpfen, wickelte er seine Arme um mich und vergrub sein Gesicht ich meinem Schoß. Er wirkte völlig hilflos.

Vorsichtig legte ich ihm eine Hand ins Haar und stich vorsichtig hindurch. „Es wird alles wieder gut“, sagte ich leise.

Er drückte mich nur ein wenig fester.

Ein paar Minuten blieb ich einfach so sitzen, doch nach einer Weile drückte sich das Bettgestell in meine Beine, als versuchte ich ihn zur Seite zu schieben, doch er wollte nicht loslassen. Am Ende schaffte ich es aber mich neben ihn zu drängeln. Naja, so mehr oder weniger.

Normalerweise war ich es ja, die auf ihm lag, heute war es genau umgekehrt. Zwar lag sein Kopf jetzt auf meinem Bauch, aber losgelassen hatte er mich noch immer nicht. Das musste für ihn eigentlich ziemlich unbequem sein.

Gähnend klopfte ich mir das Kissen zurecht und legte meinen Kopf darauf. Raphaels Atem war mittlerweile ein wenig tiefer geworden, aber ich war mir nicht sicher, ob er wirklich schon schief. Ich begann leise zu schnurren und strich ich weiter durchs Haar. So schwarz wie die Nacht, draußen vor den Fenstern. Nur die Sterne spendeten ein wenig Licht. Der Mond lag verborgen hinter einer dichten Wolkenbank.

Noch regnete es nicht, aber es würde sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.

„Wir haben seine Spur an der Grenze zu Italien verloren.“ Der weißhaarige Mann mit den vielen Falten im Gesicht, verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Er hat die Sucher ausgetrickst und entkam durchs Wasser. Wir wissen noch nicht genau wie ihm das gelungen ist.“

Cayennes Finger krampften sich an das Fensterbrett, bis sie ganz weiß waren. „Ich habe euch gesagt, dass er schlau ist“, flüsterte sie so leise, dass man es kaum verstehen konnte. „Ich habe euch gesagt, dass er schnell ist.“ Sie wirbelte zu den Anwenden in den Thronsaal herum. „WIE ALSO KONNTET IHR IHN ENTWISCHEN LASSEN?!“ Ihre Stimme hallte von den Wänden wieder und löste ein bedrücktes Schweigen aus.

„Cayenne.“ Der braunhaarige Umbra Diego, trat zu ihr und wollte ihr seine Hand auf die Schulter legen, doch sie wandte sich eilig von ihm ab. Sie wollte nicht berührt werden, das würde den Schmerz in ihrem Herzen nur noch schlimmer machen.

Sie kniff ihre Augen zusammen, um die Tränen am Laufen zu hindern. Wie hatte Raphael ihr das nur antun können? Das ganze Blut und … oh Gott. Hastig hielt sie sich eine Hand vor den Mund, doch der Schluchzer ließ sich nicht mehr aufhalten, als diese grauenvollen Bilder wieder in ihre Gedanken traten. Die blutverschmierte Brechstange und sein Kopf … er hatte ihm den Kopf … nun begann sie doch zu weinen. Dieser Anblick würde sie wohl bis ans Ende ihres Lebens verfolgen.

Als Diego sie wieder berührte, ließ sie sich von ihm in die Arme nehmen, aber leider konnte sie das nicht trösten. Wenn sie nur an das viele Blut dachte. Sein ganzes Fell war damit voll gewesen und die Wand und … oh Gott, sie würde ihn nie wieder in den Arm nehmen können, oder sein Lachen hören.

„Wir werden ihn finden“, versprach Diego leise. „Er wird für seine Tat bezahlen.“

Aber das brachte ihn auch nicht zu ihr zurück. Er war auf ewig verloren.

„Wir haben ja auch noch nicht aufgegeben“, fügte der weißhaarige Mann hinzu. Sein Name war Edward und er war der Großwächter der Königin. „Niemand aus dem Rudel wird aufgeben, bis wir diesen Mörder gefunden haben.“

„Aber Raphael ist nicht dumm.“ Cayenne versuchte ihren Tränen Einhalt zu gebieten. Auch wenn es ihr gerade einfach nur die Seele zerriss, sie durfte nicht zusammenbrechen, nicht bevor sie ihm das Herz mit eigenen Händen aus der Brust gerissen hatte. Er sollte den gleichen Schmerz verspüren, den auch sie füllte.

„Vielleicht ist er nicht dumm“, erwiderte der Großwächter. „Aber er kann nicht ewig davon laufen.“

„Und es gibt Mittel und Wege ihn herauszulocken.“ Das kam von einem Jungen, der gerade dabei war die Grenze zum Mannesalter zu überschreiten. Auch sein Haar war weiß, aber nicht vom Alter, er hatte so schon diese Welt betreten.

Als einziger im Raum war der Ausdruck in seinem Gesicht nicht von Gefühlen beeinflusst, denn er war schon immer einer kühlen Logik gefolgt.

„Was meint ihr damit?“, wollte Diego wissen.

Cayenne drehte sich aus einen Armen und richtete den verweinten Blick auf ihren Cousin.

„Er hat eine Mutter, bis vor kurzen hat er noch bei ihr gelebt.“ In seine Augen trat Berechnung. „Es ist also davon auszugehen, dass sie ihm wichtig ist.“

Als Cayenne verstand, was er damit sagen wollte, hätte sie eigentlich entsetzt sein sollen, doch die Trauer über ihren Verlust vernebelte ihren Verstand. Samuel hatte recht, aber … würde das reichen? Was wenn sie ihm nicht wichtig genug war? Oder er sich bei anderen Vampiren Schutz suchte. Schon in ihrer Jugend hatte sie die Raserei erlebt, in die Vampire verfallen konnten. Ein Rauch aus Blut, in dem er nichts mehr um sich herum wahrnahm. Dann waren sie unberechenbar und auch wenn ein Lykaner eigentlich stärker war, mit ihrer Schnelligkeit konnten sie nicht mithalten.

Die Gefahr die von ihnen ausging … plötzlich verstand Cayenne nicht, warum ihr das noch nie aufgefallen war. Raphael hatte ihr erst ein Teil ihrer Selbst nehmen müssen, damit sie es verstand. Doch jetzt und hier sah sie mit einem Mal glasklar.

„Wir müssen sie vernichten“, murmelte sie. Ihre Stimme klang rau und ihre Wangen waren noch nass, aber in ihrem Geist brannte mit einem Mal ein Feuer, dass all den Kummer verzerrte und nichts als Zorn und dem kalten Gedanken nach erbarmungsloser Rache übrig ließ. „Sie müssen alle sterben.“

Die Männer um sie herum schauten sie an.

Es war der Großwächter, der nun wieder das Wort ergriff. „Majestät?“

„Die Vampire.“ Ungeduldig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und drehte sich zu ihnen herum. „Sie müssen sterben. Jeder einzelne von ihnen.“

Die Blicke die ihr daraufhin begegneten, konnte man nur schockiert nennen. Selbst ihr Cousin schien nicht zu wissen, was er denken sollte.

„Cayenne“, begann Diego. „Ich verstehe, dass du …“

Sie schnitt ihm mit einer Bewegung der Hand die Worte ab. „Nicht nur Raphael, sie alle sind eine Gefahr“, sagte sie leise und und schaute jeden einzelnen von ihnen in die Augen, bis sie ihre Blicke ergeben senkten. Nur ihr Cousin brauchte einen Moment länger. Als geborener Alpha fiel es ihm nicht ganz einfach sich unterzuordnen. „Die Statistik beweist es doch, die Mehrzahl der Skhän sind Vampire. Diego, du selber bis fast gestorben, weil du ihrem Rasch verfallen warst.“

„Das war die Gedankenlosigkeit eines dummen Jungen“, sagte er leise.

„Aber es ist wie eine Droge.“ Aufgeregt begann sie im Raum auf und ab zu laufen. „Sie können uns von sich abhängig machen, ohne das wir uns dagegen wehren können.“

„Majestät“, versuchte es nun auch Großwächter Edward. „Ich verstehe Euren Schmerz und Eure Trauer, aber wir können uns keine ganze Spezies zum Feind …“

„Raphael ist ein Vampir und er hat ihn getötet!“, schrie sie ihn an. Eine mächtige Welle von Odeur brach aus ihr hervor und zwang jeden einzelnen von ihnen in die Knie. Es war so heftig, dass sich an ihren Schläfen feine Schweißtröpfen bildeten. „Er hat ihn einfach getötet“, wiederholte sie leise und verweigerte dem Schmerz den Zugang zu ihrem Herzen.

Als sie die drei vor sich knien sah, wurde ihr klar, dass dies der falsche Weg war. Wenn sie versuchte ihre Wölfe zu zwingen, würde es sicher welche geben, die sich ihr widersetzen. Aber sie brauchte sie, jeden einzelnen von ihnen, denn nur so konnte sie die Gefahr ein für alle Mal ausschalten.

„Es war nicht das erste Mal, dass er dem Rudel geschadet hat“, sagte sie nun viel sanfter und ruhiger. „Damals, noch bevor ich das erste Mal an den Hof gekommen bin, hat er sein Zeichen auf mir hinterlassen.“

Die geduckten Köpfe schnellten alle gleichermaßen entsetzt zu mir hoch.

„Er hat mich markiert“, fuhr sie unbeirrt vor. „Heimlich und ohne mein Wissen. Ich habe es erst später herausgefunden.“

Samuel zog die Lippen zurück und begann tief aus der Kehle zu knurren. Es war ein Frevel das Blut eines Alphas auf diese Art zu schänden. Kein Wolf in ihrem Rudel würde das gutheißen.

Damit war Cayenne aber noch nicht fertig. Den Hass ihrer Wölfe auf Raphael brauchte sie nicht weiter schüren, doch sie musste ihnen noch klar machen, dass er nicht der einzige war, von dem eine Gefahr ausging. „Ich war neunzehn, als ein Mann auf mich aufmerksam wurde und versuchte mich zu vergewaltigen. Auch er war ein Vampir gewesen.“ An diesem Tag hatte Raphael sie zwar gerettet, aber nachdem was er getan hatte, war das heute ohne Bedeutung.

Nun knurrten sie alle.

„Und jetzt sagt mir noch einmal, dass die Vampire für uns keine Gefahr darstellen. Sie schänden und töten uns. Sie saugen uns das Blut aus und tarnen es mit Euphorie. Wenn sie wollen, können sie mit nur einem Biss jeden von uns wehrlos machen.“

Die Tür zum Thronsaal wurde geöffnet. Cayenne wirbelte herum, um herausfinden, wer es wagte sie genau in diesem Augenblick zu stören, doch als sie sah, wie Sydney mit dem dicken Verband an der Schulter langsam herein humpelte, wurde ihr Blick sofort ein wenig weicher. Auch ihn hatte Raphael töten wollen, doch es war ihm nicht gelungen. Viel gefehlt hatte allerdings nicht mehr.

„Sie fügen dem Rudel immer wieder Schaden zu. Das können wir nicht länger erlauben.“ Ihre letzten Worte waren nur noch ein Flüstern.

„Wie lauten Eure Befehle“, fragte ihr Großwächter. Auch in seinen Augen lauerte nun die Wut. Das Rudel würde es nicht erlauben, dass die Blutsauger sich an ihren Alphas vergriffen.

„Tötet sie“, sagte sie mit eisig kalter Stimme. „Keiner von ihnen soll verschont werden. Fangt mit dem Hof und Silenda an, ich will, dass alles bis zum Abend gesäubert ist.“

„Was ist mit den Menschen?“, wollte Diego wissen. „Wenn wir das tun, wird es früher oder später unweigerlich passieren, dass sie aufmerksam werden.“

„Die Menschen haben nichts zu befürchten, nicht solange sie sich uns nicht in den Weg stellen.“

„Aber wenn die Menschen von der verborgenen Welt erfahren …“

„Dann ist es halt so!“, unterbrach sie ihn grob. „Wir haben uns lange genug im Schatten der Welt versteckt. Wenn wir sowieso damit beginnen eine neue Weltordnung zu erschaffen, dann ist es vielleicht sogar das Beste, es gleich richtig anzupacken.“

Sydney trat direkt neben sie und bedachte sie mit einem Blick, der ihr Innerstes zu durchleuchten schien. „Was hast du vor?“, fragte er leise.

Vorsichtig strich sie durch das dicke Fell in seinem Nacken. „Ich werde dieser Farce eine Ende setzen. Endgültig.“ Und sie würde sich von niemanden aufhalten lassen.

Das Bild begann zu verschwimmen und sich langsam aufzulösen. Der Thronsaal verblasste, die Farben blichen aus, bis alles zu einem weißen Nebel wurde.

Ich schlug blinzelnd die Augen auf und wurde sofort von dem Licht der Deckenlampe geblendet. Vor mir war eine weiße Wand und das Bett … es roch fremd. Blinzelnd versuchte ich mich zu orientieren, doch bevor ich mein von der Vision vernebeltes Hirn zum Denken bringen konnte, spürte ich die federleichte Berührung an meinem Schenkel. Ein angenehmer Schauder lief mir über den Rücken.

Halb verschlafen hob ich den Kopf und sah Raphaels Finger, die immer wieder sanft über mein Bein strichen. Die Haut dort war so sensibel, dass mir sofort klar wurde, er machte das schon eine ganze Weile. Er lag neben mir. Sein Gesicht war auf der Höhe meines Bauches und sein Blick folgte nachdenklich seiner eigenen Bewegung.

Oben vom Etagenbett hing ein beinahe durchsichtiges Hinterbein und ein Schwanz herunter. Lalamika hatte es sich über uns bequem gemacht und wachte über unseren Schlaf.

„Geht es dir gut?“, fragte ich ihn leise. Er wirkte irgendwie … abwesend, seine Augen jedoch waren nicht mehr länger vom Rausch des Alkohols getrübt. Wie lange hatte ich nur geschlafen? Ohne Fenster war das wirklich nicht einfach zu bestimmen.

Statt zu antworten, wanderten seine Finger immer weiter nach oben. Verwundert beobachtete ich, wie er mein Top ein wenig nach oben schob, bis kühle Luft meinen Bauch streifte. Er schloss die Augen, beugte sich vor und hauchte einen federleichten Kuss auf die kaffeebraune Haut.

 

°°°°°

Eins zum Mond und eins zum Blut

 

Das Gefühl traf mich bis ins Mark. Diese kleine Berührung reichte, um meine ganze Haut kribbeln zu lassen. Als er seinen Mund leicht öffnete und ich seinen warmen Atem spüren konnte, wurde es sogar noch schlimmer.

„Ys-oog?“, fragte ich leise und ein kleinen wenig unsicher. Ich wusste nicht was ich davon halten sollte. Sowas hatte er noch nie gemacht.

Ein zweiter Kuss streifte meinen Bauch wie eine zarte Liebkosung. Seine Hand strich über meine Seite auf meinen Rücken und hinterließ ein leichtes Prickeln. Es war angenehm.

Nach einem dritten Kuss, direkt auf meinen Bauchnabel, schob er sich langsam an mir hoch. Dabei drehte er mich nicht nur auf den Rücken, er sog auch meinen Geruch ein, als würde er ihn berauschen.

Mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Als seine Lippen mein Schlüsselbein streiften und zu meiner Halsbeuge wanderten, bekam ich eine Gänsehaut. „Hast du Hunger?“ Anders konnte ich mir das nicht erklären, auch wenn es anders war, als die vier Male, an denen er mich gebissen hatte.

„Nein“, raunte er und streifte mit den Lippen genau die Stelle, die er betäuben würde, wenn er mich beißen wollte.

Wenn er keinen Hunger hatte, machte das doch gar keinen Sinn. „Warum machst du das dann?“

Langsam hob er den Kopf, bis sein Gesicht direkt über meinem Schwebte. Seine Haare standen ihm unordentlich vom Kopf ab und seine Augen waren dunkler als sonst. „Weißt du eigentlich wie schwer es ist dir zu widerstehen?“, stellte er die Gegenfrage. Seine Hand legte sich an meine Wange und strich sanft darüber. Sein Blick verhakte sich in meinen. „Ich wollte dich nicht anfassen, nicht solange ich mich nach jemand anderem sehne.“

Meine Augen wurden eine Spur größer. Meinte er damit wirklich das, was ich glaubte? „Und jetzt sehnst du dich nicht mehr nach Cayenne?“

„Nein.“ Langsam glitt seine Hand an meinem Hals hinab und kam dann auf der Phiole in meiner Halsbeuge liegen. „Das wonach ich mich gesehnt habe, existiert schon lange nicht mehr, das ist mir endlich klar geworden.“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Wirklich?“

Nun zog auch er einen Mundwinkel ein wenig höher. „Nachdem was wir gestern erfahren haben … es war nicht Cayenne, die ich bei mir haben wollte.“

Das war Fantastisch! Konnte die Begegnung mit Cayenne trotz allem eine heilende Wirkung auf ihn gehabt haben? „Das ist gut.“

„Ja“, stimmte er mir zu und beugte sich so weit zu mir hinunter, dass seine Lippen über meine strichen und die Erinnerung an das Gefühl seiner Küsse an die Oberfläche rissen.

Augenblicklich wurde ich wieder unsicher. Ich hatte nicht vergessen, was nach dem Kuss vor dem Haus passiert war. „Was machst du?“

Nun verzogen seine Lippen sich zu einem Richtigen Lächeln. „Muss ich dir das wirklich erklären?“

Nein, nicht wirklich. „Aber ich dachte, du willst nicht mehr küssen.“

„Das habe ich nie gesagt.“ Seine Finger wanderten wieder nach oben und strichen sanft über meine Unterlippe. „Ich habe dir nur nicht protestiert, als du gesagt hast, du würdest mich nicht mehr küssen.“

Mein Herz geriet einen Moment ins Stottern. „Das heißt … du willst mich küssen?“

„Unbedingt sogar.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Jetzt fragt sich nur noch, ob ich das auch darf.“

Mein Kopf setzte sich sofort in Bewegung. Ich kam nicht mal dazu, darüber nachzudenken, da nickte er schon und gab Raphael damit die Erlaubnis, sich weiter zu mir runter zu beugen.

„Das habe ich gehofft“, flüsterte er. Dabei umfasste er mein Gesicht mit der Hand. Sein warmer Atem strich über meine Lippen und dann küsste er mich.

Die Berührung schoss wie ein Blitz in meinen Körper hinein und ließ alle meine Sinne träge aus ihrem tiefen Schlaf erwachen. Sofort erinnerte ich mich an die wenigen Augenblicke, als er das schon einmal getan hatte. An seinen Geruch, seine Nähe und dieses unvergleichliche Gefühl, dass allein durch diesen Kuss in mir zu schwelen begann. Leider erinnerte ich mich aber auch daran, wie es geendet hatte und auf einmal wurde ich wieder unsicher.

Ich wusste nicht wie, aber Raphael schien es sofort zu spüren. Er ließ mich zwar nicht los, löste aber den sanften Kuss und begann mich zu mustern. „Möchtest du es doch nicht?“

„Doch, nur … ich will nicht, dass du mich wieder anschreist.“

Verstehen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Das werde ich nicht“, versprach er mir und beugte sich so weit vor, dass er mit den Lippen über meine Wange streichen konnte. „Und falls ich es doch tue, hast du meine Erlaubnis, mir eine zu scheuern.“

„Aber das will ich gar nicht.“ Ich war doch hier, um ihn zu beschützen, nicht um ihn zu verletzen. Langsam hob ich die Hand und berührte auch ihn im Gesicht. Auf seiner Wange waren leichte Stoppeln. „Du sollst nur nicht wieder so gemein zu mir sein.“

„Das wird nicht mehr passieren, darauf gebe ich dir mein Wort.“

Unsicher forschte ich in seinen Augen, doch darin lang nichts als Zuneigung. „Dann möchte ich, dass du mich jetzt wieder küsst.“

Das tat er dann auch. Erst auf die Wange, dann auf den Mundwinkel und gleich darauf verschmolzen unsere Lippen miteinander. Meine Augen schlossen sich flattern. Ich hatte schon bei unserem ersten Kuss festgestellt, das ich seine Berührungen so noch intensiver wahrnahm.

Er war sanft, aber nicht zurückhaltend. Zum ersten Mal, versuchte er dabei keinen Abstand zwischen uns zu wahren. Er dränge sich so dicht gegen mich, dass ich seinen ganzen Körper an meinem spüren könnte und das war ein tolles Gefühl.

Ich griff auch mit der zweiten Hand nach ihm, um ihn näher an mich zu ziehen und erwiderte seinen Kuss mit all seinen Sinnen. Irgendwie was anders als beim letzten Mal, vertrauter.

Obwohl ich schon so lange von Raphael geträumt hatte, bevor ich ihm das erste Mal leibhaftig begegnet war, hatten wir uns bei unserem ersten Kuss doch erst ein paar Wochen gekannt. Das bedeutete nicht, dass ich es bereute, doch es erklärte, warum es sich dieses Mal so anders anfühlte. Damals waren wir trotz allem fast noch Fremde gewesen, heute nicht mehr.

Vorsichtig veränderte Raphael seine Position ein wenig und strich dann mit der Hand an mir hinab. Dabei streifte er wie zufällig die Seite meiner Brust und löste dort ein leichtes Kribbeln aus, dass sich träge seinen Weg durch meinen Körper bahnte und ich tiefere Gefilde zog.

Ich spürte seine Fingen an meinem Bauch. Sie zogen dort ein paar Kreise, bevor sie zu meinem Bein wanderten und langsam daran hinabglitten. Erst an meiner Kniekehle machten sie wieder halt. Er umfasste mich dort, legte es sich um seine Hüfte und hielt es fest. So war ich ihm noch näher.

Mein Herz schlug vor Aufregung und auch meine Hände wollten nicht mehr länger still halten. Ich Strich ihm über die Schulter und den Arm. Als ich die Haut an seiner Seite berührte, bekam er eine Gänsehaut.

Er ließ mein Bein los und legte seine Hand wieder an mein Gesicht. Sein Kuss wurde ein wenig drängender.

Meine Hand nahm ihre Forschungsreise wieder auf und strich ihm über den Rücken. Die Haut dort war ganz glatt. Als ich noch tiefer fuhr und die Rundung seines Pos erreichte, wurde mir auf einmal klar, dass er nackt war. Natürlich, er hatte ja nur ein Handtuch getragen und das hatte sich im Schlaf wahrscheinlich gelöst. Dann war das, was sich da gegen mein Bein drückte … unwillkürlich begann ich zu lächeln. Ob ich ihn wohl heute anschauen durfte? Oder sogar anfassen?

Da wir beide viel zu sehr in unseren Kuss vertieft waren, war das eine Frage, die ich auf später verschob. Im Moment genoss ich es einfach viel zu sehr, ihn so dicht bei mir zu spüren. Die Gefühle, die diese Nähe in mir auslöste, hatte ich so noch nie erlebt. Mein ganzer Körper kribbelte und sonnte sich in diesen Empfindungen, die eine nie gekannte Hitze an unberührten Stellen aufkommen ließ.

Und sein Geruch … oh Himmel, ich konnte mich glatt in ihm verlieren. Mein Bein schlang sich ein wenig fester um ihn und drückte ihn damit noch näher an mich heran.

„Langsam“, flüsterte er an meinen Lippen und strich mit der Hand meinen Arm hinab.

Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte und da meine Lippen beschäftigt waren, fragte ich auch nicht nach. Ich wollte das hier nicht unterbrechen. Stattdessen streichelte ich weiter über seine Haut und erforschte seinen Körper ein wenig.

Auch er berührte mich unentwegt. Meine Schulter, mein Schlüsselbein, mehr als einmal streifte er die Phiole in meiner Halskuhle. Mein Atem war deutlich schneller geworden.

Vorsichtig strichen seine Finger an meiner Brust entlang und ich erinnerte mich daran, was Amber einmal zu mir gesagt hatte. Wenn jemand einen dort berührte, den man mochte, dann war das ein schönes Gefühl. Sie hatte recht. Und weil das so schön war, griff ich nach seiner Hand und schob sie etwas höher. Mit dem was dann allerdings geschah, hatte ich nicht gerechnet.

Als er die spitze berührte, zuckte ein heißes Gefühl durch mich hindurch. Erschrocken fuhr ein Stück hoch und starre Raphael mit weit aufgerissenen Augen an.

Er hielt sofort inne und zog die Augenbrauen leicht zusammen. „Alles in Ordnung?“

Ja, es war alles in Ordnung. Es hat sich gut angefühlt, nur … sowas hatte ich noch nie gespürt. Was war das nur gewesen?

„Gnocchi?“

„Kannst du das noch mal machen?“

„Was? Das?“ Wieder strich er über die Spitze meiner Brust und erneut zuckte dieses Gefühl durch meinen Körper, direkt zu der Stelle zwischen meine Beine.

„Das ist schön“, sagte ich leise. Mein Körper begann davon zu summen.

Ein kleines Lächeln erhellte seine geröteten Lippen. Dabei bemerkte ich, dass seine Reißzähne ein wenig länger und seine Augen noch dunkler geworden waren. Als er es dann noch mal tat und meine Augenlider dadurch ein wenig herabsanken, hob ich den Ausschnitt meines Tops, um zu sehen, was genau da geschah, aber ich sah nichts Ungewöhnliches.

„Wie machst du das?“

Statt zu antworten, beugte sich mir lächelnd entgegen. „Komm her.“

Ich protestierte nicht, als er unseren Kuss wieder aufnahm, doch galt meine Aufmerksamkeit nur großenteils seine Hand, die zwischen ihrer Wanderung immer mal wieder meine Brust streifte. Irgendwann jedoch blieb er nicht mehr auf dem Stoff. Er schob seine Hand unter mein Oberteil und legte sie direkt auf meine Brust.

Dieses Mal war das Gefühl so intensiv, dass ich, ohne es zu wollen, leise stöhnte.

„Oh, verdammt“, murmelte er an meinen Lippen und mit einem Mal wurde sein Kuss drängender. Als er seine Hand dann wieder herauszog, wollte ich protestieren, doch er griff nur nach dem unteren Saum meines Tops und schob es so weit es ging nach oben. Seine Lippen lösten sich von meinen und küssten ein Pfad über meinen Hals hinunter.

Mein Herz schlug mir bereits bis zum Hals, bevor er meine Brust erreichte und hatte ich es vorher schon als intensiv betrachtet, so wurde ich nun eines besseren belehrt. Das was er da tat … es fühlte sich unglaublich an.

Ich begann mich unter ihm zu winden. Sein Atem schlug heiß gehen meine Haut und begann mir meinen Verstand zu rauben.

„Schhh“, machte er, als ich wieder ein Geräusch von mir gab und schob sich an mir hinauf. „Ganz ruhig.“ Seine Lippen strichen über meine. „Wenn es dir zu viel wird, musst du mir das sagen.“

Die zarte Berührung an meiner Wange ließ mich die Augen einen Spalt öffnen und direkt in seine schauen. „Okay.“

Sein Atem strich über meinen Kiefer und dann knabberte er an meiner Halsbeuge, bis mir ein heißer Schauder über den Rücken rann. „Sag es mir auch, wenn ich etwas tue, dass dir nicht gefällt.“

Also bisher hatte mir alles gefallen. „Fühlt es sich für sich auch so an?“, fragte ich und strich ihm über die Schultern. „Wenn ich deine Brust berühren würde?“

„Nicht so intensiv, nein.“

„Würde es dir gefallen?“

Statt zu antworten, drehte er sich auf die Seite und legte meine Hand auf seine Brust. Seine Augen schlossen sich, als ich darüber strich, so wie er es bei mir gemacht hatte. Er erzitterte.

„Du magst das“, sagte ich lächelnd und kam direkt über seinem beschleunigtem Herzschlag zum Stehen.

„Ich mag dich“, erwiderte er und begann mich wieder zu küssen.

Diese drei kleinen Worte lösten etwas tief in mir aus und dieses Mal war ich es, die drängender wurde. Dabei merkte ich sehr wohl, wie seine Hand über meinen Bauch glitt und dann an dem Bündchen meines Slips entlang strich.

Langsam schlüpften seine Finger darunter. „Schhh“, machte er wieder, als meine Augen sich überrascht öffneten und gleich darauf wieder zufielen. „Es ist okay.“ Seine Lippen strichen über meine Wangen. „Versuch es einfach zu genießen, ich bin bei dir.“

In meiner Körpermitte geschah etwas ganz seltsames. All die Empfindungen schienen sich langsam dorthin zu bewegen und zusammenzuballen. Anfang war es einfach nur schön, doch dann konzentrierten sich die Gefühle immer mehr.

Raphael raunte mir leise Worte zu, während ich begann langsam zu vergehen und nach seinen Schultern griff, um mich nicht zu verlieren. Mein Herzschlag wurde immer schneller und mein Atem fiel mir hektisch über die Lippen. Auf einmal geschah es.

Plötzlich wurde ich von einer Welle erfasst und von den Wogen einfach fortgetragen. Ich bäumte mich auf und Stöhnte, während ich versuchte wieder Herr meine Sinne zu werden, um in dieser Empfindung nicht zu verschwinden.

Es war nicht leicht und ich atmete noch immer schnell, als Raphaels Berührung an meinem Bauch mich langsam wieder zu ihm zurückbrachte. Ungläubig blinzelnd schaute ich zu ihm auf. Mein ganzer Körper summte und meine Haut schien auf einmal überempfindlich zu sein.

Sein Blick war staunend auf mich gerichtet. „Wow“, flüsterte er. Seine Stimme klang ein kleinen wenig ehrfürchtig.

Ich schenkte ihm ein schüchternes Lächeln, kam aber nicht umhin, mich eines zu fragen. „War das Sex?“ Laut Amber gehörte doch eigentlich mehr dazu, aber das hatte sich so unglaublich angefühlt, dass ich es mir nicht anders erklären konnte.

„Nein.“ Sein Finger zog kleine Kreise auf meinem Bauch. „Das war ein Orgasmus.

So fühlte sich das also an. „Das war toll.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. „Du bist wirklich unglaublich“, murmelte er und küsste mich dann wieder. Dabei griff er nach meinem Top und versuchte es mir über den Kopf zu ziehen. Klappte nicht, denn ich lag ja drauf.

Mit einem ungeduldigen Knurren, das mich grinsen ließ, richtete er sich auf und hockte sich auf die Fersen zurück. Dabei rutschte die Decke zu einem unordentlich Knäuel hinter ihm auf die Matratze. Dann versuchte er es erneut.

Ich ließ ihn einfach machen, den meine Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas anderes. Dadurch, dass er sich aufgerichtet hatte, erinnerte er mich sehr deutlich an etwas, das mir in der ganzen Aufregung entfallen war. Er war nackt. Und außerdem beantwortete er mir damit auch eine alte Frage: Nein, er hatte da unten auch keine Haare.

Als Raphael mein Oberteil achtlos zur Seite warf, bemerkte er, was ich mir da anschaute. „Deine Neugierde kennt keine Grenzen.“

„Darf ich …“, begann ich vorsichtig, verstummte dann aber wieder, weil er immer ziemlich ungehalten wurde, wenn ich ihn darauf ansprach und ich wollte das hier nicht kaputt machen.

„Im Moment darfst du so ziemlich alles.“ Schmunzelnd nahm er meine Hand und legte sie sich auf dem Bauch, doch das Schmunzeln verschwand recht schnell, als ich fasziniert damit begann, an ihm hinab zu wandern. Als ich mein Ziel erreichte, schloss er die Augen und gab ein seltsames Geräusch von sich.

Erschrocken ließ ich wieder los. „Hab ich dir wehgetan?“

Bevor er mir antwortete und mich dann wieder anschaute, atmete er einmal tief durch. „Nein“, sagte er mir rauer Stimme. Seine Augen waren noch dunkler geworden. Wenn das so weiter ging, wären sie bald von einem tiefen Blau. „Es hat sich gut angefühlt.“

Dann war es wohl sowas wie vorhin, als er meine Brust berührt hatte. Von diesem Gedanken ermutigt, tat ich noch mal genau das Gleiche und schaute interessiert dabei zu, wie seine Augen sich wieder schlossen, sein Mund sich dafür aber ein wenig öffnete.

Es fühlte sich so ganz anders an, als ich mir das vorgestellt hatte und doch genauso, wie Amber es mir erklärt hatte.

Einen Moment ließ Raphael mich einfach machen. Dann griff er nach mir und zeigte mir, was ich tun sollte, bis ich seine Hand wieder wegschob. Er hatte die ganze Zeit etwas gemacht, jetzt war ich dran.

Es war nicht nur faszinierend ihn so zu berühren, ihn dabei zu beobachten, schlug mich geradewegs in seinen Bann. In den letzten Monaten hatte ich ja schon viele Facetten von ihm erlebt, doch das hier war etwas ganz anders. Er wirkte … losgelöst und entspannt, so ganz anders und das hatte seinen Reiz.

Anfangs hockte er einfach nur da und genoss meine Liebkosung. Doch dann beugte er sich vor und begann an meiner Halsbeuge zu knabbern.

Ich versuchte mich davon nicht ablenken zu lassen, leider klappte das nur, bis er auch noch einen Arm um mich schlang und seine Lippen dann wieder langsam an mir hinab wandern ließ. All die Gefühle und Empfindungen, die gerade erst abgeflaut waren, begannen wieder in mir zu schwelen und mich ein weiteres Mal mit auf eine unvergessliche Reise zu schicken.

Als er mich an sich zog und auf den Rücken legte, wehrte ich mich nicht dagegen. Und als er mir den Slip abstreifte, half ich ihm sogar dabei. In diesem Moment würde ich wahrscheinlich alles tun, wenn er mich nur nicht allein ließ.

Ich schlang die Arme um seinen Nacken und zog sein Gesicht an das meine, bis meine Gedanken ganz benebelt von ihm und seiner Nähe waren. Mein Bein schlang sich um seine Hüfte, als er sich über mich schob und mit seinem Gewicht in die Matratze presste.

„Denk dran“, raunte er an meinen Lippen und drängte sich zwischen meine Beine, „wenn ich etwas tue, dass du nicht möchtet, sag es mir.“

„Ja“, flüsterte ich und verschloss seinen Mund wieder mit meinem. Ich würde ihn ewig küssen können.

Seine Hand tastete an mir hinunter und schob meine Beine noch ein wenig weiter auseinander. Es war ein seltsames Gefühl. Seine Finger berührten meine Mitte, bis ein Schauder meinen Körper überlief und mein Atem wieder schneller wurde. Doch auf einmal war da etwas, was eindeutig kein Finger war und vorsichtig gegen mich drängte. Das löste eine sehr seltsame Empfindung in mir aus. Nicht unangenehm, nur … fremd.

Raphael küsste mich einfach weiter. Seine Lippen schickten meine Sinne auf eine Reise, während er sich weiter gegen mich drängte. Sein Atem wurde ein wenig schwerer und das Klopfen seines Herzens nahm zu. Er schien zu versuchen, sich zurück zu halten.

Je weiter er vordrang, desto seltsamer wurde. Es tat nicht wirklich weh, war nur ein wenig unangenehm. Es war, als versuchte sich da ein Fremdkörper Zutritt zu verschaffen.

„Nicht anspannen“, flüsterte er und verhakte seinen Blick mit meinem. „Ich bin vorsichtig.“

„Es fühlt sich aber komisch an.“

Er legte seine Stirn an meine. „Das geht gleich vorbei.“

Als er sich mit einem Mal in nur einer Bewegung in mich drängte, versteifte sich mein ganzer Körper und meine Finger bohrten sich erschrocken in seine Schultern.

„Ganz ruhig“, sagte er leise und verharrte regungslos. Seine Arme legten sich um meinen Kopf, als wollte er mich in einen Kokon hüllen. „Du hast es geschafft.“

Geschafft? „Es hat gar nicht wirklich wehgetan.“

„Es tut auch nicht bei jeder Frau weh.“ Vorsichtig fuhr er mit den Lippen die Konturen meines Kinns nach und ließ damit meine Haut kribbeln.

„Das heißt, wir haben jetzt Sex?“

Seine Mundwinkel wanderten ein Stück nach oben. „Ja, sobald du dich wieder ein bisschen entspannt hast.“

Dank ihm, seiner Nähe und Liebkosungen gelang mir das recht schnell. Als er sich dann jedoch das erste Mal bewegte, fühlte sich das nicht sehr toll an. Auch beim zweiten und dritten Mal nicht. Doch dann, ganz langsam wurde es zu etwas anderem. Er berührte etwas tief in mir, dass meinen Empfindungen nicht nur neues Leben einhauchte, sondern sie regelrecht aufblühen ließ.

Bis zu diesem Moment hatte ich mir nicht vorstellen können, wie es sein würde, sich auf diese Art mit einem anderen Menschen zu verbinden. Wenn man eine Banane in einen Donut steckte, passierte ja auch nichts Außergewöhnliches. Doch das war ich hier mit ihm erlebte, das war außergewöhnlich.

Langsam glitt ich mit ihm zusammen in ein mir bisher fremdes Reich, in dem nur wir beide existierten und die Empfindungen so intensiv wurden, dass ich ohne ihn wohl einfach verloren gegangen wäre.

Ich verstand nicht genau, was mit mir geschah und konnte mir auch nicht erklären, wie sowas überhaupt möglich war, doch als er sich an mit festhielt, als sei ich sein einziger Halt, war ich ihm hilflos ausgeliefert. Ich ließ mich mitreißen und selbst als wir uns völlig außer Atem aneinander schmiegten, schwebte ich noch auf Welle der Gefühle, die wir geteilt hatten.

Ich spürte das Zittern seines Körper und seinen warmen Atem auf meiner erhitzten Haut, als er seine Stirn gegen meine Schulter lehnte. Sein Herz trommelte genauso schnell wie meines und der Nachklang dieser Gefühle pulsierte noch durch meinen Körper.

„Das war schön“, murmelte ich und strich mit den Fingern zärtlich über seinen Rücken.

Ich spürte wie er zu lächeln begann und mir einen zarten Kuss auf die Schulter hauchte. „Das finde ich auch.“

Diese Worte ließen auch mich lächeln, doch gleich darauf verblasste es wieder ein wenig. „Ys-oog?“

„Hmh?“

„Ich habe aber nicht geschrien, so wie die Frau aus dem Fernseher. Hab ich was falsch gemacht?“

Als müsste er die Frage erstmal bei sich ankommen lassen, blieb er still, doch dann begann er leise zu lachen.

Meine Stirn runzelte sich. „Was ist daran so lustig?“

Grinsend hob er den Kopf, bis sein Gesicht über meinem schwebte. „Das du im richtigen Augenblick immer die richtigen Worte findest.“ Das Lächeln in seinem Gesicht wurde ein wenig weicher. „Du bist das Beste, was mir seit langer Zeit passiert ist, weißt du das eigentlich?“

Als er das sage, so offen und ohne den kleinsten Hintergedanken, überkam mich plötzlich und ohne jede Vorankündigung, ein schlechtes Gewissen. Vielleicht wegen dem, wer ich war? Oder weil er bis heute nicht wusste, warum ich ungebeten in sein Wagen gesprungen war?

Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich so viel vor ihm verbarg und es Dinge gab, die ich ihm wohl niemals erzählen konnte. Wenn er wüsste, wer ich wirklich war, dann würde er mich nicht mehr so ansehen. Wenn er es wüsste, würde er mich nicht mal mehr in seiner Nähe haben wollen.

Der Gedanke machte mich traurig.

Sein Finger strich an meiner Schläfe entlang. „Was hast du?“

Als es genau in diesem Moment regelrecht an die Zimmertür hämmerte, zuckten wir beide heftig zusammen, bevor wir unsere Gesichter gleichzeitig der Tür zuwandten.

Ich wollte schon den Mund aufmachen und fragen, doch da hielt Raphael sich bereits den Finger an den Mund und gab mir damit zu verstehen, ruhig zu sein.

Verwundert zog ich die Stirn in Falten.

„Ich weiß das ihr wach seid“, teilte Murphy uns durch du geschlossene Zimmertür mit. „Das ganze verdammte HQ weiß es, denn die Wände hier sind sehr dünn.“ Er schwieg einen Moment. „Nur zur Information.“

Mit einem tiefen und sehr genervtem Seufzen, ließ Raphael seine Stirn wieder an meine Schulter sinken.

„Was ist nun?“ Wieder klopfte es. „Macht ihr nun auf, oder muss ich mir eine Axt besorgen.“

Hä? „Was will es denn mit einer Axt?“

„Die will er mir geben, damit ich sie ihm über den Schädel ziehen kann“, murrte Raphael unzufrieden, gab dann jedoch nach und stieg aus dem Bett. Aber nicht ohne mir noch einen Kuss zu geben, der mich noch mal sehr deutlich an das erinnerte, was wir gerade getan hatten.

„Hallo?“ Murphy schien langsam ungeduldig zu werden. „Ich hab euch reden gehört, ich weiß dass ihr wach seid.“

„Ich komm ja gleich“, schimpfte Raphael und schaute sich Stirnrunzelnd nach seinen Anziehsachen um.

„Hier“, sagte ich und zog unter der Decke das Handtuch heraus, mit dem Murphy ihn gestern ins Zimmer gebracht hatte.

Er nahm es und während er es sich um die Hüften wickelte, verstand ich plötzlich, warum er eben so geseufzt hatte. Durch Murphys Auftauchen, wurden wir unserer Zweisamkeit beraubt. Das war schon ärgerlich.

Gerade als er sich der Tür zuwenden wollte, warf er noch mal ein Blick auf mich, wie ich da im Schneidersitz saß. „Also entweder du ziehst dir etwas an, oder bedeckst dich wenigstens mit der Decke, weil wenn Murphy dich so sieht, werde ich ihm wahrscheinlich wehtun.“

Verwundert schaute ich an mir runter. Ach ja, Kleidung. Grinsend zog ich die Decke heran und klemmte sie mir unter die Arme. „Hab ich vergessen.“

„Das Schlimme daran? Ich glaube es dir.“ Er zwinkerte mir verspielt zu und kümmerte sich dann um den Störenfried.

„Na ihr Schlafmützen“, begrüßte Murphy uns und schob sich an Raphael vorbei ins Zimmer, ohne hereingebeten worden zu sein. In der einen Hand hielt er eine Tüte und auf der anderen balancierte er einen Stapel sauberer Wäsche, auf dem ein Teller mit Broten stand. In seiner Hosentasche steckte noch eine Flasche mit Wasser. So beladen wie er war, hatte er gar nicht klopfen können. Wahrscheinlich hatte er den Fuß genommen, deswegen war es auch so laut gewesen. „Ich hab euch etwas mitgebracht.“

„Essen!“, rief ich begeistert und streckte die Hände nach dem Teller aus. Sobald er in Reichweite war, schnappte ich ihn mir, stellte in in meinen Schoß und begann zu futtern. Erst jetzt merkte ich, wie ausgehungert ich war. Das letzte Mal hatte ich gestern vor unserer Abfahrt bei Marica etwas zwischen die Zähne bekommen.

„Wie spät ist es?“, fragte Raphael, als er die Tür von innen schloss.

Murphy stellte die Tüte auf den Boden und legte die saubere Kleidung neben mir ins Bett. Die Flasche mit dem Wasser legte er daneben. „Kurz nach fünf. Ihr habt ganzen Tag verpennt.“ Er grinste Raphael amüsiert an. „Ich war vor eine Stunde schon mal hier, bin aber wieder gegangen, weil ihr euch beschäftigt angehört habt.“

Nach dem Spruch sah Raphael so aus, als hätte er dem Lykaner gerne etwas an den Kopf geworfen. Vorzugsweise etwas sehr schweres.

„Wir waren auch beschäftigt“, erklärte ich und lutschte mir etwas Butter vom Finger. „Wir hatten eben Sex, zum ersten Mal.“

Oben vom Bett schwebte Lalamika runter auf den Boden und setzte sich mit einem vergnügten Funkeln in den Augen vor mich auf den Boden.

Murphy grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Und, hat es dir gefallen, war er gut?“

Mehr als nickten konnte ich gerade nicht, denn ich hatte ein halbes Brot im Mund. Ich war wirklich hungrig.

„Würdest du sie bitte in Ruhe lassen“, grummelte Raphael. „Sag mir lieber wo meine Sachen abgeblieben sind.“

Er zeigte auf die geschlossene Tüte. „Du hast sie gestern in der Dusche vollgekotzt. Ich ging davon aus, dass du sie nicht noch mal anziehen wolltest.“

So wie Raphael daraufhin das Gesicht verzog, hatte er damit recht. „Sag mir bitte, dass meine Schlüssel da nicht mit drin stecken.“

Grinsend lupfte Murphy das oberste Kleidungsstück vom Stapel und ließ darunter wie von Zauberhand das Handy, die Schlüssel und seine Brieftasche erscheinen. „Manchmal denke ich auch mit“, erklärte er und warf ihm die Klamotte aus in seiner Hand zu. Es waren graue Boxershorts. „Umbra Diego war heute Vormittag hier und hat nach dir gefragt. Die Wächter haben mitbekommen, wie ich euch gestern Nacht hergebracht habe.“

Raphaels Mundwinkel verzog sich grimmig. „Ich kann mir schon vorstellen, was er gewollt hat.“

„Was wirst du tun?“

„Ich werde wohl noch mal mit Cayenne sprechen müssen.“ Allein der Gedanke an sie, ließ wieder diesen bitteren Zug um ihren Mund erscheinen.

„Aber vorher solltest du dir vielleicht erstmal etwas anziehen“, bemerkte Murphy mit einem betonten Blick auf seine Beine.

„Ja, gleich nach einer Dusche.“ Er rieb sich mit einer Hand über den Nacken. „Kommst du kurz allein klar, Gnocchi?“

Ich nickte, spürte aber gleichzeitig eine kleine Unsicherheit. Beim letzten Mal war anfangs zwischen uns auch alles okay gewesen – zumindest solange wir in seinem Zimmer waren.

Als würde er wissen, was in meinem Kopf vor sich ging, kam er noch mal zu mir. Er beugte sich so weit runter, dass er sich mit einem Arm auf der Matratze abstützen musste und legte dann seine Hand an mein Kinn. „Hey, keine Sorge, es wird sich alles finden, okay?“

„Okay.“

Er beugte sich vor und küsste mich einen Moment, solange bis Murphy sich vernehmlich räusperte. „Bin gleich wieder da“, versprach er und verließ dann mit den Klamotten im Arm das Zimmer. Lalamika heftete sich sofort an seiner Fersen.

Murphy schaute ihm nach. „Er scheint sich wieder ein wenig gefangen zu haben.“

„Er hat verstanden, dass er Cayenne nicht mehr bracht“, stimmte ich ihm zu. Der Gedanke an die Königin, brachte die Erinnerung an die Vision von letzter Nacht zurück. Es war nicht das erste Mal, dass die Geister sie mir gezeigt hatten, doch dieses Mal war sie ein wenig anders gewesen: Sydney war noch am Leben.

In der Vergangenheit hatte Raphael ihn immer getötet und dadurch Cayennes Wahnsinn heraufbeschworen, in dem sie die ganze Welt zerstörte. Dieses Mal jedoch war Sydney nur verletzt worden. Die Lykaner hatten ihn trotzdem als Mörder bezeichnet. Nur, wenn er nichts Sydney töten würde, wen dann?

 

°°°

 

Zum zweiten Mal in zwei Tagen trat ich an Raphaels Seite hinter Diego in Cayennes private Räume, bis auf die Fische im Aquarium, war der Raum jedoch verwaist. Dieses Mal brannte auch kein Licht im Kinderzimmer und auch die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen.

„Ich hole sie schnell“, ließ Diego uns wissen und verschwand dann in den Nebenraum.

Mich interessierten im Moment aber nur die bunten Fische, darum schlich ich mit einem kurzen Blick auf Raphael zu dem Glasbecken hinüber und beobachtete neugierig, wie sie in dem riesigen Becken entspannt hin und her schwammen. Unten an einem Stein entdeckte ich sogar eine kleine, violette Krabbe. Und dann gab es da noch eine paar große, schwarze Fische, mit roten Schwänzen. Solche hatte ich noch nie gesehen und begann mich zu fragen, wie er wohl schmecken würde.

„Ich hoffe, dir ist klar, dass du diese Fische nicht essen darfst.“ Raphael bedachte mich mit einem entschiedenen Blick.

Was? „Aber Zuhause essen wir doch auch Fisch“, protestierte ich sofort. Und damals, als ich noch klein gewesen war und mich mit Lalamika an den Fluss geschlichen hatte, hatten wir auch Fische gefangen und sie anschließend gegessen.

„Ja, aber der stammt stammt aus dem Supermarkt und nicht aus dem Aquarium. Außerdem ist an den Viechern doch gar nichts dran. Du müsstest das ganze Aquarium leeren, um auch nur ansatzweise satt zu werden.“

„Das schaffe ich.“ Und die schwarzen Fische waren auch gar nicht so klein.

Raphael zog den Mundwinkel ein wenig nach oben. Er war weder so angespannt, noch so nervös wie gestern, doch auch sein halbes Lächeln konnte nicht über seine Unruhe hinwegtäuschen. „Das glaube ich dir sogar, aber trotzdem darfst du die Fische nicht essen.“

„Na gut“, murrte ich unzufrieden und drehte mich gerade zu ihrem herum, als die Tür zum Schlafzimmer sich erneut öffnete.

Diego war der erste, der hinaus trat. In seinen Armen hielt er ein kleines Bündel mit goldenen Löckchen auf dem Kopf. Ihm auf dem Fuße folgte Cayenne mit dem anderen Baby. Sie bewegte sich langsam, so als hätte sie schmerzen. Die Geburt der Zwillinge war auch noch nicht so lange her.

Auch Sydney kam heraus. Mit der Nase schob er einen tapsigen Welpen in einem blauen Strampelanzug vor sich her. Das war Cayennes Sohn Aric.

Während Diego das Goldlöckchen in die kleine Wiege neben dem Sofa legte und dann in den Hintergrund trat, um nicht zu stören, bedachte Cayenne Raphael mit einem verunsicherten Lächeln. „Du bist nicht gegangen.“

„Sieht so aus“, murmelte er und warf einen kurzen Blick auf das Bündel in ihren Armen, trat dann aber einen unsicheren Schritt zurück.

„Ähm … wollen wir uns nicht setzen?“ Sie deutete auf die große Wohnlandschaft in ihrer Raummitte. „Langes Stehen fällt mir noch nicht so leicht.“

„Klar.“ Aber bevor er dem Angebot nachkam, drehte er sich leicht zu mir und streckte mir die Hand entgegen. „Gnocchi?“

Da ich noch bei dem Aquarium gestanden hatte, war Cayenne bisher nicht auf mich aufmerksam geworden. Als ich nun auf ihn zu hüpfte und seine Hand ergriff, wurden ihre Augen ein ganz kleinen wenig schmaler, so als hieße sie es nicht gut, dass ich hier war. Ich denke, sie machte sich Sorgen, weil sie mich nicht einschätzen konnte.

Gemeinsam nahmen wir auf der Couch platz. Cayenne setzte sich vorsichtig auf die Längsseite, während Raphael den bequemen Sessel wählte. Das war der entfernteste Platz von Cayenne.

Ich kletterte neben ihn auf die Armlehne, ohne seine Hand loszulassen und schaute dabei zu, wie Sydney sich auf einer dicken Felldecke neben der Kinderwiege nieder ließ. Aric sprang tollpatschig hinterher. Er war wirklich süß.

Als niemand etwas sagte, weil scheinbar keiner so recht wusste, wo er anfangen sollte, ergriff ich einfach das Wort. „Gibt es was zu essen? Ich hab hunger.“ Die beiden Brote hatten mir nicht gereicht.

Cayenne schaute etwas verdutzt. „Ähm … ich kann eine Kleinigkeit anrichten lassen. Diego, würdest du dich darum kümmern?“

Diego nickte und verließ den Raum.

Währenddessen glitt Raphaels Blick ruhelos von der Wiege zu dem Baby in Cayennes Arme. „Sind sie wirklich meine Töchter?“

„Ja“, sagte sie schlicht und schob die Decke von dem Säugling ein wenig zur Seite, sodass er zum ersten Mal das Gesicht sehen konnte.

Der Anblick brachte Raphael dazu wieder auf die Beine zu springen und unruhig auf und ab zu laufen. Dabei strich er sich erst über den Kopf, dann über den Nacken und blieb dann mit dem Blick auf die Wiege stehen.

„Möchtest … möchtest du sie vielleicht mal halten?“, fragte Cayenne vorsichtig.

Diese Frage schien ihn einen Moment völlig aus dem Konzept zu bringen. Er stand einfach nur da und starrte Cayenne an, als wäre sie völlig verrückt geworden.

Okay, er war wohl doch unsicherer, als er mich hatte glauben lassen. Darum stand auch ich wieder auf, nahm seine Hand und zog ihn rüber zur Couch, wo ich ihn neben Cayenne aufs Polster drückte. „Das ist ein Baby“, erklärte ich ihm dann sehr ernsthaft. „Die sind ungefährlich.“

Er sagte nichts, aber ich sah, wie sein Mundwinkel zuckte und dann wandte er sich diesem kleinen, unschuldigen Wesen zu.

Sehr vorsichtig übergab Cayenne Zaira in seine Arme. „Du musst ihren Kopf stützen, dass kann sie noch nicht alleine.“

Ein kleines Fäustchen schnellte aus der Decke und wackelte einen Moment unkontrolliert in der Luft, als Raphael seine Tochter vorsichtig in seiner Armbeuge barg und sich mit ihr zurücklehnte.

Ich kniete mich vor ihm auf den Boden, legte meine Hände auf seine Knie und beugte mich ein wenig vor.

Klein und zerbrechlich lag sie in seinen Armen. Die großen, blassblauen Augen schauten neugierig zurück und der schwarze Flaum auf ihrem Kopf war ein wenig zerzaust. In dem leicht geöffneten Mund ließen sich winzige, kleine Reißzähne sehen.

Raphael hob die Hand und strich dem kleinen Mädchen vorsichtig über das wackelnde Fäustchen. „Sie sieht aus wie ich“, sagte er erstaunt.

„Nein“, widersprach ich und schüttelte den Kopf. „Sie ist viel süßer.“

Das zauberte ihm ein kleines Lächeln auf die Lippen, dass jedoch sofort wieder verschwand. „Was soll jetzt passieren?“, fragte er Cayenne direkt, ohne den Blick von dem Bündel in seinem Arm zu nehmen.

Ich ließ mich auf die Hacken zurücksinken und war selber gespannt.

Die Königin knetete ihre Finger in ihrem Schoß. Auch sie wirkte nervös. „Zaira kann nicht hier bleiben, darum … du musst sie mitnehmen. Bei dir wird sie in guten Händen sein.“

„Den Teil habe ich verstanden, aber ich kenne dich. Das hier ist dein Baby und du wirst sie sicher nicht einfach loslassen können.“

„Aber ich muss und …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Hin und wieder würde ich sie gerne sehen, aber es ist vermutlich am Besten, wenn Zaira niemals erfährt, dass ich ihre Mutter bin. Dann kann sie ein normales Leben führen und es besteht auch nicht die Gefahr, dass jemand erfährt, wer sie wirklich ist.“

Von der Seite kam Aric auf tapsenden Pfoten auf mich zu und schaute mich mit geneigtem Kopf an. Ich stupste ihm mit dem Finger auf die Nasenspitze, woraufhin er empört schnaubte und einen Schritt zurück wich.

„Die verborgene Prinzessin“, murmelte Raphael. „Welch eine Ironie. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du deine Mutter und Freunde verteufelt hast, weil sie dich mit einer Lüge haben aufwachsen lassen.“

„Es ist das Beste für sie.“

„Nein“, widersprach er ihr. „Eine Lüge ist niemals gut, egal aus welchen Gründen. Das hast du selber einmal zu mir gesagt.“

Diese Worte versetzten mir einen kleinen Stich. Natürlich log ich ihn nicht direkt an, aber … naja, wirklich ehrlich war ich auch nicht. Warum nur hatte ich deswegen heute so ein schlechtes Gewissen? Es war ja nicht so, dass ich ihn verletzte, ich passte eben nur auf ihn auf, ohne das er es wusste.

„Sie wird erfahren, wer sie ist, warum sie bei mir lebt und auch, warum sie dich nicht sehen wird.“ Mit der Fingerspitze berührt er das kleine Fäustchen, woraufhin die kleine reflexartig nach ihm griff. „Ich werde die Fehler deiner Familie sicher nicht wiederholen.“

Cayenne runzelte die Stirn. „Was meinst du damit, dass sie mich nicht sehen wird?“

„Genau das was ich sage. Ich bin nicht deinetwegen hier, Cayenne. Ich bin der Vater der Zwillinge und auch wenn das ganze ziemlich unerwartet kam, ich werde mich nicht vor der Verantwortung drücken. Aber dich will ich nicht mehr in meinem Leben haben. Diese Zeiten sind vorbei.“

„Du kannst mich aber auch nicht einfach so ausschließen“, erwiderte sie kühl. „Zaira ist meine Tochter.“

„Deine Tochter?“ Auf seinen Lippen erschien ein bitteres Lächeln. „Was ist mit Kiara?“, fragte er leise. „Die ganze Zeit sprichst du von deinen Rechten an deiner Tochter. Was ist mit meinen an Kiara? Du willst sie bei dir behalten und als reinrassige Prinzessin der Lykaner aufwachsen lassen. Sie wird also niemals erfahren, dass es mich gibt und da ich ein Vampir bin, werde ich auch nicht in der Lage sein, sie regelmäßig zu sehen, weil das zu viele unerwünschte Fragen aufwirbeln würde.“

Damit hatte er ihr den Wind aus den Segeln genommen. „Was soll ich den sonst machen?“, fragte sie leise. „Ich habe schon einmal ein Baby verloren. Jetzt noch zwei zu verlieren … das würde ich nicht verkraften. Es fällt mir schon schwer genug Zaira in deine Obhut zu geben.“

„Und du glaubst, mich lässt es kalt, wenn es da ein kleines Mädchen gibt, dass ich wegen der Umstände niemals werden kennenlernen dürfen?“ Er schüttelte den Kopf. „Du vergisst mal wieder, dass die Welt sich nicht allein um dich und deine Bedürfnisse dreht.“

In der darauffolgenden Stille, versuchte Aric sich spielerisch an mir heranzupirschen und bemerkte dabei nicht, dass Lalamika hinter ihm kauerte und das Gleiche bei ihm tat.

„Vielleicht“, begann Cayenne dann, verstummte dann aber wieder. „Wenn Kiara dich regelmäßig sieht, würde das zu viel Aufsehen erregen, aber … wenn du wieder bei den Themis anfangen würdest, dann könntest du in ihrer Näher sein.“

„Und aus der Ferne hin und wieder ein Blick auf sie erhaschen?“ Nach einem spöttischen Blich auf sie, senkte er ihn wieder auf den Säugling in seinen Armen. „Es ist dir vielleicht nicht klar, aber ich bin nicht aus Stein.“

Als Aric nach meiner Hand sprang, schob ich sie Ruckartig zur Seite, sodass sein Angriff ins Leere ging. Davon ließ er sich aber nicht entmutigen, er versuchte er einfach noch einmal und war dann ganz verwundert, dass ich sie dieses Mal liegen blieb. Kläffend sprang er neben der Hand hin und her.

Cayenne, der jetzt wohl erst aufging, dass ich mit ihrem Sohn spielte, bückte sich nach ihm und hob ihn auf seinen Schoß.

Ich runzelte die Stirn. Was glaubte sie denn, was ich mit dem kleinen tun würde? Ihn fressen? Auch Lalamika schaute empört.

Vorsichtig erhob Cayenne sich von ihrem Platz und trug den kleinen zu Sydney rüber. „Vielleicht sollte ich besser fragen, wie du dir das Ganze vorstellst.“ Als sie sich wieder aufrichtete, blieb sie an der Babywiege stehen und schaute hinein.

„Kiara wird bei dir bleiben und als Tochter von dir und deinem hässlichen Köter aufwachsen.“ Das brachte ihm ein verärgertes Stirnrunzeln von ihr ein. Er merkte es nicht, denn er war ganz auf das kleine Mädchen in seinen Armen konzentriert. „Zaira kommt mit mir. Sie wird lernen wer sie ist, dich aber nicht sehen, denn – wie hast du so schön gesagt? – es wäre zu gefährlich, wenn jemals herauskäme, was sie mit dir zu tun hat. Dein geliebtes Rudel könnte ja zu schaden kommen.“

Ein leises Knurren kroch aus ihrer Kehle. „Muss ich dich daran erinnern, dass ich es dir zu verdanken habe, wo ich heute bin?“

Er schnaubte. „Ich lasse mir von dir keine Schuldgefühle mehr machen. Es ist wahr, dein Wolf ist erwacht, weil Tyrone und ich dafür gesorgt haben. Aber es war weder schwer, noch hat es lange gedauert. Früher oder später wäre etwas anderes geschehen, was den schlafenden Wolf geweckt hätte und dann wärst du heute auch hier.“

Während ich ihnen zuhörte, wurde mir klar, dass wir so nicht weiterkommen würden. Sie drehten sich im Kreis und sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, würde uns auch nicht vorwärts bringen. „Vielleicht“, sagte ich und verstummte dann wieder mit einem Blick zu Cayenne. „Nicht lauschen“, mahnte ich sie und kletterte neben Raphael auf die Couch, wo ich mich zu seinem Ohr vorbeugte. „Ratssitzung“, flüsterte ich hinein.

Er brauchte einen Moment, bevor er verstand, was ich damit sagen wollte. Und er schaute nicht sehr begeistert drein.

Ich zuckte mit den Achseln. „Ein Tag im Jahr.“

„Ja, und sie wüsste wo ich bin.“ Etwas dass er auf keinen Fall wollte.

„Das ist doch egal.“ Ich legte ihm eine Hand aufs Bein. „Dann könntest du auch Kiara sehen.“

Sein Blick glitt einen Moment zu der Wiege. Die Rädchen in seinem Kopf begannen zu arbeiten, doch egal was genau das bedeutete, es schien ihn nicht zufriedenzustellen. „Sie wüsste trotzdem nicht wer ich bin.“

„Aber du weißt es.“ Ich schaute ihn eindringlich an. „Zaira wird ihre Mama sicher kennenlernen wollen.“ Ich jedenfalls hatte mir immer jemanden gewünscht, der für mich da gewesen wäre.

Raphael presste die Lippen zusammen und atmete einmal tief ein. Es gefiel ihm nicht, dennoch sagte er: „Du kannst sie sehen, wenn du wegen der Ratssitzung nach Arkan kommst.“

Sie horchte auf. „Arkan?“

„Ich lebe dort wieder.“ Ihr das zu erzählen, schien ihm nicht ganz leicht zu fallen. „Ich werde Zaira mit dorthin nehmen.“

„Das wäre ja nur einmal im Jahr.“

Er funkelte sie an. „Ja, aber da du an diesem Tag sowieso dort sein musst, würde es nicht groß auffallen, wenn du dann alte Freunde besuchst.“

„Aber …“

„Ich werde nicht mit dir feilschen, Cayenne. Das ist mein Angebot, nimm es an, oder lass es. Mehr werde ich dir nicht entgegenkommen.“

Nach diesen Worten erhob Sydney sich und schob seinen riesigen Wolfsschädel unter Cayennes Hand. Da Wölfe in ihrer tierischen Gestalt nur in Gedanken mit anderen Lykanern kommunizieren konnten, war mir nicht ganz klar, ob er sie mit dieser Geste nur trösten wollte, oder mit ihr sprach.

„Okay“, sagte sie nach einer knappen Minute. Ihre Finger krampften sich um die Kante der Babywiege. „Kiara bleibt bei mir, Zaira geht mit dir. Und jedes Jahr zur Ratssitzung werden wir uns treffen.“

Damit waren sie beide nicht zufrieden, doch im Moment war es wohl der beste Kompromiss den wir auf die Schnelle finden würden. Und es musste ja auch nicht immer so bleiben. Vielleicht, irgendwann, wenn das alles nicht mehr so frisch war und die Umstände es erlaubten, könnten sie ja eine andere Vereinbarung treffen.

Als würde Zaira meinen Gedanken zustimmen, gab sie ein leises Quietschen von sich.

„Hier“, sagte Raphael plötzlich und hielt mir die Arme hin.

Überrascht wurde mir klar, dass er mir die Kleine geben wollte. Einen Moment war ich unsicher. Ich hatte noch nie ein Baby auf dem Arm gehalten.

„Das ist ein Baby“, schmunzelte er, als er mein Zögern bemerkte. „Die sind nicht gefährlich.“

Cayenne beobachtete sehr misstrauisch, wie ich die Kleine dann doch entgegen nahm und sie vorsichtig in meinen Armen wog. Sie war so zerbrechlich und als sie mir direkt in die Augen schaute, musste ich einen kurzen Moment an diese eine Vision zurückdenken, die schon so viele Monate zurück lag. Raphael und das kleine Mädchen, dass mich Mama genannt hatte. Doch auch wenn Zaira diesem kleinen Mädchen so unglaublich ähnlich sah, ihre Augenfarbe war ganz anders. Raphaels Tochter hatte seine Augen, die von dem Mädchen in ihrer Vision dagegen waren von einem tiefen Blau gewesen.

Als aus der Babyliege ein leises Quengeln kam, beugte Cayenne sich vor und strich ihrem Goldlöckchen beruhigend über die Wange. „Ich werde Zairas Sachen zusammenpacken“, sagte sie leise. Ihre Stimme klang dumpf und traurig. „Ihre Möbel allerdings werde ich erst in ein paar Tagen nachschicken können.“

„Das ist nicht nötig.“ Raphael zupfte ein wenig an der rosa Decke. „Ich will keine Hilfe von dir. Ich bin – auch finanziell – sehr gut in der Lage, mich alleine um alles zu kümmern.“

„Du hast nicht mal ein Bett für sie.“

„Papa kann nichts wegschmeißen. Sein ganzer Keller stehlt voll von alten Kindermöbeln. Das wird für die nächsten paar Tage reichen, bis ich selber etwas besorgen kann.“

„Es macht aber keine Umstände, ich habe die Möbel sowieso schon hier.“

„Aber vielleicht treffen deine Sachen nicht meinen Geschmack.“

Ihre Lippen wurden zu einer dünnen Linie.

In dem Moment ging die Tür zur Suite auf und Diego kam mit einem Tablett in der Hand zurück ins Zimmer. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, stellte er es vor mir auf dem Tisch ab und trat dann wieder zurück.

Einen Moment überlegte ich, wie ich das schaffen sollte, etwas zu essen, ohne Zaira fallen zu lassen. War eigentlich gar nicht so schwer. Ich musste mich nur ein wenig zur Seite drehen und mit der linken Hand essen. Es gab kalten Braten und Nudelsalat. Lecker.

„Okay“, sagte Cayenne dann. „Mach es allein. Aber für den Anfang wirst du trotzdem Windeln und Kleidung brauchen. Und Flaschen und Milchpulver und …“ Sie verstummte einen Moment und ich sah, wie ihre Augen begannen in Tränen zu schwimmen. „Ich werde dir alles zusammenpacken, was Zaira die nächsten Tage benötigt.“

Raphael nickte. „Ich brauche jemanden, der uns fährt. Ich bin mit dem Motorrad hier.“

Sie nickte. „Das kann Diego machen. Ihr könnt fahren, sobald ich alles zusammen habe.“ Damit drehte sie sich eilig um und verschwand durch die Tür neben Arics Kinderzimmer. Wahrscheinlich wollte sie ihre Tränen vor uns verbergen.

Sydney folgte ihr sofort und auch Aric versuchte Schritt zu halten, doch mit seinen kurzen Beinchen dauerte es ein wenig, bis er die beiden eingeholt hatte.

„Das ist lecker“, erklärte ich mit halb vollem Mund und hielt Raphael eine Gabel vor das Gesicht. „Willst du auch?“

„Nein, Gnocchi, ich habe gerade keinen Hunger.“ Sein Blick glitt ein weiteres Mal zu der Wiege.

Ich gab ihm einen Stoß. „Na los, schau dir deine andere Tochter an.“

Etwas zögernd, so als sei er sich nicht sicher, ob er das auch durfte, erhob er sich und trat dann an das kleine Babybettchen. Ein paar Minuten stand er einfach nur da und schaute sie sich an. Erst als Kiara ein kleines Geräusch von sich gab, nahm er sie vorsichtig auf den Arm. Das machte er so geschickt, als hätte er darin schon einige Erfahrung.

Ja, Raphael würde in guter Vater sein, da war ich mir sicher.

Als Cayenne wieder heraus kam, hatte ich mein Essen bereits wieder aufgegessen.

Raphael saß mit Kiara auf dem Sessel. Er sah still dabei zu, wie Cayenne eine große Reisetasche und eine kleine Wickeltasche vor die Tür schleppte. Als sie wieder im Zimmer verschwand und kurz darauf mit einer weiteren Tasche auftauchte, runzelte er die Stirn. Da sie danach erneut verschwand, legte er Kiara zurück in die Wiege und folgte ihr in den Nebenraum.

Ich hörte die beiden wieder diskutieren, doch dieses Mal schien er den Kürzeren zu ziehen, denn er tauchte mit einer einer Packung Windeln und noch einer Tasche auf, aus der ein kleiner, weißer Stoffhase herausschaute.

Am Ende stapelten sich vor der Tür drei große Reisetaschen, ein Wipper, ein Reisebett und zwei Pakete mit Windeln.

Das war nur das Nötigste? Die Kleine besaß ja jetzt schon fast mehr als ich.

„Sie schläft zwischen zwei und vier Stunden am Stück“, erklärte Cayenne gerade Raphael und nahm mir ohne ein Wort zu sagen, ihre Tochter aus dem Arm. Es musste ihr schwer fallen, sich von ihr zu verabschieden. Ich hatte sie nur eine halbe Stunde im Arm gehalten und wollte sie jetzt schon nicht mehr hergeben. „Wenn du Glück hast, lässt sie dich Nachts vier Stunden am Stück schlafen, aber setzt keine zu großen Hoffnungen darauf.“

„Ich bin nachts nicht Zuhause, da muss ich arbeiten.“

Cayenne ließ sich stirnrunzelnd auf die Couch sinken. Sie wirkte erschöpft. „Du arbeitest nachts?“

Da sie mich sicher nicht in das Gespräch mit einbeziehen würde und es mir zu langweilig war, neben ihr auf der Couch zu sitzen, erhob ich mich und ging wieder rüber zu dem Aquarium, um mir die Fische anzuschauen.

„Ja“, antwortete Raphael. „Aber keine Sorge, sie wird nicht allein sein.“

An der Tür schnappte sich Diego zwei von den Taschen und verließ mit ihnen die Suite.

„Wer … wird den auf sie aufpassen?“ Ihr Blick huschte flüchtig zu mir.

„Ich wohne im Moment noch bei meiner Mutter. Sie wird sich freuen, wenn sie jemanden hat, den sie betutteln kann.“

„Wo arbeitest du den jetzt“, fragte sie vorsichtig. „Ich meine, mit den Themis hast du ja nichts mehr zu tun und da habe ich mich halt gefragt, was du jetzt machst.“

Lalamika schwebte neben mich, warf mir einen verspielten Blick zu und tauchte dann durch das Glas in das Aquarium ein. Dann tat sie so, als würde sie darin herumpaddeln. Dass sah so lustig aus, dass ich kichern musste.

Raphael schaute kurz prüfend zu mir rüber. „Ich denke nicht, dass dich das noch etwas angeht.“

Hinter einer der Pflanzen tauchte ein wunderschöner, blauer Fisch auf. Er hatte ganz lange Flossen, fast wie ein Schleier.

Ohne groß nachzudenken, schob ich meinen Ärmel hoch und grapschte ich in das Wasser. Schon als Kind war ich reaktionsschnell genug gewesen, um fische zu fangen und so stellte es für mich kein großes Problem dar, mir dieses kleine Ding zu schnappen.

Cayenne seufzte schwer. „Soll das jetzt immer zwischen uns so sein? Das geht doch sicher auch anders.“

„Das hast du selber zu verantworten, Cayenne.“

Mit meiner Beute in der Hand sprang ich aufgeregt an Raphaels Seite. „Schau mal Ys-oog.“ Ich machte die Finger hoch und präsentierte ihm den blauen Fisch, der nach Luft japsend auf meiner Handfläche lag.

„Ach Gnocchi“, schimpfte er, schnappte sich den Fisch und ließ ihn eilig zurück in das Aquarium fallen. „Ich hab dir doch vorhin schon gesagt, du sollst die Fische in Ruhe lassen.“

„Nein, du hast gesagt, dass ich sie nicht essen darf und das wollte ich auch gar nicht, ich wollte ihn dir nur zeigen.“

Das war in seinen Augen wohl kein guter Grund, sich an dem Aquarium zu vergreifen. „Okay, die Fische werden nicht gefangen, nicht gegessen, nicht angefasst, nicht gelockt, oder mit irgendeinem Hilfsmittel malträtiert. Du steckst die Hand nicht rein, jagst sie nicht im Aquarium und springst auch nicht zu ihnen rein, um mit ihnen zu baden.“ Er holte einmal kurz Luft. „Du darfst sie dir von außen angucken, mehr aber nicht, du lässt sie in Frieden und behältst deine Hände bei dir, hast du das verstanden?“

„Ja, aber darf ich vielleicht …“

„Nein.“

„Oder …“

„Auch nicht.“

„Hmpf“, machte ich und marschierte zurück zum Aquarium. Dann durfte ich ja gar nichts, als sie mir anzugucken. Allerdings … da waren ja nicht nur Fische in dem Wasserbecken.

Seufzend wandte Raphael sich wieder Cayenne zu, die ihn etwas verdutzt anschaute. „Ich hoffe ich habe nichts vergessen“, sagte er mehr zu sich selber.

Doch, hast du. Ich lächelte und nahm den Krebs in Augenschein. Er saß direkt vorne an der Scheibe.

„Passiert das … öfter?“, fragte sie Cayenne zögernd.

„Nein, das mit den Fischen ist neu, aber bei uns hat ja auch niemand ein Aquarium.“

Ich konnte Cayennes prüfenden Blick auf mir spüren, kümmerte mich aber nicht weiter darum. „Sie benimmt sie wie ein kleines Kind und du wie ihr Vater.“

Okay, dafür gab es jetzt doch eine bösen Blick. Ja, ich war vielleicht nicht so schlau wie sie, aber ich war sicher kein dummes Kind.

„Es gibt ein paar Dinge, die sie noch lernen muss“, erwiderte Raphael schlicht. „Und im Gegensatz zu anderen Leuten, hört sie zu, wenn man ihr etwas sagt.“

Grinsend steckte ich den Arm wieder in das Aquarium und tippte der Krabbe unter Lalamikas vergnügtem Blick, mit dem Finger auf den Rücken. Sie krabbelte sofort ein Stück zur Seite.

Nachdenklich schaute Cayenne ihn an. „Es gibt da etwas, dass du vielleicht noch wissen solltest.“

Raphael schaute sie nur abwartend an.

„Im letzten Juli wurde ich hier am Hof von ein paar Ailuranthropen aufgesucht, die sich nach Tarajika erkundigt haben. Ich weiß nicht woher sie es wussten, aber ihnen war zu Ohren gekommen, dass sie eine Zeitlang hier gewesen war.“

Ich erstarrte einfach und mit einem Schlag ergriff mich kalte Angst. Nein.

„Einer von den Männern war ihr Vater. Sie suchen sie und wollen dass sie wieder nach Hause kommt.“

Ein plötzlicher Schmerz im Finger riss mich aus meinem Schock. „Au!“, jaulte ich und riss meinen Arm heraus. An meinem Finger hing die Krabbe.

Bevor ich noch einen Versuch unternehmen konnte, sie zu entfernen, war Raphael bereits bei mir. Er schnappte sich meinen fuchtelnden Arm und sah direkt wo das Problem lag. „Ach Gnocchi, ich hab dir doch gesagt, dass du die Finger aus dem Wasser lassen sollst.“

Hatte er nicht, aber das war im Moment völlig egal. Mit aufgerissenen Augen schaute ich zu Cayenne hinüber. Mein Vater war hier gewesen?

Ruhig Ara, jetzt ist er ja wieder weg.

Raphael zupfte die Krabbe von meiner Hand und warf sie zurück ins Wasser. Das tat fast noch mehr weh. Doch als er sich meine Fingerspitze dann in seinen Mund steckte, ließ der Schmerz augenblicklich nach. „Besser?“, fragte er, nachdem alles wieder verheilt war.

Ich brachte gerade mal ein Nicken zustande, was bei Raphael ein Stirnrunzeln auslöste.

Cayenne schenkte dem Vorfall keine weitere Bedeutung. Ganz im Gegenteil, es schien sie in dem was sie Raphael sagen wollte sogar noch zu bestärken. „Du übernimmst jetzt die Verantwortung für ein Baby. Vielleicht wäre es am Besten, wenn Tarajika zu ihrer Familie zurückkehrt.“

Diese Worte reichten, um mir ein warnendes Fauchen zu entlocken, das alle vor Überraschung in Erstaunen versetzte. „Ich habe keine Familie!“

Diese Aussage ließ Cayenne die Augenbauen zusammen ziehen. „Unter den Ailuranthropen gibt es nicht allzu viele Panther, die den Namen Tarajika tragen. Auch dein Alter stimmt mit dem überein, was die beiden Männer mir erzählt haben.“

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Zwei Männer. Wenn der eine davon mein Vater gewesen war, dann konnte der andere nur Pandu gewesen sein, der Alpha der Cross-River-Meute.

„Gnocchi?“

Als Raphael mich an der Schulter berührte, schaute ich kurz auf, nur um ganz schnell wieder den Blick zu senken. Er sollte die Angst in meinen Augen nicht sehen, er durfte keine Fragen stellen. „Ich habe keine Familie“, wiederholte ich nur noch einmal.

Cayenne jedoch schien das nicht zu reichen. „Wie lautet dein Nachname?“

Ich drückte die Lippen nur aufeinander.

„Dein Vater stellte sich bei mir mit dem Namen Rahsaan Buhari vor. Wie ist dein Name?“

Wenn man es ganz genau betrachtete, hatte ich keinen. Ohne Lalamika hätte ich nicht mal einen Vornamen. Ich wäre nur das Mädchen aus der kleinen Hütte, an die man sich nur alle paar Tage erinnerte, um sie gerade genug zu füttern, damit sie nicht starb.

„Er lautet Tarajika Buhari, hab ich recht?“, drang sie weiter in mich hinein. „Ich weiß nicht warum du deine Familie verleugnest, aber sie suchen bereits seit zehn Jahren nach dir und waren wirklich enttäuscht, als sie dich hier nicht gefunden haben.“ Sie machte eine kurze Pause. „Dein Vater wirkte sogar richtiggehend verzweifelt“, fügte sie etwas sanfter hinzu.

Das konnte ich mir vorstellen. Nur leider nicht aus den Gründen, die sie vermutete.

„Du musst einsehen, dass Raphael sich jetzt auf andere Dinge als dich konzentrieren muss, darum solltest du deinen Vater vielleicht wenigstens …“

„Das reicht“, unterbrach Raphael sie im groben Ton und schob sich vor mich, als wollte er mich so vor ihr abschirmen. „Selbst wenn das was du sagst stimmt, geht es dich nichts an, also lass sie in ruhe und halt dich da raus.“

„Aber wenn sie doch …“

„Hör auf!“

Diesen Moment wählte Diego um ohne Taschen zurück in das Zimmer zu treten. Als er die angespannten Gemüter bemerkte, blieb er wachsam stehen, anstatt die nächste Ladung zum Wagen zu bringen.

„Gnocchi hat eine Familie und die lebt mit ihr zusammen in Arkan.“ Raphael funkelte sie warnend an. „Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen, also lass es einfach sein.“

Sie presste zwar ihre Lippen aufeinander, aber ihr schien noch so einiges auf der Zunge zu liegen. Sie ließ es unausgesprochen und kehrte uns stattdessen den Rücken. „Ich werde Zaira jetzt anziehen. Draußen ist es sehr kalt.“ Damit verschwand sie in dem Zimmer, in dem noch immer Sydney und Aric waren.

Diego warf uns nur einen undurchschaubaren Blick zu, schnappte sich dann die letzte Tasche und das Reisebett und verschwand wieder nach unten.

Raphael jedoch drehte sich zu mir um und begann mich zu mustern. „Möchtest du darüber reden?“

Ich schüttelte nur den Kopf. Das war etwas, dass er niemals erfahren durfte.

Als er seine Hand vorsichtig an meine Wange legte, zuckte ich reflexartig zusammen. Berührungen und Gedanken an meinen Vater hatten nur schmerzhafte Erinnerungen zur Folge. „Hey“, sagte er sanft und beugte sich so weit hinunter, dass er mein Gesicht sehen konnte. „Du musst nichts tun, was du nicht möchtest, das weißt du, oder?“

Nur sehr langsam nickte ich.

„Wenn du jemals mit mir darüber sprechen möchtest, dann bin ich da und höre dir zu.“ Er legte auch noch die zweite Hand an mein Gesicht und zwang mich dann ihm in die Augen zu schauen. „Aber es ist auch in Ordnung, wenn du nichts sagen möchtest. Ich weiß nur zu gut, dass es Dinge gibt, die man einfach nur vergessen möchte.“

Leider war dies etwas, das ich niemals würde vergessen konnte. Allein Lalamikas Anwesenheit würde mich ewig daran erinnern.

Ach Ara.

„Komm her.“ Raphael legte seine Arme um mich und zog mich an sich. Das Gefühl seiner Nähe konnte den Schreck zwar ein wenig mildern, doch zu wissen, dass meine Meute mich nach zehn Jahren noch immer suchte … es machte mir Angst. „Vergiss einfach was sie gesagt hat.“ Er drückte mir einen Kuss auf den Kopf und murmelte dann in mein Haar: „Du bist genau da wo du hingehörst.“

Und trotz des Schocks, schafften diese Worte es mein Herz zu erwärmen und mich ein kleinen wenig zu beruhigen. Raphael würde mich nicht bedrängen oder gar verlange, mich bei meiner Familie zu melden, damit sie mich holen konnten. Er hatte mich gern.

Eine halbe Stunde später standen wir in einer riesigen Tiefgarage aus Beton, in der sich Wagen um Wagen aneinanderreihten. Sie alle waren schwarz und sahen genau gleich aus, nur weiter hinten konnte ich etwas abseits ein paar andere entdecken.

Wir standen auch an so einem schwarzen Wagen, in dessen Kofferraum sich Zairas Sachen stapelten. Kiara und Aric waren oben geblieben. Die kleine Frau, die wir gestern schon in Cayennes Wohnzimmer gesehen hatten, war gekommen, um auf die beiden aufzupassen. Diego verstaute gerade noch etwas im Wagen.

Cayenne stand neben dem Auto und drückte Zaira weinend an sich. Das zu tun, musste ihr das Herz brechen und nicht mal Sydney, der direkt neben ihr stand, schien sie trösten zu können.

Ich mochte Cayenne ja nicht besonders, aber sie so zu sehen, weckte mein Mitgefühl für sie und auch wenn ich ihre Beweggründe verstand und es so für alle am Besten war, war es mir unbegreiflich, wie sie das tun könnte. Das war doch immerhin ihr Baby.

Was in Raphael vorging, konnte ich dagegen nicht sagen. Er wirkte mit der Situation nicht unglücklich, eher unsicher. Wer konnte es ihm verdenken? Mit einem Baby änderte sich sein Leben praktisch über Nacht. Als wir gestern auf seinem Motorrad hergefahren waren …

Sein Motorrad!

„Oh! Oh!“, machte ich und begann vor ihm wie ein Frosch auf und ab zu hüpfen. „Was ist mit deinem Motorrad?“

Seine eisblauen Augen richteten sich auf mich. „Ähm.“ Er schaute sich suchend in der Garage um. „Wo steht es eigentlich?“

Wusste er das etwa nicht mehr? „Vor der Kneipe. Murphy hat uns doch in seinem Wagen mitgenommen. Aber keine Sorge, du hast erst gebrochen, als wir wieder ausgestiegen sind.“

„Aha“, war alles was er dazu sagte.

„Im Auto hast du nur gesungen und versucht mir einen Zopf zu flechten. Ging natürlich nicht, meine Haare sind ja viel zu kurz.“

Wieder gab er ein „Aha“ von sich.

„Und du konntest kaum laufen. Deswegen ist Murphy auch mit dir zusammen duschen gegangen und hat …“

„Gnocchi“, unterbrach er mich. „Bitte hör auf mir zu erzählen, was ich gestern alles getan habe.“

„Warum?“ Wenn er sich doch nicht mehr erinnern konnte.

„Es gibt nur eine Sache aus den letzten Stunden, an die ich mich erinnern möchte.“ Er beugte sich zu meinen Ohr vor, als wäre es ein Geheimnis. „Und das ist das, was nach dem Aufwachen geschehen ist.“

Als er das sagte, wurde mir ganz warm und ich musste selber wieder daran denken. Es war so schön gewesen. „Wir es wieder geschehen?“, fragte ich genauso leise.

Er drehte seinen Kopf ein wenig und hauchte mir ein zarten Kuss auf die Lippen. „Das wünsche ich mir jedenfalls.“

Die Berührung seines Mundes brachte mich einen Moment völlig aus dem Konzept. Nicht nur, dass er mich einfach so geküsst hatte, er hatte es auch noch da getan, wo andere uns sehen konnten. Und so wie er mich dann anschaute, war ihm das auch durchaus bewusst. „Ähm“, machte ich nicht sonderlich gescheit und versuchte meine Gedanken zur Ordnung zu rufen. Worüber hatten wir gerade gesprochen? Ach ja. „Motorrad“, erinnerte ich ihn.

Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick glitt zu Cayenne, die Zaira an sich drückte, als wollte sie mit ihr verschmelzen. „Das werde ich wohl ein anderes Mal holen müssen.“

„Nein musst du nicht“, erwiderte ich. Ich hatte da nämlich schon eine Idee. „Ich kann damit zurückfahren.“

Die einzige Antwort die ich darauf bekam, war eine erhobene Augenbraue.

„Wirklich“, versicherte ich ihm. „Ich kann doch jetzt gut fahren und dann brauchst du nicht noch einmal herkommen.“

„Du bist noch nie bei Nacht gefahren, besonders keine so lange Strecke.“

Wenn man es genau betrachtete, war es noch gar nicht Nacht, nur später Abend. Aber da er das vermutlich nicht als Argument zulassen würde, verzog ich meine Lippen zu einem flehenden Schmollmund. „Bitte, Ys-oog, ich bin auch ganz vorsichtig.“

„Nein, Gnocchi.“

Ich schob die Unterlippe noch ein Stück vor.

„Nein.“

Okay, dann halt noch der Welpenblick.

Einen Augenblick noch schaute er mich einfach streng an, dann jedoch holte er einmal tief Atem, als müsste er sich selber auf das vorbereiten, was er gleich sagen würde. „Du bleibst immer in der Nähe des Wagens, damit ich dich sehen kann.“ Er zog seinen Schlüssel aus der Hosentasche.

Ich versuchte sie mir sofort zu schnappen, doch er streckte einfach schnell den Arm über den Kopf aus. Das war zu hoch, da kam ich so einfach nicht ran.

„Hast du gehört was ich gesagt hab?“

„Ja.“ Ich versuchte nach dem Schlüssel zu springen. Funktionierte nicht. Also hängte ich mich mit meinem ganzen Gewicht an seinen Arm.

Raphael schien es nicht mal zu merken. „Hast du deinen Führerschein dabei?“

Ich nickte, doch als er mir den Schüssel trotzdem nicht gab, wurde ich ungeduldig und versuchte an ihm hinauf zu klettern. Meine Hand an seinem Arm, ein Bein zur Stütze um seine Hüfte …

Er schlang einen Arm um meine Mitte und hielt mich so an Ort und Stelle fest. „Und du wirst vorsichtig sein“, mahnte er mich.

„Ys-oog!“, jammerte ich. Es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass ich auf ein Motorrad steigen würde.

„Na schön“, murrte er ein wenig widerwillig und ließ mich nicht nur los, er hielt auf den Schlüssel tiefer.

Mit einem Sprung schnappte ich ihn mir. „Ja!“ Ich wollte direkt loslaufen, doch da erwischte er mich noch einmal am Arm.

„Du fährst noch mit uns runter nach Silenda, oder willst du den ganzen Weg laufen?“

Nein, das wollte ich nicht. „Dann lasst uns fahren“, rief ich und marschierte auf den Wagen zu. Ich hatte es zwar nicht besonders eilig zum Motorrad zu kommen, aber ich wollte so schnell wie möglich vom Hof weg. Wahrscheinlich war es einfach nur albern, aber zu wissen, das mein Vater vor noch gar nicht so langer Zeit an diesem Ort gewesen war, machte mich nervös und das nicht nur, weil er mir damit zeigte, dass sie nach mir suchten. Es bedeutete auch, dass er vor kurzen nur wenige Stunden von mir entfernt gewesen war, dabei hätte er sich doch auf einem ganzen anderen Kontinent aufhalten müssen.

Leider dauerte es noch ein wenig, bis wir mit Sack und Pack im Auto saßen und aus der Garage rollen konnten. Cayenne wollte sich einfach nicht von Zaira trennen. Sie stand nur da, drückte die Kleine weinend an sich und überlegte es sich kurzzeitig sogar noch mal anders. Sowohl Diego, als auch Sydney mussten auf sie einreden, damit sie nicht einfach aus der Garage verschwand und Zaira zurück in ihre Suite trug. Das Letzte, was ich dann von ihr sah, war ihre verweinte Gestalt im Rückspiegel, dann waren wir auch schon auf dem Weg nach Silenda.

Der Stopp vor der Kneipe dauerte nur wenige Minuten, in denen Raphael mir noch einmal sehr genau eintrichterte, dass ich vorsichtig und immer in der Nähe des Wagens sein sollte. Als ich dann endlich auf die Maschine stieg und hinter dem Wagen aus der Stadt rollte, konnte ich erleichtert aufatmen. Das Wissen über meinen Vater war mir wirklich unter die Haut gegangen.

Während der Fahrt, schaffte ich es aber den Gedanken an ihn und der Rest der Meute aus meinem Kopf zu verbannen. Stattdessen überlegte ich, wie es wohl sein würde, mit einem Baby unter dem Dach zu leben. Oder auch was Marica sagen würde. Zuhause wusste ja noch niemand, was wir mitbringen würden.

Da diese Familie auch mich kompromisslos aufgenommen hatte, bezweifelte ich nicht, dass sie auch Zaira herzlich willkommen heißen würden. Aber was all das andere betraf? Ich hatte keine Ahnung von Babys. Aber dafür wusste ich jetzt wenigstens ganz genau, wie man welche machte.

Während ich über die Autobahn raste, musste ich wieder daran denken, was nach dem Aufwachen im HQ passiert war und wie ich mich dabei gefühlt hatte. Ein angenehmes Gefühl rieselte durch meinen Körper und ließ meine Haut kribbeln. Er hatte gesagt, dass er es gerne noch einmal tun wollte. Und er hatte mich in der Garage geküsst.

Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf meine Lippen. Er hatte mich geküsst und das vor den Augen anderer. Würde er das Zuhause auch wieder tun? Ich hoffte es. Es war schön mit ihm und das wollte ich nicht verheimlichen.

Kurz bevor wir Arkan erreichten, beschleunigte ich und fuhr winkend an Raphaels Wagen vorbei. Es war bereits kurz vor Mitternacht und in den meisten Häusern und Gärten war es dunkel, als ich vor Maricas Garten hielt und das Motorrad abstellte. Einen Moment war ich noch am überlegen, ob ich auf Raphael warten sollte, aber ich musste ziemlich dringend pinkeln. Also stürmte ich ins Haus und sofort weiter ins kleine Bad.

Als ich wieder heraus kam, hatte ich es so eilig, dass ich in meiner Hast, nicht auf den Schirmständer achtete. Ich rannte nicht nur dagegen, ich kickte ihn ausversehen durch den halben Flur. Es schepperte und rumste und schon in der nächsten Minute stand Marica verschlafen im Morgenmantel im Flur.

„Himmel, Kind, was machst du hier für einen Lärm?“

„Tut mir leid“, sagte ich zerknirscht und stellte den Schirmständer zurück an seinem Platz. „Ich hatte es nur eilig.“

„Warum? Wo willst denn jetzt noch hin?“ Sie schaute sich im Flur um. „Wo ist Raphael?“

„Der kommt gleich.“ Ich zeigte Richtung Garten. „Er musste mit dem Auto fahren, Babys darf man nicht auf dem Motorrad mitnehmen. Und ihre Sachen hätten da auch nicht raufgepasst.“

Autoscheinwerfer strichen über das Haus. Ein Wagen hielt in der Einfahrt.

Marica runzelte die Stirn. „Baby? Was für ein Baby?“

„Raphaels Baby.“ Als ihre Augen daraufhin ein wenig größer wurden, fühlte ich mich genötigt zu erklären: „Wir haben es gerade abgeholt, bis gestern wusste er selber nichts davon, darum …“

Sie ließ mich gar nicht erst aussprechen. Als sie bereits die Haustür öffnete, um nach draußen zu eilen, war ich noch immer dabei, mich nach ihr umdrehen. Sie hatte ein kleinen wenig geschockt gewirkt. Ich beeilte mich, ihr hinterher zu kommen.

Der schwarze Wagen stand hinter Maricas Auto in der Einfahrt. Raphael und Diego waren gerade dabei auszusteigen. Zu mehr kamen sie nicht, denn kaum das Marica ihren Sohn entdeckte, rief sie quer durch den Garten: „Du hast ein Baby?!“ Ihre Stimme war ein wenig schrill.

Raphael wirbelte überrascht zu ihr herum und wirkte mit einem Mal ein wenig unsicher. Sein Mund ging zwei Mal auf, bevor er ein schlichtes „Ja“ über die Lippen brachte.

Marica blieb mitten im Schritt stehen. „Wie kannst du … das ist … aber …“ Sie klappte den Mund wieder zu. Das war wohl ein wenig zu viel für sie.

Raphael seufzte und rieb sich müde über den Nacken. „Können wir erst mal die Sachen reinbringen, dann erkläre ich dir alles, okay?“

Sie schaute ihn einen Moment an und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich will sofort mein Enkelkind sehen, alles andere kommt später.“

Er schien widersprechen zu wollen, fügte sich dann aber einfach in sein Schicksal und wandte sich der Rückbank zu.

Seine Mutter reckte den Hals, als Raphael mit dem Kopf im Wagen abtauchte, um Zaira aus ihrer Babyschlale zu befreien. Er schien damit einige Probleme zu haben und dann fing die Kleine auch noch an zu weinen.

Aua, meine Ohren.

Etwas überfordert holte er das weinende, strampelnde und dick eingepackte Bündel heraus und drehte sich zu uns herum.

Marica trat bei diesem Anblick einen seltsam verzückter Ausdruck ins Gesicht. „Oh, du armes Ding“, murmelte sie in einem zuckersüßen Tonfall, den ich noch nie bei ihr gehört hatte. Ohne weiter auf ihren Sohn zu achten, nahm sie ihm die Kleine aus dem Arm und begann sie sanft im Arm zu wiegen. Dabei gab sie leise Schnalzlaute von sich.

„Ich weiß selber erst seit gestern von ihr“, erklärte Raphael.

Ich ging zu ihm und kuschelte mich an seine Seite. Als er dabei ganz automatisch den Arm um meinen Rücken legte, seufzte ich zufrieden.

„Was ist mit ihrer Mutter?“, wollte Marica wissen. „Ist sie …“ Sie verstummte wieder.

„Nein.“ Raphael schüttelte den Kopf und schien dann einen Moment überlegen zu müssen. „Ihre Mutter … meine Ex-Freundin ist ihre Mutter, aber leider erlauben ihre Lebensumstände es nicht, dass sie Zaira bei sich behält.“

Marica wischte dem wimmernden Bündel ein Tränchen von der Wange. „Wirst du mir jemals erzählen, wer sie ist?“

Dazu schwieg er. Trotz allem war die Beziehung zwischen ihm und Cayenne noch immer ein Geheimnis, von dem nur wenige wussten und es war das Beste für alle, wenn das auch so blieb.

„Nun gut“, sagte sie dann. „Am Besten gehen wir erstmal rein.“ Samt Baby kehrte sie uns den Rücken zu und ging aufs Haus zu. „Ich hoffe, du hast Milchpulver in dem Wagen, ansonsten kannst du nämlich gleich wieder losfahren und welches besorgen.“

 

°°°°°

Stechend gelbe Augen

 

Gähnend stocherte ich mit einem Löffel, in meinen Frühstücksflakes herum und schaffte es kaum meine Augen offen zu halten. Ich hatte nicht mal wirklich Hunger und schaffte es nur meinen Kopf oben zu halten, weil ich ihn mit dem Arm abstützte. Nicht mal die Dusche vor einer halben Stunde, hatte daran etwas ändern können.

Auch Raphael sah aus, als würde er jeden Moment einfach wieder einschlafen. Unter den Augen hatte er Ringe und sein Frühstück beschränkte sich auf die mittlerweile zweite Tasse Kaffee.

Uns gegenüber saß schmunzelnd Marica und wiegte eine putzmuntere Zaira in ihren Armen.

Vier Mal, so oft hatte die Kleine uns in der viel zu kurzen Nacht geweckt und trotzdem beobachtete sie nun aufgeweckt den kleinen Kuschelhasen mit der gepunkteten Schleife am Ohr, mit dem Marica vor ihrem Gesicht herum wackelte. Wie also kam es, dass sie nun so munter war, während ich fast über mein Essen einschlief?

„Wann fährst du rüber nach Pforzheim?“, fragte Marica ihren Sohn. Sie legte das Kuscheltier zur Seite, um nach ihrem Brot greifen zu können.

„So bald ich wach bin“, murmelte Raphael in seinen Kaffeebecher und nahm dann einen Schluck.

Mir fielen langsam die Augenlider zu. Sie waren so schwer.

Als Zaira ein Quietschen von sich gab, legte Marica ihr sofort eine Hand auf den Bauch. „Du kannst dich ja noch mal hinlegen, wenn du zurück bist. Ich passe dann solange auf unseren kleinen Engel auf.“

„Hmh“, machte Raphael nur und nahm noch einen Schluck.

Mein Kopf sank ein Stück nach vorne. Ich riss ihn sofort wieder hoch, nur damit er gleich wieder nach vorne sinken konnte.

„Und vielleicht solltest du von Unterwegs noch mal Kaffee mitbringen, du wirst es in der nächsten Zeit brauchen.“

„Danke für den Tipp“, erwiderte er ein wenig bissig, doch sie hatte nur ein Lächeln für ihn übrig.

„Ich habe dir eine Liste von den Sachen gemacht, die du besorgen musst.“ Sie schob ihn über den Tisch ein Blatt Papier zu. „Wenn du noch Geld brauchst, dann gib mir Bescheid und ich hole etwas vom Sparbuch. Ich hab zwar nicht viel, aber …“ Sie unterbrach sich, als es an der Haustür klopfte. „Bleib sitzen, ich mach schon.“

Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und dann hörte ich sich entfernende Schritte. Ich war so müde.

Eine Berührung am Arm ließ mich nicht nur die Augen aufreißen, ich warf vor Schreck auch noch meinen Löffel durch die halbe Küche. „Ich bin wach!“, rief ich und betrachtete den Milchklecks, den ich ausversehen verschüttet hatte.

Raphael bedachte mich mit einem milden Lächeln. „Geh wieder schlafen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Wir müssen doch nach Pforzheim fahren und Babysachen kaufen.“

„Das kann ich auch alleine machen, du musst nicht mitkommen.“

„Aber ich will mitkommen.“ Ich schob meinen Stuhl zurück und bückte mich nach dem Löffel. „Und dann können wir zusammen schlafen gehen.“

Vom Flur kamen ein paar Stimmen. Neben Maricas erkannte ich auch Lucys.

„Na schön, aber falls du es dir doch noch anders überlegst, ist das nicht schlimm.“

Als wenn ich es mir noch mal anders überlegen würde. Ich freute mich schon auf den Ausflug mit Raphael.

Marica kam gefolgt von Tristan und Lucy zurück in die Küche.

Raphaels angriffslustiger Blick heftete sich sofort auf seinen Bruder. „Du bist ein riesiges Arschloch“, war seine Begrüßung. „Mich einfach so ins offene Messer laufen zu lassen, war eine wirklich miese Nummer von dir.“

Tristan hob nur die Hände, als wollte er fragen: Was willst du jetzt hören?

„Spiel dich nicht so auf“, giftete Lucy ihn an und bediente sich eigenmächtig an der Kaffeemaschine. „Du warst es schließlich, der allem den Rücken gekehrt hat. Und mal ganz ehrlich, wärst du hingefahren, wenn du gewusst hättest, was dich erwartet?“

„Es mag dich vielleicht überraschen, aber ja, das wäre ich. Nur hätte ich nicht das Gefühl gehabt, dass mir jemand eine Bombe mitten ins Gesicht klatscht.“

Lucy schnaubte, sie glaubte ihm nicht.

„Es war wichtig, dass sie es dir selber erklärt“, sagte Tristan.

Nun war es an Raphael zu schnauben. „Gibt es einen Grund, warum ihr hier seid, oder wollt ihr mir einfach nur auf die Nerven gehen?“

„Wir wollten nur mal schauen, ob ihr gut angekommen seid“, sagte Lucy, stellte ihre Tasse ab und beugte sich über Zaira. Sie wackelte mit dem Finger über dem Gesicht der Kleinen herum. „Und wie die erste Nacht war.“

Raphaels Augen wurden eine Spur schmaler. „Woher wusstest du, dass ich sie mitgenommen habe?“

„Es gibt da solche Geräte, die nennen sich Telefone, weißt du? Darüber kann man sich mit anderen Menschen über große Entfernungen Dinge erzählen und Erlebnisse austauschen.“

Also hatte sie mit Cayenne gesprochen.

Raphael ließ seinen Kaffeebecher los, stand auf und schob Lucy sehr nachdenklich zur Seite. Naja, es war schon fast ein Schubsen.

„Hey!“

Er beachtete sie nicht weiter. Vorsichtig nahm er seiner Mutter Zaira aus dem Arm. „Ich werde die Kleine jetzt anziehen und dann gehen wir los.“

„Pack sie aber gut ein“, sagte seine Mutter. „Draußen ist es kalt.“

„Ich weiß.“ Er bettete die Kleine vorsichtig in seiner Armbeuge. „Gnocchi, hilfst du mir?“

Ich war von der Frage einen Moment so überrascht, dass ich zwei Sekunden brauchte, bis ich verstand, dass er mich meinte. „Ja, klar“, rief ich und eilte ihm dann hinterher.

In der letzten Nacht hatten wir nicht mehr viel gemacht. Das Gepäck von Zaira lag größtenteils noch unberührt vor Raphaels Schreibtisch. Nur das Reisebett hatte er aufgebaut und ans Fußende von seinem Bett gestellt. Dort legte er Zaira jetzt vorsichtig ab, bevor er sich über ihre Sachen hermachte.

Ich sprang aufs Bett, kniete mich ans Fußende und streckte der Kleinen meinen Finger entgegen. Sie begann sofort aufgeregt mit den kleinen Ärmchen zu wackeln und mich mit großen, eisblauen Augen anzuschauen. „Sie ist so klein.“

„Dafür aber laut.“ Schmunzelnd schaute Raphael zu mir rüber und nahm dann einen Satz Klamotten aus der einen Reisetasche.

„Wird sie uns jede Nacht so oft wach machen?“

Er schüttelte den Kopf und erhob sich. „Das ist nur am Anfang so. Aber wenn es dich stört, dann solltest du vielleicht in deinem Zimmer schlafen.“

Das gab einen empörten Blick. „Nein, ich mag nicht allein schlafen.“

Mit einem Lächeln, dass die Spitzen seiner Reißzähne preis gab, trat er ans Bett und warf die Sachen achtlos darauf. Dann hielt er mir die offene Hand entgegen.

Etwas verwundert nahm ich sie entgegen und folgte, als er mich aus dem Bett zog. Sobald ich stand, schlang er mir einen Arm um die Taille und drückte mich ganz fest an sich. „Danke“, sagte er leise. Sein Finger legte sich auf die tropfenförmige Phiole in meiner Halskuhle und streifte dabei meine Haut.

Ich spürte die Berührung bis hinunter in die Zehen. Das machte mir das Denken nicht unbedingt einfacher. „Ähm … wofür?“

„Einfach dafür, dass du da bist.“

Diese Worte berührten etwas tief in meinem Herzen und zum ersten Mal begann ich mich zu fragen, ob das, was ich für ihn empfand, mehr als Freundschaft war.

Seine Lippen senkten sich auf meinen Mund und in den nächsten Minuten wurde nicht mehr geredet. Erst als Zaira ein nach Aufmerksamkeit lechzendes Quietschen von sich gab, schafften wir es uns wieder voneinander zu trennen. Aber das Lächeln, dass auf unseren Lippen lag, wollte danach nicht mehr weichen.

Ja, dachte ich, als er sich von mir trennte und zum Babybettchen ging. Das war nicht nur Freundschaft. Amber war meine Freundin, aber bei ihr hatte es mich noch nie gestört, wenn sie mich nach einer Umarmung wieder losgelassen hatte. Es war auch nicht ihr Kuss gewesen, an den ich monatelang hatte denken müssen. Und nachts wollte ich nur neben einem schlafen.

Hatte ich mich vielleicht wirklich in Raphael verliebt? Wann nur was das passiert? Und … empfand er genauso?

Als er sich mit der Kleinen im Arm wieder aufrichtete, bemerkte er meinen Blick und zog die Augenbraue neugierig hoch. „Warum guckst du mich so an?“

„Ich weiß nicht.“ Ich zog meine Augenbrauen ein wenig zusammen. „Ich denke über etwas nach.“

„So wie du aussiehst, müssen das ja hochinteressante Gedanken sein.“ Er bewegte sich aufs Bett zu. „Kannst du mir mal die Wickeltasche geben?“

Konnte ich. Trotzdem dauerte es noch eine halbe Stunde, bis wir in dem alten Wagen von Marica saßen und nach Pforzheim fahren konnten. Fast zehn davon, gingen allein für den Versucht drauf, Zaira in ihre Babyschale festzuschnallen. Auf halben Wege mussten wir anhalten, weil Zaira das Auto für einen prima Ort hielt, ihre Windeln zweckgemäß zu benutzen. Das allerdings durfte Raphael in Ordnung bringen. Ich hampelte nur um ihn herum und schaute zu.

Fast eineinhalb stunden später fuhren wir dann in die Kleinstadt Pforzheim. Sie war groß, bunt und es gab hier unheimlich viele Menschen. Es erinnerte mich ein bisschen an die Zeit, in der ich als Straßenkind am Rande von Bobo-Dioulasso gelebt hatte, nur war es hier bei Weitem nicht so staubig und trocken.

Wir suchten zwei verschiedene Babygeschäfte auf, bis wir alles zusammen hatten, was Marica Raphael auf die Liste geschrieben hatten. Den größten Teil davon konnten wir im Wagen unterbringen, die Möbel allerdings würden wir ein anderes Mal holen kommen, dazu musste Raphael sich erstmal einen größeren Wagen besorgen.

Als der Kofferraum fast bis zum Bersten gefüllt war, setzten wir uns noch in ein Schnellrestaurant, um eine Kleinigkeit zu essen. Genau wie ich hatte Raphael am Morgen nichts gegessen, weswegen unsere Mägen mittlerweile um die Wette knurrten.

Während ich versuchte Pommes und Burger gleichzeitig in den Mund zu stopfen, hatte Raphael Zaira im Arm und gab ihr das Fläschchen. Beim nuckeln fielen ihr ständig die Augen zu, doch wenn er ihr die Flasche wegnehmen wollte, riss sie sie immer sofort wieder auf und begann kläglich zu wimmern.

„Was hat sie denn?“, fragte ich und beugte mich zu ihm rüber, um besser sehen zu können.

„Ich glaub sie ist müde. Kannst du mal an die Tasche gehen? Ich glaub da ist irgendwo ein Schnuller drin.“

Zwar musste ich ein wenig suchen, aber dann fand ich den Schnuller seitlich in der Wickeltasche und reichte ihn an Raphael weiter. Er tauschte ihn sofort gegen die Flasche aus. Zaira protestierte zwar noch einen Moment, gab sich dann aber damit zufrieden.

„Du machst das richtig gut“, bemerkte ich und tunkte eine von den Pommes in die Mayonnaise.

Er lächelte ein wenig schief. „Dabei habe ich die Hälfte der Zeit überhaupt keine Ahnung, was ich hier mache.“ Sein Daumen strich vorsichtig über ihre Wange. „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das schaffe.“

„Warum?“ Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lalamika sich einen Spaß daraus machte, von einem Tisch zum anderen zu springen. Ob nun Essen darauf stand, oder nicht, war ihr dabei völlig egal.

„So ein Baby ist eine große Verantwortung, Gnocchi.“

„Du schaffst das schon.“

Die Tür zum Restaurant öffnete sich und eine äußerst genervte Mutter mit zwei sehr lebhaften Jungs kam herein. Der eine Junge entdeckte die Spieleckte mit dem Bällebad und machte sie sofort auf dem Weg dorthin. Es interessierte ihn auch nicht, dass seine Mutter mehrmals nach ihm rief, sodass sie ihm hinterhergehen musste.

Der andere Junge blieb wo er war, schaute sich ein wenig um und bemerkte uns. Erst schaute er Raphael an, dann mich und anschließend Zaira. „Die hat ja Ohren“, bemerkte er.

Etwas verwirrt über diese doch reichlich seltsame Aussage, richtete ich den Blick auf die Kleine und bekam große Augen. „Raphael!“

„Mist“, sagte er nur zog der kleinen hastig die Mütze über den Kopf, um die kleinen, schwarzen Wolfsohren zu verbergen, die vor einer halben Minute noch nicht da gewesen waren. Die Bewegung weckte die Kleine natürlich auf und sie begann herzallerliebst zu weinen. Aus dem Schlaf gerissen zu werden, fand sie scheinbar gar nicht lustig.

Das plötzliche Geschrei hatte natürlich zur Folge, dass sich mehrere Leute nach uns umschauten. Doch sie sahen nur einen leicht überforderten Vater, der versuchte sein Baby zu beruhigen und wandten sich gleich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu.

Die etwas genervte Mutter hatte ihren kleinen Flüchtling wieder eingefangen und sammelte nun auch den anderen Nachwuchs ein.

„Das Baby hat komische Ohren“, sagte der Kleine, als seine Mutter ihn an die Hand nahm.

„Sowas sagt man nicht“, tadelte sie ihren Sohn und warf uns dann ein entschuldigendes Lächeln zu.

„Wirklich Mama“, versicherte er ihr, während sie mit ihren Kindern an den Tresen ging, um die Bestellung aufzugeben. „Die waren ganz schwarz.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie sich verwandeln kann“, bemerkte ich, sobald die drei außer Hörweite waren.

„Ich auch nicht.“

Aber wahrscheinlich sollten wir uns nicht wundern. Ihr Papa war zwei ein Vampir, ihre Mama aber ein Lykaner – zumindest zu Teil.

„Ich denke, wir sollten im Wagen aufessen“, überlegte Raphael.

War wahrscheinlich keine schlechte Idee. Ein paar Ohren ließen sich ja noch verbergen, aber wenn Zaira sich plötzlich in einen kleinen Welpen verwandelte, war das nicht mehr so einfach zu erklären. Also packten wir das Essen zusammen und verließen das Restaurant. Dabei entging mir nicht, dass der kleine Junge uns noch immer neugierig beobachtete.

Sobald Zaira sicher in ihrem Sitz auf der Rückbank untergebracht war, setzten wir uns vorne rein und ließen es uns schmecken. Dann ging es wieder nach Hause.

Ungefähr gegen Mittag kamen wir in Arkan an. Mittlerweile war ich schon wieder so müde, dass mir fast die Augen zufielen. Trotzdem half ich noch dabei den Wagen auszuladen. Auspacken taten wir aber nichts mehr. Marica nahm die kleine direkt in ihre Obhut und schickte uns beide hinunter ins Bett.

Ich hatte keine Ahnung, wer von uns beiden zuerst eingeschlafen war, doch es ging ziemlich schnell.

Als ich Stunden später blinzelnd erwachte, tastete ich ganz automatisch mit der Hand nach Raphael, nur um festzustellen, dass das Bett bis auf mich leer war. Nur langsam richtete ich mich auf und kratzte mich dabei am Kopf. Draußen war es bereits dunkel. Nun gut, das hatte um diese Jahreszeit nicht viel zu bedeuten.

Ich stieg aus dem Bett und ging hinüber in mein Zimmer, wo ich mir unter das weite T-Shirt von Raphael kurze Hosen anzog. Raphael hatte es in der Zwischenzeit zwar aufgegeben, mich zu tadeln, weil ich mich weigerte nachts mehr als ein Shirt anzuziehen, aber er fand es noch immer nicht lustig, wenn ich den ganzen Tag so herumlief.

Mit einem Gähnen in der Kehle, machte ich mich auf den Weg nach oben und fand Raphael mit seiner Mutter und Amber im Wohnzimmer. Zaira lag in Ambers Armbeuge und lauschte auf das seltsame Gurren, die sie von sich gab.

„Das ist ein Kind und kein Küken“, erklärte Raphael ihr. Er saß barfuß auf dem rechten Sessel. Lange konnte er auch noch nicht wach sein, seine Haare waren noch ganz zerzaust.

„Ach sei still“, war alles, was Amber dazu sagte. Als ich den Raum betrat, schaute sie jedoch auf. „Hey, da bist du ja.“

Ich gähnte noch einmal mit vorgehaltener Hand und wollte dann an Raphael vorbei, um mich neben Amber auf die Couch zu setzen, doch auf halben Wege griff Raphael nach meiner Hand zu zog mich zu sich auf den Schoß.

Im ersten Moment war ich ein wenig überrascht, aber ich wehrte mich nicht. Ich war gerne bei ihm und mochte es mich an ihn zu kuscheln.

Marica hob die Augenbraue ein wenig, sagte aber nichts dazu. Das dicke Buch vor ihr auf dem Tisch war scheinbar interessanter. Amber jedoch besaß diese Zurückhaltung nicht. Sie musterte uns direkt, sah wie Raphael seine Arme um mich gelegt hatte und mit dem Finger sanft über meinen Arm strich, während ich mich an ihn kuschelte.

„Nanu“, sagte sie und zog grinsend eine Augenbraue nach oben. „Hat da jemand sein Keuschheitsgelübde zu der Sauermine in den Schrank gelegt?“

„Was ist ein Keuschheitsgelübde?“, fragte ich, während Raphael nur meinte: „Halt die Klappe, wenn du nichts Gescheites von dir gibst.“

Ambers Grinsen bekam eine boshafte Note. „Ein Keuschheitsgelübde ist das Versprechen, sexuell enthaltsam zu leben.“

„Sowas hat er nicht.“ Das wusste ich ganz genau, schließlich hatten wir gestern Sex gehabt.

„Sag nichts“, knurrte Raphael, bevor Amber den Mund aufmachen konnte. Auch sein Blick warnte sie davor, doch Amber wäre nicht Amber, wenn sie sich davon einschüchtern ließ.

„Warum, bist du neuerdings prüde?“

Bevor Raphael dazu noch etwas sagen konnte, erhob Marica sich mit den Worten: „Ich decke Mal den Tisch für das Abendessen“ von ihrem Platz und verließ dann das Wohnzimmer.

Ich wollte aufstehen und ihr helfen, doch Raphael hielt mich fest. „Bleib hier“, murmelte er und hauchte mir einen so zarten Kuss in den Nacken, dass ich davon eine Gänsehaut bekam. In meinem Magen passierte dabei etwas ganz komisches und wieder fragte ich mich, war das Liebe?

Normalerweise würde ich sowas ganz direkt fragen, nur irgendwie … keine Ahnung. Irgendwie machte mich das Thema unsicher. Das war etwas ganz Ungewohntes für mich.

Amber hatte den Blick wieder auf das kleine Bündel in ihren Arm gerichtet. „Das ist schon ziemlich erstaunlich, oder?“

Da Raphael scheinbar keine Lust hatte, sich mit ihr zu unterhalten, fragte ich: „Was?“

„Zaira wurde an dem gleichen Tag geboren, wie die Prinzessin.“

Raphaels streichelnder Finger verharrte mitten in der Bewegung. „Was meinst du?“, wollte er scheinbar desinteressiert wissen, aber da er mich im Arm hielt, spürte ich, wie er sich auf einmal leicht anspannte.

Amber schaute ihn zweifelnd an. „Sag mal, bekommst du überhaupt irgendwas von deiner Umwelt mit?“

„Da dem scheinbar nicht so ist, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mich aufklären würdest.“

„Ich rede von Prinzessin Kiara. Du weißt doch, dass Königin Cayenne schwanger war. Die letzten Tage haben die Nachrichten ständig von ihr berichtet, weil sie sich tagelang auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte und niemand wusste, was los war.“

Da ich nicht sicher war, ob ich etwas dazu sagen sollte, folgte ich einfach Raphaels Beispiel und hielt den Mund.

„Heute morgen dann kam die frohe Botschaft. Letzten Mittwoch hat die Königin ihr Baby bekommen. Es wurde zwar nichts genaues gesagt, aber bei der Geburt soll es wohl ein paar Komplikationen gegeben haben.“

Ja, die Kinder waren nicht die, die sie sein sollten. Ich schaute zu Zaira. Was Amber wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie da Cayennes Baby im Arm hielt?

Amber beugte sich ein wenig vertraulich vor. „Ich denke ja eher, dass das Problem darin lag, dass das Baby nicht von König Nikolaj stammt, sondern von ihrem Galan. Wenn man mal nachrechnet, bemerkt man sofort, dass sie mit dem Kerl in die Kiste gehüpft sein muss, kam das der König tot war. Wahrscheinlich war die Königin sich einfach nicht sicher, wenn sie offiziell zu Vater erklären sollte.“

Nein, darin hatte das Problem nicht gelegen. Aber da ich nicht unnötig auf dem Thema herumreiten wollte, versuchte ich sie mit einer Frage abzulenken. „Was ist ein Galan?“

„Ein männliches Betthäschen.“ Auf meine verständnislosen Blick hin fügte sie noch hinzu: „Liebhaber, Geliebter, Konkubine, jemand mit dem man ins Bett geht. Der Sexfavorit der Königin, wenn du so willst.“

Ah, sie meinte Sydney.

„Prinzessin Kiara Amarok, Tochter von Königin Cayenne Amarok und Galan Sydney Sander, zweite in der Thronfolge des Rudels der Könige, Titel durch Blut. So wurde die kleine heute offiziell vorgestellt.“

Als ich den Kopf ein wenig drehte, bemerkte ich, wie Raphael mit dem Kiefer mahlte. Ich legte meine Hand auf seine und drückte sie leicht.

Da niemand etwas dazu sagen wollte, zuckte Amber über unser Desinteresse nur gleichgültig die Schulter. „Ich fand es halt nur interessant, dass Zaira am gleichen Tag wie die Prinzessin geboren wurde.“ Sie kitzelte die Kleine in an dem kleinen, schwarzen Wolfsohr, woraufhin Zaira mit den stämmigen Beinchen strampelte.

„Abendessen ist fertig“, rief Marica aus dem Nebenraum.

Wir drei erhoben uns praktisch gleichzeitig. Dabei fiel mein Blick auf das offene Buch. Da standen keine Worte drin, da waren nur Bilder und auf einem von den Bildern … ich runzelte die Stirn und trat näher heran. Die meisten von den Leuten, die da abgebildet waren, kannte ich nicht. Zwei jedoch schon. Die eine schien eine junge Marica zu sein. Sie war auf fast jedem Bild zu sehen. Auf einem hielt sie einen kleinen Säugling im Arm und lächelte glücklich in die Kamera. Aber es gab da noch ein Foto, das wie ein Lesezeichen locker hineingelegt worden war.

Ich nahm es zur Hand und schaute es mir noch genauer an, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht irrte. Die Frau auf dem Bild war unverkennbar Marica. Der Mann, der da eine Hand um ihre Hüfte gelegt hatte, war der Geist, der hier die letzten Monate herumgespukt war. Er hatte ein blaues und ein graues Auge.

„Gnocchi?“, fragte Raphael. Er stand schon an der Tür.

Anstatt zu ihm zu gehen, zeigte ich auf das Foto in meiner Hand. „Wer ist das?“

Raphael kam wieder herein und warf einen Blick auf das Bild. Augenblicklich verdunkelte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. „Das ist Gian.“

„Gian?“ Irgendwo hatte ich diesen Namen doch schon mal gehört, nur wo? Und wann?

„Mein Vater“, fügte Raphael etwas widerwillig hinzu, nahm mir das Bild dann aus der Hand und steckte es zurück in das Album zu den anderen Bilder. „Komm“, sagte er dann und nahm mich an die Hand, ohne auf meine aufgerissenen Augen zu achten.

Der Geist war Raphaels Vater? Aber … niemand hatte gesagt, dass er tot war. Wussten sie es vielleicht gar nicht? Amber hatte schließlich einmal erzählt, dass Raphaels Vater sich noch vor seiner Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Wenn sie danach nie wieder miteinander in Kontakt getreten waren, war es durchaus Möglich, dass er schon seit vielen Jahren tot war und niemand davon eine Ahnung hatte.

Als Raphael mich hinter sich in die Küche führte und mein Blick auf Zaira fiel, wurde mir noch etwas bewusst. Der Geist … nein, Gian hatte sich nicht in die Ewigkeit aufgelöst, er war wiedergeboren worden. Nur konnte ich nicht sagen, ob in Zaira oder Kiara.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Marica, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.

Was sollte ich darauf antworten? Sollte ich ihnen sagen, dass Gian tot war und scheinbar eine ganze Weile hier im Haus herumgespukt war, bevor er in einem der Zwillinge wiedergeboren worden war? Amber wusste, dass ich Geister sehen konnte, aber die anderen sollten es eigentlich nicht erfahren. Das würde nur zu viele Fragen aufwirbeln, die ich weder beantworten wollte noch konnte. Und vielleicht interessierte es sie auch gar nicht, was mit Gian geschehen war.

„Gnocchi?“, fragte nun auch noch Raphael.

„Ähm“, machte ich und setzte mich dann eilig auf meinen Platz am Tisch. „Ist noch etwas von der leckeren Wurst da?“

Er schaute mich zwar fragend an, nickte aber. „Ja, sie liegt direkt neben deinem Teller.“

„Oh, gut.“ Ich zog sie etwas näher zu mir heran und wich dabei seinem Blick aus. Vielleicht sollte ich erstmal nur mit Amber darüber sprechen, sie wüsste sicher, was ich tun sollte. Ja, das war eine gute Idee. Sobald ich mit Amber allein war, würde ich sie fragen.

Raphael setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf den Arm, als ich nach dem Brot griff. Dabei sah er mich sehr eindringlich an. „Ist wirklich alles okay mit dir?“

„Ich hab nur Hunger“, erklärte ich und lächelte ihn an. „Alles gut.“

Da in seinen Augen ein kleiner Zweifel blieb, war ich mich nicht so sicher, ob er mir glaubte, aber er fragte kein weiteres Mal nach.

 

°°°

 

Windeln wechseln, Fläschchen zubereiten, Bäuerchen machen, jede Menge Sabber und sich mit dem kleinen Bündel auf den Armen die Beine in den Bauch laufen, war das, womit Zaira das ganze Haus in den nächsten Wochen auf Trab hielt. Ein Baby war wirklich anstrengender, als ich mir das vorgestellt hatte.

Für Raphael war es sogar noch kräftezehrender, da er nachts noch im Club arbeiten musste. Mehr als einmal schlief er mit Zaira im Arm auf der Couch ein und ich nahm ihm die Kleine dann ab, damit sie nicht ausversehen herunterfiel.

Zum Glück hatten wir mit Marica jemanden im Haus, der sich nicht nur mit Babys auskannte, sondern auch gerne half. Mehr als einmal nahm sie ihrem Sohn ihre Enkeltochter ab und schickte ihn ins Bett.

Natürlich kamen reichlich Fragen auf, als Nachbarn und Freunde Zaira das zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Ihnen allen erzählte Raphael die gleiche Geschichte. Seine Ex-Freundin war schwanger gewesen, hatte ihm von dem Baby aber erst nach der Geburt erzählt. Da ihre Lebensumstände es aber nicht zuließen, sich um dieses Baby zu kümmern, hatte er sich seiner Tochter angenommen. Wenn man es genau nahm, war es nicht mal eine Lüge.

Nur wenn jemand etwas zu genau nachfragte, erklärte Raphael mit einem Ton in der Stimme, der jeden am widersprechen hinderte, dass es ihn nicht anginge und er nichts weiter dazu sagen würde.

Der kalte Winter wechselte in den milden Frühling. Der Schnee auf den Straßen schmolz und machte Platz für die ersten Blumen des Jahres. Es wurde wieder wärmer und Zaira schlief nachts endlich bis zu sechs stunden am Stück durch.

Anfang April wachte ich davon auf, dass die Sonne mir mitten ins Gesicht schien. Noch halb verschlafen richtete ich meinen Blick auf den Wecker neben dem Bett. Kurz vor zehn. Es war Sonntag und da Zaira uns noch nicht geweckt hatte, ging ich davon aus, dass Marica sie bereits aus dem Zimmer geholt hatte. Marica war eine Frühaufsteherin, darum kümmerte sie sich morgens meistens um die Kleine, damit ihr Sohn nach getaner Arbeit in Ruhe bis Mittags schlafen konnte.

Zufrieden kuschelte ich mich an Raphaels Rücken. Er lag auf der Seite und schlief noch. Eigentlich sollte ich ihn schlafen lassen, aber ihn direkt vor mir zu haben, war zu verlockend.

Ich beugte mich vor und hauchte ihm einen Kuss auf den Nacken, wie er es schon so oft bei mir getan hatte. Dabei legte ich einen Arm um ihn und begann ganz sanft seinen Bauch zu streicheln. Es dauerte eine ganze Weile, bis er auf meine gehauchten Küsse reagierte.

Ohne die Augen zu öffnen, fragte er: „Was machst du da, Gnocchi?“ Seine Stimme klang vom Schlaf noch ganz trunken.

Ich lächelte und ließ meinen Atem über seine Haut wandern, während meine Hand ein wenig tiefer glitt. „Ich spiele Wecker“, verriet ich ihm und hauche eine Kuss genau auf die Stelle, unter der sein Puls pochte. Er bekam eine Gänsehaut und regte sich nun doch. Aber nur, um einen Blick in der Babybettchen neben der Tür zu werfen.

„Deine Mutter hat die Kleine bereits rausgeholt“, erklärte ich, ohne das er erst fragen musste.

„Das heißt wir sind ganz alleine und ungestört?“

Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme und musste selber lächeln. „Noch einsamer geht es nur, wenn einer von uns das Zimmer verlässt.“ Meine Finger streiften den Rand seiner Shorts, doch bevor ich noch mehr tun konnte, wälzte er sich herum und schob sich über mich.

„Dann ist es wohl besser, wenn ich jeden Fluchtversuch von dir im Keim ersticke, damit du mich nicht einsam und alleine zurücklassen kannst.“ Seine Augen waren noch ganz verschlafen und das Haar von der Nacht zerwühlt.

Ich liebte diesen Anblick. „Wie willst du das denn anstellen?“, fragte ich schelmisch und strich ihm mit dem Finger am Hals entlang.

„So.“ Und ohne weitere Erklärungen, senkte er die Lippen auf meine und küsste mich, als sei er am verdursten und ich ein Brunnen.

Was genau das zwischen uns war, hatten wir bisher noch nicht näher definiert. Ich wusste mittlerweile, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Auch Amber hatte das gesagt, als ich einmal mit ihr darüber gesprochen hatte. Raphael jedoch … ich war mir nicht sicher, was das für ihn war.

Er hatte mich gerne um sich und seit wir uns das erste Mal ineinander verloren hatten, führten wir sowas wie eine Beziehung. Alle seine Freunde sagten, dass wir ein hübsches Pärchen waren. Raphael jedoch hatte bis heute keines dieser Worte in den Mund genommen.

„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“, fragte er zwischen zwei Küssen und schob mir gleichzeitig das Shirt hoch, bis kühle Luft über meine Brust strich.

„Sonntag.“

Er lächelte an meinen Lippen. „Heute vor genau einem Jahr, in einer verregneten Nacht, sprang mir ein klitschnasser Panther direkt vor den Wagen und hat sich dann einfach auf meine Rückbank gesetzt.“

„Wirklich?“ Ein Jahr war das erst her? Es kam mir vor, als würde ein ganzes Leben zwischen damals und heute liegen.

„Hmh“, machte er und begann ein wenig drängender zu werden. „Damals hätte ich dir am liebsten den Hals umgedreht.“

Ich kam ihn entgegen, indem ich nicht nur meine Arme, sondern auch meine Beine um ihn schlang. „Und heute?“, fragte ich und seufzte leise, als er mit den Lippen über meine Kehle glitt. Meine Augen schlossen sich flatternd.

„Heute bin ich froh, dass du noch sturer bist als ich.“ Er schob mein Shirt noch hör und küsste einen Pfad zwischen meinen Brüsten hindurch.

Oh, manchmal ist er ja schon niedlich, schmunzelte Lalamika vom Nachtisch.

Dem konnte ich nicht widersprechen, hauptsächlich, weil ich gerade viel zu sehr damit beschäftigt war, mich auf diese unglaublichen Lippen zu konzentrieren, die schon fast an meinem Bauchnabel angekommen waren und …

Die Zimmertür öffnete sich und Raphael riss mir mein Shirt so schnell runter, dass ich selber ein Stück mitgezogen wurde. Gleichzeitig griff er nach seiner Decke und riss die hoch.

Ich blinzelte etwas verblüfft und entdeckte Amber, die sich mit einem schelmischen Lächeln und verschränkten Armen an den Türrahmen lehnte. Wie immer war sie ganz in schwarz gekleidet. „Störe ich etwa?“, fragte sie scheinheilig.

„Ja tust du!“, fauchte Raphael und versicherte sich mit einem Blick, dass bei mir und auch bei ihm alles wichtige verdeckt war. Seine Fänge waren ein Stück ausgefahren und er erweckte den Eindruck, als würde er seiner Schwester gerne etwas an den Kopf werfen.

Lalamika kicherte und auch auf meinen Lippen lag ein Schmunzeln. Ich war nicht gerade begeistert, dass sie ins Zimmer gekommen war, aber so wie Raphael die Zähne bleckte, war das einfach nur süß.

„Raus hier!“, knurrte er und funkelte sie warnend an.

Ihre Mundwinkel kletterten noch etwas höher. „Reg dich nicht so künstlich auf, ich bin ja gleich wieder weg. Ich wollte nur wissen, ob ihr nicht Lust habt, mit zum See zu kommen. Josh hat angerufen und Tristan und Lucy sind auch dabei. Zum Baden ist es zwar noch ein bisschen kalt, aber ein bisschen frische Luft tut euch beiden sicher ganz gut.“

Ich horchte auf. Am See waren wir schon lange nicht mehr gewesen. Erst war es zu kalt gewesen und dann hatte Zaira uns auf Trab gehalten.

„Sehen wir vielleicht aus, als hätten wir gerade Lust an den See zu gehen?“ Raphaels Frage klang ein wenig feindlich.

Also wenn ich ehrlich war: „Ich will gehen.“

Raphael ignorierte mich. „Und an deiner Gesellschaft haben wir gerade auch kein Interesse.“

„Ich schon“, widersprach ich ihm.

Da legte er mich doch tatsächlich eine Hand auf den Mund. „Also sieh zu dass du aus meinem Zimmer kommst, sonst … au!“ Er riss seine Hand weg und guckte mich böse an.

Ich erwiderte seinen Blick mit Unschuldsmiene. Ja, ich hatte ihm in den Finger gezwickt.

Amber lächelte nur. „Nun kommt schon. Knutschen könnt ihr auch am See und wenn du es wirklich so nötig hast, Raphael, dann kannst du mit Ara ja mal kurz im Gebüsch verschwinden.“

„Au ja, das machen wir“, stimmte ich begeistert zu, auch wenn ich nur eine wage Vermutung hatte, was das genau bedeutete.

Mit einem genervten Stöhnen, ließ Raphael seinen Kopf an meine Schulter sinken. „Du machst mich echt fertig, Gnocchi.“

„Warum? Was habe ich gemacht?“

Amber lachte laut auf. „Ich gebe euch zehn Minuten, dann komme ich wieder“, verkündete sie und verschwand aus dem Türrahmen. Die Tür selber ließ sie einfach offen stehen.

Da Raphael sich nicht bewegte, berührte ich ihn vorsichtig am Kopf. „Bist du jetzt böse?“

Er gab ein seltsames Geräusch von sich, schüttelte denn aber den Kopf und schaute mich wieder an. „Nein, ich bin dir nicht böse.“ Zum Beweis, hauchte er mir einen Kuss auf die Lippen. Und dann noch einen auf mein Kinn. Sein Atem wanderte langsam über meinen Hals. Ihm schien der Sinn nach vielem zu stehen, nur nicht nach Aufstehen.

Ich vergrub meine Hand in seinem Haar. Das war so schön. „Heißt das wir gehen jetzt doch nicht zum See?“

Er hielt inne und seufzte dann. „Willst du wirklich da hin?“

Ich nickte. „Wir waren schon lange nicht mehr da.“

Langsam schob er sich wieder an mir hinauf, bis sein Gesicht direkt über meinem schwebte. Seine Augen waren ein wenig dunkler. „Na gut, wenn du möchtest, dann gehen wir.“

Das ließ mich strahlen.

„Aber vorher musst du noch etwas für mich tun.“ Auf seinen Lippen breitete sich ein Lächeln aus.

„Ja? Was denn?“

Sein Mund kam meinen ein wenig näher. „Ohne einen sehr langen Kuss von dir, werde ich nicht die Kraft haben aus diesem Bett zu steigen. Und naja, da ich auf dir liege, wirst auch du nicht aufstehen können.“

Uh, machte Lalamika. Der Vampir will spielen.

„Damit kann ich dienen.“ Lächelnd griff ich nach seinem Gesicht und zog ihn zu mir runter, doch kaum dass sich unsere Lippen berührten, hörte ich von der Tür ein schmachtendes Geräusch.

„Hach, ihr zwei seid so süß zusammen“, grinste Amber.

„Du bist ja immer noch da!“, fauchte Raphael und griff ins Bettzeug. „Raus hier!“ Eines der Kissen segelte quer durch das Zimmer, doch Amber wich ihm spielend leicht aus und verschwand lachend den Flur hinunter.

Dieses Mal achtete Raphael sehr genau darauf, dass sich ihre Schritte entfernten, bevor er den versprochenen Kuss sehr nachdrücklich einforderte und mich den See damit fast vergessen ließ – aber nur fast. Als er wieder damit begann mir an die Wäsche zu gehen, schubste ich ihn von mir runter und schlüpfte kichernd aus dem Bett, als er versuchte nach mir zu greifen.

„Du bist wirklich grausam“, rief er mir noch hinterher, als ich kichernd aus dem Zimmer floh und zu einer Dusche im großen Bad verschwand. Leider vergaß ich dabei mir frische Wäschen mitzunehmen und so musste ich anschließend in nichts als ein großes Handtuch gewickelt, in mein Zimmer huschen.

Ein Blick in Raphaels Zimmer verriet mir jedoch, dass er sein Bett in der Zwischenzeit auch verlassen hatte und so konnte ich mir ganz in Ruhe eine graue Caprihose und ein weißes Hemd mit Spagettiträgern anziehen. Den BH ließ ich einfach weg, der nervte mich immer.

Als ich zehn Minuten später in die Küche trat, sagte Marica gerade: „Ich gehe nachher zu Beatrice.“ Sie stand an der Anrichte und war damit beschäftigt ihren Teig von der Schüssel in eine Kuchenform zu kippen. „Zaira nehme ich mit.“

„Braust du nicht“, widersprach Raphael ihr sofort. Er saß mit seinem Kaffee auf dem Boden neben Zaira, die in ihrem weißen Stampler auf ihrer Spieldecke lag, während sie an seinem Finger nuckelte und ihn leidenschaftlich vollsabberte. Das hörte sich ein wenig eklig an, aber Marica sagte, dass das ein völlig normales Verhalten sei. „Es ist warm genug, sie kann ruhig mit an den See. Die frische Luft wird ihr ganz gut tun.“

Amber saß am Küchentisch und lauschte der Diskussion schmunzelnd.

Ich ging zu Raphaels Mutter und klaute mir die leere Schüssel, sobald sie sie zur Seite gestellt hatte. Dann lehnte ich mich an die Anrichte und kratzte mit einem kleinen Löffel die Reste aus der Schüssel. Hm, lecker.

Marica hielt in ihrem Tun einen Moment inne und schaute zu ihrem Sohn. „Ich nehme sie trotzdem mit. Beatrice ist ganz vernarrt in die Kleine und hat mir gesagt, dass ich ja nicht ohne sie auftauchen soll.“

„Was interessiert es mich, was Beatrice will?“, fragte Raphael grummelnd in seinen Kaffeebecher und verzog gleich darauf schmerzhaft das Gesicht. Nein, er hatte sich nicht am Kaffee verbrannt, Zaira hatte ihren kleinen Reißzähne in seinem Finger gebohrt.

Auch wenn Zaira ein Misto war, der Vampir war ein Teil von ihr und sie brauchte hin und wieder Blut. Da Vampirbabys aber aus offensichtlichen Gründen nicht auf die Jagd gehen konnten, mussten sie die ersten Lebensjahre von ihren Eltern gefüttert werden. Leider entwickelten sie das betäubende Sekret aber erst mit der Pubertät und so konnte ein plötzlicher Biss von ihnen ziemlich wehtun, besonders wenn sie schlecht zielten, oder die Nagelhaut trafen. Ich wusste das, bei mir hatte sie das auch schon das eine oder andere Mal getan.

Marica wandte sich wieder ihrem Kuchen zu. „Ich nehme sie heute“, beschied sie ihm. „Außerdem brauchst du mal ein wenig Erholung. Seit unser kleiner Engel im Haus ist, hattest du keinen freien Tag mehr und wenn du nur diese paar Stunden kriegen kannst, dann solltest du sie einfach nehmen und nicht ewig mit mir diskutieren.“

Zwar schien Raphael damit nicht zufrieden, aber er gab sich mit einem gemurmelten „Na gut“ geschlagen. „Aber wenn du Hilfe brauchen solltest, ruf an, ich nehme meine Handy mit.“

Dafür bekam er von seiner Mutter eine hochgezogene Augenbraue. „Spatz, ich habe dich großgezogen, da werde ich wohl ein paar Stunden allein mit meiner Enkeltochter auskommen, meinst du nicht?“

Statt zu antworten, löste er die kleinen Reißzähnchen aus seinem Finger.

Das fand Zaira natürlich gar nicht witzig. Erst verzog sie das Gesicht und dann begann sie herzzerreißend zu quengeln.

„Ich mach schon“, erklärte ich und setzte mich mit der Schüssel im Schoß neben die Kleine. Bevor ich ihr allerdings meinen Finger reichen konnte, nahm Raphael meine Hand und betäubte ihn vorsichtig. Dann hauchte er mir noch einen Kuss in die Handfläche und erhob sich dann.

„Ich geh mal kurz duschen.“

Amber grinste ihm hinter, als er zur Tür hinaus verschwand. „Er mag das nicht.“

„Was?“

Sobald Zaira meine Hand zu greifen bekam, zog sie sie an ihren Mund. Einen Moment nuckelte sie nur an dem Finger. Dann spürte ich einen leichten Druck, als sie ihre Zähnchen in der Haut versenkte.

„Dein Blut mit jemand anderem zu teilen.“

„Du meinst Zaira?“ Stirnrunzelnd schaute ich auf die Kleine.

Sie erwiderte den Blick mit großen, eisblauen Augen. Mittlerweile konnte sie schon allein ihr Köpfchen heben und vor zwei Tagen hatte sie es sogar geschafft, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen.

„Vampire sind ziemlich besitzergreifend“, verriet Marica mir und schob die Kuchenform in den Ofen. Ich hatte weder ihr noch Raphael bis heute gesagt, was ich über Gian wusste. Amber meinte, es sei das Beste, wenn wir die Vergangenheit in der Vergangenheit ließen und keine alten Wunden aufrissen. „Raphael hat bereits mehr als einmal von deinem Blut getrunken und damit ein Anrecht auf dich geltend gemacht. Es ist vielleicht albern, da Zaira ein kleines Baby ist, aber ein Vampir kann ziemlich eifersüchtig werden, wenn sich jemand an dem bedient, was ihm gehört.“

„Ich gehöre ihm?“, fragte ich zweifelnd.

Schmunzelnd begann Marica damit die Utensilien, die sie fürs Backen gebraucht hatte, wegzuräumen. „Es ist ein Instinkt, den jeder Vampir hat. Wir schützen dadurch die, die wir geschwächt haben, weil wir von ihrem Blut genommen haben.“

Das verstand ich nicht nur, das ergab sogar einen Sinn. Wenn auch auf eine sehr verquere Art. „Sag mal, hast du nicht gesagt, Tristan und Lucy kommen auch mit?“, wechselte ich das Thema.

„Wir treffen sie mit den anderen am See.“ Sie griff in die Ostschale auf den Tisch und nahm sich einen Apfel.

„Wer kommt denn noch alles?“

„Josh und Mariella.“

„Bronco?“

Sie schüttelte den Kopf. „Du kennst ihn doch, der war gestern sicher lange aus und wird heute ausschlafen.“

Wahrscheinlich. Dabei hätte ich mich gefreut, ihn mal wieder zu sehen. Ich war schon lange nicht mehr im Club zum tanzen gewesen. Wenn ein Baby so klein war, blieb halt nicht sehr viel Freizeit.

Während ich die letzten Reste aus der Schüssel kratzte und in meinem Mund verschwinden ließ, hörte der Sog an meinem Finger langsam auf. Zaira hatte wohl erstmal genug und verlegte sich nun darauf, meine Hand systematisch vollzusabbern. Das hatte jedoch ein Ende, sobald Marica fertig war.

„So mein kleiner Schatz“, sagte sie und klaubte sie vom Boden auf. „Wir beide werden dich jetzt erstmal schön baden.“

Ob sie nun verstand, was ihre Oma da sagte, oder nicht, sie Lächelte und gab ein Jauchzen von sich.

Ich war gerade dabei die Schüssel in den Abwasch zu stellen und meine Hand unter dem Wasserhahn von Zairas Sabber zu befreien, als Raphael frisch geduscht in einer langen Jeans und einem schwarzen Shrit in die Küche kam.

„Na endlich“, sagte Amber und erhob sich von ihrem Platz.

Raphael ignorierte sie. Er trat hinter mich, legte mir die Hände auf die Hüften und hauchte mir einen zarten Kuss auf die Schulter. „Zeig mir deine Hand“, verlangte er.

Sein Ton ließ mich lächeln, besonders nachdem war Marica mir gerade erklärt hatte. Auch wenn es mir Spaß gemacht hätte ihn ein wenig zu ärgern, drehte ich mich einfach herum und zeigte ihm den Finger, in dem zwei kleine Löcher waren. Ich wollte schließlich an den See.

Raphael schaute ihn sich einen Moment an und nahm in dann in den Mund. Die Haut begann zu kribbeln und sobald er ihn wieder frei gab, waren die kleinen Löcher verschwunden.

„Nun kommt mal in die Gänge“, kam es von Amber, als sie zur Tür hinaus ging. „Sonst ist es schon dunkel und wir stehen immer noch hier.“

„Okay.“ Ich gab Raphael noch einen schellen Kuss auf die Lippen und huschte dann an ihm vorbei aus der Küche.

Heute war es warm genug, sodass ich keine Jacke anziehen musste. Ich brauchte nur meine Schuhe und war schon zur Haustür raus, als Raphael seine noch mit den Füßen aus dem Schuhregal fischte. „Kommt schon!“, rief ich und eilte zum Gartentor, wo ich ungeduldig auf die beiden wartete.

Leider ließ sich keiner von den beiden von mir drängen und so musste ich ganze zwei Minuten aus sie warten. Ich war gerade am überlegen, ob ich einfach ohne die beiden losziehen sollte, da traten sie endlich aus dem Haus und schlossen sich mir an.

Unter den linken Arm hatte Raphael sich eine blaue Decke geklemmt, den rechen legte er mir um die Taille.

Zum See war es nicht weit und da ich ausnahmsweise einmal nicht versuchte, die Bäume in dem kleinen Wäldchen drumherum zu erklimmen, traten wir bereits zwanzig Minuten später an den schmalen Strand.

Nicht weit vom Wasser entfernt, auf einer grünen Decke saß Mariella und unterhielt sich mit Josh. Von den anderen war noch niemand zu sehen.

„Hey!“, rief ich und hüpfte zu den beiden heran. Direkt neben Josh ließ ich mich einfach auf die Knie fallen und schlang dann meine Arme um seinen Hals. Leider fielen wir beide durch meinem Schwung einfach um und ich landete der Länge nach auf ihm.

„Uff“, machte Josh und drückte mich dann lächelnd an sich. „Ich mochte es ja schon immer wenn Frauen mir um den Hals fallen, aber das war mir doch ein wenig zu stürmisch.“

„Du lässt wohl nach“, bemerkte Raphael und trat mit Amber zu uns. Er musterte unsere Konstellation einen Moment kritisch, tat dann aber so, als würde ihn das nicht stören und breitete die blaue Decke neben der von Mariella aus. „Dieses Fliegengewicht kann normalerweise nicht mal einen Grashalm umhauen“, erklärte er und setzte sich zusammen mit Amber auf den dunklen Stoff.

„Hey!“, protestierte ich und ließ von Josh ab. „Ich bin auch stark.“ Ich hob den Arm und spannte meinen Bizeps an. „Siehst du?“

„Oh ja“, schmunzelte Raphael. „Ich bin schwer beeindruckt.“

Ich kniff die Augen gespielt böse zusammen und stürzte mich auf ihn. Leider schien er damit bereits gerechnet zu haben. Er fing meine Arme noch in der Luft ab, riss mich dann einfach an sich und schlang seine Arme so fest um mich, dass ich auch mit Zappeln und drücken nicht mehr von ihm weg kam.

„Lass mich los!“, forderte ich und versuchte mich seitlich abzustoßen. Das einzig was ich damit erreichte war, dass wir zur Seite kippten. Aber loslassen tat er mich deswegen noch lange nicht.

„Hey!“, beschwerte sich Amber, als sie dabei fast von Raphaels Beinen getroffen wurde und rettete sich zu Mariella auf die Decke. „Pass doch auf.“

Als ich versuchte ihn wegzudrücken, packte er einfach blitzschnell meine Handgelenke und setzte sich rittlings auf mich drauf.

„Das ist unfair“, schmollte ich, wehrte mich aber nicht mehr. Ich wusste, dass es eh keinen Sinn hatte.

„Nein“, widersprach er und beugte sich so weit zu mir runter, dass seine Lippen direkt über meinen schwebten. „Das ist ausgleichende Gerechtigkeit.“ Und dann versuchte er mich mit einem Grinsen zu küssen.

Aber so einfach wollte ich es ihm nicht machen. Ich drehte den Kopf weg und kicherte, als er statt meinem Mund nur meine Wange erwischte. Leider ließ er sich davon nicht stören. Er ließ seine Lippen einfach ein wenig tiefer wandern und knabberte an der Stelle, an der er mich schon ein paar Mal gebissen hatte.

Mein Puls wurde sofort ein wenig schneller und sein leises Lachen jagte mir einen angenehmen Schauder über den Rücken.

„Mein Gott“, stöhnte Amber genervt und schlug nach Raphaels Bein. „Kannst du nicht mal fünf Minuten die Finger von ihr lassen?“

Anstatt zu antworten, fragte er sehr leise an meinem Ohr. „Warum sind wir gleich noch mal hergekommen, anstatt im Bett zu bleiben?“

Grinsend drehte ich ihm das Gesicht zu. „Weil wir schon lange nicht mehr am See waren und ich gerne her wollte.“

„Ah ja, ich erinnere mich. Dunkel.“

„Jetzt komm schon.“ Amber schlug ihm noch mal gegen sein Bein. „Fahr deinen Testosteronspiegel runter, ihr seid hier nicht alleine.“

Seufzend klaute Raphael sich noch einen Kuss, ließ dann aber von mir ab und setzte sich neben mich. „Gibt es eigentlich irgendeine Möglichkeit dich loszuwerden?“, fragte er Amber und zog mich mit dem Rücken an seine Brust, sobald auch ich mich aufgerichtet hatte.

„Nein, ich werde dir bis in dein Grab folgen.“

Mariella lächelte. „Wenn Raphael dich heute noch in den See schubst, solltest du dich nicht darüber wundern.“ Ihr blinder Blick war starr auf das Wasser gerichtet.

Eine leichte Brise fuhr über die Oberfläche und wehte uns die Gerüche von Natur und Frühling um die Nase. In der Mitte saß ein Angler in seinem Boot und genoss die Ruhe. Seichte Wellen schlugen um ihn herum und liefen sanft am Stand aus. Sie umspülten Lalamika, ohne sie jemals zu berühren.

„Wo hast du deinen kleinen Sonnenschein gelassen?“, wollte Mariella wissen und griff zielsicher nach ihrer Tasche. Ich wusste bis heute nicht wie sie das machte, aber ihre Blindheit schien sie nur in den seltensten Momenten einzuschränken.

„Marica will sie später mit zu Beatrice nehmen“, erklärte ich und kuschte mich mit dem Rücken näher an Raphael. Er hatte sein Kinn auf meine Schulter gelegt. Sein warmer Atem strich mir bei jedem Atemzug sanft über den Hals. Hm, vielleicht hätten wir ja doch im Bett bleiben sollen.

„Schade.“ Mariella zog aus ihrer Tasche eine Tüte mit Erdnüssen und öffnete sie. „Ich hätte sie gerne mal wieder …“ Sie stockte und hielt die Nase in die Luft. Ein kleines Runzeln erschien auf ihrer Stirn, als sie den Kopf drehte. „Riecht ihr das?“

„Was?“, fragte Josh, während Amber erklärte: „Niemand von uns hat so einen guten Riechkolben wie du also warum fragst du das immer?“

Sie ignorierte es einfach und streckte die Nase noch etwas höher.

„Was ist denn?“, fragte ich.

„Ich dachte nur …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ach, keine Ahnung, da war gerade nur so ein komischer Geruch.“

„Vielleicht hat ja Josh Deo versagt“, grinste Amber.

„Ha ha, sehr witzig.“

Raphael hauchte mir einen Kuss in den Nacken, von dem ich eine Gänsehaut bekam. Ich mochte es, wenn er so verschmust war, doch was ich noch viel mehr mochte, war, dass er es nicht wie beim letzten Mal vor seinen Freunden und seiner Familie verbarg. „Also ich finde, Josh riecht gut.“

Dafür bekam ich ein Lächeln. „Ich hab dich schon immer am liebsten gehabt.“

Raphael schnaubte. „Freitagabend hast du im Illunis noch so einer Blondine die Zunge in den Hals gesteckt.“

„Hey, sie hat geradezu darum gebettelt“, verteidigte er sich. „Ich konnte sie ja schlecht abweisen, wenn sie so einen guten Geschmack hat.“

Mariella unterbrach sich einen Moment beim erdnussknabbern und hob wieder die Nase. „Lucy und Tristan kommen.“

Bis wir uns von der Richtigkeit ihrer Worte überzeugen konnten, verging noch mal fast eine Minute. Erst dann traten Tristan und Lucy Hand in Hand aus dem schmalen Wäldchen. Wie bereits erwähnt, die Frau hatte eine wirklich faszinierende Nase.

Raphael beachtete weder seinen Bruder, noch wie er und Lucy zu uns kamen und alle begrüßten. Seine Lippen fuhren immer wieder über meinen bloßen Nacken, als wollte er mir damit sehr deutlich machen, was genau ich verpasste, weil ich nun mit ihm am See war.

Als Josh erzählte, dass nächste Woche in Pforzheim ein Jahrmarkt sein würde, biss er mir sogar ganz leicht in die Haut.

„Hey“, protestierte ich und riss meinen Kopf weg. Dabei verfing sich meine Kette an seinem Reißzahn. Der lockere Knoten löste sich und die tropfenförmige Phiole fiel in meinen Schoß.

Bevor ich sie nehmen konnte, hatte Amber bereits die Hand danach ausgestreckt und sie an sich genommen.

„Gib die wieder her“, sagte ich sofort. Das war meine, Raphael hatte sie mir geschenkt und ich fand es gar nicht lustig, wenn sie meinen Glücksbringer klaute.

Anstatt sie mir wiederzugeben, hielt sie sie hoch und beäugte den Inhalt. „Was ist das eigentlich?“

„Asche“, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen.

Sie schien sich ein Spaß daraus machen zu wollen und versteckte die Phiole hinter dem Rücken. „Asche?“

„Gib sie ihr wieder, Amber“, sagte nun auch Raphael.

Ich wartete nicht darauf, dass sie seiner Anweisung nachkam, löste mich einfach aus Raphaels Umarmung und griff nach ihr. Meine Hand ging ins Leere, da sie genau in dem Moment mit einem Grinsen zurückwich. „Das ist meine.“

„Na wenn das so ist.“ Sie erhob sich auf die Beine und trat ein paar Schritte zurück. „Dann komm und hol sie dir.“ Damit drehte sie sich herum und rannte los.

„Hey!“ Ich sprang auf die Beine und setzte ihr nach. Dass ich dabei Tristan fast über den Haufen rannte, bemerkte ich kaum, ich war viel zu sehr darauf konzentriert, Amber im Auge zu behalten und auf dem lockeren Sand nicht auszurutschen. „Bleib stehen!“, verlangte ich doch sie rannte nur lachend den Strand entlang.

„Komm und hol mich!“, rief sie und tauchte ein paar Meter weiter in den Wald ein.

Langsam wurde ich böse. Ich alberte ja gerne mit Amber herum, aber das wollte ich nicht. Darum beschleunigte ich meine Schritt noch ein wenig und rannte an genau der gleichen Stelle in den Wald, an der auch sie verschwunden war. Leider standen die Bäume hier ziemlich dicht und durch den erwachenden Frühling war auch das Unterholz nicht mehr so spärlich wie noch im Winter. Deswegen verlor ich sie bereits nach wenigen Metern aus den Augen.

Einen kurzen Moment folgte ich noch ihrem entfernten Lachen, aber dann verstummte auch das und mir blieb nur noch ihre Witterung in der Luft.

Das war jetzt wirklich nicht mehr witzig. Wenn ich sie erwischte, würde ich ordentlich mit ihr schimpfen. Ich nahm ihr ja auch nicht einfach ihre Sachen weg. Sowas machte man einfach nicht und eigentlich müsste sie das doch wissen.

Ich rannte noch ein ganzes Stück. Bäume und Büsche flogen an mir vorbei. Ihre Fährte lag deutlich in der Luft und zeigte wie ein Wegweise genau in die Richtung, in die sie verschwunden war. Doch auf einmal hörte ich zu meiner Linken ein Geräusch. Ich verlangsamte mein Tempo, bis ich schließlich ganz stehen blieb und drehte mich danach um.

War Amber im Kreis gelaufen und belauerte mich nun? Ihre Geruch führte auf jeden Fall geradeaus. Wachsam ließ ich meinen Blick über die Sträucher und das Unterholz wandern. Bis auf einem Vogel, hoch oben im Baum, bemerkte ich nichts Ungewöhnliches. Hatte ich mir das Geräusch vielleicht nur eingebildet?

Argwöhnisch wandte ich mich ab und setzte meinen Weg langsam fort. Plötzlich hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden und begann ganz automatisch zu schleichen. Amber musste hier irgendwo sein und lachte sich wahrscheinlich gerade ins Fäustchen.

„Das ist nicht lustig!“, rief ich und hoffte, sie damit herauslocken zu können. „Komm jetzt her und gib mir meine Phiole wieder!“ Ich drehte mich einmal im Kreis, konnte sie aber nicht entdecken.

Ein ganz komisches Gefühl überfiel mich, etwas das ich schon lange nicht mehr gespürt hatte: Angst. Die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf und ich bekam eine Gänsehaut. Plötzlich war mir die Kette völlig egal, ich wollte nur noch zurück zu Raphael und mich bei ihm verstecken. Ich wusste nicht mal warum, es war einfach so.

„Ich gehe jetzt zurück!“, rief ich ihr zu, wo auch immer sie sich versteckte. „Du bist gemein!“ Ich drehte mich herum und da hörte ich es wieder. Ein leises Knacken, wie von einem Ast.

Einen Moment war ich versuchte es einfach zu ignorieren, doch dann sagte ich zu mir, dass ich doch kein Feigling war und schaute mich nach dem Geräusch um. Zuerst erschien alles ruhig und normal, doch dann entdeckte ich unter einem Strauch ein paar stechend, gelber Augen. Sie starrten mich direkt an.

 

°°°°°

Auf lautlosen Tatzen

 

Einen Moment schwebten diese Augen direkt über den Boden. Dann, ganz langsam hoben sie sich. Höher und höher, bis sie auf der Höhe meines Oberkörpers waren.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als sich eine schlanke Gestalt lautlos und anmutig zwischen den Ästen und Blättern des Strauchs herausschob. Erst ein runder Kopf mit runden Ohren, kräftige Schultern, dann ein geschmeidiger Körper mit goldbraunem Fell, dass zu den großen Pranken hin fast weiß wurde. Unter den vielen, schwarzen Rosetten, die seinen ganzen Leib überzogen, fiel es kaum auf. Das letzte was folgte, war ein langer, eleganter Schwanz.

Nein, das war kein Wolf, das war ein Leopard.

Ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, schlich er wachsam auf mich zu.

Ich konnte nichts anderes tun, als dazustehen und ihn anzustarren. Mein Hirn weigerte sich zu begreifen, was da direkt vor mir war und was es bedeutete – da konnte mein Herz vor Angst noch so schnell schlagen.

Die Lippen des Leopard teilten sich. Er hob die Schnauze ein wenig, als wollte er die Luft prüfen. „Dirus“, sagte das wunderschöne Tier mit einem starken Akzent und senkte seinen Kopf leicht.

Das gab den Anstoß dazu, mein Hirn wieder zum Laufen zu bekommen. „Nein“, flüsterte ich und wicht mit vor Angst geweiteten Augen langsam zurück. Ein Ast zerbrach unter meinem Fuß, mein Körper begann zu zittern.

Ich wollte herumwirbeln und weglaufen, doch in dem Moment nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung war und bemerkte einen zweiten Leopard, der verborgen hinter ein paar Blättern auf einem tiefhängendem Ast gelauert hatte. Er schob sich ein wenig nach vorne und ließ sich dann graziös aus dem Baum fallen.

Ein Stück weiter erhob sich ein weiterer Leopard aus dem Unterholz und schlich geduckt auf mich zu. Drei. Nein, vier. Dort hinter dem dicken Stamm war noch einer.

„Bitte“, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. „Tut das nicht.“

Der wirklich muskulöse Leopard links von mir, lachte scharf auf und erschreckte mich damit halb zu Tode. Er stieß ein Schwall von Worten in meine Richtung aus, die ich nicht verstand.

Als Kind hatte niemand mit mir gesprochen, nicht bis Lalamika mich fand. Heute konnte ich nur noch sehr wenige Worte aus meiner Muttersprache.

„Komm mit“, sagte der Leopard direkt vor mir. Es war eine Frau mit einem so starken Akzent, dass die Worte darunter kaum zu verstehen waren. „Freiwillig.“

Irgendwo in der Ferne hörte ich jemanden nach mir rufen. Das war Amber, aber sie schien viel zu weit weg zu sein, als dass sie mir hätte helfen können.“

„Mach nicht schwer uns.“

Mein Atem wurde schneller, als sie immer näher rückten. Ich trat noch einen Schritt zurück und wirbelte dann herum, bereit die Flucht zu ergreifen, musste zu meinem Entsetzen aber feststellen, dass da noch ein fünfter Leopard war, den ich bisher gar nicht bemerkt hatte. Fünf. Ich allein gegen fünf.

Bilder stiegen aus meiner Erinnerung auf. Eine Tür die sich in der Nacht öffnete, grobe Hände die nach mir griffen und mich unter den sternenklaren Himmel zerrten, ein Tritt in meinen Magen, mein Vater mit Tränen in den Augen.

Lauf!, schrie Lalamika neben mir.

Ich wusste nicht, warum sie plötzlich bei mir war, aber ich wirbelte nach links und rannte los. Das Fauchen hinter mir spornte mich nur dazu an, noch schneller zu werden.

Trockenes Laub stob auf. Die Furcht lähmte mich nicht länger, sie trieb mich dazu an, alles zu geben. Im Zickzack rannte ich zwischen den dicken Stämmen und mit Frühlingsknospen behafteten Sträuchern entlang. Meine Angst machte mich blind und so rannte ich durch das Wäldchen, anstatt Kurs auf den See zu nehmen.

Ich war Amber nur ein paar Minuten durch den Wald gefolgt, Raphael war nicht weit weg, aber die Leoparden waren schneller und ich hörte sie näher kommen.

Blätter raschelten unter meinen Füßen. Ein aufgeschrecktes Eichhörnchen brachte sich eilig auf einem Baum in Sicherheit. Zweige und Stöcker brachen unter meinen Schritten. Ich musste mich unter einem tiefhängenden Ast hindurch ducken und wich einem Stamm nach links aus.

Lauf weiter!, trieb Lalamika mich an. Ihre geisterhafte Essenz schwebte direkt neben mir her. Schneller!

Ein paar Zweige schlugen im Vorbeirennen gegen meine Arme. Mein Hemdchens blieb an einem Strauch hängen und der Stoff riss ein.

Hinter mir fauchte einer der Leoparden. Es war so nahe.

Nicht umdrehen!, befahl Lalamika.

Ich wollte einen Baumstumpf ausweichen, da geschah es. Mein Fuß blieb an einer Wurzel hängen und ich schlug der Länge nach auf den Boden. Der Aufprall war hart. Ich versuchte mich mit den Händen abzustützen und schürfte mir dabei die Haut auf.

Genau in diesem Augenblick flog ein Leopard über mich rüber. Er hatte mich anspringen und zu Boden reißen wollen, doch die Wurzel war ihm zuvor gekommen.

Eine wertvolle Sekunde starrte ich ihn an, bevor ich mich besann und versuchte keuchend zurück auf die Beine zu kommen, doch kaum dass ich stand, prallte einer der Leoparden in meine Seite und warf mich wieder um. Seine Krallen bohrten sich in meine Schulter und rissen meine Haut auf.

„Nein!“, schrie ich, wälzte mich herum und schlug ihm instinktiv gegen den Kopf. Meine Krallen fuhren aus, schwarzes Fell spross aus meiner Haut und mein Körper begann sich zu verformen. Meine Hände wurden zu großen Tatzen, während ich mich herumwälzte, einer weiteren Pranke auswich und wieder vorwärts stürmte. Meine Sicht verschob sich, genau wie mein Schwerpunkt. Das Hemd zerriss, als ich auf alle Viere fiel und blieb achtlos im Geäst hängen, die Hose rutschte an meinem Fell ab und behinderte mich, bevor ich sie abschütteln konnte.

Jemand erwischte mich an der Flanke und schubste mich damit zur Seite. Fast wäre ich wieder hingefallen, doch ich zwang mich auf den Beinen zu bleiben und immer weiter zu rennen.

Da, zwischen den Bäumen, ich konnte den See sehen!

Ich gab noch einmal alles. Keuchend streckte ich meinen Körper und wurde sogar noch ein kleinen wenig schneller. Dann stürmte ich durch das Geäst und landete mit einem Satz an dem schmalen Strand.

Als ich versuchte eine Kurve zu machen, rutschte ich fast auf dem Sand weg.

„Ys-oog!“, schrie ich mit panischer Stimme und rannte mit langen Sätzen auf ihn zu. Er war vielleicht hundert Meter von mir entfernt.

Hinter mir brachen die Leoparden aus dem Wald.

Ich sah noch wie Raphael und die anderen bei meinem Schrei erschrocken aufschauten, da rammte der muskulöse Leopard mich auch schon in die Seite und schleuderte mich in den Sand. Ohne zu zögern, setzten die anderen nach und noch bevor ich es schaffte, wieder auf die Beine zu kommen, spürte ich Zähne, die sich tief in meinen Nacken gruben.

Ich fauchte, fuhr meine Krallen aus und begann um mich zu schlagen. Der Biss in meinem Nacken wurde fester und riss an mir. Ein zweiter Leopard packte mich an meinem Hinterbein und begann zu zerren. Sie wollten mich zurück in den Wald bringen.

Lasst sie in ruhe!, fauchte Lalamika und sprang fauchend und kratzend durch sie hindurch, doch sie konnten sie nicht sehen. Ihr täuscht euch, ich bin hier!

Ich schlug nach dem Leoparden an meinem Bein und erwischte ihn quer über der Nase sodass er mich losließ. Zappelnd und windend versuchte ich auch dem anderen zu entkommen. Wer auch immer mich da festhielt, hatte Probleme und rutschte mit den Zähnen langsam ab. Mein Nacken begann zu brennen. Ich roch Blut und als ich mich einmal um mich selbst drehte, war ich plötzlich frei.

Panisch wollte ich aufspringen und zu Raphael rennen, doch sie verstellten mir sofort den Weg, sodass mir gar nichts anderes übrig blieb, als einen Satz Richtung Wasser zu machen, um ihren Krallen auszuweichen.

Der Muskulöse warf sich auf mich. Seine Zähne bohrten sich in meiner Schulter und wir klatschten zusammen ins Wasser.

Ich schrie auf. Ein Schwall Seewasser lief mir in die Schnauze. Ich versuchte mich hoch zu drücken, wurde aber sofort wieder untergetaucht. Verzweifelt begann ich um mich zu treten. Meine Krallen erwischten etwas und ich schaffte es einen Moment an die Luft zu kommen, dann war mein Kopf wieder unter Wasser. Ein Leib drückte sich gegen meinen und al sich schon glaubte gleich ertrinken zu müssen, wurde er plötzlich von mir fort gerissen.

Hustend und nach Luft schnappend, tauchte ich wieder auf, wich noch weiter zurück und sah Tristan, der sich in den Nacken eines Leoparden verbissen hatte. Er hatte sich verwandelt. Gleich neben ihm schleuderte Raphael eine weitere Raubkatze einfach von sich. Seine Fänge waren zur Gänze ausgefahren.

Auch Mariella hatte sich verwandelt und schlich knurrend vor mir herum, während Lucy einem der Großkatzen einen derart heftigen Tritt gegen den Kopf verpasste, dass sie erst zur Seite torkelte und dann benommen zusammensackte.

Lalamika stand mit gesträubtem Fell vor mir am Strand. Ihre Augen funkelten vor Wut und Frust, weil sie nichts ausrichten konnte.

„Aufhören!“, rief eine von ihnen. Es war die Leopardin, die mich bereits angesprochen hatte. Mit gesträubtem Fell, schlich sie neben der am Boden liegenden Katze.

Raphael antwortete ihr, indem er sie mit gebleckten Reißzähnen anfauchte. Er wirkte, als würde er sie in Stücke reißen, sollte sie es wagen, auch nur einen Schritt näher zu kommen.

Lucy und Josh schoben sich wachsam hinter ihn und Tristan schlich leise grollend vor ihm hin und her.

„Verschwindet.“ Durch Raphaels lange Fänge war das Wort ein halbes Zischen.

Sie verschwanden nicht, aber sie wichen ein wenig zurück. Nur die Leopardin blieb wo sie war. Sie bedachte ihn mit einem kurzen Blick, richtete ihre Aufmerksamkeit dann aber auf mich. „Dirus“, sagte sie. „Komm.“

„Sprich sie nicht an!“, fauchte Raphael und machte einen drohenden Schritt auf sie zu.

Äußerst wachsam schaute sie von einem zum anderen und blieb dann an Raphael hängen. „Dich nichts angehen“, sagte sie in gebrochenem Deutsch, blieb dabei aber sehr ruhig, so als würde sie versuchen wollen die ganze Sache ruhig und sachlich zu klären. „Dirus von Cross-River-Meute. Wir suchen, Jahre suchen. Wir jetzt gefunden.“

Ich begann am ganzen Leib zu zittern und wich noch weiter ins Wasser zurück. Es reichte mir bereits bis an die Brust.

„Es ist mir scheiß egal, was ihr für ein Problem habt“, knurrte Raphael. „Komm ihr noch einmal zu nahe und du kannst dein eigenes Grab schaufeln.“

Einer der Leoparden versuchte dem, den Lucy einen Tritt versetzt hatte, auf die Beine zu helfen. Er schien einige Probleme zu haben. Immer wieder schüttelte er den Kopf und bangte um sein Gleichgewicht.

„Deine letzte Wort?“, fragte die Leopardin ihn.

Er brauchte dazu nichts zu sagen, sein Blick war ihr Antwort genug.

„Gut“, sagte sie und fügte dann noch ein paar Worte in ihrer Heimatsprache hinzu, woraufhin die Leoparden sich langsam zurückzogen und einer nach dem anderen wieder in dem Wäldchen verschwand. Nur sie blieb stehen. „Du nicht weißt, wer sie ist, stimmt? Sie dir nicht gesagt. Wenn du weißt, du sie nichts schützen.“

Sowohl Tristans, als auch Joshs Augen richteten sich auf mich.

Raphael jedoch, konzentrierte sich allein auf sie. „Es ist besser, wenn du jetzt verschwindest, denn sonst wirst du herausfinden, wer ich bin und glaub mir, wenn ich dir sage, dass dir das nicht gefallen wird.“

Hinter ihr raschelte es im Gebüsch. Ich rechnete schon damit, dass es noch nicht vorbei sein würde und sie zurückkamen. Meiner Kehle entrang sich ein leises Wimmern, doch es war nur Amber, die mit gerunzelter Stirn hinaus auf den Sand trat und erstmal stehen blieb, als sie uns sah. In der Hand hielt sie noch immer meine Kette, das Lederband hing links und rechts heraus. „Was ist hier los?“

Keiner beachtete sie.

„Frag“, ordnete die Leopardin an und wich rückwärts zu den Bäumen zurück. „Frag Dirus nach Lalamika, frag nach Imani. Du wirst verstehen.“ Noch einmal schaute sie mich an. In ihren Augen lag nicht nur das Versprechen, dass wir uns wiedersehen würden, sie erzählten mir auch, was bei diesem Treffen geschehen würde. Dann wandte sie sich ab und verschwand mit einem Satz im Wäldchen.

Ich begann so stark zu zittern, dass das Wasser um mich herum leichte Wellen schlug. Meine Augen waren weit aufgerissen und trotzdem bekam ich kam mit, wie Raphael zu mir herumwirbelte und zu besorgt zu mir ins Wasser stürzte. Es war ihm ganz egal, dass dabei sowohl seine Schuhe, als auch seine Hose völlig durchnässt wurden.

„Hey“, sagte er leise, als ich mich in meiner Panik duckte und vor seiner Hand zurückwich. Erst jetzt merkte ich, dass ich weinte. „Komm schon Gnocchi, alles ist in Ordnung.“ Seine Finger berührten mich am Kopf und mein Zittern wurde stärker.

Nichts war in Ordnung. Sie hatten mich gefunden, sie waren hier in Arkan und wollten mich holen. Mit einem Mal war die Furcht so übermächtig, dass ich einen Satz zu Seite machte und einfach losrannte.

„Gnocchi!“, rief Raphael mir hinter und setzte sich selber in Bewegung. „Warte!“

Wasser spritzte zu beiden Seiten auf, als ich zurück an den Strand sprang und einfach losrannte. Meine Schulter schmerzte und mein Nacken brannte.

„Gnocchi!“

Ich jagte über den Sand, vorbei an unseren Decken und hinein in das Wäldchen, dass den ganzen See umschloss. Wieder stiegen Bilder aus meiner Erinnerung auf. Ein großes Lagerfeuer, vorwurfsvolle Blicke, ein kleines Mädchen, das vor Angst zitterte. Ich spürte die Schläge und sah den kleinen, geisterhaften Leoparden, der mich mit großen Augen anstarrte und mich anschrie, dass ich laufen sollte.

Lauf! Lauf schneller, Ara! Lauf, sie sind direkt hinter dir! Die Stimme aus meiner Erinnerung trieb mich noch weiter an.

Ich spürte kaum wie meine Pfoten den festgetretenen Trampelpfad berührten. Keuchend jagte ich davon. Weg von der Erinnerung, weg von der Gefahr und dem, was mein Schicksal sein sollte.

Lauf!

Der Wald lichtete sich wieder und dann spürte ich Asphalt unter meinen Pfoten. Niemand rief mehr nach mir, als ich verängstigt durch die Straßen hetzte, bis endlich das Haus von Marica vor mir auftauchte. Ich hielt mich nicht lange mit dem Gartentor auf, sondern machte gleich einen Satz über den Zaun hinweg. Zwei Sekunden, mehr brauchte ich nicht, um den Garten zu durchqueren und auf der Veranda zu stehen. Aber ich hatte keine Hände, so konnte ich die Tür nicht aufmachen.

„Marica!“, rief ich und begann verzweifelt an der Tür zu kratzen. Meine Krallen hinterließen tiefe Kerben im Holz, aber niemand machte auf. Panisch schaute ich mich um, sprang dann von der Veranda und rannte um das Haus herum, in der Hoffnung einen anderen Weg hinein zu finden.

Lauf!

Da, das Badezimmerfenster war offen! Ohne auch nur einen Moment zu zögern, sprang ich darauf zu und schob mich dann durch das flache Fenster. Darunter ging es fast zwei Meter in die Tiefe, aber das war mir egal. Sobald ich mit dem Oberkörper durch war, stemmte ich mich mit den Vorderbeinen gegen die Wand und ließ mich einfach in den Raum fallen. In meiner Panik übersah ich das Regal und riss es mit mir zu Boden.

Es krachte und schepperte. Eine Flasche mit Parfüm zerbrach auf dem weisen Fliesen.

Oben gab Marica einen erschrockenen Laut von sich. „Was zum …“

Ich sprang zurück auf die Beine, jagte durch den Flur in Raphaels Zimmer und kroch mit wild schlagendem Herzen in die hinterste Ecke unter seinem Bett, wo ich mich ängstlich zwischen ein paar Kartons an der Wand zusammenkauerte.

Hier würden sie nicht so leicht an mich heran kommen. Bei Raphael war ich immer sicher gewesen, aber mein Körper wollte einfach nicht aufhören zu zittern. Sogar meine Zähne begannen zu klappern und ich musste sie fest zusammendrücken, um keine verräterischen Geräusche von mir zu geben.

Oben wurden Stimmen und Schritte laut.

Ich drückte mich tiefer in die Schatten und musste mir immer wieder sagen, dass ich hier sicher war und mir nichts passieren konnte.

Eilige Tritte auf der Treppe.

„… was hier los ist? Was ist mit meiner Tür passiert?“, hörte ich Marica fragen.

Ein Knurren antwortete ihr. Das war Raphael.

„Schaut euch das Badezimmer an“, sagte Amber.

„Sie muss zum Fenster reingekommen sein“, erkannte Lucy ganz richtig. In der nächsten Sekunde schon sah ich klitschnasse Turnschuhe im Türrahmen auftauchen. Sie verharrten einen Moment und verschwanden dann zu meinem Zimmer.

„Wo ist sie?“, fauchte Raphael.

Ich versuchte mich noch ein wenig kleiner zu machen.

„Warte.“ Ambers schwarze Stiefel erschienen vor der Tür und drehten sich dann langsam zu Raphaels Zimmer. „Sie ist hier, ich kann sie riechen.“

Die nassen Turnschuhe tauchten wieder auf und drängten Amber zur Seite. „Gnocchi?“

„Schau mal unter dem Bett“, sagte Lucy. Er hatte noch nicht mal ausgesprochen, da hatte Raphael den Raum schon durchquert und kniete sich vor das Bett.

Unsere Blicke trafen sich und in dem Moment als ich seine Sorge begriff, begann ich einfach zu weinen.

Sein Blick wurde weicher. „Gnocchi“, sagte er sanft und streckte mir die Hand entgegen. „Komm her.“

Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich noch kleiner zu machen.

„Könnte mir bitte jemand sagen, was hier los ist?“, fragte Marica.

„Das wissen wir selber nicht so genau“, sagte Lucy. „Da waren …“

Raphael brachte ihn mit einem warnenden Fauchen zum Schweigen. „Komm schon Gnocchi, ich bin hier, jetzt kann dir nichts mehr passieren.“

Als ich nichts weiter tat, als zu weinen und zu zittern, legte er sich auf den Bauch und schob sich mit dem Oberkörper unter das Bett. „Schhh“, machte er leise und berührte mit der Hand das nasse Fell an meiner Wange. „Hab keine Angst, niemand hier tut dir etwas.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Sie haben mich gefunden“, flüsterte ich mich brüchiger Stimme. „Sie sind hier.“

„Ich bin hier“, erwiderte er genauso leise und legte seine Hand auf meine Pfoten. „Glaubst du, ich würde erlauben, dass dir jemand wehtut?“

Wenn ich ehrlich war, war ich mir da nicht so sicher. Jetzt gerade würde ich noch nein sagen, aber wenn er die Wahrheit über mich wüsste … vielleicht würde er dann anders von mir denken.

Nein, das würde er nicht. Direkt neben ihm materialisierte sich Lalamika. Du bist ihm wichtig, Ara.

„Komm schon, Gnocchi.“ Der Griff um meine Pfote wurde fester und er zog daran. „Komm raus.“ Langsam rutschte er ein Stück rückwärts und zog mich mit sich mich.

Es wäre mir ein leichtes gewesen, mich gegen seinen Griff zu wehren, aber ich ließ mich einfach ziehen.

„So ist gut“, lobte er mich und kroch unter dem Bett hervor, ohne mich auch nur einen Moment loszulassen. Er robbte so weit zurück, bis er sich wieder aufsetzten konnte und dann noch ein Stück weiter, um mich herauszuziehen.

Sobald mein Kopf unter dem Bett auftauchte und ich all die besorgten und fragenden Blick sah, duckte ich mich ein wenig tiefer und wollte wieder zurückweichen, doch Raphael schnappte sich einfach meine zweite Pfote und zog mich heraus.

„Ist schon gut“, murmelte er, ohne meinem Blick auszuweichen.

Ich kroch einfach auf seinen Schoß und vergrub das Gesicht an seinem Bauch, als er mich vorsichtig in die Arme nahm.

Marica schnappte nach Luft. „Oh mein Gott, sie blutet!“

Obwohl es in Raphaels Armen warm war, konnte ich nicht aufhören zu zittern.

„Ganz ruhig“, murmelte Raphael und strich mir über das nasse Fell auf dem Rücken. „Hier kann dir nichts passieren.“

„Aber sie sind hier.“ Meine Krallen gruben sich in den Teppich.

„Nein“, widersprach er mir. „Sie sind wieder weg. Ich bin hier.“

Er war hier. Er hatte mich beschützt und sie verjagt. Er würde nicht erlauben, dass sie mir wehtaten. Langsam hob ich den Kopf und schaute ihn an. Schon damals im Hotel hatte er es mir gesagt, bei ihm war ich sicher.

Ich spürte, wie meine Haut zu kribbeln begann und mein Körper die Verwandlung einleitete. Krallen, Zähne und Fell bildeten sich zurück und noch bevor ich wieder ein Mensch war, lief Amber bereits zum Bett, schnappe sich eine von den Decken und legte sie mir über den Rücken.

Raphael nahm die Ecken der Decke und zog sie vor mir zusammen. Als der Stoff dabei über meine Schulter rieb, zuckte ich zusammen. Seine Lippen wurden schmal. „Mama? Kannst du mir eine Schüssel mit Wasser holen? Ich will ihre Wunden säubern.“

Ich drehte den Kopf ein wenig. Nicht nur Tristan und Lucy waren hier, auch Josh und Mariella waren mir gefolgt.

„Hier.“ Marica übergab Zaira an Lucy und verließ dann das Zimmer.

Eine Berührung am Kopf ließ mich den Blick heben. „Sagst du mir, was hier los ist?“, fragte Raphael leise.

Bei dieser Frage spannte ich mich automatisch an. Natürlich wollte er wissen, was hier los war. Er hatte nicht nur miterlebt, was gerade passiert war, er hatte auch gehört, was die Leopardin gesagt hatte.

Ich begann wieder zu zittern und schaute mich nach dem durchscheinenden Kätzchen um. „Mika“, flüsterte ich.

Ich weiß es nicht, das musst du alleine entscheiden.

„Mika?“, fragte Raphael. In seinem Kopf begann es zu arbeiten und auf einmal schien er sich an etwas zu erinnern. „Lalamika, deine Schwester.“

„Den Namen hat der Ailuranthrop auch gesagt“, bemerkte Lucy. „Lalamika und Imani.“

„Mika ist tot“, flüsterte ich und schaute zu ihr hinüber. „Sie können sie nicht sehen.“

Raphael neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was meinst du damit?“

Als ich nicht antwortete, sagte Amber: „Ihre Schwester ist ein Geist.“ Bis auf meinen, richtete sich jeder Blick im Raum auf sie. Naja, Zaira interessierte sich auch nicht besonders dafür. Sie fand es viel interessanter, Lucys Arm vollzusabbern. „Schaut mich nicht so an, ich meine das völlig ernst. Wahrscheinlich sitzt sie hier sogar gerade irgendwo bei uns im Raum.“ Sie machte eine weite Geste, die das ganze Zimmer einschloss.

„Das sind nur Gerüchte“, belehrte Josh sie. „Niemand kann Geister sehen.“

Sie warf ihm einen beinahe mitleidigen Blick zu. „Bedaure den, der nicht glauben kann.“

Raphael musterte mich, als fragte er sich, ob an den Worten seiner Schwester etwas dran war. „Ist Mika hier?“, fragte er leise.

Einen Moment schaute ich ihn nur an und dann, kaum merklich, nickte ich. Keine Ahnung warum, aber ich tat es einfach.

„Waren die Ailuranthropen deswegen am See?“

Ich biss mir auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus. Die Antwort war sowohl ja, als auch nein und verstehen konnte er es nur, wenn ich ihm alles erzählte. Aber wenn ich das tat, würde er mich dann immer noch so ansehen? Würde er mich weiterhin in den Arm nehmen und abends mit mir kuscheln?

Ich war mir nicht sicher, aber andererseits … „Ihr habt Amber doch lieb, oder? Obwohl sie eine schwarze Seele hat.“

Die Frage zog einiges an Stirnrunzeln nach sich.

„Naja“, sagte Josh dann. „Eigentlich … uff.“

Lucy hatte ihm den Ellenbogen in den Bauch gerammt.

„Natürlich“, sagte Raphael. „Amber gehört zu Familie und nichts und niemand kann daran etwas ändern.“ Er nahm mein Gesicht zwischen die Hände und beugte sich vor, als wollte er, dass ich keines seiner Worte verpasste. „Das Gleiche gilt für dich. Keine Wahrheit kann diese Tatsache auslöschen, dass du ein Teil dieser Familie bist.“

Bevor ich dazu etwas sagen konnte, tauchte Marica wieder auf und drängte sich mit einer Schüssel voll Wasser und einem Lappen in den Händen zwischen den ganzen Leuten durch. Mit einem „Hier“ stellte sie die Sachen neben uns ab. „Mach es gleich, bevor es anfängt zu heilen.“

Er ließ mich nicht aus den Augen. „Könnt ihr bitte rausgehen und die Tür hinter euch zumachen?“

Es dauerte ein wenig, bis der erste sich in Bewegung setzte und die anderen ihm dann folgten. Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken und dann waren wir beide alleine.

Raphael schaute mich noch einen Moment an, doch als ich nur schweigend den Blick senkte, seufzte er leise. „Setz dich bitte aufs Bett, ich will mir deine Wunden anschauen.“

Ohne ein Wort zu sagen, stand ich auf und setzte mich seitlich auf die Bettkante. Die Decke ließ ich dabei achtlos zu Boden gleiten. Er störte sich schließlich nicht mehr daran, mich nackt zu sehen.

Vorsicht hob Raphael die Schüssel auf und stellte sie auf den Nachttisch. Dann setzte er sich hinter mich. Ich hörte Wasser plätschern. „Das kann jetzt ein wenig wehtun“, warnte er mich vor und begann dann vorsichtig mit dem Lappen über meinen Arm zu wischen. Anfangs nur außen um die Wunde herum, dann begann er sie vorsichtig abzutupfen.

Ich versuchte still zu halten.

„Weißt du, wodurch die Beziehung zwischen mir und Cayenne kaputt gegangen ist?“

Die Frage überraschte mich zwar ein wenig, aber ich nickte. Mein Nacken begann sofort wieder zu brennen. „Weil sie Sydney liebt.“

„Nein“, widersprach er und wuscht den Lappen in der Schüssel aus. Das Wasser wurde sofort rötlich. „Weil sie mir nicht genug vertraut hat und anstatt mich um Hilfe zu bitten, Geheimnisse vor mir hatte. Sie war der Meinung, alle Probleme alleine bewältigen zu müssen und hat sich dabei dem einzigen Freund zugewandt, denn sie glaubte noch zu haben.“ Er verstummte einen Moment. „Ich will dich nicht bedrängen Gnocchi, deine Vergangenheit gehört dir alleine, aber nun schafft dein Schweigen eine Kluft zwischen uns und ich sage dir ganz ehrlich, dass mir das nicht gefällt.“

Meine Finger gruben sich in die Bettdecke.

„Sprich mit mir.“ Diese Worte waren schon fast ein Flehen.

Ich wollte nicht, dass sich zwischen uns etwas änderte. Ich wollte Raphael auf keinen Fall verlieren. Die Wahrheit konnte ihn vertreiben. Aber das konnte auch mein Schweigen.

„Bitte“, flüsterte er.

Mein Mund öffnete sich und dann kamen die Worte von ganz alleine. „Die Ailuranthropen erzählen sich viele Geschichten“, sagte ich leise, während er noch einmal vorsichtig über die tiefen Kratzer auf meiner Schulter tupfte. „Geschichten aus alter Zeit, die uns lehren sollen. Lalamika hat mir ein paar von ihnen erzählt.“ Ich atmete einmal tief ein. „Zu einer Zeit, als die Ailuranthropen noch die Könige der Wälder und Savannen waren, lebte eine Frau in einem kleinen Dorf inmitten eines üppigen Dschungels. Eines nachts, als das alte Jahr endete und das neue begann, gebar sie zwei kleine Jungs. Ihr Erstgeborener war weiß und unschuldig. Sie gab ihm den Namen Bonum. Nur Minuten später, brachte sie auch ihren zweiten Sohn zur Welt, doch dabei verstarb sie. Das zweite Kind war schwarz und mit dem Makel ihres Todes behaftet. Noch mit ihrem letzten Atemzug gab sie ihm den Namen Dirus.“

Wieder plätscherte das Wasser und dann spürte ich, wie Raphael die Wunde mit dem Finger berührte. Im ersten Moment tat es weh und ich zischte, aber dann begann die hat ganz leicht zu kribbeln und der Schmerz begann zu verblassen. Raphael heilte die Wunden mit seinem Speichel.

„Viele Jahre zogen ins Land. Die beiden Jungen wuchsen in der Obhut der Meute auf. Bonum war ein gutherziger Junge. Er war die Sonne, die das Dorf erhellte und jeder liebte ihn. Dirus dagegen, fiel vor allem durch seine missgünstige Art auf. Wo Bonum Freude brachte, säte Dirus Zwietracht. Sie waren wie Tag und Nacht und doch gehörten sie zusammen, denn ohne den Schatten, konnte auch das Licht nicht existieren.“

Vorsichtig strich Raphael mit dem Finger immer wieder über den ersten Striemen. Die Wunde prickelte und pochte dumpf.

„Eines Tages, als die Brüder schon erwachsen waren, begann Dirus sich für ein Mädchen zu interessieren, doch sie wies ihn ab. Aus Rache steckte er das ganze Dorf in Brand und weidete sich an den Schreien und den Schmerzen der Bewohner, während Bonum versuchte so viele wie möglich von ihnen zu retten. Es gab nur wenige Überlebende und diese beschlossen, dass Dirus dieses Mal zu weit gegangen war und er für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden müsste.“ Ich machte eine kurze Pause und erinnerte mich mit einem Blick auf Lalamika daran, wie die Geschichte weiterging. „Bonum versuchte die Dorfbewohner zu beschwichtigen und sie von ihrem Vorhaben abzubringen, doch ihre Trauer war so groß, dass sie nicht hören wollten. Sie töteten Dirus, ohne sich der Konsequenten bewusst zu sein.“

Als Raphael sich dem zweiten Kratzer zuwandte, zuckte Schmerz durch meine Schulter und ich musste einen Moment die Zähne zusammenbeißen. Insgesamt drei Striemen hatten die Leoparden mir dort gerissen und das Blut aus meinem Nacken spürte ich noch immer über meinen Rücken laufen.

Erst als der Schmerz wieder ein wenig nachließ, erzählte ich leise weiter. „Der Verlust seines Bruders traf Bonum so tief, dass er an dem Schmerz langsam zugrunde ging und Dirus in die Welt der Geister folgte. Am Ende blieb den Ailuranthropen nur das Nichts.“ Ich seufzte leise. „Viele Jahre später, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort, brachte eine Frau in der Nacht der Jahreswende, zwei kleine Mädchen zur Welt und verstarb bei der Geburt. Die Meute kannte die Geschichte von Bonum und Drius und beschloss, dem Unheil vorzubeugen, indem sie die Zweitgeborene sofort töteten. Wenn das Gute das Böse nicht kennenlernte, dann konnte sie es auch nicht lieben lernen und versuchen es zu beschützen. Sie hatten nicht verstanden, dass das Licht ohne den Schatten nicht bestehen konnte und so folgte die Erstgeborene ihrer Schwester schon nach wenigen Tagen in die Welt der Geister.“

Als ich dieses Mal in Schweigen verfiel, dauerte es sehr lange, bis ich den Mund wieder öffnen konnte, doch kein weiteres Wort kam mir über die Lippen.

Raphael wartete geduldig, doch als er merkte, dass ich nicht weitersprechen würde, sagte er leise: „Die Leopardin hat dich Dirus genannt.“

„Ich war die Zweite“, flüsterte ich und wusste nicht, wie ich es schaffte, die Worte über meine Lippen zu bringen. „Imani war der Name meine Mutter. In der Nacht von Silvester zu Neujahr, brachte sie zwei kleine Mädchen zur Welt.“

„Lalamika und Tarajika.“

Auf meinen Lippen erschien ein bitteres Lächeln. „Lalamika, ja. Sie war ein Albino. Das ist noch seltener als ein Panther. Mein Vater hat ihr diesen Namen gegeben, ich jedoch bekam keinen. Ich war die Zweitgeborene, ein Panther und dazu noch der Grund, warum meine Mutter bei unserer Geburt starb. Ich war nie mehr als ein Abbild von Dirus.“

Raphael verharrte einen Moment und dann spürte ich wie er mir einen federleichten Kuss auf die Schulter hauchte. „Sag mir, was passiert ist.“

Die Erinnerung flackerte in meinem Geist auf. „Die Cross-River-Meute kannte die Geschichte um Bonum und Dirus. Ein weißer Leopard bedeutet Glück und das wollten sie nicht leichtfertig verlieren, aber sie konnten auch nicht erlauben, dass ich Unglück über die Meute brachte.“

„Was haben sie mit dir gemacht?“ Die Frage klang sanft, doch in ihr klang ein wütender Unterton mit.

„Das einzige was sie tun konnten. Sie behielten Lalamika im Dorf und erfreuten sich an ihrem Wesen. Sie war ein Glückskind und wurde auch genauso behandelt. Mich jedoch mussten sie von ihr fernhalten, darum brachten sie mich bereits direkt nach meiner Geburt in eine kleine Hütte außerhalb des Dorfes und sperrten mich dort weg.“ Als ich die Augen schloss, konnte ich die bröckelnden Lehmwände, das löchrige Dach und den harten Erdboden direkt vor mir sehen, als wäre ich wieder dort. „Sie taten alles was nötig war, um mich am Leben zu erhalten, doch die meiste Zeit wollten sie mich einfach nur vergessen. Als ich älter wurde, taten sie das sogar manchmal“, fügte ich noch leise hinzu.

Der Griff an meinen Armen wurde ein kleinen wenig fester. Raphael schien sich dazu zwingen zu müssen, seine Finger wieder zu lockern und mit der Behandlung meiner Schulter fortzufahren.

„Bis ich sieben Jahre alt war, habe ich nichts anderes gekannt, als diese Hütte und den Blick durch das vergitterte Fenster. Ich konnte nicht sprechen oder … naja, ich konnte eigentlich gar nichts. Ich war ein verwildertes, kleines Kind. Das einzige andere Wesen, dass ich kannte, war Pandu, der Alpha meiner Meute. Er kam alle paar Tage zu mir, um mir Essen und Wasser zu bringen, aber ansonsten war ich immer alleine.“

Die Erinnerung an dieses Leben … heute schien es jemand ganz anderem passiert zu sein. „Eines Tages tauchte vor meiner Hütte ein kleines, weißes Mädchen auf. Sie schaute durch mein Fenster und bekam einen Schrecken, als ich von innen knurrend dagegen sprang.“

„Lalamika“, vermutete Raphael und wandte sich dem dritten Kratzer zu.

Ich nickte und bereute es sogleich wieder, denn mein Nacken protestierte bei dieser Bewegung. „Sie hatte keine Angst vor mir.“ Etwas das mich heute noch wunderte. „Sie kam zwar nicht mehr ans Fenster, aber sie sprach mit mir. Nicht nur an diesem Tag, auch an jedem anderen, an dem sie zu mir kam. Manchmal brachte sie mir sogar etwas zu Essen mit und einmal sogar eine kleine Puppe, die sie durch das Gitter in meine Hütte warf.“

Es war das erste Mal gewesen, dass ich richtiges Spielzeug hatte, aber ich wusste damit nichts anzufangen und hatte der Puppe den Kopf abgerissen. „Es dauerte mehrere Monde, bis ich Vertrauen zu ihre fasste und mit der Zeit, begann ich ihre Worte sogar ein wenig zu verstehen. Sie kam immer wieder, weil … da war etwas zwischen uns, eine Verbindung, wir beide konnten sie spüren. Wir begannen sogar voneinander zu Träumen. Damals hat sie mir auch meinen Namen gegeben.“ Ich seufzte leise. „Aber dann, fast ein Jahr nachdem wir uns das erste Mal gesehen hatten, stand Mika an meinem Fenster und plötzlich tauchte Pandu hinter ihr auf. Er wurde furchtbar wütend und schickte sie zurück ins Dorf. Ich habe sie drei Monde lang nicht mehr gesehen.“

„Aber sie kam wieder.“ Keine Frage, eine Feststellung.

Dieses Mal sparte ich mir mein Nicken. „Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, da stand sie auf einmal wieder vor meinem Fenster. Und nicht nur das, sie hatte Pandu sogar den Schlüssel für meine Hütte geklaut. Zum ersten Mal konnte ich aus meiner Hütte raus, aber ich hatte solche Angst, dass ich mich nicht weiter, als bis zur offenen Tür bewegte.“ Bei der Erinnerung daran, schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. „Aber Mika gab nicht auf. Obwohl Pandu es ihr verboten hatte, kam sie wann immer sie konnte zu mir und irgendwann traute ich mich auch aus meiner Hütte raus. Die Dinge die es dort draußen gab … es war eine ganz neue Welt für mich. Und nachdem wir das erste Mal am Fluss waren und ich sauber war, erkannten wir, das wir gleich aussahen. Mein Gesicht war so verdreckt gewesen, dass man mich darunter nicht hatte erkennen können und dann, eines Tages …“ Ich verstummte.

Raphael gab mir die Zeit, die brauchte, um mich zu sammeln und den Rest der Geschichte zu erzählen. Er wurde mit meiner Schulter fertig und wandte sich dann dem Nacken zu. Dort tat es ein wenig mehr weh.

„Mika kam zu mir und ließ mich heraus. Wir gingen zum Fluss am Wasserfall um Fische zu fangen. Es hat Spaß gemacht und ich freute mich schon darauf sie zu essen, aber … Pandu war zu diesem Zeitpunkt an meiner Hütte und musste mit Schrecken feststellen, dass sie nicht nur offen, sondern auch leer war. Also ist er mich suchen gegangen.“

„Und er hat dich gefunden.“

„Er hat uns gefunden.“ Ich zischte, als Raphael gegen eine der Wunden kam. „Wir waren oben am Wasserfall und auf einmal hat er gerufen. Mika hat sich erschreckt und ist auf den glitschigen Steinen ausgerutscht und dann … sie war einfach weg.“ Der Schmerz und das Entsetzen, die damals von mir Besitz ergriffen hatten, kehrten mit aller Macht zu mir zurück.

„Schhh“, machte Raphael, als er bemerkte, dass meine Atem immer schneller wurde. Seine Hände strichen beruhigend über meine Oberarme.

„Pandu, er … er brachte mich zurück in meine Hütte.“ Meine Worte waren kaum noch ein Flüstern. „Zwei Tage saß ich da und wusste nicht, was los war und dann waren da auf einmal ganz viele Leute vor meiner Tür. Sie zerrten mich heraus und als ich mich wehrte, schlugen und traten sie mich. Sie gaben mir die Schuld an Mikas Tod. Aber sie konnten sie nicht sehen. Sie glaubten, sie sei im Dazwischen und ich hielte sie dort fest.“

„Dazwischen?“ fragte Raphael leise?

„Der Ort zwischen hier und dort. Nicht bei den Lebenden, nicht bei den Toten, sondern dazwischen.“

Nur langsam nahm er seine Arbeit in meinem Nacken wieder auf. „Du kannst also wirklich Geister sehen?“

Da ich ihm sowieso schon alles erzählt hatte, brauchte ich nun auch nicht mehr zögern. „Ja“, sagte ich leise. „Wenn ein Ailuranthrop glaubt, ist es für ihn wahr. Wenn sie glauben, da ist nichts, dann ist da auch nichts.“

„Und sie glaubten, dass deine Schwester nicht da ist?“

„Es sind die Geschichten. Bonum und Dirus gehören zusammen. Wenn ich hier bin, kann Bonum nicht dort sein, weil ich ihn hier festhalte.“

„Aber dem ist nicht so.“ Vorsichtig strich sein Finger über meinen brennenden Nacken. Der Schmerz ließ ein wenig nach und wurde dann ganz taub.

„Ich kann sie sehen. Als Mika starb, kannte ich weder die Geschichten noch wusste ich, wer wir waren, oder warum man uns voneinander fern hielt. Das hat sie mir alles erst nach ihrem Tod erzählt.“ Nervös zupfte ich am Bettlaken herum. „Sie ist auch der Grund, warum ich heute noch lebe.“

„Wie das?“ Das Wasser in der Schüssel plätscherte wieder und dann spürte ich ich, wie es mir kalt den Rücken runter lief. Wortwörtlich.

Lauf! Lauf schneller, Ara! Lauf, sie sind direkt hinter dir!

Ich schloss ich die Augen, als ich mich daran erinnerte. „Nachdem sie mich aus meiner Hütte geholt haben, brachten sie mich ins Dort. Ich weiß noch, genau in der Mitte brannte ein großes Feuer wie eine riesige, rote Blüte. Ich hab mich davor gefürchtet, weil ich sowas noch nie gesehen hatte. Sie wollten mich töten, denn sie glaubten, nur so könne Mika Frieden finden. Dort sah ich auch zum ersten Mal mein Vater.“

Vorsichtig fuhr Raphael mit dem Lappen über meinen Rücken und tupfte dann wieder vorsichtig über die Wunde.

„Er sollte es tun. Er weinte, als er mich sah, aber nur aus Trauer um Mika. Ich verstand nicht, was um mich herum los war. Und dann stand plötzlichen meine Schwester neben mir, doch sie sah so anders aus. Sie schrie die Meute an, dass sie mich in Ruhe lassen sollten, aber niemand bemerkte sie. Sie schrie unseren Vater an, doch er war blind für sie.“ Langsam öffnete meine Augen sich wieder. Eine einzelne Träne hing in meinen Wimpern. „Mika sah mich an und sagte nur ein Wort: Lauf.“

„Und du bist gelaufen.“

„Ja.“ Das Wort war sehr leise. „Ich habe ihnen Sand in die Augen geworfen und bin dann um mein Leben gerannt. Durch den Dschungel. Durch den Fluss. Weg vom Revier der Meute. Wochenlang tat ich nichts anderes als Laufen. Dann war ich auf eine Stadt gestoßen und lebte fast ein Jahr an ihrem Rand. Mika lehrte mich die Dinge, die ich zum Überleben brauchte. Sie versuchte mich zu warnen, als die Fängerin auf mich aufmerksam wurde und sie ist auch der Grund, warum ich bei Jegor im Käfig nicht verrückt geworden bin. Sie war immer bei mir.“

„Du kannst deine Schwester sehen.“

Ich nickte und dieses Mal spannte es zwar ein wenig, tat aber nicht weh. „Sie und auch all die anderen Geister Ich sehe sie überall und zu jeder Zeit.“

„Und deine Schwester? Ist sie … ist sie jetzt hier?“

Ich drehte meinen Kopf leicht nach links und begegnete Mikas ruhigem Blick. „Sie sitzt neben uns. Sie findet dich niedlich.“

Raphael drehte den Kopf, als könnte er sie auch sehen, doch für ihn war da nur ein leeres Bett. „Können alle Ailuranthropen Geister sehen?“

„Ich weiß nicht.“

Nach einem Moment des Schweigens, ließ Raphael den Lappen in die Schüssel fallen. Das Wasser darin nun von einem hellen Rot. „Warum hast du mir das nie erzählt?“

Mein Mund ging auf, aber kein Ton kam heraus. Ich brauchte noch zwei Anläufe, um die Worte zu bilden. „Dirus ist schlecht und bringt Unglück. So jemand will niemand bei sich haben.“

Seine Finger berührten mich am Arm, doch dann ließ er sie fallen und erhob sich einfach.

Ich biss mir auf die Lippen. Ich hatte es gewusst. Er ging. Natürlich ging er, schließlich wusste er nun wer ich war und …

Wiedererwarten ging er nur um mich herum und setzte sich dann direkt vor mich auf die Bettkante. Er nahm einfach mein Gesicht und dann küsste er mich. Ohne ein Wort, ohne eine Frage. Nur ein Kuss, der so viel intimer zu sein schien, als alles was wir bis heute geteilt hatte.

Meine Hände hoben sich an sein Hemd und krallten sich in den Stoff. Dass er das tat … ich verstand es nicht, aber ich hatte Angst, dass er einfach so verschwinden würde, deswegen musste ich ihn festhalten. Selbst als er den Kuss löste, konnte ich nicht loslassen.

„Mir hast du nur Glück gebracht“, erklärte er und seine Augen strahlten einen Ernst aus, den ich gar nicht von ihm kannte.

„Ich bin Dirus“, flüsterte ich.

„Aber das wusste ich bis heute nicht.“ Er lehnte seine Stirn gegen meine. „Es ist wie mit dir und Mika. Du wusstest nichts von diesem Märchen und dem Dazwischen und konntest sie sehen.“

Da war schon etwas Wahres dran, nur … „Imani und Lalamika sind tot.“

„Es ist traurig, aber nicht ungewöhnlich, dass Mütter im Kindbett sterben und es sind auch schon viele Leute abgestürzt, die absolut nichts mit dir zu tun hatten.“

Ich schlug die Augen nieder. Es fühlte sich gut an, das zu hören, doch ich traute mich nicht, es zu glauben.

„Ich war noch nie abergläubisch“, sagte Raphael leise und legte mir eine Hand ans Kinn. „Und ich werde jetzt ganz sicher nicht damit anfangen. Für mich bist und bleibst du meine Gnocchi und keine Geschichte kann daran etwas ändern.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“ Er gab mir einen zarten Kuss auf die Lippen. „Danke dass du es mir erzählt hast.“

„Wirst du …“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Werde ich was?“

„Wirst du es den anderen erzählen?“

Sein Blick wurde etwas weicher. „Nicht wenn du es nicht möchtest.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich es wollte. Im Moment war ich einfach nur froh, dass er sich nicht von mir abwandte. „Was wird denn jetzt passieren?“, traute ich mich zu fragen.

Ein Lächeln zupfte an seinen Lippen. „Da du voller Blut bist und wir beide dank unseres Bads im See wahrscheinlich nach vergammelten Fisch riechen, würde ich vorschlagen, wir gehen erstmal duschen. Ich will nämlich unbedingt aus dieser nassen Hose raus.“

Ach ja, seine nassen Sachen. Die hatte ich schon ganz vergessen.

„Alles andere sehen wir danach, okay?“

Ich nickte.

 

°°°

 

„Lalamika ist der weiße Zwilling und Gnocchi der Schwarze. Sie glauben, dass der weiße Zwilling nur ins Paradies weiterziehen kann, wenn auch der schwarze Zwilling stirbt. Darum sind sie hinter ihr her.“

„Das ist alles?“, fragte Amber skeptisch. „Sie wollen Ara töten, weil sie angeblich böse ist?“ Ihre Worte trieften nur so vor ungläubigen Spott.

Ich lauschte dem Gespräch, ohne mich daran zu beteiligen.

Wir waren in der Küche. Nach dem Duschen hatte ich mir eine schwarze Leggins und ein langes, weißes Shirt angezogen. Jetzt saß ich rittlings auf seinem Schoß. Die Arme hatte ich zwischen uns gekreuzt und meine Wange lehnte an seiner Schulter, während er, nun wieder in trockenen Klamotten, auf einem Stuhl in der Küche saß und mich im Arm hielt.

„Die Ailuranthropen sind sehr abergläubisch“, bemerkte Marica. Sie saß uns gegenüber und stieß mit ihrem Fuß immer wieder den Wipper auf dem Boden an, in dem Zaira lag und friedlich schlief.

„Das ist mehr als nur abergläubisch“, sagte Josh. Genau wie Mariella war er noch immer hier. „Das ist schon fanatisch.“

„Wie eine Sekte“, stimmte Lucy ihm zu und fuhr mit den Fingern durch Tristans Fell.

„Was genau es ist, ist egal“, sagte Raphael. „Wir müssen überlegen, was wir dagegen tun.“

„Wir könnten versuchen mit ihnen zu reden“, überlegte Josh.

Lucy schüttelte den Kopf. „Der Tod ihrer Schwester ist nun schon zehn Jahre her und sie suchen trotzdem noch nach ihr. Ich glaube nicht, dass wir da mit reden groß weiterkommen.“

Amber Finger trommelten unruhig auf der Tischplatte herum. „Vielleicht sollten wir zu den Wächtern gehen und die das klären lassen.“

„Das nächste Wächterrevier liegt auf halben Wege nach Silenda“, gab Josh zu bedenken.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es die Ailuranthropen groß interessiert, was die Wächter zu sagen haben“, murmelte Raphael. „Du hast sie doch am See gehört. Sie glauben im Recht zu sein und paar Uniformierte, werden sie sicher nicht umstimmen, nur weil sie ihnen einen Klopfer auf die Finger verpassen.“

„Aber was sollen wir den sonst …“

Mariella riss den Kopf hoch und gab ein leises jaulen von sich.

„Mariella sagt, da kommt jemand“, kam es von Lucy.

Alle richteten ihre Blicke auf die Haustür, selbst ich.

Mit einem Mal begann mein Herz wieder zu rasten.

„Hey, bleib ruhig“, sagte Raphael sofort, der meine plötzliche Anspannung natürlich bemerkte. „Niemand hier wird zulassen, dass dir etwas passiert.“

Diese Worte hätten beruhigend sein müssen, doch das waren sie nicht. Die Wunden an meiner Schulter und in meinem Nacken waren zwar zum Großteil verheilt und Haut nur noch ein wenig empfindlich, doch mit einem Mal konnte ich dort wieder den Schmerz spüren. „Sie wollen mich holen“, murmelte ich.

Bevor jemand etwas dazu sagen konnte, klopfte es an der Tür. Das war der Moment, in dem mein rationales Denken sich verabschieden wollte. Ich sprang einfach auf und wollte blind losrennen, ohne überhaupt zu wissen wohin. Raphael schaffte es nicht mich festzuhalten.

Ich rannte in den Flur, nur um sofort wieder stehenzubleiben und zurück in die Küche zu eilen, wo ich mich hinter die Tür hockte und versuchte mich ganz klein zu machen.

Raphael war sofort bei mir. „Gnocchi, sie mich an.“

Kopfschüttelnd schlang ich die Arme um die Beine.

Wieder klopfte es an der Tür. Nachdrücklich, aber nicht ungeduldig.

Raphael nahm mein Gesicht in die Hände und zwang mich ihn anzusehen. „Ich werde weder erlauben, dass sie dir etwas tun, noch dass sie dich wegbringen, hast du das verstanden?“

Ich konnte ihn nur anstarrten, zu mehr war ich nicht fähig.

„Hast du mich verstanden?“, fragte er noch einmal sehr eindringlich.

Nur langsam schaffte ich es zu nicken.

„Gut.“ Er beugte sich vor und gab mir einen schnellen Kuss. „Bleib einfach hier sitzen. Du wirst schon sehen, alles wird gut“, versprach er mir bevor er sich aufrichtete.

Als es das dritte Mal klopfte, warf er seinem Bruder einen grimmigen Blick zu und verließ die Küche. Tristan und Lucy waren direkt hinter ihm und auch Marica erhob sich von ihrem Stuhl und stellte sich in den Rahmen der Küchentür.

Ich drehte mich ein wenig und beobachtete in dem schmalen Spalt zwischen Wand und Küchentür, wie Raphael die Haustür öffnete.

Vor ihm auf der überdachten Veranda standen zwei dunkelhäutige Männer. Der eine war schon ein wenig älter. Das dunkle, mit Rosetten gezeichnete Haar war an den Seiten angegraut. Sein Gesicht war wettergegerbt und vom Alter gezeichnet. Er war etwas kleiner als Raphael, die Schultern aber breiter und sein Blick hart.

Der andere Mann hatte kurzes Kraushaar. Von der Statur und Größe her, ähnelte er Raphael. Seine Nase war sehr lang und sein Kinn ziemlich spitz. Den Ausdruck in seinem Gesicht konnte man nur mit vergrämt bezeichnen.

Bei ihrem Anblick hätte ich fast angefangen zu wimmern.

„Ja bitte?“, fragte Raphael nach einer kurzen Musterung der beiden.

Der Mann mit dem angegrautem Haar ergriff das Wort. „Mein Name, Pandu Okonjo.“ Er legte sich eine Hand auf die Brust. „Ich bin Alpha von Cross-River-Meute in Nigeria. Das ist Rahsaan Buhari.“ Er deutete auf den schmaleren Mann neben sich. „Zweiter Mann.“

Raphael ließ sich nicht anmerken, dass er diese beiden Namen nicht zum ersten Mal hörte. „Und weiter?“

„Das“, - Pandu machte eine weite Geste durch Maricas Garten und deutete damit auf etwas, dass ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen konnte - „ist mein Meute.“

Nun spannten sich seine Schultern ein wenig an. Was auch immer er da sah, es gefiel ihm nicht.

Tristan drängte sich mit in die offene Tür. Er knurrte leise, aber niemand schenkte ihm Beachtung.

„Wir suchen Mörder, von sein Tochter.“ Pandu deutete auf meinen Vater, der nichts weiter tat, als schweigend neben ihm zu stehen. „Mein Tochter Luela hat gesehen heute, gesehen bei dir, an Wasser.“

Raphael schnaubte. Er verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. „Ich pflege zwar mit recht interessanten Leuten Umgang, aber so viel ich weiß, sind darunter keine Mörder.“ Er schaute zu Tristan runter. „Kennst du einen Mörder?“

Tristan grummelte etwas, was natürlich keiner der Männer an der Tür verstand, aber darum ging es auch gar nicht.

Die Augen von Pandu wurden eine Spur schmaler. „Du nicht lügen sollen, Junge, Luela hat gesehen. Ich kann riechen. Tarajika hier.“

Als ich meinen Namen aus seinem Mund hörte, krampfte sich etwas in mir zusammen. Er wusste wie ich heiße.

„Ah“, machte Raphael und nickte, als wüsste er auf einmal ganz genau, wovon er sprach. „Sie reden von meiner Gnocchi. Tut mir ja leid sie enttäuschen zu müssen, aber das einzige was die kleine Mieze jemals gekillt hat, war mein Handy und auch wenn ich darüber nicht sonderlich erfreut war, würde ich sie deswegen noch lange nicht als Mörderin bezeichnen.“

„Du nicht spotten. Tarajika meine Meute. Sie weggelaufen, schon vor viele Jahre.“

Raphaels Kopf sank ein kleinen wenig herab und bekam dadurch etwas Lauerndes. „Sie ist weggelaufen?“, fragte er scheinheilig. „Warum sollte sie sowas tun?“

Dieses Mal ließ Pandu sich mit seinen Worten ein wenig Zeit. Er schien zu versuchte Raphael einzuschätzen. Dabei ließ er weder den Vampir, noch den Wolf aus den Augen. „Was tust du mit Mörder?“, fragte er schließlich, statt Raphael zu antworten. „Was tust du, wenn jemand tötet dein Familie?“

„Ich würde ihn sicher nicht zum Kaffeekränzchen einladen“, sagte er und in seiner Stimme schwang eine eindeutige Warnung mit. „Fragen sie ihre Tochter, sie ist mir heute schließlich schon einmal begegnet und hat zu spüren bekommen, was passiert, wenn jemand gemein zu meiner Familie ist.“

Pandu ließ seinen Gegenüber nicht aus den Augen. „Luela hat nichts getan dein Familie, Luela war Jagd auf Tarajika.“

„Tarajika gehört zu meiner Familie.“

Damit brachte er den Alpha einen Moment zum Schweigen. Diese Worte schienen ihn einfach zu überrumpeln, so als könnte er es sich einfach nicht vorstellen, dass es irgendjemand gab, der mich nicht nur zu seiner Familie zählte, sondern das auch noch freiwillig zugab. „Sie hat getötet ihren Schwester.“

„Ja, das behauptet man. Und Imani ist bei ihrer Geburt gestorben.“ Er nickte. „Ich kenne die Gerüchte.“

„Du weißt?!“, fauchte mein Vater und gab damit zum ersten Mal eine Reaktion von sich. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. „Du weißt und schützt?!“ Er griff nach vorne, als wollte Raphael an seinem Shirt packen.

Pandu griff nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten. Gleichzeitig wich Raphael einen Schritt zurück, um nicht von ihm erwischt zu werden. Dabei stieß er gegen die Haustür. Sie schwang auf, bis sie ganz leicht gegen die Flurwand stieß und gab damit den Blick ins innerste des Hauses preis.

Pandu und mein Vater hatten sicher schon gerochen, dass sich außer Raphael und Tristan noch andere Leute im Haus aufhielten, doch nun konnten sie sie auch sehen. Nicht nur Lucy und Marica, auch Amber, Mariella und Josh, die still am Küchentisch saßen. Und sie konnten auch Zaira in ihrem Wipper sehen.

Pandus Blick heftete sich direkt auf das schlafende Baby. „Dein Kind?“, fragte er auch ganz direkt, hielt meinen Vater dabei aber weiter am Arm fest. Er schien das hier ohne Kampf ausfechten zu wollen.

Raphael antwortete nicht, doch seine Schultern spannten sich deutlich an.

„Sehr jung“, bemerkte er. „Sehr verletzlich.“

Aus mehreren Kehlen drang ein warnendes Knurren. Raphael sagte jedoch nur sehr ruhig. „Vorsichtig, sie bewegen sich gerade auf sehr dünnem Eis.“

Auch mein Vater starrte Zaira an. Und dieser Blick … er machte mir Angst. Ich wusste, dass es dumm war und dass ich eigentlich hinter der Tür sitzen bleiben sollte, aber auf einmal hatte ich den unbändigen Drang, die Kleine vor den beiden zu verbergen.

Ich krabbelte eilig hinter der Tür vor, streckte den Arm aus und zog den Wipper hastig zu mir heran.

„Da!“, rief meine Vater und zeigte mit ausgestreckten Arm auf mich. „Dirus!“

Amber und Josh sprangen gleichzeitig auf, als er einen Schritt auf das Haus zumachte. Im gleichen Moment zog Raphael hinten aus seinem Hosenbund eine Waffe und zielte damit direkt auf die Stirn meines Vaters.

Amber und Marica schnappten gleichzeitig nach Luft, Josh bekam große Augen. Ich verzog mich mit Zaira hinter die Tür. Die Kleine schlief einfach weiter.

„Keinen Schritt weiter.“ Raphaels Hand war ganz ruhig, genau wie seine Stimme. Jedem hier musste klar sein, dass er sowas nicht zum ersten Mal in der Hand hielt. „Ich werde nicht zögern“, warnte er.

Aus dem Garten hörte ich ein unzufriedenes Fauchen, von mindestens drei verschiedenen Ailuranthropen.

Der Ausdruck in Pandus Gesicht verfinsterte sich. „Du willst Mörder unter deine Dach? Mit deine Baby? Sie ist Gefahr.“ Er deutete auf die Küchentür. „Sie hat getötet ihren Schwester, sie tötet deine Baby.“

Raphael stieß ein spöttisches Schnauben aus. „Gnocchi würde meiner Kleinen niemals etwas tun.“

„Das du nicht wissen kannst.“

„Ich vertraue ihr.“

Durch das Küchenfenster sah ich eine Bewegung. Gleich darauf stellte sich ein Leopard an der Hauswand auf. Sein Atem beschlug die Fensterscheibe. Es sah mich und grollte leise.

Ich musste ein Geräusch von mir gegeben haben, denn Raphael warf einen kurzen Blick in die Küche. Er brauchte nur eine Sekunde, um den Leopard zu entdecken und seine Waffe dann auf Pandus Stirn zu richten. „Rufen sie ihn weg.“

Etwas selbstgefälliges trat in das Gesicht des Alphas. „Wenn du mich töten, meine Meute wird dich zerreißen.“

„Mag sein“, räumte Raphael ein. „Aber tot wären sie dennoch. Und bevor ich das Zeitliche segne, werden noch einige andere von deinen Leuten ins Gras beißen. Ich bin sehr schnell.“ Es klickte, als Raphael die Waffe entsicherte. „Sie haben die Wahl.“

Die beiden starrten sich eine ganze Weile an. Es war klar, dass keiner von ihnen nachgeben wollte, doch nachdem fast eine Minute verstrichen war, ohne dass jemand auch nur einen Muskel bewegt hatte, rief Pandu letztendlich ein paar unverständliche Worte in seiner Heimatsprache und der Leopard verschwand mit einem Fauchen vom Fenster.

„Er ist weg“, sagte Lucy sofort.

Marica verließ ihren Posten und verschwand aus meinem schmalen Sichtfeld. Es hörte sich an, als ginge sie ins Wohnzimmer.

„Sie dich verführt, mit falsche Worte“, sagte Pandu sehr leise. Hinter ihm im Garten schlichen mehrere Leoparden herum. „Sie deinen Geist verwirrt. Ich sagen dir, sie Gefahr, sie schaden dir.“

Darauf ging Raphael überhaupt nicht ein. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass sie sich all ihre kleinen, pelzigen Freunde schnappen und Arkan verlassen. Sie sind hier nicht willkommen.“

Als ich Marica im Nebenraum reden hörte, schnallte ich Zaira von ihrem Wipper los und hob sie vorsichtig auf meinen Arm. Sie quakte kurz und kniff die Augen zusammen, wachte aber nicht auf.

„Wir gehen nicht ohne Dirus!“, fauchte mein Vater. „Mein Tochter soll frei sein!“

Raphael neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich habe von dieser Geistersache zwar nicht viel Ahnung, aber Mika ist nicht im Dazwischen. Sie ist hier, bei Gnocchi.“

Pandus Augen wurden eiskalt. „Woher weißt du?“, fragte er sehr leise. „Du sie gesehen?“

Darauf sagte er nichts.

„Du sie nicht gesehen“, erkannte der Alpha ganz richtig. „Du glaubst falsches Wort.“

„Nein“, widersprach er ihm. „Ich erkenne die Wahrheit.“

Im Nebenraum redete Marica noch immer. Mir wem sprach sie nur?

„Wenn du Wahrheit erkennen, mach Weg frei und lass uns holen Mörder von Lalamika.“

Seine Worte machten mir Angst. Allein die Vorstellung, Raphael könnte zur Seite treten und die Ailuranthropen ins Haus lassen, ließ mich wieder zittern. Ich drückte Zaira ein wenig fester an mich. Er würde mich ihnen nicht ausliefern. Er hatte mich gerne und er glaubte mir. Ich hatte nichts Falsches getan.

„Wenn sie einen Mörder suchen“, sagte Raphael, „dann sollten sie vielleicht man in den Spiegel schauen. Es war ihr Auftauchen, dass zwei kleine Mädchen derart erschreckt hat, dass eine von ihnen in den Tod stürzte.“

Pandus ruhige Maske fiel. Mit einem Mal gab er sich nicht mehr die Mühe ruhig und gesittet zu wirken. Er zog die Lippen zurück und bleckte die Zähne. „Pass auf was sagen, Junge.“

„Warum? Weil sie die Wahrheit nicht akzeptieren können? Weil sie sich dann eingestehen müssten, all die Jahre eine Unschuldige gejagt zu haben?“ Er richtete sich ein wenig gerader auf. „Es ist mir egal, an was für Ammenmärchen sie glauben, oder zu was sie sich berufen fühlen. Hier gibt es nichts für sie und ihre Leute und ich werde es niemandem erlauben Tarajika zu nahe zu kommen.“

Nach diesen Worten weiteten sich Pandus Augen kaum merklich. „Du sie berührt“, flüsterte er schockiert und schob noch einen Schwall gemurmelter Worte in seiner Heimatsprache hinterher.

Mein Vater neben ihn versteifte sich ein wenig.

„Sag mir“, verlangte Pandu eindringlich. „Sag mir, du nicht gepaart hat mit Dirus.“

Auf dem Küchentisch erhob Lalamika sich. Oh nein, murmelte sie und schon in der nächsten Sekunde konnte ich das Wispern und Flüstern um mich herum hören.

„Warum sollte ich lügen?“

„Dirus anfassen bringt Unglück“, sagte Pandu wie eine düstere Prophezeiung. „Du nicht weißt, was du getan.“

Das Säuseln wurde stärker. Rund um Raphael herum bildeten sich aus dem Nichts formlose Nebelschwaden die unbeständig um ihn herum schwebten.

„Ich kann ganz ehrlich sagen, das Gnocchi mir viel gebracht hat, aber Unglück war nicht dabei.“

Sowohl Pandu, als auch mein Vater hörten ihm gar nicht mehr richtig zu. Bei dem Anblick der vielen Alten, die nicht nur im Haus, sondern auch auf der Veranda und im Garten erschienen, wichen sie beide unwillkürlich einen Schritt zurück.

Mein Vater flüsterte ein paar Worte und schaute sich nach etwas um, das weder Raphael noch die anderen Leute im Haus sehen konnten. Aber ich sah es. Ich sah es und ich hörte es und was die Alten sagten, ließ es mir eiskalt den Rücken runter laufen.

Ich hab es dir gesagt, flüsterte Lalamika. Ich hab dir gesagt, dass sie sich an andere wenden werden, wenn du es nicht tust.

„Todbringer“, murmelte Pandu.

Ich dachte gar nicht weiter darüber nach, als ich aus meiner Deckung kam und mich an Amber und Josh vorbei in den Flur drängte. „Lasst ihn.“

Raphael schaute sich erschrocken nach mir um, doch ich konzentrierte mich ganz auf Pandu.

„Du schützt Todbringer.“

„Ihr seid die Todbringer, nicht er“, erwiderte ich ruhig. Auch wenn meine Stimme ruhig klang, meine Herz schlug mir bis zum Hals. „Er hat niemanden etwas getan.“

Zaira begann sich in meinem Arm zu regen.

Ich drückte sie mit zitternden Fingern näher an mich heran. „Er ist ein guter Mann.“

„Früher vielleicht.“ In den Augen meines Vaters brannte sein Hass. „Dann kamst du.“ Als er begann den Säugling in meinen Armen zu fixieren, schob Raphael mich mit seiner Freien Hand hinter sich.

„Sieh sie nicht an.“ In seiner Stimme schwang eine deutliche Warnung mit.

Das Murmeln der Alten wurde immer lauter. Es drängte in die Köpfe der Ailuranthropen, die unruhig durch unseren Garten streiften.

„Geht!“, fauchte ich sie an. Sie waren hier, sie könnten helfen und den Ailuranthropen alles über Lalamika erzählen, aber sie taten es nicht, denn es war weder wichtig für sie, noch für die Welt. Stattdessen versuchten sie nur die Meute gegen Raphael aufzuhetzen. „Verschwindet!“

„Du nicht das Recht, mit ihnen zu sprechen“, grollte Pandu. Er schien nur auf den Richtigen Moment zu warten, um sich auf mich stürzen zu können.

„Aber sie hat Recht“, sagte Raphael, der aus verständlichen Gründen wohl davon ausging, dass wir über die Ailuranthropen sprachen. Sein Blick hob sich etwas und fixierte einen Punkt hinter Pandu und meinen Vater. „Dieses Gespräch ist nun beendet.“

Als hinter ihnen das Gartentor quietschte, drehten die beiden sich unisono um und mussten feststellen, dass die Straße hinter ihnen nicht länger leer und verlassen war. Dreißig, vierzig, vielleicht fünfzig Leute strömten auf Maricas Haus zu. Weit über die Hälfte von ihnen waren Lykaner, viele befanden sich in ihrer Wolfsgestalt. Ein Paar traten in den Garten hinein, zwei der Wölfe sprangen über den Zaun und scheuchten damit einen der Leoparden weg.

Ich erkannte May und Enzo, die Besitzer des Supermarkts. Roger, Raphaels Freunde und Nachbarn. Sogar die alte und runzlige Beatrice kam auf ihrem Gehstock angezockelt. Die meisten jedoch waren mir unbekannt. Wo kamen die nur alle auf einmal her?

Die Meute von Pandu zog sich ein wenig zusammen und schaute sich unruhig um. So vielen Leuten waren sie Zahlenmäßig unterlegen.

Aus dem Wohnzimmer kam Marica und drängte sich an mir vorbei in die vorderste Reihe. In ihrer Hand hielt sie das schnurlose Telefon aus dem Wohnzimmer. Sie drückte Raphaels Hand mit der Waffe runter und wandte sich dann direkt an den Anführer der Meute. „Dies ist ein kleiner Ort“, erklärte sie, während die Leute sich draußen vor dem Zaun drängten und alles still und wachsam im Auge behielten. „Manche von uns kennen einander bereits seit sehr langer Zeit. Glauben sie wirklich, wir würden uns im Notfall nicht beistehen?“ Ihre Augen wurden ein wenig schmaler. „Besonders wenn es um unsere Kinder geht?“

Marica hatte sie alle hergerufen, wurde mir klar. Sie hatte die ganze Zeit im Wohnzimmer telefoniert und die Leute gebeten zu helfen.

Mein Vater fauchte unwillig. „Dirus mein Kind.“

„Ach wirklich?“ Marica tat überrascht. „Dann können sie mir sicher eine Frage beantworten: Was isst sie am liebsten?“ Sie wartete einen Moment. „Wissen sie das etwa nicht? Wie wäre das dann mit dieser Frage: Was macht sie gerne? Oder … wer sind ihre Freunde?“ Sie funkelte den Mann an. „Sie behaupten, sie wäre ihr Kind, aber sie wissen gar nichts über dieses Mädchen. Wir sind ihre Familie und jetzt verschwinden sie, bevor es hier für sie ungemütlich wird.“

Mein Vater zeigte ihr die Zähne, doch Pandu gebot ihm sofort mit einer Geste Einhalt. Der Alpha starte er mich an, dann Raphael, bevor er sich Marica zuwandte. „Dirus wird sterben. Todbringer wird sterben.“ Zum Schluss ruhte sein Blick einem Moment auf dem nun mittlerweile unruhigen Bündel in meinen Armen. „Nicht vorbei.“

Er rief einen lauten Befehlt und augenblicklich setzte sich jeder Leopard der Meute in Bewegung. Grollend und fauchen schlichen sie auf das Gartentor zu.

Die Anwohner von Arkan machten ihnen Platz, behielten sie aber ganz genau im Auge. Mein Vater folgte ihnen unzufrieden. Pandu war der letzte, der uns den Rücken kehrte und mit hoch erhobenen Kopf davon ging.

Sein letzter Blick jedoch, das Versprechen darin … es machte mir Angst. Ich hatte ihn nicht zum letzten Mal gesehen, da war ich mir sicher.

Raphael fackelte nicht lange. Noch bevor die Ailuranthropen den Garten verlassen hatte, wirbelte er zu mir herum und ließ dabei die Waffe wieder in seinem Hosenbund verschwinden. Er klaubte Zaira aus meinen Armen und drückte die Kleine der erstbesten Person in die Hand, die er zu fassen bekam. Lucy.

Den Ausdruck in seinem Gesicht, konnte ich nicht deuten. Er verunsicherte mich. Das wurde auch nicht besser, als er damit begann mich durch den Flur zur Treppe zu schieben.

„Geh deine Sachen packen“, befahl er mir und warf dabei einen kurzen Blick über die Schulter. „Beeil dich.“

Ich wollte gerade die erste Stufe in Angriff nehmen, blieb bei diesen Worten jedoch abrupt stehen und schaute ihn entgeistert an. „Was?“, fragte ich leise. „Du schickst mich weg?“

„Natürlich“, sagte er verwirrt. „Oder glaubst du im Ernst, ich riskiere es, dass sie zurückkommen? Hast du nicht gesehen wir er Zaira angesehen hat? Ich werde nicht zulassen, dass er ihr etwas tut.“

„Aber ich dachte …“ Ich verstummte. Plötzlich zog mein Herz sich schmerzhaft zusammen.

Seine Stirn legte sich in Falten. „Was dachtest du?“

Ich senkte den Blick. „Ich dachte, ich darf bei dir bleiben.“ Er hatte mich doch eben noch beschützt. Er hatte sogar eine Waffe gezogen, um sie von mir fern zu halten.

Raphael schaute mich nur verständnislos an. „Natürlich wirst du bei mir bleiben, aber wir müssen hier weg.“

„Wir?“

„Na was hast du denn gedacht?“ Noch während er mich das fragte, schien ihm ein Licht aufzugehen. Auf einmal legte er mir eine Hand in den Nacken, zog mich zu sich heran und gab mir einen schnellen Kuss mitten auf den Mund. Dann schaute er mich sehr eindringlich an. „Ich werde dich nicht alleine wegschicken, wir werden zusammen gehen, du, Zaira und ich. Hast du das jetzt verstanden?“

Ich nickte schwach. Vor Erleichterung wusste ich einen Moment gar nicht was ich denken sollte.

„Gut. Ich werde nicht zulassen, dass sie dich holen, aber wir haben nicht viel Zeit. Darum: Geh jetzt runter und pack deine Sachen. Und mach schnell.“

„Okay.“ Ich legte noch kurz meine Hand auf seine, dann raste ich auch schon die Treppe hinunter, während ich Marica nach ihrem Sohn rufen hörte. Ich rannte in mein Zimmer, holte die große Reisetasche aus dem Schrank, die ich damals für den Campingausflug bekommen hatte und begann dann achtlos Kleidung hineinzuwerfen. Dabei verbot ich mir über die Meute, oder das nachzudenken, was eben passiert war.

Das war nicht so schwer, wie man glauben sollte, denn mit einem Mal waren da all die Dinge in meinem Kopf, die ich zurücklassen würde, wenn wir hier verschwanden. Marica und Amber, dieses Haus. Bronco und Josh. Nichts davon konnten wir mitnehmen.

Als ich das Album, das ich von Amber zu meinem Geburtstag bekommen hatte, zu den anderen Sachen in die Tasche warf, überkam mich eine tiefe Trauer. Hier, genau an diesem Ort, war ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich glücklich gewesen. Selbst jetzt, nachdem ich Raphael gebeichtet hatte, wer ich wirklich war, akzeptierte man mich so wie ich war. Keine dunklen Hütten, keine Reste aus Mülltonnen, keine Gitter, einfach nur ich.

Es war vorbei.

Dieser Gedanke war erdrückend.

Auch Raphael war hier glücklich, doch nun würde er fortgehen und all dem hier den Rücken kehren. Und das war meine Schuld. Als ich nach meinem Portemonnaie griff, musste ich mich fragen, wo wir nun hingehen würden. An den Hof? Sicher nicht. Raphael hasste diesen Ort und dort waren die Ailuranthropen ja auch schon gewesen.

Kopfschütteln schmiss ich noch ein paar Kleinigkeiten in die Tasche und schloss den Reißverschluss. Eigentlich war es doch auch völlig egal, wohin wir gingen. Ich war nur froh, dass Raphael mich nicht alleine ließ. Ich wusste ehrlich nicht, was ich ohne ihn tun sollte.

Ich nahm meine Tasche und verließ mein Zimmer. Im Nebenraum konnte ich Raphael und Tristan reden hören. Auch der Vampir packte ein paar Sachen zusammen.

„… nicht gehen“, versicherte Tristan ihm. „Wir sind auch noch da. Falls sie wiederkommen …“

„Falls?“ Raphael klang ungläubig. „Sie werden auf jeden Fall wieder kommen, sie wollen Gnocchi – unbedingt! Und meine ganze Familie liebt hier. Glaubst du, sie würden davor zurückschrecken euch etwas zu tun, wenn sie damit an ihr Ziel kämen?“

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Hier war nicht nur ich in Gefahr, sondern jeder der mich kannte. Das erdrückende Gefühl wurde noch schwerer.

„Sie werden keine Ruhe geben“, sagte Raphael grimmig. „Außerdem hat dieser Pandu Zaira so seltsam angeguckt. Ich weiß nicht was da los ist, aber ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.“

Da ging es ihm wie mir.

Ich schüttelte den Kopf, machte noch einen kurzen Abstecher ins Bad und ging dann wieder nach oben.

Das Haus war voller Leute. Ich sah Josh, der sich in der Küche mit einem älteren Mann unterhielt, aber ich konnte weder Amber noch Marica oder Lucy entdecken. Sollte ich hier einfach auf Raphael warten? Unsicher trat ich auf die Veranda hinaus.

Auch hier in Garten standen überall Freunde und Nachbar herum und unterhielten sich miteinander. Ich ließ den Blick schweifen und entdeckte Marica in der Einfahrt an ihrem Wagen. Der Kofferraum war offen und sie versuchte gerade Zaira in ihren Kindersitz auf der Rückbank zu schnallen. Ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Sie wirkte … unglücklich.

Ich war daran schuld.

Die Last auf meinen Schultern wurde noch ein wenig schwerer.

Nur zögernd wagte ich es mich ihr zu näheren. Sie merkte es dennoch. „Pack deine Tasche in den Kofferraum“, sagte sie sofort. „Und dann hab bitte ein Auge auf Zaira. Ich weiß nicht wie lange ihr unterwegs sein werdet, darum muss ich noch schnell Wasser aufkochen. Sie wird unterwegs Hunger bekommen.“

Ich packte meine Tasche nicht in den Kofferraum, jedenfalls nicht sofort. Stattdessen blieb ich neben ihr stehen. „Es tut mir leid“, sagte ich leise.

Sie schaut mich erstaunt an. „Was tut dir leid?“

„Na das?“ Ich zeigte auf den Garten. „Das ist meine Schuld.“

Marica zog ihren Kopf aus dem Wagen. Neben Zaira auf dem Rücksitz, saß Lalamika, bereit zur Abfahrt.

„Jetzt hör mir mal genau zu“, sagte Marica und nahm meine Hände. „Das hier ist nicht deine Schuld. Von dir geht für niemanden von uns eine Bedrohung aus.“

„Aber wenn ich nicht wäre …“

„Dann wäre mein Sohn heute vermutlich immer noch unglücklich.“ Sie sah mich sehr eindringlich an. „Du hast ihm geholfen und damit auch mir und jetzt werden wir dir helfen. Verstanden?“

Ich nickte, auch wenn ich anderer Meinung war.

„Gut. Aber um eines muss ich dich noch bitten: Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen, darum bitte, pass auf Raphael auf. In Ordnung?“

Ich nickte noch einmal.

Marica nahm mich einen Moment in die Arme, ließ dann von mir ab und eilte zurück ins Haus. Gerade als sie auf die Veranda trat, kamen Raphael und Tristan heraus. Tristan blieb auf der Veranda stehen und telefonierte, während Raphael mit zwei Taschen zum Wagen kam.

„Steig schon mal ein“, befahl er mir und hievte die Taschen dann zu dem bereits verstauten Kinderwagen in den Kofferraum. Und da meine noch daneben stand, packte er die gleich auch noch dazu. Dann verschwand er noch einmal im Haus.

Ich kletterte auf den Beifahrersitz und wartete einfach.

Marica kam mit der vollen Wickeltasche und einer Thermoskanne, die sie bei den anderen Sachen im Kofferraum verstaute. Eine Minute später tauchte auch Amber auf und versuchte mit einem entschlossenen Ausdruck eine weitere Tasche hinten reinzuquetschen.

Ich drehte mich verwundert herum.

„Was bitte soll das werden?“, rief Raphael quer durch den Garten und sprach damit das aus, was ich dachte. In seiner Hand trug er das zusammengeklappte Reisebett von Zaira, die munter in ihrer Schale lag und sich immer wieder neugierig umschaute.

„Ich begleite euch“, erwiderte Amber ruhig.

„Oh nein, das wirst du nicht“, sagte Raphael sofort und stopfte das Reisebett zu den anderen Sachen. Dabei schob er seine kleine Schwester sehr nachdrücklich zur Seite.

„Und wer will mich davon abhalten?“, fragte sie spöttisch und zog dabei eine Augenbraue hoch. „Du?“

Raphael schaute sie finster an. Im Augenblick war er absolut nicht zu Späßen aufgelegt. „Amber, das hier ist kein Witz. Wir werden hier nicht mal eben eine Ausflug in die Berge machen und in einer Woche wieder zurück sein, um Fotos von der hübschen Landschaft rumzuzeigen. Ich werde uns falsche Identitäten besorgen und dann werden wir von der Bildfläche verschwinden. Kein Kontakt zu Freunden, kein Anruf bei der Familie. Im Moment weiß ich noch nicht mal, wo genau wir hingehen. Ich weiß nur, dass wir hier schleunigst verschwinden müssen.“

Sie erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Sonst noch etwas?“

„Keine Arbeit, wenig Geld.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und übergab es seiner Mutter. „Keine Möglichkeit dich zu erreichen. Wenn hier etwas passiert, ob nun gut oder schlecht, wirst du es vielleicht erst Jahre später erfahren.“

Also ich wäre ja bereits bei dem Kontaktverbot zu Freunden ins Wanken geraten, doch Amber blieb standhaft. Sie zückte ihr Handy und reichte es auch an Marica weiter.

Das gefiel Raphael nicht. „Was ist mit Papa?“

„Ich habe ihm schon gesagt, dass ich mit euch gehe und nicht genau weiß, wann ich mich wieder melden kann.“

„Was ist mit deinem Job?“

„Kosmetiker werden nicht nur in Pforzheim gebraucht.“

„Was ist mit Tristan und Vivien?“, startete er einen weiteren Versuch.

„Die haben beide ihre eigenen Leben und für mich wird es Zeit, das heimatliche Nest zu verlassen.“

Jetzt schaute Raphael richtig finster.

„Wenn du keinen weiteren Argumente vorzubringen hast, sollten wir uns vielleicht langsam mal in Bewegung setzten. Wir haben es schließlich eilig, oder?“

Unwillig zog er die Lippen zwischen die Zähne, schnaubte dann jedoch nur. „Mach doch was du willst“, murmelte er und wandte sich dann zu seiner Mutter um. Er erwiderte den bedrückten Ausdruck in ihrem Gesicht.

„Pass auf dich auf“, sagte sie nur und nahm ihn fest in die Arme. „Und pass auch auf meine Mädchen auf.“

„Immer“, versprach er ihr, ließ sie los und gab ihr noch einen Kuss auf die Wange, bevor er um den Wagen herumging und sich hinters Steuer fallen ließ.

Während Amber ihren Koffer verstaute und dann auf die Rückbank rutschte, schaute er mich einen Moment einfach nur an. „Bereit?“, fragte er leise.

Ich zog in es in Erwägung, ihn anzulügen, doch der Kummer in meinen Augen verriet mich sowieso, darum schüttelte ich einfach nur den Kopf.

Er legte mir eine Hand aufs Bein und drückte es leicht. „Wir werden das schon schaffen“, versprach er mir und holte dann den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. Gerade als er ihn ins Zündschloss steckte und den Motor starten wollte, die ging die Tür hinten noch mal auf und Tristan rutschte neben Zaira auf die Rückbank.

Da er Lalamika nicht sehen konnte, setzte er sich mitten auf sie rauf. Als Geist konnte sie von ihm natürlich nicht zerquetscht werden, aber sie schaute reichlich empört, als sie da so halb in seinem Schoß saß, fauchte ihn dann an und sprang mit einem Satz auf die Rückenlehne.

Raphael warf einen entgeisterten Blick in den Rückspiegel. „Was, kommst du jetzt etwa auch mit?“

„Nur ein Stück.“ Er griff sich den Sicherheitsgurt und schnallte sich fest. Dabei erklärte er: „Du wirst unterwegs ein paar Mal den Wagen wechseln, Rogers Idee. Zum einen glaubt er nicht, dass diese Schrottkiste einen weiteren Weg schaffen würde und zum anderen können wir so sicher gehen, dass euch niemand folgt. Ich bringe den Wagen nach dem ersten Stopp dann wieder zurück.“

Ein wortloses Nicken und dann fuhren wir rückwärts aus der Einfahrt hinaus. Er wendete auf der Straße und dann fuhren wir einfach weg.

Als ich zusah, wie das Haus hinter uns immer kleiner wurde, spürte ich wieder dieses bedrückende Gefühl auf meinem Herzen. Ich wollte hier nicht weg, ich liebte diesen Ort.

„Hier“, sagte Amber und hielt mir etwas entgegen.

Verwundert nahm ich es entgegen und stellte fest, dass es meine tropfenförmige Phiole war. In der ganzen Aufregung hatte ich sie ganz vergessen. „Danke“, murmelte ich und band sie mir sofort wieder um den Hals.

„Es tut mir leid, dass ich sie dir weggenommen habe. Ich hatte mir bloß einen kindischen Spaß erlauben wollen.“

„Schon gut“, beruhigte ich sie und legte meine Hand in der mittlerweile vertrauten Geste auf meine Halskuhle. Jetzt war mein Glücksbringer wieder da. Vielleicht würde ja doch noch alles wieder gut werden.

Raphael griff nach meiner freien Hand. Ich wusste nicht, ob er mich damit beruhigen wollte, oder sich selber, aber auch wenn ich gerade alles verlor, tröstete mich das ein wenig. Er würde mich nicht alleine lassen.

Die Straßen von Arkan waren wie immer ziemlich leer. Der Himmel war noch immer blau, nur hin und wieder zog eine einsame Wattewolke über ihn hinweg. Wäre der Kofferraum nicht voller Taschen, hätte ich mir einbilden können, dass wir wirklich nur einen kleinen Ausflug machten.

Wir fuhren gerade aus der Ortschaft raus, als Zaira ein Quengeln von sich gab. Raphael beobachtete sie einen Augenblick durch den Rückspiegel und so sah er nicht den Leoparden, der plötzlich zwischen den Bäumen auftauchte und genau vor den Wagen sprang.

„Pass auf!“, war alles, was ich noch schreien konnte, doch da nahm der Wagen ihn bereits auf die Haube.

Es krachte.

Raphael riss erschrocken das Lenkrad herum. Der Wagen rutschte seitlich weg und er schaffte es nur mit Mühe und Not dagegenzulenken und nicht im Graben zu laden. Ich klammerte mich an das Armaturenbrett und wurde in den Gurt geschleudert, als er die Bremse voll durchtrat. Mein Kopf knallte gegen die Nackenstütze. Ein Stück schlitterten wir noch, dann stand der Wagen endlich still.

Einen Moment saßen wir alle nur schwer atmend und mit klopfendem Herzen da. Dann fing Zaira an zu weinen.

Ich wirbelte zeitgleich mit Raphael herum.

„Alles okay bei euch?“, fragte er.

„Alles in Ordnung“, brummte Tristan und rieb sich aber den Kopf. Er war wohl damit gegen meinen Sitz geknallt.

„Verdammt, was war das denn?!“, schimpfte Amber und beugte sich über die Kleine. „Hast du deinen Führerschein in der Lotterie gewonnen, oder was?!“

Ich richtete meinen Blick wieder durch die Windschutzscheibe und erstarrte einfach. Mir wurde eiskalt.

„Gnocchi?“, fragte Raphael besorgt und berührte mich an der Hand. „Ist dir was passiert?“

Ich war nicht fähig zu antworten. Stattdessen hob ich die Hand und zeigte nach draußen. Sein Blick folgte meinem ausgestrecktem Finger und auch er wurde eine Spur blasser.

Überall zwischen den Bäumen am Straßenrand tauchten Ailuranthropen in ihrer Tiergestalt auf. Es waren viel mehr, als die paar Leoparden, die Pandu in den Garten mitgebracht hatte. Mindestens hundert, vielleicht sogar noch mehr. War etwa die ganze Meute hier?

Hinter uns rappelte sich einer von ihnen etwas benommen zurück auf die Pfoten. Er war mit dem Wagen kollidiert. Wie hatte er das ohne größere Verletzungen überleben können?

„Oh Scheiße“, kam es Amber. Die ganze verdammte Straße war voller verwandelter Ailuranthropen. Ihr Fell schimmerte in der Sonne.

Tristan hatte seine Lippen grimmig aufeinander gedrückt. „Die wollen wohl nicht riskieren, dass du ihnen ein weiteres Mal entwischst.“

Ja, aber wie hatten sie wissen können, dass wir diese Ausfahrt aus Arkan nehmen würden? Oder lauerten sie um den ganzen Ort herum? Meine Finger begannen zu zittern, als ich einem Weibchen in die Augen schaute und das Versprechen darin sah. Das war Luela. „Fahr“, flüsterte ich tonlos.

„Ich müsste sie überfahren“, knurrte er.

Das war mir gerade völlig egal. „Gib Gas!“, schrie ich ihn an. Sie durften mich nicht in die Finger bekommen. Meine Hand umklammerte meinen Glücksbringer so fest, dass er sich in meine Haut grub.

„Ich kann nicht …“

„Gib Gas, gib Gas, gib Gas!“ Ich gab ihm gar keine Gelegenheit zu weiteren Widerworten. Ich stemmte mich einfach auf sein Bein und zwang ihn damit, das Gaspedal durchzutreten. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, beschleunigte dann und die Leoparden wurden nur nicht mitgerissen, weil sie rechtzeitig aus dem Weg sprangen.

Aber so leicht ließen sie sich nicht abhängen. Einige Mutige sprangen gegen den Wagen, einer blieb so lange vor uns stehen, bis ich nahe genug war, dass er mir auf die Motorhaube springen konnte. Er knallte in die Windschutzscheibe, dass es im Wagen nur so schepperte und wurde durch den Schwung dann zur Seite gerissen. Ein paar Mal überschlug er sich noch, bis er dann am Seitenstreifen liegen blieb.

„Verdammt, Gnocchi, lass los!“ Raphael schubste mich grob zur Seite, kurbelte am Lenker und beschleunigte noch ein wenig.

„Wir müssen hier weg“, flüsterte ich. „Ich will nicht zurück, bitte, ich will nicht zurück.“

Aus einem Baum am Straßenrand sprang eine geschmeidige Gestalt, versuchte auf dem Wagendach zu landen, aber der Lack war zu glatt. Er fand keinen Halt und rutschte einfach herunter.

Durch den Seitenspiegel sah ich, wie er auf den Asphalt knallte, und regungslos liegen blieb. „Nicht stehen bleiben“, beschwor ich Raphael. Meine Augen waren vor Angst weit aufgerissen und sahen hektisch nach allen Seiten. „Fahr einfach weiter.“

Hinter uns liefen ein paar Leoparden, aber die hatten der Geschwindigkeit des Wagens nichts entgegenzusetzen. Sie fielen immer weiter zurück und blieben schließlich stehen.

Die Phiole bohrte sich in meine Hand. Zaira weinte in auf dem Rücksitz und Lalamika schrie die Ailuranthropen unentwegt an, dass sie endlich verschwinden sollten.

Auf einmal krachte etwas auf das Wagendach. Ich war nicht die einzige, die erschrocken zusammenzuckte, und auch nicht die einzige, die bemerkte, dass da dieses Mal nichts herunterfiel.

„Festhalten!“, knurrte Raphael, legte eine Vollbremsung hin und ich wurde erneut in den Gurt geschleudert. Etwas schoss vom Wagendach und knallte vor der Rostlaube auf den Asphalt.

„Das ist mein Vater!“, rief ich panisch. Dieser Hass in seinen Augen war einfach nicht zu verwechseln.

Der gestrandete Leopard arbeitete sich langsam auf die Beine. Es schien ihm nicht gut zu gehen. Sein eines Vorderbein hing in einem seltsamen Winkel herab und aus der Nase tropfte Blut.

„Verdammt, was ist nur mit diesen Leuten los?“, schimpfte Raphael, legte hastig den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Zu hastig. Als er das Pedal durchdrückte, würgte er den Motor ab.

Nein, bitte nein. „Fahr“, flehte ich. Meine Hände zitterten und selbst meine Zähne hätten geklappert, wenn ich sie nicht so fest zusammengebissen hatte.

Raphael drehte den Zündschlüssel, zweimal, dreimal. Er sah aus, als wurde er den Wagen gleich fressen, wenn der Motor nicht endlich ansprang.

Im Rückspiegel sah ich, wie sich die zurückgefallenen Leoparden wieder in Bewegung gesetzt hatten und von Vorne humpelte mein Vater auf uns zu und fauchte uns an.

„Raphael“, kam Tristans Stimme über Zairas Weinen. „Das sind zu viele, du musst die Kiste wieder starten, und zwar ganz schnell.“

„Was glaubst du eigentlich, was ich hier versuche?“, knurrte er und drehte den Schüssel erneut im Schloss. „Komm schon, komm schon“, beschwor er den Wagen und dann erwachte der Motor endlich zum Leben. „Ja!“ Er knallte den Gang rein, betätigte die Kupplung, aber anstatt geradeaus zu fahren, wendete er und fuhr mitten ins Maisfeld rein. Wahrscheinlich wollte er nicht riskieren, in weitere Fallen der Ailuranthropen hineinzufahren.

Der Wagen rumpelte und schleuderte uns in den Sitzen hin und her. Raphael hielt das Lenkrad fest umklammert, als er mit viel zu höher Geschwindigkeit über das Feld jagte. Hinter uns wurde eine Staubwolke aufgewirbelt, hinter der ich die Silhouetten unserer Verfolger nur schwer ausmachen konnte.

Solange wir auf dem Feld waren, konnten sie mit uns mithalten, doch nur wenige Minuten später, rollte der Wagen wieder auf Asphalt.

Sobald er festen Untergrund unter den Reifen hatte, verlange Raphael dem Wagen alles ab, was er zu geben hatte und fuhr einfach.

Hinter uns konnte ich die Leoparden wütend fauchen sehen, aber jetzt kamen sie nicht mehr hinterher. Sie fielen zurück, Meter um Meter und auf einmal waren sie verschwunden. Aber Raphael wurde nicht langsamer. Mit verbissener Mine jagte er über die Straßen, Kilometer um Kilometer. Eine halbe Stunde, eine Stunde, eineinhalb Stunden. Er schien nicht langsamer werden zu wollen. Das drückende Gefühl sie könnten uns jeden Moment wieder einholen, ließ ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen Bleifuß entwickeln.

Auf dem Rücksitz hatte es Amber irgendwie geschafft, Zaira zu beruhigen, trotzdem musste ich nach ihrem Befinden fragen, einfach um sicher zu sein, dass auch wirklich alles in Ordnung war. Sie hatten uns wirklich angegriffen, während wir ein Baby im Wagen hatte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was der Kleinen alle hätte passieren können.

„Sie hat sich nur erschrocken“, sagte Amber. „So wie wir alle.“

Oh Gott, das war meine Schuld. Meine Hände krampften sich wieder um den kleinen Anhänger an meinem Hals.

„Gnocchi.“ Als ich nicht reagierte, legte er mir beruhigend eine Hand aufs Bein. „Das ist nicht deine Schuld.“

„Sie waren wegen mir da“, flüsterte ich. Und sie hätten uns alle töten können.

„Aber sie werden dich nicht noch einmal finden“, versprach er mir.

Auf dem Rücksitz runzelte Tristan die Stirn. „Wie haben sie sie überhaupt gefunden?“

Raphael warf einen kurzen Blick durch den Rückspiegel. „Was meinst du?“

„Woher wussten sie, dass Tarajika in Arkan war. Das ist ja nicht unbedingt der naheliegendste Ort.“

Auf einmal sah Raphael aus, als hätte ihn der Schlag getroffen. Als wäre das entscheidende Puzzleteilchen gerade an den richtigen Fleck gerutscht, weiteten sich Seine Augen ein wenig. Im nächsten Moment schon verzerrte sein Gesicht sich vor kaum zu bändigender Wut. Ja selbst seine Fänge wurden länger.

Er hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass eine Knöchel ganz weiß wurden und trotzdem schaffte er es den Wagen langsam an den Straßenrand zu fahren. Er drückte einen Knopf am Armaturenbrett und schaltete die Warnblinkanlage an, dann streckte er seine Hand zu seinem Bruder. „Gib mir dein Handy.“

Unsicher verfolgte ich, wie er das kleine Gerät entgegen nahm und es sich gleich darauf ans Ohr hielt. Was hatte er nur vor?

Es war so still, dass ich das klingeln hören könnte. Und auch die Stimme, die am anderen Ende abnahm. Ich verstand nicht was sie sagte, aber sie gehörte unverkennbar Cayenne.

„Hast du die Ailuranthropen in mein Haus geschickt?“, fragte beinahe tonlos. „Hast du ihnen gesagt, wo sie Tarajika finden können?“

Bei den Geistern, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

„Hast du?!“, fauchte praktisch ins Telefon. „Ja oder Nein, antworte mir!“

Sie war es, sie hat Pandu zu mir geschickt und damit alles kaputt gemacht, was mir etwas bedeutete.

„Verdammte Scheiße, du hast keine Ahnung, was du in deinem Weltenretterwahn mal wieder angerichtet hast! Sie wollen Tarajika nicht zurück, weil sie sie so vermisst haben, sondern wie sie sie töten wollen! Die Ailuranthropen haben sie beinahe gegen ihren Willen entführt und nun ist nicht nur meine ganze Familie, sondern auch Zaira in Gefahr!“, fauchte er in den Hörer. „Ich habe dir gesagt, dass du dich da raushalten sollst!“

Sie erwiderte etwas, und egal was es war, es ließ Raphaels Stimme eisig kalt werden.

„Halt dich von uns fern“, sagte er gefährlich ruhig. „Komm meiner Familie nicht mehr zu nahe, tritt mir nicht unter die Augen, ich will nie wieder etwas von dir hören. Ich bin fertig mit dir!“

Ihre panische Stimme drang noch einmal durch den Hörer, doch da legte Raphael einfach auf. Er schaltete das Handy aus und gab es Tristan mit den Worten „Wag ja nicht es wieder einzuschalten“ zurück. In diesem Moment kappte er die letzten Leinen zu ihr.

 

°°°°°

Im Schatten der Venus

 

Das erste was mir entgegenschlug, als Raphael die Tür zu seiner Wohnung in Berlin aufschloss, war die schlechte Luft. Ich rümpfte die Nase. Das stank ja wirklich widerlich.

„Sag mal hast du hier irgendwo eine Leiche versteckt?“, fragte Amber auch sogleich und schob sich mit ihrem Koffer und Zairas Reisebett in den kleinen Flur. „Das riecht, als würde da irgendwas verwesen.“

Raphael balancierte Zaira in ihrer Babyschale und zwei Taschen und tastete gleichzeitig an der Wand nach dem Lichtschalter. Einen Moment später wurde ein kleiner, fast quadratischer Flur von dem sanften Licht einer tiefhängenden Lampe erhellt. Die Wände waren weiß und bis auf die vier Türen und einer sehr schmalen Garderobe leer.

„Ich war seit Monaten nicht mehr hier“, rechtfertigte Raphael sich und versuchte alles in den Flur zu bringen, ohne das ihm etwas runter fiel. Zaira gab ein paar quengelnde Laute von sich, sie war hungrig. „Konnte also schlecht lüften.“

Amber verzog das Gesicht. „Das ist mehr als nur abgestandene Luft.“ Sie schaute durch die offenen Türen und marschierte dann mit ihrem Gepäck in den linken Raum. Raphael brachte Zaira und seine Taschen in den rechten.

Lalamika trat in den Flur, schaute sich einmal um und begann dann die Wohnung zu erkunden.

Ich schob mich still und leise hinter ihnen in den Flur und schloss geräuschlos die Tür.

Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen und die Müdigkeit hatte sich schleichend in meinen Knochen niedergelassen.

Vier Mal hatten wir unterwegs den Wagen gewechselt. Das erste Mal kurz nachdem Raphael mit Cayenne telefoniert hatte und auch nur, weil der Motor ganz plötzlich den Geist aufgegeben hatte. Selbst mit gutem Zureden hatte Raphael ihn nicht mehr in Gang setzten können.

Die nächsten zwei Stunden hatten wir nichts anderes getan, als dazusitzen, über da nachzudenken, was geschehen war und geschehen würde und darauf zu warten, dass Tristans Bekannter kam und uns einen anderen Wagen gab.

Als Raphael mit Amber, Zaira und mir weitergefahren war, hatten Tristan und sein Bekannter noch immer versucht, Maricas Wagen irgendwie wieder zum Laufen zu bringen.

Wir waren nach Osten gefahren, hatten den Wagen stunden später wieder gewechselt, um dann nach Westen zu fahren. Die Nacht hatte gerade in den Startlöchern gestanden, als wir das letzte Mal den Wagen gewechselt und dann Kurs auf Berlin genommen hatten.

Raphael sagte, es wäre erstmal nur für ein paar Tage, bis er wüsste, wie es weiterging. Jetzt waren wir erstmal in Sicherheit, aber erleichtert aufatmen konnte ich deswegen nicht. Wir hatten zwar keine Ailuranthropen mehr gesehen, aber ich wusste, dass sie noch immer irgendwo da draußen waren und auch, dass sie weiterhin nach mir suchen würden.

Zehn Jahre und sie hatten noch immer nicht aufgegeben.

Es war meine Schuld, dass wir hier waren und uns jetzt verstecken mussten.

Kraftlos ließ ich meine beiden Taschen auf den Boden gleiten und blieb dann unschlüssig im Flur stehen, weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Direkt vor mir waren zwei weitere Türen. Eine führte in die Küche und die andere in ein kleines Bad.

Rechts im Schlafzimmer quengelte Zaira, während links aus dem Wohnzimmer von Amber ein triumphierendes „A-ha!“ kam. Sie trat mit einem Kugelschreiber in den Flur, an dessen Spitze sie irgendwas Grünes aufgespießt hatte, das einen wirklich widerlichen Geruch ausströmte. „Ich hab den Übeltäter gefunden.“

Auch Raphael kam wieder heraus. In seinen seinen Armen strampelte Zaira. „Egal was es ist, mach es einfach weg“, sagte er angewidert und hielt sich die Nase zu. „Boah, das ist ja echt eklig.“

„Deine Wohnung“, erklärte Amber achselzuckend und ging in das Bad, wo sie es in der Toilette hinunterspülte.

Raphael folgte ihr. „Das ist wahrscheinlich noch ein Andenken von Elvis.“

„Wer ist Elvis?“

Anstatt zu antworten, übergab er ihr die Kleine. „Würdest du sie kurz füttern? Dann kann ich noch die letzte Tasche aus dem Wagen holen.“

Amber nickte und bemerkte dann mich, wie ich da ein wenig verloren vor der Tür stand und nicht wusste wohin mit mir und dem bedrückenden Gefühl. „Ich glaube, du solltest dich erstmal um etwas anderes kümmern“, bemerkte sie und nickte in meine Richtung.

Während er sich zu mir umdrehte, verschwand sie bereits mit der Kleinen im Wohnzimmer.

Ich schaffte es nur einen Moment den Blick dieser schönen Augen standzuhalten, bevor ich die Lider niederschlug. „Es tut mir leid“, sagte ich sehr leise.

Beinahe lautlos trat er durch den Flur und nahm meine Hand. Er zog mich hinter sich in ein kleines Schlafzimmer und schloss die Tür.

Der Raum war länglich. Im hinteren Teil, direkt unter dem Fenster, stand eingekeilt zwischen den Wänden ein breites Bett. Es war mit einem großen Laken abgedeckt. Rechts an der Wand war eine längliche Kommode. Eine dünne Staubschicht hatte sich auf der Oberfläche gebildet. Ein mechanischer Wecker verrichtete darauf seinen Dienst. Tick, tack, tick, tack. Ansonsten gab es neben der Tür nur noch ein schlichte Stehlampe, deren sanfter Schein das Zimmer erhellte.

Raphael schob die beiden Taschen mit den Füßen zur Seite und zog mich dann mit sich auf die Bettkante am Fußende. Eine kleine Staubwolke wirbelte auf, als wir uns setzten. „Wir bringen das schon wieder in Ordnung“, murmelte er, zog mich in seine Arme und bettete sein Kinn auf meinem Kopf. „Du wirst schon sehen, es ist gar nicht so schlimm, wie es dir im Augenblick noch erscheint.“

Tick, tack, tick, tack.

„Es ist alles weg“, murmelte ich und vergrub das Gesicht an seiner Brust. Es war ganz allein meine Schuld. Wäre ich am See doch nur nicht zu Maricas Haus gelaufen. Ich hatte die Meute direkt dorthin geführt.

„Nicht alles“, widersprach er mir und strich mir ruhig über den Rücken. „Ich bin noch hier, genau wie Zaira und Amber. Und keiner von uns wurde verletzt, dass ist doch das Wichtigste.“

„Aber ich wollte da nicht weg.“ Meine Finger krallten sich in sein Hemd. „Und du auch nicht.“ Das wusste ich mit Sicherheit.

Seine Arme schlossen sich ein wenig fester um mich.

Tick, tack, tick, tack.

„Würdest du mir eine Frage beantworten?“

„Was möchtest du denn wissen?“

„Pandu hat da etwas gesagt. Er nannte mich … Todbringer.“

Mein ganzer Körper versteifte sich.

Das entging Raphael natürlich nicht. Er lockerte seine Umarmung und neigte den Kopf so weit, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. „Was hat er damit gemeint?“

Mein Blick war starr auf sein Hemd gerichtet. Das konnte ich ihm nicht beantworten. Nicht heute, vielleicht niemals.

„Gnocchi?“

„Hast du was zu Essen da?“ In meiner Panik machte ich mich von ihm frei und sprang auf die Beine. Ich wollte zur Tür, doch bevor ich sie erreichen konnte, stand auch er und hielt mich am Arm fest.

„Was ist los?“, wollte er mit gefurchter Stirn wissen.

Ich konnte ihn nur mit großen Augen anstarren.

„Du willst es mir nicht sagen“, erkannte er ganz richtig. „Du weißt was es bedeutet, du hast mich vor ihm verteidigt. Du bist deswegen sogar aus deinem Versteck gekommen, aber du willst es mir nicht sagen.“

Auf einmal fühlte ich mich in die Enge getrieben. Ich überlegte fieberhaft was ich tun könnte, um ihn von diesem Thema abzulenken und tat das Erstbeste, was mir in den Sinn kam. Ich zog ihn zu mir heran, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Die Berührung dauerte vielleicht eine Sekunde, da zog er auch schon den Kopf zurück und schaute mich verwundert an. Nachfolgen und es noch mal versuchen, konnte ich nicht, denn er hielt mich fest.

„Was wird das?“

Ich biss mir auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus.

„Gnocchi, warum hat Pandu mich als Todbringer bezeichnet?“ Die Frage war nicht grob, aber sehr nachdrücklich.

Was sollte ich tun? „Er ist dumm, er weiß nicht, was er sagt.“

„Erklär es mir trotzdem.“

Als ich wieder schwieg, ließ er mich los und wich einen Schritt vor mir zurück. Mit einem Mal war er misstrauisch und leicht angespannt. „Tarajika, sagt mir, was das zu bedeuten hat.“

Meinen richtigen Namen in diesem Ton aus seinem Mund zu hören, war wie eine Ohrfeige. Ich schaute ihn kurz an, senkte dann wieder den Blick und verschränkte nervös die Arme vor dem Bauch.

„Bitte“, fügte er noch sehr leise hinzu. Auf einmal klang er unheimlich verletzlich.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich will nicht.“

„Tu es trotzdem.“

„Du hast gesagt, ich muss nichts tun, was ich nicht will.“

Tick, tack, tick, tack.

„Nein“, stimmte er mir zu und war mit einem Mal sehr distanziert. „Das musst du nicht.“ Er wartete noch einen Moment, in der Hoffnung, dass ich es mir vielleicht doch noch mal anders überlegte, doch als ich nur stumm blieb, schnaubte er und ging an mir vorbei.

Er hatte die Hand schon an der Türklinke, als ich sagte: „Ich will dich nicht verletzen.“

„Es verletzt mich, wenn du mir etwas verschweigst, weil du glaubst, mich vor der Wahrheit schützen zu müssen.“ Es wie Cayenne es getan hatte. Er sprach es nicht laut aus, doch die Worte hingen deutlich in der Luft.

Lalamika trat durch die Tür hindurch. Sie musterte uns einen Moment, trat dann ganz in den Raum und sprang auf das Bett.

„Sprich mit mir“, forderte er mich noch einmal auf.

Mein Blick glitt zu Lalamika, doch die erwiderte ihn nur ruhig, ohne selber etwas dazu zu sagen. Ich wollte ihn nicht verletzten. Ich wollte ihn aber auch nicht verlieren. Wenn er erfuhr, warum ich in sein Leben getreten war … ich war mir nicht sicher, wie er reagieren würde.

Tick, tack, tick, tack.

„Der Totbringer“, begann ich, verstummte aber sofort wieder.

Er wartete einfach nur.

„In der Stunde der Entscheidung, wird er sich verlieren und damit zur Offenbarung des Verborgenen“, murmelte ich. „Der Todbringer … er ist erfüllt von Trauer und Schmerz und der Auslöser der Apokalypse.“

„Was?“ Seine Stimme machte deutlich, dass er glaubte, ich verarsche ihn. „Ich löse den Weltuntergang aus? Soll das ein Scherz sein?“

Ich konnte nichts anderes tun, als ihn hilflos anzuschauen.

Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Erkläre es mir.“

Einen langen Moment tat ich gar nichts, doch dann ließ ich mich zurück auf die Bettkante sinken. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. „Ich kann Geister sehen, schon solange ich mich zurückerinnern kann. Es gibt alte, wirklich richtig alte Geister. Wir nennen sie nur die Alten.“

Er wartete nur schweigend.

„Die Alten sind weise. Sie beobachten uns, sie lernen, sie erforschen Gedanken, Gefühle und Gelüste und manche von ihren haben in den vielen Jahrhunderten ihrer Existenz schon so viel gesehen, dass sie allein durch einen Blick wissen, was die Zukunft bringen wird.“ Unbewusst griff ich nach der Phiole an meinem Hals. „Wenn es ihnen nützlich ist, können sie sogar Visionen zeigen. Von der Vergangenheit, der Gegenwart und auch von der Zukunft.“

Tick, tack, tick, tack.

„Ich war vierzehn, als ich zum ersten Mal von dir träumte. Zwei Jahre, bevor ich Cayenne das erste Mal begegnete.“ Ich vermied es ihn anzuschauen. „Es war die erste Vision in meinem ganzen Leben. Darin bist du gerannt und hast versuchte den Wölfen zu entkommen, aber die haben dich in eine Gasse getrieben und ich dieser Gasse hat Cayenne dir ein Messer ins Herz gebohrt.“

„Was?“ Das schien er nicht glauben zu können. „Du hast davon geträumt, wie Cayenne mich ersticht?“

Ich nickte schwach. „Du hast ihr etwas Unverzeihliches angetan. Du hast Sydney getötet.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht verschwand hinter einer undurchdringlichen Maske.

„Dass sie dich verlassen hat, hat dich so sehr verletzt, dass du Sydney umgebracht hast. Daraufhin wollte sie Rache. Nicht nur an dir, an allen Vampiren. Auf ihren Befehl hin, traten die Lykaner aus den Schatten und töteten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Vampire, Menschen, andere Lykaner. Sie hörten nicht auf, nicht mal als du tot warst. Sie machten immer weiter und am Ende waren die Meere rot vom Blut und das Land leblos und verlassen.“

Ein paar Sekunden schaute er mich nur an, dann nickte er. „Okay, lass mich das zusammenfassen. Ich töte Sydney und Cayenne tötet daraufhin nicht nur mich, sondern löscht alles Leben auf der Welt aus?“ Er klang ungläubig. Natürlich tat er das, schließlich hatte er nicht gesehen, was ich gesehen hatte. „Ist das dein Ernst?“

„Ich sehe diese Bilder nun seit schon fünf Jahren. Darum bin ich auch …“ Mist. Das wollte ich ihm nicht sagen.

Raphael kniff die Augen leicht zusammen. „Darum bist du was?“

Ich schaute ihn an und stieß die Worte dann einfach hervor. „Darum bin ich zum Hof der Lykaner gegangen.“ Nun war es raus. „Die Alten gaben mir einen Auftrag. Töte den Todbringer.“ Ich verstummte einen Moment. Meine Stimme wurde noch leiser. „Ich kam zum Hof, um dich zu töten.“

Das war der Moment, in dem Raphael die Gesichtszüge entglitten. „Was?“

Es tat so weh, das zu sagen. „Diese verregnete Nacht, als ich vor deinen Wagen sprang und darauf wartete, das du aussteigst … ich war da um dich zu töten.“

Daraufhin tat er … nichts. Er stand einfach nur da, schaute mich an und schien nicht fassen zu können, was ich ihm erzählte.

„Ich dachte, es wäre meine Aufgabe. Die Alten haben gesagt, es wäre das Richtige und das wir nur so verhindern können, dass die Welt so wie wir sie kennen, einfach verschwindet.“

Sein Kopf ging hin und her.

„Aber ich konnte es nicht. Die Alten waren dort und schrien mich an, dass ich es tun sollte, aber ich konnte es nicht. Ich hatte schon so viele Jahre von dir geträumt. In all meinen Visionen habe ich gefühlt, was du gefühlt hast. Deinen Schmerz, dein Verlust, deine Trauer. Du warst nicht wie Jegor, du warst nicht böse, du warst nur traurig.“

Seine Lippen verzogen sich zu einer bitteren Parodie eines Lächeln. „Du machst Scherze, oder?“ Sein Blick flehte geradezu darum, ihm zu sagen, dass ich ihn nur auf den Arm nahm.

Anstatt das zu verneinen, senkte ich einfach nur den Kopf. „Ich konnte dich nicht töten, aber ich konnte dich auch nicht alleine gehen lassen.“

„Darum bist du in meinen Wagen gestiegen“, wurde ihm klar. „Darum wolltest du mich nicht mehr aus den Augen lassen und hast immer behauptet, du musst auf mich aufpassen. Das war nicht nur so dahingesagt, du hast das wirklich so gemeint.“

„Ich musste bei dir bleiben, um im Notfall eingreifen zu können. Und manchmal, wenn es zu schlimm wurde, ist Lalamika in deine Gedanken gesprungen und hat deine Gefühle besänftigt.“

Sein Mund öffnete sich ungläubig. „Die Stimme in meinem Kopf“, sagte er leise. „Du hast mich manipuliert.“

„Nein, so war das nicht“, versicherte ich und schüttelte meine Kopf hin und her. „Sie hat nur manchmal deine Gefühle gedämpft, oder versucht dich auf andere Gedanken zu bringen, wenn es nötig war. Wie auf der Autobahn.“ Ich biss mir einen Moment auf die Lippe. „Ich habe versucht für dich da zu sein und dich aufzufangen, wenn du es brauchtest. Ich wollte dich nicht töten müssen.“

Tick, tack, tick, tack.

„Hättest du es getan? Hättest du mich getötet, wenn dir nichts anderes übrig geblieben wäre?“

Ich erinnerte mich an die Vision, in der ich selber gestorben war. In der Vision hatte ich sicher schon lange erkannt gehabt, das meine Bemühungen vergebens gewesen war und doch hatte ich ihn nicht aufgehalten. Also konnte ich ganz ehrlich sagen: „Nein. Ich hätte dir niemals etwas getan.“ Und deswegen war ich auch gestorben. „Ich hätte es nicht gekonnt.“

Er begann unruhig im Raum auf und ab zu laufen. „Okay“, sagte er dann und schien zu versuchen, Ordnung in seine Gedanken zu bekommen. „Du warst nur da, um aufzupassen, dass ich nichts Dummes tun konnte. Und jetzt ist alles wieder in Ordnung.“ Er blieb stehen und schaute mich an. „Jetzt kann nichts mehr passieren.“

„Ich habe noch immer Visionen, aber … sie haben sich verändert. Sie verändern sich immer noch. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, aber … ich habe mich eingemischt und jetzt weiß ich nicht mehr, was passieren wird.“

„Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass Sydney deinen Angriff überlebt, aber Cayenne dennoch ihre Lykaner ausschickt.“ Ich sah ihn eindringlich an. „Du wirst jemanden töten, aber ich weiß nicht wen. Die ganzen Ereignisse haben sich verändert, weil ich mich eingemischt habe, aber …“

„Aber ich bin noch immer der Totbringer, der Kerl, der für die Apokalypse verantwortlich sein wird.“

„Ja.“

„Das heißt, es ist noch nicht vorbei.“

„Nein, es ist noch nicht vorbei“, stimmte ich ihm zu. Erst vor einer Woche hatte ich wieder eine Vision gehabt. Dieses Mal hatte ich dabei zuschauen müssen, wie Raphael nur ganz knapp einem Zugriff der Lykaner entkommen war und das auch nur, weil er vor Angst in eine Menschenmenge gerannt war, die dann anstatt seiner gestorben war. Es war ein Blutbad gewesen. Und der Moment, in dem den Menschen aufgegangen war, welche Bedrohung von Cayenne und ihrem Rudel ausgegangen war.

Seine Lippen wurden eine Spur schmaler. „Du bist immer noch hier, um auf mich aufzupassen und Tag X zu verhindern.“

Irgendwas in seiner Stimme, ließ mich vorsichtig werden. Sein Blick hatte sich verändert und auf einmal war er nicht nur distanziert, er schien sich komplett von mir zurückziehen. „Ja“, sagte ich, doch das Wort kam nur sehr zögernd über meine Lippen.

„Ist das der Grund, warum du unbedingt mit mir rummachen wolltest?“, fragte er auf einmal? „Hast du geglaubt, ich würde dich eher in meine Nähe behalten, wenn du dich mir anbiederst und von mir flachlegen lässt?“

„Was?“

Er schaute mich an, als wäre ich plötzlich etwas Ekliges, von dem man sich dringend fernhalten sollte. „Ich habe dir wirklich vertraut.“ Er schnaubte, als könnte er es selber kaum fassen. „Du warst mir echt wichtig und ich habe wirklich geglaubt, dir geht es genauso, aber du bist nur ein berechnetes Miststück.“

„Aber … nein.“ Ich sprang auf die Beine, traute mich dann aber nicht, mich ihm zu näheren. Dieser Blick, genauso hatte mein Vater mich angesehen, nachdem Lalamika gestorben war, so als hätte ich ihm gerade etwas Wichtiges genommen. „Ich hab das doch nur gemacht, damit ich dir nicht wehtun muss.“

„Tja, die Rechnung ist dann wohl nicht aufgegangen.“ Er bedachte mich mit einer Abscheu, die wie ein Messer in mein Herz stach.

Ich machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus.

„Bleib weg von mir!“, brüllte er mir ins Gesicht.

Ich wich so schnell vor ihm zurück, dass ich gegen das Bett stieß und fast drauf gefallen wäre. Noch bevor ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, riss er bereits die Tür auf und stürmte aus dem Raum.

„Nein, Ys-oog, warte!“ Ich eilte ihm hinterher und sah gerade noch, wie die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel.

Amber kam mit Zaira im Arm in den Flur gestürzt. „Was ist los?“, wollte sie besorgt wissen.

Ohne sie zu beachten, streckte ich die Hand nach der Klinke aus. Ich musste ihm hinterher, doch bevor meine Hand den Knauf berühren konnte, zuckte ein helles Lichte durch meine Sichtfeld und machte mich blind. Auf einmal war alles um mich herum schwarz. Ich konnte nichts mehr sehen, da war nur noch Dunkelheit.

Nein, dort oben war ein Licht. Klein wie der Kopf einer Stecknadel. Es leuchtete. Und da, noch ein Licht, funkelnd hell. Ein Stern. Es war Nacht und hoch oben funkelte ein Sternenhimmel. Der zunehmende Mond tauchte die Wälder in sein diffuses Licht. Kleines Getier huschte durch die nächtlichen Schatten, auf der Flucht vor den Jägern der Nacht.

Irgendwo in der Ferne huldigte ein Wolf mit seinem Gesang dem Mond. Ein zweiter stimmte mit ein. Dann war es wieder still.

Im Schatten der Schlossmauer hockte Raphael auf dem schmalen Sims der obersten Etage und ließ seinen Rucksack leise von seinen Schultern gleiten.

Hier hoch zu kommen, war fast noch einfacher gewesen, als das Gelände zu betreten. Die Themis, Cayennes Elitetruppe, wenn es um den Kampf gegen die Skhän ging, besaß einen eigenen Zugang zu dem Areal, der sich durch den Handabdruck jedes Mitglieds der Truppe öffnen ließ.

Lange Zeit war Raphael selber ein Themis gewesen und nachdem er ausgetreten war, hatte man seinen Zugang nicht gesperrt. Das war eine große Sicherheitslücke, aber er würde sich nicht beschweren, war sie ihm doch zugute gekommen.

Das Schwerste war es gewesen, von diesem Zugang unbemerkt zum Schloss zu gelangen und über das Efeu, den rauen Stein und die hervorstehenden Simse nach oben in die dritte Etage zu gelangen. Ein paar Mal hatte er abwarten und den Wächtern ausweichen müssen. Einmal war er weggerutscht und hatte sich den halben Arm aufgeschürft. Doch nun hatte er sein Ziel fast erreicht und nichts würde ihn mehr aufhalten können.

Eine eisige Ruhe erfasste ihn, als er sein Werkzeug herausholte und sich daran machte, das Fenster zu öffnen. Das ganze Gebäude war eine Festung. Alles war elektronisch gesichert, doch hier oben hatte man sich nicht mit sowas aufgehalten. Wer käme auch schon auf die Idee, außen an der Fassade hochzuklettern und in das Zimmer der Königin einzubrechen, um ihren Scheißkerl umzubringen? Es gab wesentlich einfachere Möglichkeiten einen Mord zu begehen.

Mit geübter Hand und ruhigem Blick, setzte Raphael den Glasschneider an. Dabei versuchte er zu verdrängen, was die Mieze zu ihm gesagt hatte. Todbringer.

Nein, es war nicht die Eifersucht, die ihn heute Nacht hier her getrieben hatte. Er wollte Cayenne nicht mehr. Wenn er ehrlich zu sich selber war, wollte er sie schon eine ganze Weile nicht mehr haben, aber … wieder war er verletzt worden. Wieder war sie der Ursprung. Weil sie in ihrem Wahn die Welt zerstören würde, war seine Welt zusammengebrochen.

Nein, es war nicht die Eifersucht, die ihn hergetrieben hatte, es war schlicht Rache. Wiedereinmal war ihm alles genommen worden und jetzt hatte er nichts mehr zu verlieren. Jetzt würde sie einmal zu spüren bekommen, was für ein Gefühl das war.

Vorsichtig löste er das ausgeschnittene Glas aus dem Fenster und griff durch das Loch. Der Raum dahinter war dunkel und verlassen. Es war Cayennes privates Büro.

Mit einen kaum hörbaren Klicken öffnete er die Verriegelung und schob das Fenster langsam nach innen auf. An Werkzeugen nahm er nur das mit, was er noch brauchte, den Rest ließ er einfach auf dem Sims liegen. Die Brechstange hatte er sich schon unter die Jacke geschoben. Er war sich nicht mal sicher, ob er aus der Sache wieder lebend rauskommen würde und es war ihm auch egal. Er hatte sowieso alles verloren. Was seine Gnocchi zu ihm gesagt hatte …

Er biss die Zähne zusammen und verdrängte den Gedanken an sie und und die Worte, die sein Herz zerrissen hatte. Es gab nur einen, den er töten wollte und das war dieser mottenzerfressen Köter. Schon allein, um zu beweisen, dass sich diese verdammte Prophezeiung nicht erfüllen würde.

Langsam kletterte er in das Büro und huschte durch den Raum zu der angelehnten Tür, um sich der letzten Hürde zwischen ihm und seinem Ziel zu widmen. Sydney und Cayenne schliefen vermutlich im selben Bett, er musste sie also voneinander trennen und er hatte auch schon eine Idee, wie er das tun konnte.

Als erstes vergewisserte er sich, dass wirklich alles ruhig war. Dafür ließ er sich mehrere Minuten Zeit und lauschte auf die leisen Geräusche in der Suite. Da war nur das Atmen von schlafenden Leuten. Gut.

Ohne auch nur das kleinste Geräusch von sich zu geben, huschte er aus dem Büro hinüber zur Tür der Suite. Den Zugang zu manipulieren war nicht weiter schwer. Schlösser waren sein Fachgebiet. Er war nicht nur fähig, sie zu öffnen, sondern auch, sie zu verriegeln und als er fertig war, wusste er, das hier so schnell niemand mehr durchkommen würde – egal, ob er eigentlich Zugang hatte, oder nicht.

Sobald das erledigt war, huschte er hinüber zu dem Kinderzimmer von Aric, das nur von einem kleinen Nachtlicht erhellt war. Der Kleine schlief friedlich in seinem Gitterbettchen.

Raphael beobachtete ihn einen Moment. Dabei versuchte er zu verdrängen, dass er dem Kleinen gleich den Vater nehmen wollte. Das Leben war eben scheiße und selbst ein Prinz blieb davon nicht verschont.

Leise beugte er sich vor. Seine Fänge fuhren zu ihrer ganzen Länge aus und er verzog das Gesicht, bis es eine grauenhafte Maske war. Er schnipste neben dem Ohr des Kleinen ein paar Mal mit den Fingern, solange bis der junge Prinz langsam wach wurde.

Der Kleine blinzelte ein paar Mal verschlafen und als er dann das Köpfchen hob, war das erste was er sah, das Gesicht eines Monsters.

Wie Raphael gehofft hatte, fing der Kleine sofort an zu wimmern und zu weinen. Er gab noch ein leises Zischen von sich und eilte dann wieder aus dem Zimmer, um sich in den Schatten neben der Schlafzimmertür zu verbergen.

Es dauerte einen Moment, bis sich im Nebenraum etwas regte. Das Weinen des Kleinen war mittlerweile herzerweichend.

Er hörte leise Stimmen, das Rascheln Bettzeug und dann Schritte.

Raphael zwang sich ruhig zu bleiben, als eine großgewachsene Gestalt direkt an ihm vorbei lief. Sydney. Aber er war kein Wolf, sondern ein Mann. In der Dunkelheit war kaum mehr als das zu erkennen.

Sobald das Arschloch im Kinderzimmer verschwunden war, griff er leise nach der Schlafzimmertür und schloss sie. Sie zu verriegelnd war nicht weiter schwer. Dann schmierte er noch schnelltrocknenden Industriekleber in das Loch. Nun würde niemand mehr so schnell durch diese Tür kommen.

Aus dem Kinderzimmer die sanfte Stimme eines Vaters, der versuchte sein Kind zu beruhigen.

Raphael trat mitten in den Raum, riss seinen Reißverschluss auf und holte die Brechstange heraus. Dabei war er nicht leise, also wunderte es ihn nicht, dass diese räudige Töle schon einen Augenblick später wieder aus dem Kinderzimmer trat, nur um sofort auf der Schwelle zu verharren.

Jetzt war es so weit.

Zuerst tat Sydney nichts, dann tastete er langsam an der Wand entlang, bis er den Lichtschalter fand.

Raphael zwang sich die Augen offen zu lassen, auch wenn das plötzliche Licht ihn in den Augen schmerzte. Den überraschten Anblick, den dieses Arschloch bot, war einfach zu herrlich.

Sydney war ein großer und schlanker Mann mit etwas längerem Haar, dessen Farbe einem an einen hellen Sandstrand denken ließ. Seine Augen jedoch, die waren nicht menschlich. Selbst auf zwei Beinen war dieser Mann ein Wolf. Ein Wolf, dessen ganzer Körper von großen und kleinen Narben übersät war. Sie waren alt und stammten unverkennbar von Krallen und Zähnen. Das war nicht schwer zu erkennen, da er außer einer Pyjamahose und einer Kette mit einem silbernen Kätzchenanhänger nichts weiter am Leib trug.

„Jetzt verstehe ich, warum du immer als Wolf rumläufst. Ist wahrscheinlich einfacher, als sich immer eine Papiertüte über den Kopf zu ziehen.“

Die Überraschung verschwand aus Sydneys Gesicht, an ihre Stelle traten Wachsamkeit und Misstrauen. „Was machst du hier?“

Raphael hob das Brecheisen und lehnte es demonstrativ gegen seine Schulter. Seine Fänge waren noch immer bis zur Gänze ausgefahren. „Alte Rechnungen begleichen.“ Das war der Moment, in dem er ohne Vorwarnung nach vorne preschte. Sydney konnte gar nicht so schnell reagierten, wie Raphael bei ihm war, mit der Brechstange ausholte und einfach zuschlug.

Der Lykaner wurde so heftig an der Schulter getroffen, dass er mit einem Laut des Schmerzes gegen die Kommode krachte und dabei die Hälfte von den Sachen mit zum Boden riss. Es schepperte und krachte. Sydney stöhnte.

Aus dem Nebenraum konnte man Cayenne nach ihm rufen hören. Gleich darauf versuchte sie die Schlafzimmertür zu öffnen. Als sie merke, dass das nicht funktionierte, begann sie dagegen zu klopfen.

Raphael beachtete es nicht. Mit der Brechstange in der Hand umrundete er den anderen Mann, der sich gerade auf den Rücken drehte und dann langsam von ihm wegrutschte. Die Haut an seiner Schulter war aufgeplatzt und er hatte eindeutig Schmerzen.

„Na komm schon“, forderte Raphael. „Verwandle dich, ich weiß dass du es tun wirst. Auch wenn es dich nicht retten wird.“

Aber Sydney verwandelte sich nicht. „Was glaubst du hiermit zu erreichen? Cayenne wird nicht zu dir zurückkehren.“

„Oh?“ Er tat erstaunt. „Du glaubst, ich will sie zurück haben?“ Er holte noch mal mit der Brechstange aus, aber dieses Mal war Sydney schneller. Er sah den Schlag kommen und rollte sich schnell zur Seite. Die Brechstange knallte in die Kommode.

Die Rufe und das Klopfen an der Tür wurden lauter.

„Cayenne ist der letzte Mensch auf der Welt, mit dem ich noch etwas zu tun haben will.“ Er schlug wieder zu.

Dieses Mal schaffte Sydney es nicht mehr rechtzeitig auszuweichen. Das Brecheisen schabte über seinen Rücken, als er versuchte sich zu ducken und riss ihm die Haut auf. Sydney begann sich zu verwandeln.

„Sie soll nur wissen, was für ein Gefühl das ist, wenn einem immer und immer wieder der Boden unter den Füßen weggezogen wird.“

„Cayenne weiß, was für ein Gefühl das ist“, knurrte Sydney mit gutturaler Stimme. Seine Haut war von Fell bedeckt und sein Körper begann sich zu verformen. „Jegor hat ihr Leben zu einem Alptraum gemacht.“

Raphael nickte und schlug noch mal zu. Er traf nur den Boden. „Und dann hat sie sich an ihm gerächt. Jetzt bin ich dran, jetzt räche ich mich an ihr.“

Noch während Raphael das letzte Wort sagte, bleckte Sydney die Zähen und sprang ihn an, doch Raphael wich blitzschnell zur Seite aus. Ein Lykaner war einem Vampir kräftemäßig überlegen, aber ein Vampir war viel schneller. Solange Sydney ihn nicht erwischte, würde Raphael die Oberhand behalten. Und Raphael hatte nicht vor sich erwischen zu lassen.

Der Lykaner krachte ins Sofa und verschob es durch sein Gewicht. Raphael setzte direkt nach und schlug erneut zu. Das Brecheisen sauste auf den nun völlig verwandelten Wolf zu und donnerte mit solcher Macht auf ihn, dass es ihm das Schulterblatt zertrümmerte.

Sydney jaulte auf.

Jemand versuchte durch die Zimmertür zu kommen. Die Wächter und Umbras hatten wohl bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Rufe und Klopfen.

„Ich sollte mich wohl ein wenig beeilen“, murmelte Raphael und holte ein weiteres Mal aus. Leider bemerkte er zu spät, wie nahe er dem Wolf gekommen war.

Trotz der Schmerzen machte Sydney einen Satz nach vorne und schaffte es Raphael am Hosenbein zu erwischen. Er riss seinen Kopf zur Seite und den Vampir damit von den Füßen. Raphael schlug hart auf dem Boden auf und verlor sein Brecheisen aus der Hand.

Etwas schweres und großes knallte gegen die Zimmertür. Einmal, zweimal, dreimal. Sie versuchten sie aufzubrechen.

Als Sydney sich auf Raphael stürzen wollte, rollte der Vampir sich eilig weg. Er war vielleicht ein wenig eingerostet, aber im Gegensatz zu dem Gelehrten, hatte er Kampferfahrung vorzuweisen und wusste wie er reagieren musste.

Beim Abrollen bekam er die Brechstange wieder zu fassen und als er zurück auf die Beine sprang, fackelte er nicht lang. Er schwang sie wie einen Baseballschläger und erwischte Sydney mitten im Sprung. Der Lykaner wurde gegen die Wand geschleudert und sackte mit einem Jaulen an ihr zusammen.

Er atmete genauso schwer wie Raphael und bleckte knurrend die Zähne, als der Vampir wieder auf ihn zukam. Er versuchte aufzustehen, sackte aber wieder in sich zusammen. Sein Bein war seltsam verdreht und das Fell rot.

„Es wird Zeit die Sache zu beenden“, sagte Raphael und holte aus. „Wir sehen uns in der Hölle.“

Etwas biss ihn in die Wade. Aus einem Reflex heraus schlug Raphael einfach zu. Er erwischte etwas Kleines und schlug es mit solcher Wucht von sich weg, dass es quer durch den Raum flog, bevor es gegen den Unterschrank des Aquariums knallte. Etwas Knackte und dann lag es still da.

Raphael brauchte einen Moment, bis er verstand, was hier gerade geschehen war. Das was da lag … es war klein und Pelzig. Und voller Blut.

Sydney begann zu jaulen und zu fiepsen.

Raphael wurde eiskalt. Seine Hand öffnete sich einfach und die Brechstange fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Er hörte weder die Schläge an der Tür, noch die mittlerweile hysterischen Schreie von Cayenne. Er sah nur dieses kleine, blutende Bündel.

Ein kleiner Wolf, mit einem hellen Pelz. Der Kopf … oh Gott, Raphael hatte ihm den Kopf zertrümmert.

Entsetzt über das was er getan hatte, wich er langsam vor ihm dem Grauen zurück. Ein Schritt, noch ein Schritt. Er wirbelte herum, rannte zum Fenster und hielt sich nicht lange damit auf es zu öffnen. Er schlug die Scheibe einfach und floh hinaus in die Nacht, während über ihm unschuldig die Sterne funkelten. Hell und leuchtenden. Das Licht wurde immer intensiver, verschlang die Schwärze und das Grauen.

Schemen bildeten sich. Ein Gesicht, vertraute Züge, schwarzes Haar.

Ich blinzelte.

„Ara!“

Jemand schüttelte mich an der Schulter.

„Tarajika, komm zu dir!“ Ein leichter Schlag gegen die Wange. „Na los, wach auf!“

Ich blinzelte noch einmal, drehte den Kopf und machte einen unsicheren Schritt zurück. Direkt vor mit stand Amber mit Zaira im Arm und musterte mich besorgt.

„Bist du wieder bei mir?“

„Ich …“ Ich versuchte mich zu orientieren. Ich war nicht im Schloss, ich stand in Raphaels Flur. Meine Hand war ausgestreckt.

„Was bitte war das gerade?“, wollte Amber wissen. „Du warst völlig erstarrt und hast gar nicht mehr reagiert.“

Die Tür, ich hatte gerade nach der Klinke greifen wollen, um die Tür zu öffnen. Meine Augen weiteten sich ein wenig. „Raphael“, flüsterte ich und packte Amber bei der Schulter. „Wie lange ist er schon weg?“

„Was? Ich weiß nicht, vielleicht fünf Minuten. Kannst du mir vielleicht mal … hey!“, rief sie mir noch hinterher, doch da war ich schon zur Tür raus und rannte im Eilschritt die die Treppe hinunter.

Lalamikas Essenz erschien in einer Dunstwolke an meiner Seite. Er ist weg.

„Was?“

Er ist weg.

Nein, nein, nein. Trotz ihrer Worte rannte ich nach unten auf die Straße. Der Wagen mit dem wir gekommen waren, stand nicht mehr am Bordstein. Nein, bitte nicht.

Er ist auf dem Weg zum Hof.

Und ich hatte keine Möglichkeit ihm zu folgen. Mein Motorrad stand noch in Arkan und das einzige, motorisierte Fahrzeug, das uns hier zur Verfügung stand, hatte er genommen. Ich wirbelte herum und gerade in dem Moment, in dem die Tür wieder ins Schloss fallen wollte, stieß ich sie wieder auf und rannte zurück in die zweite Etage. Jetzt gab es nur noch eine einzige Sache die ich tun konnte und die Chance, dass sie gelang, war sehr gering.

Da Amber die Wohnungstür wieder geschlossen hatte, musste ich ein paar Mal klopfen und sobald sie sie öffnete, stürmte ich an ihr vorbei in die Küche.

Während ich damit begann die Schränke zu durchforsten, kam sie mir hinterher. „Kannst du mir mal verraten, was hier los ist? Wo ist Raphael hin und was ist da gerade mit dir passiert?“

In einem der Unterschränke entdeckte ich mehrere Schüsseln, doch sie alle waren aus Plastik oder Porzellan.

„Ara!“

„Ich hatte eine Vision“, erklärte ich und machte mich über die beiden Hängeschränke her. Da! Ein Stapel mit kleinen Glasschüsseln. Ich schnappte mir die oberste.

„Du hast Visionen?“

Ohne ihre Frage zu beantworten, sauste ich ein weiteres Mal an ihr vorbei. Neben einer gemütlichen Sitzecke, bestehend aus Zwei- und Dreisitzer, gab es hier auch eine große Schrankwand. Ich riss jedes einzelne Fach und jede Schublade auf, bis ich Stifte und Papier fand.

„Ich bekomme hier gleich einen ausgewachsenen Anfall. Seit wann hast du Visionen?“

„Seit ich vierzehn war.“ Ich legte die Papierbögen auf den Tisch, stellte die Schale verkehrt herum drauf und zog die Außenseite mit dem Stift nach, bis ich einen Kreis hatte.

„Aber …“ Amber schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. „Ich kenne dich jetzt schon seit einem Jahr und sowas wie eben, habe ich noch nie bei dir erlebt. Du warst minutenlang völlig weggetreten.“

„Ich hatte auch noch nie eine Vision gehabt, während ich wach war.“ Und das hier war wohl der schlechteste Zeitpunkt gewesen, um das zu ändern. Hastig und viel zu unordentlich, begann ich innerhalb des Kreises alle Buchstaben der Alphabets aufzuschreiben. Immer direkt an der Linie. Dann machte ich noch einen etwas kleinen Kreis, dieses Mal mit den Zahlen eins bis null.

Was soll das bringen?, wollte Lalamika wissen.

„Du kannst ihn noch einholen.“

Und du glaubst, er hört auf mich?

„Irgendwas müssen wir doch machen!“, fauchte ich sie an, legte den Stift zur Seite und stellte die Schale wieder verkehrt herum auf den gezeichneten Kreis. Es war eine Beschwörung. Lalamika hatte mir schon vor vielen Jahren davon erzählt, aber dies war das erste Mal, dass ich das tat. So konnte ich Lalamika für kure Zeit aus dem Reich der Geister in die Welt der Lebenden ziehen.

Ich kniete mich vor den Tisch, atmete einmal tief durch und versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen. „Lalamika“, flüsterte ich und tippte außen an der Schale an die entsprechenden Stellen für die Buchstaben. Dann legte ich meine Hände auf das Glas.

Amber trat etwas näher. „Was machst du da?“

Konzerntrier dich auf deinen Willen und deinen Herzschlag, wies meine Schwester mich an.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. „Lalamika“, flüsterte ich noch einmal.

Ich spürte nichts. Da war nur das Glas unter meinen Händen, dass sich durch meine Körperwärme langsam erwärmte. Nein, da war auch noch ein leichtes Kribbeln und die Schüssel wurde noch wärmer.

Guuuhhht. Lalamikas Stimme war wie ein Windhauch aus weiter Ferne.

„Oh mein Gott, was ist das?“

Der Geruch von Ozon stieg mir in die Nase. Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf und ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Jetzt!

Ich schlug die Augen auf. Lalamika stand nicht länger auf dem Tisch. Stattdessen bewegte sich unter der Schale dichter, weißlicher Nebel wie Rauch. Wie in einem Windhauch drehte er sich um sich selber.

Lass mich raus.

Ohne zu zögern kippte ich das Glas um. Augenblicklich strömte der weiße Dunst hervor, verfestigte sich und formte sich zu der durchscheinenden Gestalt eines jungen Leoparden auf tapsigen Pfoten, dessen Konturen in einem nicht spürbaren Windhauch sanft wallten.

Amber gab einen sehr mädchenhaften Schrei von sich.

„Geh ihm nach.“

Was soll ich sagen?

„Keine Ahnung, aber du musst ihn dazu bekommen, dass er zurückkommt.“ Sonst würde er heute Nacht noch etwas Unverzeihliches tun.

Lalamika nickte nur. Dann wurde sie zu ihrer eigenen Essenz und verschwand direkt durch die Wand hinaus ins Freie.

„Es hat gesprochen“, flüsterte Amber. Ihr Blick war auf die Wand gerichtet, aber nun glitt er langsam auf mich. „Das war ein Geist.“

„Mika“, sagte ich und schaute auf die Uhr über die Tür. Eine Halbe stunde. Raphael war schon seit einer halben Stunde fort. Lalamika war schnell, aber zuerst musste sie ihn finden und die Stadt war groß. Außerdem konnte sie so in diesem Zustand nur eine begrenzte Zeit existieren, bevor sie sich auflöste. Anschließend würde sie mehrere Stunden brauchen, um sich wieder zu regenerieren. Wenn sie ihn nicht rechtzeitig fand … ich wollte nicht wissen, was dann geschah.

„Bitte“, flehte ich verzweifelt. „Bitte, komm zurück.“

 

°°°

 

Stumpf starrte ich auf das marmorierte Bild mit dem weißen Rahmen an der Wohnzimmerwand. Es war grün und ergab absolut keinen Sinn. Genau wie das was die Alten getan hatten.

Ohne die Vision hätte ich Raphael aufhalten können. Die Bilder in meinem Kopf hatten mich gestoppt und dafür gesorgt, dass er sich aus meiner Reichweite entfernen konnte. Es machte fast den Eindruck, als hätten die Alten sich dafür rächen wollen, dass ich mich ihnen widersetzt hatte und nun … nun war er bereits seit zwei Stunden fort.

Ich hatte keine Ahnung, ob Lalamika ihn erreicht und auch überzeugt hatte. Mittlerweile war sie sicher wieder in der Welt der Geister, doch sie würde sich erstmal ein paar Stunden erholen müssen, bevor ich wieder mit ihr sprechen konnte. Bis es so weit war, konnte ich nichts anderes tun, als hier zu sitzen und immer wieder auf die Uhr zu starren.

Amber war eingeschlafen. Sie lag auf dem Dreisitzer, eines der Sofakissen unter dem Kopf. Zaira schlief vor dem Tisch in ihrem Reisebettchen. Sie träumte. Der Schnuller in ihrem Mund bewegte sich immer wieder, wenn sie zu nuckeln begann.

Meine Finger spielten unruhig mit der kleinen Phiole herum, drehten sie hin und her, aber heute konnte nicht mal das mich beruhigen. Es war alles so schief gelaufen und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte doch nur …

Als die Wohnungstür aufgestoßen wurde, sprang ich von der Couch, dass ich fast über meine eigenen Beine fiel. Ich schob mich eilig am Tisch vorbei und wollte sofort in den Flur laufen, doch stattdessen lief ich an der Wohnzimmertür direkt in den Vampir hinein.

„Zaira, was ist mir ihr?!“, fragte er mich sofort und schob mich zur Seite, ohne mir die Chance für eine Antwort zu geben.

Amber schreckte aus dem Schlaf, als er sich besorgt über das Babybettchen beugte. Sie blinzelte und schien einen Moment zu brauchen, um zu verstehen, wo sie war. „Was machst du für einen Lärm?“, nuschelte sie und schob sich das zerwühlte Haar aus dem Gesicht.

Bei ihrem Anblick bildete sich auf Raphaels Stirn eine verwunderte Falte. „Was machst du hier?“

„Hä?“

„Lalamika hat gesagt, du seist auf der Suche nach mir und das ich herkommen muss, weil mit Zaira etwas nicht stimmt und Gnocchi nicht weiß, was sie machen …“ Sein Mund schloss sich und die Sorge in seinem Blick verwandelte sich in Härte. „Es war eine Lüge.“ Er schnaubte. „Natürlich war es eine Lüge.“

Als er sich aufrichtete, drehte ich mich um und rannte in den Flur. Nicht um vor ihm davon zu laufen, ich stellte mich vor die Wohnungstür, damit er nicht wieder einfach verschwinden konnte und als er dann selber in den Flur trat, sagte ich ganz schnell: „Aric!“

Er blieb einen Moment stehen und schaute mich verständnislos an.

„Es wird nicht Sydney sein, den du tötest, sondern Aric.“

Sein Gesicht versteinerte. „Ich würde niemals Hand an ein Kind legen.“

„Du tust es nicht mit Absicht. Du kämpfst mit Sydney und der Kleine gerät zwischen die Fronten. Es ist ein Versehen, aber es wird passieren.“ Ich schaute in sein Ausdrucksloses Gesicht. „Bitte“, flehte ich. Bitte glaub mir.

Ohne auch nur einen Ton von sich zu geben, kam er auf mich zu. Doch er versuchte nicht mich von der Tür wegzuschubsen und wieder zu verschwinden, er ging einfach an mir vorbei ins Schlafzimmer und begann sich mit verbitterter Mine seiner Jacke und seiner Schuhe zu entledigen.

Ich zögerte, weil ich nicht recht wusste, ob es sicher war, die Tür wieder freizugeben, doch als er sich dann auch noch das Hemd über den Kopf zog und es achtlos zur Seite warf, keimte in mir die vage Hoffnung auf, dass er einfach nur schlafen gehen wollte.

Unsicher löste ich mich von meinem Platz und trat langsam zu ihm ins Zimmer.

Sein feindlicher Blick lag sofort auf mir. „Du brauchst gar nicht hier reinkommen. Von mir aus kannst du draußen auf dem Boden schlafen, aber in mein Bett kommst du sicher nicht mehr.“

Es tat weh, das zu hören. Er wollte mich nicht mehr bei sich haben. Ein Dolch in der Brust hätte weniger geschmerzt. Und dennoch blieb ich im Raum und schloss die Tür von innen.

Seine Augen wurden ein wenig schmaler. „Raus“, knurrte er. Die Wut brannte in seinem Blick. Aber da war noch mehr. Ich hatte ihn verletzt. Mein Schweigen war für ihn wie eine Lüge gewesen.

„Was hätte ich denn tun sollen?“, fragte ich leise und griff nervös nach der Phiole. Natürlich bemerkte er diese Geste. „Hätte ich dir von Anfang an gesagt, was passieren würde, hättest du mich für verrückt gehalten und einfach stehen gelassen. Ich konnte auch nicht zu Cayenne gehen und sie warnen. Sie vertraut dir, sie hätte mir niemals geglaubt. Niemand hätte mir geglaubt.“

Sein Blick bohrte sich in meinem Kopf. „Ich habe alles stehen und liegen gelassen, um dich in Sicherheit zu bringen. Ich habe meiner Mutter zurückgelassen, meine Familie, ja mein ganzes Leben und das alles für eine Lüge!“ Seine Fänge fuhren aus. „Du hast mein Vertrauen ausgenutzt, ganz bewusst!“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf.

Er überhörte das einfach. „Und du hast es mir nicht mal erzählen wollen!“, schrie er mich an. Seine Wut kam so plötzlich, dass sie schon die ganze Zeit unter der Oberfläche gelauert haben musste. „Wenn dieses verdammte Arschloch nicht bei meiner Mutter aufgetaucht wäre, hättest du auch weiterhin geschwiegen! Und dann? Was wäre passiert, wenn die ganze Scheiße durchgestanden wäre? Wäre ich eines morgens aufgewacht und du wärst einfach verschwunden gewesen?!“

Was? „Nein, ich …“

Er kam so plötzlich auf mich zu, dass ich eilig vor ihm zurück wich, bis ich die leere Wand neben der Tür im Rücken hatte. „Lüg. Mich. Nicht. An“, knurrte er mir direkt ins Gesicht. „Es mag dich vielleicht wundern, aber nicht alle Männer sind schwanzgesteuerte Idioten, die sich einen Kullerkeks darüber freuen, wenn sie eine weitere Kerbe in ihren Bettpfosten schlagen können. Du hättest nicht mit mir ins Bett steigen müssen, um in meiner Nähe bleiben zu können.“

„Aber so war das doch gar nicht. Ich …“

Als seine Fäuste rechts und links neben mir gegen die Wand krachten, zuckte ich nicht nur zusammen, ich riss auch instinktiv die Arme hoch und fuhr die Krallen aus. Doch er tat nichts weiter, als mich wütend anzustarren. „Verrat mir eines, Tarjika: Magst du mich überhaupt, oder diente das alles bloß dem Zweck, die Welt vor den Taten des Todbringsers zu bewahren?“

Er hatte mich Tarajika genannt, nicht Gnocchi. Genau wie damals. In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. „Du bist kein Totbringer.“

Sein Gesicht kam näher. Seine Pupillen hatten sich verdunkelt und das was ich in ihnen sah, verunsicherte mich. So hatte er mich noch nie angeschaut, so voller Abneigung. „Du weichst der Frage aus.“ Seine Stimme war ganz leise, die Ruhe vor dem Sturm. „Kannst du mich überhaupt leiden? War der Sex für dich einfach nur ein netter Bonus, um dir die Zeit zu vertrieben? Hat es dir Spaß gemacht, mit mir zu spielen?“

Was? Was dachte er denn da? „Nein, ich … ich habe nicht gespielt.“

„Ah, dann lagst du also da und hast dir jedes Mal gewünscht, dass es einfach nur vorbei geht.“

Langsam verstand ich gar nichts mehr. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, es ging ihn darum, dass ich geschwiegen hatte. Scheinbar hatte ich mich getäuscht. „Ich hatte nie gewollt, dass es vorbei geht.“ Als er mich nur anschaute, leckte ich mir nervös über die Lippen. „Ich mag Amber und Marica und auch deinen dummen Bruder, aber du … du bist mein Freund.“ Ich hob die Hand. Auf einmal war das Bedürfnis ihn zu berühren, übermächtig. Meine Finger schwebten über der Haut seiner Brust, nur Millimeter entfernt, doch ich traute mich nicht ihn anzufassen.

„Ich hatte noch nie einen Freund wie dich“, flüsterte ich und spürte die Wärme seiner Haut. Ganz vorsichtig berührte ich ihn mit dem Zeigefinger. Er gab keine Regung von sich. „Der Kuss vor einem Jahr … ich war neugierig. Es war schön, aber … ich weiß nicht. Es hatte keine große Bedeutung. Doch das was am Hof passiert ist und danach, das war etwas ganz anderes.“

Er sagte nichts, aber er hörte zu und als ich die Hand auf sein Herz legte, sah ich ihn schlucken.

„Das hatte nichts mit den Visionen zu tun, das war nur …“

Das plötzliche schrillen der Klingel, ließ mich zusammenzucken.

Ganz kurz ging mein Blick zur Tür. Doch Raphael machte keine Anstalten, seinen Posten vor mir aufzugeben. Seine Aufmerksamkeit galt allein mir.

„Nein“, sagte ich dann leise. „Ich mag dich nicht nur. Das was du für mich bist, ist viel mehr als mögen. Ich will bei dir sein. Nicht wegen der Visionen. Ich will immer bei dir sein.“

Er ließ den linken Arm sinken und rückte ein wenig näher. „Warum?“, fragte er, ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. „Wenn du nicht wegen der Visionen mit mir ins Bett gegangen bist, warum dann?“

Es klingelte erneut, dieses Mal sehr nachdrücklich und dann hörte ich Amber schimpfend durch die Wohnung stampfen.

„Warum tust du nichts gegen dieses Lärm?“, wütete sie und riss die Tür zum Schlafzimmer auf. Die Klingel wurde dabei von ihr genauso wenig beachtet, wie sie von uns. Raphael und ich schauten uns nur an. Das hier war zu wichtig, als sich von irgendwas ablenken zu lassen.

Einen Moment stand Amber in der offenen Tür. Wir spürten ihren Blick, doch niemand beachtete ihre Anwesenheit und als es dann noch einmal klingelte, zog sie die Tür leise zu und wir waren wieder allen.

Raphael ließ mich noch immer nicht aus den Augen. „Sag es mir“, verlangte er leise und auch wenn er noch immer leicht angespannt war, der Zorn hielt ihn nicht länger in den Klauen. „Ich muss es hören.“

„Ich hatte eine Vision, schon vor vielen Monaten.“ Meine Finger krampften sich ein wenig zusammen. Sein Herz schlug ganz ruhig. „Ich sah dich mit deiner Tochter. Ein kleines Mädchen, fast so wie Zaira, nur ihre Augenfarbe war anders. Ihr seid nach Hause gekommen. Das Mädchen lief durch die Wohnung und rief nach ihrer Mutter.“

Vom Korridor waren ein paar Geräusche zu hören.

„In der Küche war eine Frau. Das Mädchen hat sie Mama genannt.“

Ein paar Stimmen. Amber sagte etwas.

„Ich war diese Frau“, flüsterte ich. „Seit ich das gesehen habe, wünschte ich, es wäre wahr.“

Er beugte sich so weit vor, dass ich seinen Atem auf den Lippen spüren konnte. „Sag es.“

Ich schluckte. Ich wusste nicht warum, aber ich fürchtete mich davor, meine Gefühle für ihn laut auszusprechen. Dennoch öffnete ich den Mund. „Ich lie-“

Die Schlafzimmertür öffnete sich einen Spalt. „Raphael, du …“

Raphael riss seinen Kopf herum. „Jetzt nicht!“, fauchte er.

Über die Heftigkeit stutzte Amber einen Moment. „Tut mir leid, wenn ich störe, aber du musst mal rauskommen. Sofort.“

Unwillig drückte er die Lippen zusammen. Dann stieß er sich von der Wand ab, riss die Tür auf und wollte das Zimmer verlassen, doch auf der Türschwelle erstarrte er einfach. Einen Moment schien er nicht fähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Dann explodierte er einfach. „Verschwinde aus meiner Wohnung!“, brüllte er in einer Lautstärke, dass die Nachbarn wahrscheinlich alle sofort in ihren Betten standen. „Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht wiedersehen will!“

„Ryder, ich …“

„Nein!“ Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt.

Nicht nur der Name, auch die Stimme ließ mich aufhorchen. Cayenne, das war Cayenne.

„Du hast hier nichts zu suchen, also schaff deinen verdammten Arsch aus meiner verdammten Wohnung!“ Als er einen drohenden Schritt in den Flur machte, löste auch ich mich von meinem Platz an der Wand.

Meine vage Hoffnung, dass ich mich vielleicht verhört hatte, löste sich sofort in Rauch auf, kaum dass ich selber auf der Schwelle stand.

Direkt vor der geschlossenen Haustür, zwischen Sydney und Diego, stand Cayenne in einem hellgrünen Chiffonkleid. Ihre Finger nestelten nervös miteinander herum. „Lass mich doch erklären, warum …“

„Ich will keine Erklärungen!“, unterbrach er sie grob. „Wegen dir hätte ich Gnocchi fast verloren! Was bildest du dir eigentlich ein wer du bist? Hat es dir nicht gereicht mein Leben einmal zu ruinieren? Musst du dich immer und immer wieder einmischen? Du wolltest mich nicht und jetzt kannst du es nicht ertragen, dass ich ein Leben ohne dich habe? Du willst mich doch verarschen!“

Amber schaute nervös zwischen ihrem Bruder und ihrer Königin hin und her. Natürlich, sie wusste ja weder, dass die beiden mal eine Beziehung hatten, noch was ihr Auftauchen hier bedeutete. Aber ich wusste es.

„Nein, ich will dich nicht verarschen, ich will Zaira sehen!“, fauchte sie nun zurück. „Du bist einfach mit ihr verschwunden und …“

„Zaira?“ Er lachte scharf auf und machte einen drohenden Schritt auf sie zu, der nicht nur Sydney dazu brachte, ihn anzuknurren, sondern auch dafür sorgte, dass ich mich vorsichtshalber vor ihn schob. „Wo ist Kiara? Hä? Wo ist meine Tochter? Ist sie unten im Wagen?“

Cayenne funkelte ihn an. „Sie ist Zuhause.“

„Natürlich ist sie das“, knurrte Raphael. „Hier geht es ja wieder nur um dich und deine Bedürfnisse.“

„Hätte ich sie etwa den ganzen, weiten Weg mit hier her nehmen sollen?“, knurrte Cayenne.

„Du hättest gar nicht erst hier auftauchen sollen! Lass mich endlich in Ruhe! Und wenn deine blöde Töle nicht mit dem Knurren aufhört, dann wird sich diese verdammte Scheinprophezeiung vielleicht doch noch erfüllen!“

„Jetzt hör auf mich so anzuschreien“, schnauzte sie legte Sydney aber eine Hand auf den Kopf, woraufhin dieser sofort verstummte. „Du bist doch selber schuld, dass ich hier auftauchen musste! Hallo, du bist einfach mit meiner Tochter verschwunden!“

„Deine Tochter!“, höhnte er. „Du meinst das kleine Mädchen, dass du einfach abgeschoben hast, weil es dir im Weg war?!“

„Das ist nicht wahr!“

„Und dass ich verschwinden musste, ist ganz allein deine Schuld! Ich hatte dir gesagt, dass du dich da raushalten sollst, aber du musstest dich natürlich wieder einmischen! Was hätte ich deiner Meinung nach den tun sollen? Einfach dableiben und darauf warten, dass sie zurückkommen? Vielleicht hätte ich Gnocchi auch einfach ausliefern sollen, oder sie gleich selber umbringen, wäre dir das recht gewesen?“

„Das habe ich nicht gesagt“, knurrte sie, „nur dass du nicht einfach so abhauen kannst. Zaira ist auch mein Baby, du kannst nicht einfach so mit ihr verschwinden!“

„Ach, hätte ich sie dir zurückbringen sollen?“

„Nein, natürlich nicht, aber …“

„Was aber? Nun los, sagt schon. Was hätte ich tun sollen? Lass mich an deiner Weisheit teilhaben, ach du große Königin.“

„Hör auf so mit mir zu reden!“, fuhr sie mich an

„Wie soll ich denn dann mit dir reden? Soll ich einen Hofknicks machen?“

Als aus dem Wohnzimmer auf einmal ein klägliches Jammern kam, wandten sich alle Blicke danach um. Amber schaute unentschlossen hin und her, Raphael jedoch funkelte seine Ex nur warnend an.

„Lass mich endlich in ruhe“, grollte er und wandte sich dann ab, um ins Wohnzimmer zu gehen.

„Nein, warte.“ Cayenne Streckte den Arm nach ihm aus. „Ich …“

Bevor sie ihn berühren konnte, hatte ich schon ihre Hand weggeschlagen. „Fass ihn nicht an!“ In meinen Augen erwachte der Panther.

Einen Moment schien sie einfach nur verdutzt, dann aber erwachte ihr Ärger. „Sieh dich vor, Tarajika.“

„Warum? Rufst du sonst wieder mein Vater an?“ Ich riss mein Hemd am Halsausschnitt so weit runter, dass meine Schulter frei lag. Die tiefen von den Krallen gerissenen Wunden waren verheilt, doch die Narben würde ich für immer behalten. „Soll ich wieder bluten?“

Sie wich meinem Blick nicht aus, doch ein Schatten der Reue huschte über ihr Gesicht. „Das habe ich nicht gewollt. Ich dachte nur, du wärst bei deiner Familie besser aufgehoben.“

„Nein“, widersprach ich ihr und ließ mein Shirt wieder los. „Du wolltest mich von Raphael weg haben, weil du mich für ein dummes Kind hältst.“

„Das ist nicht wahr. Ich dachte nur, dass Ryder …“

„Sein Name ist Raphael und er gehört dir nicht mehr.“

Das Jammern im Nebenzimmer wurde ein wenig leiser, nur um dann mit neuem Elan wieder loszugehen.

„Amber“, sagte Raphael und schien seine Schwester damit aus ihrer Verwirrung zu wecken. „Kannst du mal bitte eine Flasche machen?“ Er verschwand im Wohnzimmer, bevor sie antworten konnte.

„Ähm“, machte sie nur, schaute von einem zum anderen, verschwand dann aber ohne ein weiteres Wort in der Küche.

Cayenne wollte Raphael hinter, ich konnte es ihr ansehen, doch ich stand noch im Flur und blockierte den Weg. „Ich will sie sehen.“

„Und?“

„Sie ist meine Tochter.“

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite und ließ den Panther noch ein wenig an die Oberfläche treten. Meine Pupillen zogen sich zusammen. Cayenne war hier nicht das einzige Raubtier und auch wenn sie eine Königin war, ich war stärker. „Sie ist Raphaels Tochter.“

Ihre Lippen wurden ein wenig schmaler. „Bitte.“

Einen Moment war ich versucht, den Weg weiter zu blockieren, oder sie sogar aus der Wohnung zu werfen. Nach dem was sie getan hatte, war ich einfach nur wütend auf sie. Wegen ihr war nun alles kaputt. Aber sie war Zairas Mutter, sie hatte die Kleine lieb und ich hatte geschworen, dass es der Kleinen gut gehen würde. Welches Recht hatte ich also, die beiden voneinander fernzuhalten?

Wortlos trat ich zur Seite und ließ sie und Diego vorbei, doch als Sydney ihr folgen wollte, schüttelte ich den Kopf. „Nein, du nicht.“

Er legte die Ohren an und schien mich mit seinem Blick durchleuchten zu wollen.

„Er könnte dir wehtun.“

Natürlich verstand Sydney nicht, was ich damit sagen wollte, aber er versuchte auch nicht, sich an mir vorbei zu drängen. Vielleicht erkannte er irgendwas in meinen Augen. Vielleicht wollte er aber auch einfach keine weiteren Auseinandersetzungen riskieren.

Als ich sicher war, dass er bleiben würde, wo er war, trat ich zurück, um selber einen Blick ins Wohnzimmer werfen zu können. Raphael stand mit verschränken Armen vor der Schrankwand. Der Ausdruck in seinem Gesicht war eine unleserliche Maske, doch in seinen Augen tobte die Wut.

Cayenne stand ihm gegenüber neben dem Babybett und wiegte die verstimmte Zaira in ihren Armen. Das schien der Kleinen nicht zu gefallen. Natürlich nicht. Zaira war zwar erst drei Monate alt, aber Cayenne war eine Fremde für sie. Außerdem hatte man sie aus dem Schlaf gerissen und ihr Fläschchen war noch nicht fertig. Keine gute Kombination.

Mit dem Geräusch einer schüttelnden Flasche, kam Amber aus der Küche und verharrte einen Moment neben mir. „Ich werde hierfür nachher eine Erklärung fordern.“ Ihr Blick fiel auf Cayenne. „Eine sehr ausführliche Erklärung.“

Ich zuckte nur mit den Schultern und schaute dann dabei zu, wie sie ins Wohnzimmer ging. Was hätte ich sonst tun sollen? Außerdem war das nicht meine Entscheidung. Zaira und Cayenne waren Raphaels Geheimnisse. Wenn er seiner Schwester alles erzählen wollte, würde ich mich nicht einmischen. Wenn er allerdings schweigen würde, würde auch ich nichts sagen.

Etwas zögernd trat Amber an Cayenne heran und nahm ihr dann die Kleine aus dem Arm, um sich mit ihr auf die Couch zu setzen.

Raphael durchbohrte die Königin noch immer mit feindlichen Blicken, wandte sich dann aber ab und kam in den Flur. „Pack Zairas Sachen ein und alles was du glaubst, was wir sonst noch brauchen.“ Seine Hand berührte mich an der Taille und verharrte dort. Seine Körperwärme spürte ich die den Stoff hindurch. „In einer halben Stunde brechen wir auf.“

„Okay.“

Das hatte Cayenne natürlich gehört. Sie drehte sich zu ihm um und runzelte die Stirn. „Was hast du vor?“

Er bedachte sie einen Moment mit all der Ablehnung, die er aufbringen konnte, strich mich dann sanft über die Seite und verschwand im Schlafzimmer.

Einen Moment zögerte Cayenne, hin und her gerissen, von dem Wunsch bei ihrer Tochter zu sein und dem Anliegen mit Raphael zu sprechen. Leider siegte das Anliegen und sie machte sich entschlossen an die Verfolgung.

Auch ich überlegte einen Moment, mich ihr anzuschießen, einfach weil ich nicht wollte, dass sie mit ihm allein war, aber Raphael hatte mich gebeten unsere Sachen zusammenzupacken. Also ging ich ins Wohnzimmer und räumte Zairas Sachen und das Babybettchen zusammen. Dann ging ich in die Küche, um die Fläschchen und das Milchpulver zu holen.

Als ich am Waschbecken stand und die eine Flasche auswusch, stopfte ich die Flaschenbürste leider mit ein wenig zu viel Wucht in der Glas. Das Wasser spritzte hoch und klatschte mir nicht nur gegen mein Shirt, sondern gleich bis ins Gesicht. Einen Moment stand ich etwas bedröppelt da, dann verzog ich verärgert das Gesicht.

„Toll“, murmelte ich, stellte das Wasser aus und versuchte die feuchten Flecken wegzutupfen. Im Gesicht klappte das noch ganz gut, aber weiße Shirt bekam ich so nicht trocken. An den nassen Stellen war es sogar ein wenig durchscheinend. Also legte ich das Handtuch weg und trat wieder in den Flur.

Sydney hatte ich in der Zwischenzeit halb ins Wohnzimmer gelegt und beobachtete Amber, die immer wieder misstrauische Blicke zu Diego warf. Sie schien zu versuchen, der ganzen Sache einen Sinn zu geben. Sie hatte gewusst, dass Raphael mit ihrer Königin bekannt war. In der Vergangenheit hatte sie selber bereits Kontakt mit Cayenne gehabt, aber mit dem was Amber wusste, kratzte sie gerade mal an der Oberfläche der Geschichte.

Ich wandte mich ab und ging zum Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt und ich wollte sie gerade aufdrücken, als ich in dem schmalen Spalt etwas sah, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Raphael stand mit dem Rücken zur Kommode und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Cayenne war direkt vor ihm. Sie beugte sich vor und küsste ihn.

Als ihre Lippen seine berührten, wurde sein Gesicht zu Granit, aber er stieß sie nicht weg. Er stand einfach nur da, als wäre er erstarrt und auch wenn er den Kuss nicht erwiderte, so tat er auch nichts, um ihn zu unterbinden.

Tief in meiner Brust verspürte ich einen schmerzhaften Stich. Das zu sehen, tat einfach nur furchtbar weh. Im ersten Moment wollte ich mich abwenden und in Tränen ausbrechen. Im Zweiten wollte ich in das Zimmer stürmen, um sie von ihm wegzureißen und ihn anschließend anschreien. Doch ich tat nichts weiter als dazustehen und zuzuschauen. Ich war genauso erstarrt, wie er.

Der Kuss dauerte vielleicht eine Minute. Cayenne löste sich wohl von ihm, weil sie merkte, dass er in keinster Weise reagierte. Sie wirkte traurig, als sie einen Schritt von ihm zurücktrat.

Er starrte sie nur ausdruckslos an. „Was sollte das?“, fragte er leise. „Was bezweckst du damit?“

Auf einmal wirkte sie ein kleinen wenig beschämt. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie genauso leise und wich seinem Blick aus. „Ich wollte nur … ach, keine Ahnung.“

Er schwieg.

„Du bist mir nicht egal, Ryder. Trotz allem … du bedeutest mir noch etwas.“

Seine Lippen verzogen sich frustriert. „Es ist nicht mehr genug, Cayenne. Es ist schon lange nicht mehr genug.“ Er stieß sich von der Kommode ab und griff nach seinem Hemd. Zwei Handgriffe später, hatte er es sich wieder übergezogen. „Und auf diese Art zu versuchen, mich zum Bleiben zu bewegen, ist einfach nur krank von dir.“

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. „Es ist Tarajika, oder?“, fragte sie leise.

„Das spielt keine Rolle. Wir werden gehen, weiter gibt es dazu nichts mehr zu sagen.“

„Aber das kannst du nicht machen, Zaira ist auch meine Tochter. Du kannst nicht einfach so auf Nimmerwiedersehen mit ihr verschwinden.“

Raphael wollte gerade nach einer der Taschen greifen, doch nun richtete er sich wieder auf und fixierte sie. „Gut, wenn es deine Tochter ist, wenn du sie nicht gehen lassen willst, oder kannst, oder wie auch immer, dann nimm sie mit zurück auf dein Schloss, denn dank dir bleibt mir gar keine andere Wahl, als mit Gnocchi zu verschwinden.“

„Du weißt, dass ich sie nicht mitnehmen kann.“

Von dem traurigen Ton in ihrer Stimme, ließ er sich nicht erweichen. „Du hast es verbockt, Cayenne“, teilte er ihr eiskalt mit. „Nun musst du dich entscheiden. Der Thron, oder deine Tochter, beides kannst du nicht haben. Ich habe mich entschieden. Ich werde gehen. Ich will Zaira mitnehmen, ich habe nur dieses eine Kind und weiß, dass ich an dem Leben meines anderen nicht teilnehmen kann, aber wenn du es wirklich nicht verkraftest, dass sie bei mir bleibt, dann nimm sie mit dir.“ Er drehte sich ganz zu ihr herum. „Aber egal wie du dich entscheidest, tu es jetzt, denn ich werde in einer halben Stunde verschwunden sein und du wirst mich nie wieder sehen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe das nicht gewollt. Ich habe nicht gewusst, was die Ailuranthropen tun werden.“

Er drehe den Kopf weg, als könnte er sie so ausblenden. Leider bemerkte er dabei mich im Türspalt stehen. Seien Augen weiteten sich vor Überraschung ein wenig und die Frage die ihm in dem Moment durch den Kopf schoss, stand mehr als deutlich in seinem Gesicht. Wie lange stand ich hier schon und wie viel hatte ich mitbekommen?

Kurz war ich versuchte, die Flucht zu ergreifen, aber ich würde mich sicher nicht so einfach verscheuchen lassen. Und obwohl mir das Bild noch immer vor Augen stand und es wehtat, schob ich die Tür nun auf und trat in den Raum.

Cayenne ließ sich nicht anmerken, ob sie davon überrascht war, Raphael jedoch, schien sich auf einmal ein kleinen wenig unwohl zu fühlen.

„Ja“, sagte ich leise und beantwortete ihm damit seine unausgesprochene frage. „Ich hab es gesehen.“

„Gnocchi“, begann er sofort, aber ich schüttelte nur den Kopf. Dann ging ich still zwischen den beiden hindurch zu meiner Tasche.

Völlig ungeniert zog ich mir mein Shirt aus, hockte mich dann hin und zog eines von Raphaels Hemden aus seiner Tasche. Das zog ich mir demonstrativ und mit einem bösen Blick auf Cayenne über den Kopf. „Was würde Sydney sagen, wenn er das gesehen hätte?“

Jeglicher Ausdruck verschwand aus Cayennes Gesicht. Ihr war selber klar, dass sie das nicht hätte tun dürfen. „Wenn du irgendwann mal weißt, wie es ist, Mutter zu sein, dann können wir uns gerne weiter unterhalten. Bis dahin hast du hier kein Mitspracherecht.“

„Und wenn du glaubst, dass du Raphael mit einem blöden Kuss dazu bringen könntest, nicht zu gehen, dann bist du dumm, egoistisch und ein Arschloch.“

Uh, die konnte wirklich finster gucken. Ein Wunder, dass sie keine tötlichen Laserstrahlen mit den Augen verschoss.

„Selbst ich weiß, dass man sowas nicht macht und ich bin in deine Augen ja nichts weiter, als ein dummes Kind.“ Ich warf Raphael über die Schulter hinweg noch ein Blick zu. Er ließ mich nicht erkennen, was er dachte. „Ich hab fast fertig gepackt. Wenn Zaira aufgegessen hat, können wir gehen.“

Er sagte nichts und irgendwie verschlimmerte das den dumpfen Schmerz in meiner Brust nur noch. Nachdem, was heute alles passiert war, war ich mir absolut nicht mehr sicher, wie wir zueinander standen. Vorhin hatte ich ihm fast gesagt, dass ich ihn liebte und einen kurzen Moment hatte ich geglaubt, dass das reichen würde, damit zwischen uns alles wieder in Ordnung kam, aber jetzt … jetzt tat es einfach nur weh.

Ich verließ das Zimmer und ließ die beiden wieder alleine.

 

°°°°°

Unzerstörbar

 

„Das sollte man verfilmen“, war das erste, das Amber sagte, nachdem sie Raphaels Worten in den letzten drei Stunden gelauscht hatte. Er hatte es ihr erzählt, alles was in seinem Leben geschehen war, seit Vivien damals im Auftrag von Markis Jegor Komarow entführt worden war.

Nachdem die letzten Worte verklungen waren, hatte im Wagen Schweigen geherrscht. Das hatte sie erstmal verdauen müssen. Man erfuhr ja auch nicht jeden Tag, dass die große Königin der Lykaner in Wirklichkeit ein Misto war und Jahrelang ein Verhältnis zum eigenen Bruder unterhalten hatte. Und nun, fünf Minuten später, war das erste was sie sagte, dass man diese Geschichte verfilmen sollte.

„Wirklich“, fügte sie noch hinzu, als glaubte sie, wir hielten das für ein Scherz. „Das ist so abgefuckt, dass es sicher eine Menge Geld in die Kinokassen einspielen würde.“

Ich gähnte, bis mein Kiefer knackte. Zwar hatte ich die Hälfte der Geschichte verschlafen, aber ich war noch immer müde.

„Diese Geschichte ist nicht für die Öffentlichkeit gedacht, Amber“, mahnte Raphael sie. „Ich habe dir das nur erzählt, weil du sowieso schon die Hälfte mitbekommen hast und eh keine Ruhe gegeben hättest, bevor du nicht alles weißt.“

Amber schaute finster. „Als wenn ich damit hausieren gehen würde.“

Er beobachtete sie einen Moment durch den Rückspiegel, beließ es dann aber dabei.

Auf der Rückbank gab Zaira ein Quietschen von sich, als ihr der Schnuller aus dem Mund fiel und verfolgte dann mit großen Augen, wie Amber sich danach bückte, um ihn ihr wiederzugeben. Sobald sie ihn wieder im Mund hatte, spuckte sie ihn wieder aus und das Spielchen begann von neuem.

Ich gähnte noch einmal und schüttelte dann den Kopf, in der Hoffnung, davon wieder ein wenig wacher zu werden.

Vor fast fünf Stunden, hatten wir Cayenne schluchzend am Bordstein stehen gelassen und waren mit unbekanntem Ziel davon gefahren. Nicht mal wir wüssten bis jetzt, wo unsere Reise enden würde. Na gut, wir würden demnächst wohl ein Hotel anfahren. Zwar hatten sowohl Amber, als auch ich hier im Wagen je gut zwei Stunden geschlafen, aber Raphael hatte seit gestern Morgen kein Auge mehr zugetan. Er musste mittlerweile hundemüde sein.

Aber dieses Hotel würde nicht unser Endziel sein. Spätestens morgen würde es weitergehen nach … tja, nicht mal Raphael wusste das bis jetzt. Eigentlich hatten wir ja vorgehabt, ein paar Tage in Berlin zu bleiben und uns dort die nächsten Schritte zu überlegen, aber dank Cayenne hatte sich der Plan bereits nach ein paar Stunden in Luft aufgelöst. Weder Raphael noch ich wollten, dass sie wusste, wo wir waren.

Ich drehte den Kopf leicht und beobachtete ihn aus den Augenwinkel. Seit wir ins Auto gestiegen waren, hatte er nichts von dem was geschehen war, auch nur mit einem Wort zur Sprache gebracht. Nicht meine Meute, nicht den Todbringer und auch nicht den Kuss mit Cayenne.

Er verhielt sich wieder normal, gleichzeitig aber auch sehr zurückhaltend. Ich könnte das jetzt auf die Müdigkeit schieben, aber nach allem was geschehen war, zweifelte ich doch sehr, dass es daran lag. Er schien sich auf einmal nicht mehr sicher, wie er mit mir umgehen sollte und ob er mir noch vertrauen konnte. Dazu kam noch das, was passiert war, bevor wir unterbrochen wurden. Er musste wissen, was ich im Begriff gewesen war zu sagen.

Es machte mich traurig, dass nun zwischen uns so eine Kluft herrschte.

Als würde er spüren, was in meinem Kopf vor sich ging, nahm er die Hand von der Gangschaltung und legte sie auf mein Bein. Sein Daumen strich vorsichtig hin und her. „Wir sind bald da“, versprach er.

Okay, er wusste also doch nicht, was in meinem Kopf vor sich ging. Ich unterdrückte ein Seufzen.

Als es auf der Rückbank knisterte, drehte ich den Kopf, um zu schauen, was Amber da machte. Sie hatte aus ihrer Tasche eine Schachtel mit Crackern geholt und versuchte sie nun aus der verschweißten Cellophantüte zu befreien. Bei dem Anblick gab mein Magen ein so vernehmliches Grummeln von sich, dass sie mich angrinste.

Sie nahm einen Cracker heraus und übergab ihn mir mit einem: „Hier.“ Da der erste schon in meinem Mund verschwunden war, kaum dass ich ihn in der Hand hielt, reichte sie mir gleich auch noch einen Zweiten.

Zaira folgte dem Knistern mit großen Augen.

„Sag mal, wie hast du das eigentlich mit deiner Schwester gemacht?“, fragte Amber und nahm sich selber einen. „Also, dass ich sie plötzlich sehen konnte.“

Etwas überrascht, wie sie plötzlich auf das Thema kam, drehte ich mich in meinem Sitz wieder halb zu ihr um. Dabei fielen mir ein paar Crackerkrümmel auf meine Leggins. „Ich habe sie gerufen.“

„Ja, mit dieser Schüssel.“

„Keine Schüssel.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ouija. Ich habe einen Spalt zwischen den Welten geöffnet und ihr Zugang gewährt.“

„Das war irgendwie unheimlich gewesen.“ Sie hob ihren Arm und zeigte ihn mir. „Siehst du, ich habe immer noch eine Gänsehaut deswegen.“

Raphael schnaubte. „Das war unheimlich gewesen? Was glaubst du wie ich mich erschrocken habe, als da plötzlich eine Geisterkatze auf dem Beifahrersitz saß und mir ganz nüchtern erklärte, dass sie mir für all die Gemeinheiten im letzten Jahr gerne den Hintern zerkratzen würde.“

Das hatte Lalamika zu ihm gesagt?

„Zum Glück stand ich gerade an einer roten Ampel, sonst hätte ich vermutlich einen Unfall gebaut.“

Hatte er sich wirklich so sehr vor ihr gefürchtet? „Aber du wusstest doch von Lalamika.“

Als er mir einen skeptischen Blick zuwarf, hielt ich ihm besänftigend meinen halben Cracker vor die Nase und zu meiner Verblüffung aß er ihn wirklich aus meiner Hand.

„Etwas zu wissen und etwas zu sehen, sind zwei völlig unterschiedliche paar Schuhe“, erklärte Amber und reichte mir zwei weitere Cracker nach vorne. „Ich meine, als du sagtest, du kannst Geister sehen, habe ich dir schon irgendwie geglaubt, aber erst jetzt ist es irgendwie real, verstehst du?“

Ich schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich konnte ich das nicht verstehen, weil Geister für mich immer schon real waren.

„Ist ja auch egal.“ Das Cellophan knisterte, als sie sich selber noch einen Cracker aneignete. „Wo ist sie jetzt eigentlich?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Weg.“

„Wie weg?“

Wie sollte ich das erklären? „Es ist anstrengend zu existieren. Das Sehen ist nur kurz. Sie hat sich aufgelöst und muss sich erst erholen. Ich weiß nicht wo sie ist, oder wann sie wiederkommt.“

„Sie schläft also gewissermaßen, um sich zu erholen“, überlegte Amber.

Diese Erklärung war genauso gut wie jede andere, also nickte ich wieder. Zu erklären, dass Geister niemals schliefen, weil sie keinen Körper hatten, der sich ausruhen musste, war ein wenig kompliziert. Das hatte auch etwas mit ihrer Essenz zu tun, mit dem ihrem Alter, sowohl im Leben, als auch im Tod und auch damit wer sie waren und wer sie sein konnten.

Amber knabberte an ihrem Keks. „Sie ist doch bei der Meute aufgewachsen, oder?“

„Ja.“ Ich biss einen halben Cracker ab und verfütterte die andere Hälfte wieder an Raphael.

Wir fuhren in eine kleine Ortschaft. Wie sie hieß, oder wo sie war, wusste ich nicht. Eben waren um uns herum noch Bäume und Felder gewesen und nun reihten sich kleine Einfamilienhäuser mit großen Gärten aneinander. In ein paar von ihnen konnte ich Hühner sehen und bei einem standen sogar zwei Schafe.

„Müsste sie denn nicht eigentlich einen Akzent haben? So wie die anderen Ailuranthropen.“

„Geister passen sich an. Sie spricht kein Deutsch, wir hören sie nur in dieser Sprache.“

In ihrem Gesicht erschienen drei große Fragezeichen. „Aber ich habe sie doch gehört.“

„Nein, du hast ihren Gedanken mit deinen Worten gehört.“ Ich tippte gegen meinen Kopf. „Sie kann hören, was die Leute denken und sie kann ihre Worte in die Gedanken der Leute manifestieren.“

„Dann werde ich also doch nicht verrückt“, murmelte Raphael.

Amber schaute ihn fragend an.

Er seufzte. „In den letzten Monaten, habe ich immer wieder eine Stimme in meinem Kopf gehört und zwischendurch wirklich an mir gezweifelt.“ Der Wagen wurde langsamer und hielt an einer roten Ampel.

„Für sowas gibt es Medikamente“, bemerkte Amber hilfreich.

Er drehte sich halb in seinem Sitz, um ihr einen bösen Blick an den Kopf zu werfen. Dabei bemerkte ich einen Krümel von dem Cracker an seiner Wange.

Ich streckte die Hand aus und wischte ihn mit dem Finger weg.

Seine Augen huschten zu mir. Die Farbe in seinen Pupillen wurde ein wenig dunkler und er schien etwas sagen zu wollen. Doch dann drehte er den Kopf einfach wieder weg und richtete seinen Blick auf die Windschutzscheibe. Ich bekam kein Lächeln, wie ich es noch gestern bekommen hätte.

Langsam ließ ich die Hand wieder in meinen Schoß sinken. Das hatte ich gemeint. Er verhielt sich ganz normal, aber dann passierte sowas. Als wollte er nicht mehr, dass ich ihn berührte.

Die Ampel sprang auf grün und er fuhr wieder los.

Niedergeschlagen lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und biss ein Stück von meinem letzten Cracker ab. Wahrscheinlich brauchte er einfach nur ein wenig Zeit. In ein paar Tagen wäre er sicher wieder der Alte. Er musste nur mal schlafen und über alles nachdenken. Das war schließlich keine …

„Ich liebe dich, Gnocchi.“

Ich erstarrte mit halb offenen Mund, wodurch der Cracker raus fiel und in meinem Schoß landete.

„Na endlich hat er es kapiert“, kam es von der Rückbank.

Ich hörte es kaum. Hatte er das wirklich gerade gesagt? Hier? Im Auto? Vor seiner kleinen Schwester?

Raphael warf mir einen unsicheren Seitenblick zu, aber ich war nicht fähig, mich auch nur ein Stück zu bewegen. Meine Augen waren weit aufgerissen und meine Herzschlag hatte deutlich an Geschwindigkeit zugelegt. Er hatte gesagt, dass er mich liebte.

„Gnocchi?“

„Fahr sofort rechts ran.“ Mein Körper war angespannt und die andere Hälfte des Crackers zerbröselte einfach in meiner Hand. Ich musste sitzen bleiben.

Unsicher schaute er von der Straße zu mir und dann wieder zurück. „Gnocchi, ich …“

Ich konnte nicht länger still sitzen bleiben. „Fahr rechts ran, halt an, egal was, nur bring den Wagen zum stehen!“ Ich griff nach meinem Gurt und versuchte ihn hektisch und mit nervösen Fingern zu lösen. Ich musste ihn loswerden.

Raphael leckte sich nervös über die Lippen. „Hör zu, ich wollte dich nicht erschrecken, vergiss einfach …“

„Halt an, hab ich gesagt!“ Warum nur ging dieser verdammte Verschluss nicht auf?

Er tauschte durch den Rückspiegel einen Blick mit Amber. Dann drückte er die Lippen fest aufeinander und lenkte den Wagen mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht endlich an den nächsten freien Platz am Bordstein. „Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte“, fing er an, während er den Motor ausschaltete. „Ich wollte nicht …“

Der Sicherungsbügel sprang endlich aus der Halterung. Ja! Noch während er sprach, drehte ich mich in meinem Sitz und kletterte über die Mittelkonsole auf ihn rauf. Ich stieß mit meinem Knie gegen die Gangschaltung, landete mit meinem Hintern halb auf dem Lenkrad, weswegen es kurz hupte und war dabei so stürmisch, dass Raphaels Kopf auch noch gegen die Nackenstütze knallte. Und dann presste ich meine Lippen einfach auf seine.

Er war von diesem Überfall so überrascht, dass sich sein Mund leicht öffnete und gab mir damit die Gelegenheit, den Kuss sofort auf die nächste Ebene zu heben. Dabei schlang ich nicht nur meine Arme um seinen Nacken, ich drängte mich mit meinem ganzen Körper gegen ihn und zog ihn so nahe an mich, wie es mir möglich war.

Bei den Geistern, er liebte mich!

Es dauerte vielleicht zwei Sekunden, bis er seine Überraschung überwunden hatte und den Kuss genauso stürmisch erwiderte. Seine Hände legten sich auf meine Schenken und strichen mit gespreizten Fingern an ihnen hinauf, bis er meine Hüfte zu packen bekam und mich festhielt, als wollte er mich nie wieder loslassen.

Mein Herz schlug wie wild und es dauerte nicht lange, bis unser Atem sich beschleunigte. Dieser Moment war einfach nur … oh Gott, noch nie hatte mich jemand geliebt.

Ich badetet in diesem Gefühl, genau wie in seinen Berührungen. Als seine Finger sich unter mein Shirt schoben, lief mir ein heißer Schauder über den Rücken und ich stöhnte an seinem Mund.

„Hey, macht mal ein wenig langsamer da Vorne“, lachte Amber auf dem Rücksitz. „Mich stört die Show zwar nicht, aber es ist ein Kind im Wagen, falls es euch entfallen sein sollte.“

Ruckartig und so, als hätte er für einen Moment alles um sich herum vergessen, riss er sich von mir los und starrte mich dann mit großen Augen an. Seine Lippen waren gerötet und er Blick leicht verklärt.

Ich vergrub meine Hände in seinem Haar und lehnte meine Stirn an seine. „Ich liebe dich auch“, flüsterte ich. Wahrscheinlich wusste er das schon, aber ich fand es wichtig, dass ich es noch mal hörte.

Seine Augenbrauen zogen sich verständnislos zusammen. „Warum hast du mich dann eben so angeschrien?“

Warum? Ganz einfach: „Du hättest sicher einen Unfall gebaut, wenn ich dich beim Fahren so überfallen hätte.“ Langsam kletterten meine Mundwinkel ein Stück nach oben. „Ich konnte nicht warten.“

Auf dem Rücksitz begann Amber leise zu lachen.

Nun begann auch Raphael zu lächeln. Er legte eine Hand in meinen Nacken, zog mich an sich und küsste mich ein weiteres Mal. Sanft, vorsichtig, so als sei ich etwas sehr Wertvolles, das man behutsam und mit viel Gefühl behandeln musste, damit es nicht zerbrach.

Ihm so nahe zu sein, es hatte etwas Befreiendes. Raphael war wohl die wichtigste Person in meinem Leben und mit diesem Kuss versuchte ich ihm genau das zu zeigen.

Als Amber damit begann sich lautstark zu räuspern und nicht mehr damit aufhörte, bis Raphael ein wenig von mir löste, bekam ich um mich herum kaum noch etwas mit.

„Ich werde sie umbringen müssen“, murmelte er an meinen Lippen, ohne mich loszulassen. „Das ist die einzig vernünftige Lösung.“

„Das habe ich gehört“, teilte sie ihm mit.

Wir grinsten uns an, ohne einander loszulassen.

„Aber ich mag Amber, ich möchte nicht, dass du sie umbringst.“

„Na dann hat sie ja noch mal Glück gehabt.“

„Ha ha“, kam es von hinten. Sie fühlte sich wohl ein kleinen wenig ausgeschlossen.

Raphael ließ seine Hände an mir hinab gleiten, bis sie auf meinen Beinen zum liegen kamen. „Na komm“, sagte er dann. „Setz dich dich wieder auf deinen Platz.“

„Aber ich will nicht.“ Im Moment wollte ich einfach nur hier sitzen bleiben, ihn im Arm halten und noch ein wenig herumknutschen.

Mein Widerwille ließ ihn lächeln. Er beugte sich für einen letzten Kuss nach vorne, den er dieses Mal aber sehr kurz hielt. „Später gibt es mehr davon, versprochen.“

Ich wollte jetzt mehr, nicht erst später, aber ich sah ein, dass wir hier nicht ewig stehen konnten. Also gab ich mich geschlagen und kletterte zurück auf meinen Sitz. Das Grinsen jedoch, bekam ich nicht mehr aus dem Gesicht. Es war immer noch da, als wir eine halbe Stunde später auf den Parkplatz eines kleinen, aber gepflegten Hotels, einfuhren. Es hatte eine helle Fassade und ein dunkles Spitzdach.

An den Fenstern hingen Blumenkästen und auch die Rasenflächen und Bäume vor dem Gebäude und um den Parkplatz herum, wirkten gepflegt.

Raphael parkte den Wagen in der Nähe des Eingangs, stelle den Motor aus und zog den Schlüssel ab.

„Na endlich“, stöhnte Amber und stieß die Tür auf. „Mein Hintern ist schon eingeschlafen.“

„Dein Mund leider nicht“, murmelte Raphael lächelnd und stieg selber aus.

„Wirklich witzig“, knurrte seine kleine Schwester.

Auch ich verließ den Wagen und streckte mich erstmal ausgiebig. Amber hatte recht, es war wirklich eine Erleichterung, endlich nicht mehr sitzen zu müssen.

Während Amber sich über Zaira und die Babyschale hermachte, öffnete Raphael schon den Kofferraum.

„Hol mal den Kinderwagen und ihre Wickeltasche raus“, verlangte Amber und tauchte mit der zappelnden Zaira aus dem inneren des Wagens auf. Die Kleine hatte wohl auch keine Lust mehr in ihrem Sitz herumzuliegen.

Raphael runzelte die Stirn. „Was willst du mit dem Kinderwagen?“

„Ich will spazieren gehen.“ Sie legte sie die Kleine so in den Arm, das Zaira ihr ganz in Ruhe den Ärmel ihrer schwarzen Bluse vollsabbern konnte. „Ich habe stundenlang auf meinem Hintern gesessen und möchte mich jetzt einfach nur ein wenig bewegen. Der Kleinen wird die frische Luft sicher auch gut tun.“

„Bist du den gar nicht müde?“ Ich kam um den Wagen herum und nahm meine Tasche von Raphael entgegen.

„Ich hab doch vorhin im Auto geschlafen.“

Ja, aber nicht lange.

Raphael jedoch widersprach nicht. Er lud den großen Kinderwagen aus, hängte die Wickeltasche dran und half Amber die Kleine hineinzusetzen. „Unser Zimmer wird auf dem Namen Rayder Randal laufen“, erklärte er seiner kleinen Schwester.

Sie nickte. „In zwei Stunden bin ich zurück. Macht etwas draus.“ Sie zwinkerte mir zu, drehte sich dann herum und spazierte mit Zaira vom Parkplatz.

„Vielleicht muss ich sie doch nicht ermorden“, murmelte Raphael lächelnd, nahm seine eigene Tasche aus dem Kofferraum und schlug ihn zu.

Als ich ihn fragend ansah, nahm er nur lächelnd meine Hand und betrat dann mit mir zusammen das Hotel.

Die Frau hinter der Anmeldung war eine korpulente Frau mit kurzem Haar und einem netten Lächeln. Sie gab uns ein Zimmer im ersten Stock und wies uns darauf hin, dass wir morgens zwischen sechs und zehn im Speisesaal am Buffet frühstücken konnten.

Das Zimmer selber sah fast genauso aus, wie das in Frankreich. Wenn man hinein kam, war gleich links das Bad. Dahinter, etwas zurückgesetzt, stand ein großes Doppelbett. Rechts war ein Kleiderschrank, in der Ecke unter dem Fenster stand ein Tisch und in der anderen Ecke befand sich noch ein bequemer Sessel. Es war klein, aber hell und gemütlich.

Als ich eintrat, schlug mir der angenehme Geruch von Zitrone entgegen. Meine Tasche landete neben dem Schrank, während Raphael hinter uns die Tür schloss. Dabei bemerkte ich, dass da etwas auf dem Kissen lag. War das Schokolade? „Schau mal.“ Ich ging zum Bett, ließ mich bäuchlings darauf fallen und nahm die kleine Praline in die Hand. „Hier hat jemand was vergessen.“ Auf dem anderen Kissen lag auch eine.

Raphael stellte seine Tasche lächelnd zu meiner. „Das hat niemand vergessen, das ist ein Willkommensgeschenk vom Hotel.“

„Das heißt, ich kann sie essen?“ Ich schaute über die Schulter und sah dabei zu, wie er sich die Schuhe von den Füßen trat und sein Shirt auszog. Wahrscheinlich wollte er erstmal duschen gehen.

„Ja.“

„Beide?“

Er schmunzelte und setzte sich auf die Bettkante. „Ja, iss sie ruhig beide.“

Super. Während ich die erste Praline auspackte und sie mir in den Mund schob, griff Raphael nach meinen Beinen zu zog mir meine Schuhe aus. Erst den einen, dann den andren. Süß und herb zerging mir die Schokolade auf der Zunge.

„Hmh“, machte ich genießerisch und spürte, wie Raphael über mich kletterte. Als er sich dann auch noch rittlings auf mich hockte und damit begann, mir federleichte Küsse in den Nacken zu hauchen, galt mein Interesse mir einem Mal nicht mehr der Schokolade.

„Bist du gar nicht müde?“, fragte ich ihn und drehte meinen Kopf so weit herum, wie es mir möglich war.

„Ich war müde“, erklärte er mir mit leiser Stimme. Seine Reißzähne schabten ganz sachte über die empfindliche Haut meiner Halsbeuge. Das Gefühl schoss mir bis in die Zehen und ließ meinen ganzen Körper kribbeln. „Aber da gibt es dieses süße Kätzchen. Es hat sich vor gar nicht so langer Zeit in meinem eigenen Wagen einfach auf mich gestürzt und auf sehr eigenwillige Art meine Lebensgeister wieder geweckt.“

„Böses Kätzchen“, murmelte ich und drehte den Kopf ganz leicht zur Seite, damit er an die empfindliche Stelle hinter meinem Ohr heran kam. „Dabei ist Schlaf doch so wichtig.“

Er lachte leise und schob seine Hand unter mein Shirt. Seine Finger strichen langsam über meinen Rücken und hinterließen eine prickelnde Spur. „Soll ich dich schlafen lassen?“

Darüber brauchte ich nicht mal nachdenken. Ich drehte mich unter ihm herum, bis ich auf dem Rücken lag. Dadurch zwang ich ihn zwar dazu seine Liebkosungen zu unterbrechen, aber so konnte ich ihn wenigstens ansehen. Und auch anfassen.

Ich legte meine Hand auf seine Schulter und strich über die alte Schusswunde. Nur eine Narbe war davon übrig geblieben. Sie würde nie ganz verschwinden, genau wie die Erinnerung an den Tag, als er sie bekommen hatte. Es war der Tag gewesen, als ich einfach zu ihm in den Wagen gesprungen war und damit die Weichen für seine Zukunft gestellt hatte. „Nein“, sagte ich leise und ließ meine Hand an ihm hinabgleiten, über seine Brust und seinen Bauch. Seine Muskeln zuckten unter dieser Berührung. „Lass mich nicht schlafen.“

Der verspielte Glanz in seinen Augen trat in den Hintergrund. Er beugte sich zu mir hinunter, als wollte er mich küssen. Stattdessen berührte er mich aber nicht mal. Da war nur sein Atem, der warm gegen meine Lippen fiel, während sein Blick mich gefangen nahm.

Sanft strich ich ihm über die Wange. Kleine, dunkle Stoppeln kratzen über meine Fingerspitzen. „Ich liebe dich.“

Seine Augen schlossen sich, als wollte er den Nachhall dieser Worte genießen. Er wehrte sich nicht, als ich sein Gesicht an meines zog und endlich küsste er mich.

Es war sanft und vorsichtig, als wollte er sich erstmal herantasten. Raphael war immer sehr sanft und einfühlsam, besonders dann, wenn er mir etwas neues zeigte, was ich noch nicht kannte. Doch jetzt gerade schien er es einfach nur gießen zu wollen, mir so nahe zu sein und die Gefühle, die schon vor seiner ersten Berührung in mir geschwelt hatten, langsam anzufachen.

Langsam bewegte er seine Lippen über mein Kinn hinweg und knabberte an meiner Kehle. Das Gefühl war unbeschreiblich und löste tief in mir ein herrliches Gefühl aus, dass alle meine Sinne zum Leben erweckte. Raphael hatte recht, Schlaf wurde völlig überbewertet.

Ich genoss seine Lippen und ließ mich auch nicht davon stören, als er seine Hände unter mein Shirt schob, um die nackte Haut darunter zu berühren. Ich wartete geradezu gespannt darauf, dass er mich weiter oben anfassen würde, doch kurz vor dem Ziel, wechselte er einfach die Richtung und strich wieder nach unten. Als er sich dann auch noch ganz von mir löste und sich wieder aufrichtete, blinzelte ich ihn verwirrt an.

„Was machst du?“

„Für Gleichstand sorgen.“ Er zog an meinen Armen, bis ich saß und zog mir dann das Shirt über den Kopf. Es war noch nicht mal auf dem Boden gelandet, das lagen seine Lippen schon wieder auf meinen. Doch anstatt mich wider hinzulegen, kroch ich unter ihm hervor und setzte mich dann rittlings auf seine Beine. Das war gar nicht so einfach, ohne dabei den Kuss zu lösen – aber allemal wert.

Er schlang sofort einen Arm um mich und zog mich so dich an sich, das selbst ein Lüftchen Schwierigkeiten gehabt hätte, sich zwischen und zu drängen.

Haut an Haut, schlang ich meine Arme um seinen Nacken und vergrub meine Hände in seinem Haar. Dabei drängte ich mich nicht nur gegen ihn, ich vertiefte auch den Kuss.

Leider ließ Raphael sich dadurch nicht zur Eile treiben. Seine Lippen und Hände bewegten sich ununterbrochen, doch bevor sie meine Brust berührten, wanderten sie wieder nach unten und als am Bund meiner Leggins abkamen, strichen sie mir einfach den Rücken hinauf. Das war schön, aber irgendwie nicht genug. Ich wollte das er weiter ging.

Als seine Lippen tiefer wanderten, ging mein Atem schon schneller. Ich ließ die Augen zufallen und lehnte mich zurück. Es war kein Problem für ihn, mein Gewicht zu halten und seinen Kopf gleichzeitig immer tiefer zu senken.

Sein Atem strich über meine Haut, sein Mund berührte den Ansatz meiner Brust, aber dann wanderte er wieder nach oben.

Ich gab ein frustriertes Geräusch von mir. „Nicht so“, schimpfte ich.

In seinen Augen tanzte der Schalk. „Nicht?“, fragt er scheinheilig und hob den Kopf. Er veränderte den Griff in meinem Rücken, sodass er mich mit einem Arm halten konnte. Mit der anderen Hand zog er eine Linie von meiner Kehle, zwischen meinen Brüsten hindurch, bis hinunter zum Bauch. „Wie denn dann?“

„So wie ich es mag.“

„Das heißt, so magst du es nicht?“ Langsam strich die Hand wieder nach oben.

„Doch, ich mag das.“ Ich nahm seine Hand und schob sie dahin, wo ich sie haben wollte. Augenblicklich wurden die Gefühle intensiver. „Das mag ich auch“, erklärte ich ihm und ließ meine Lider wieder zufallen.

Während er mich liebkoste, zog er mich wieder näher an sich heran und knabberte sanft an meine Halsbeuge.

Ich ließ meine Arme an ihm herab wandern, bis ich den Bund seiner Jeans berührte. Er war nicht das einzige, was ich dort unten fühlte und aus diesem Grund machte ich mich daran, den Knopf und den Reißverschluss zu öffnen.

Es war eng, aber ich schaffte es meine Hand zwischen uns zu schieben und stellte befriedigt fest, dass sein Atem sofort ein kleinen wenig schneller wurde. Ich begann ihn ein wenig zu reizen. Dabei drückte etwas gegen meinen Hals und ich spürte das Kratzen seiner Reißzähne.

Meine Haut begann zu kribbel. Mein Puls beschleunigte sich. „Hast du Hunger?“

Mit leicht glasigem Blick, löste er sich. „Was?“

„Deine Fänge sind ausgefahren.“ Vorsichtig strich ich mit dem Finger über seine Lippen. Sie hatten sich zu ihrer ganzen Länge über seine Lippen geschoben.

Wenn wir uns auf diese Art nahe waren, wurden sie immer ein wenig länger, aber so zeigte er sie eigentlich nur, wenn er wütend war, oder Hunger hatte und wütend schien er im Moment nicht zu sein.

Ich drückte meiner andere Hand ein wenig zu und entlockte ihm damit ein Stöhnen. „Nein“, sagte er und beugte sich wieder vor, um meine Haut mit seinen Lippen zu liebkosen. „Kein Hunger.“

Kein Hunger? „Warum …“

„Nicht so wichtig“, erstickte er meine Frage direkt im Keim.

Zu seinem Pech, weckte er damit erstecht meine Neugierde. Ich zog meine Hand aus seiner Hose und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. Dadurch zwang ich ihn mich anzusehen.

„Es ist wirklich nichts“, wiegelte er sofort ab. Als ich trotzdem nicht nachgab, schloss er die Augen und drehte den Kopf so, dass er mir einen Kuss in die Handfläche hauchen konnte. Dabei schob er seine Hände an seinen Seiten hinauf, streifte die Unterseite meiner Brust und begann sie zu liebkosen. „Weißt du, was es bedeutet, von einem Vampir markiert zu werden?“

„Nein.“ Ich musste mich konzentrieren, um auf seine Frage antworten zu können. Was er da machte … das war so schön.

Er beugte sich wieder vor und strich mit den Lippen an meiner Kinnlinie entlang. „Wenn ich Blut trinke, bleibt für kurze Zeit etwas von mir in meinem Wirt zurück“, raunte er. Seine Hände glitten wieder tiefer, packten mich an der Hüfte und zogen mich fest an sich. „Das Sekret in meinen Fängen, sorgt im Blut des Spenders für eine chemische Reaktion.“

„Der Endorphinrausch“, murmelte ich und allein die Erinnerung daran, ließ mir einen angenehmen Schauder über den Rücken laufen.

„Nein.“ Langsam schlüpfte der mit den Händen unter meine Leggins und strich mir über den Po. „Es ist eine Art Duftstoff, den nur andere Vampire wahrnehmen können. Er warnt sie davor, diesem Menschen zu nahe zu kommen, weil er vor kurzem erst Blut gegeben hat.“

Als seine Reißzähne wieder meine Halsbeuge streiften, erzitterte ich.

„So ist der Wirt geschützt“, murmelte er. „Nach dem ersten Biss, verflüchtigt sich das verantwortliche Hormon nach wenigen Tagen.“

„War das bei mir auch so?“

„Ja.“ Langsam zog er seine Hand wieder heraus und legte sie mir in den Nacken. Seine Lippen glitten tiefer und knabberten an meinem Schlüsselbein. Ich vergrub meine Hände wieder in seinem Haar. „Bei einem Wirt, der öfters Blut spendet, verweilt das Hormon länger. Solche Menschen werden meist von einem Vampir geschützt.“

Dann wäre es vermutlich nicht ratsam, sich bei so jemanden zu bedienen. Marica hatte es doch gesagt, wenn es um Blut ging, waren Vampire äußerst eifersüchtig und besitzergreifend.

„Diese Markierung setzten wir unbewusst, dagegen können wir nichts machen.“

Ich gab ein Seufzen von mir, als er mit Zunge und Zähnen über meine Brust strich.

„Ich kann eine Markierung auch ganz bewusst setzen“, murmelte er. „Es wäre, als würde ich ein Band erschaffen, etwas das unauslöschlich wäre und niemals rückgängig gemacht werden kann.“

Seine Zunge … oh Gott, was machte er da mit seiner Zunge?

„Kein Vampir traut sich an jemanden heran, der so markiert wurde, keiner außer dem Vampir, der das getan hat, denn er würde jeden töten, der seinem Schützling zu nahe kommt.“

Mein Kopf sackte in meinen Nacken. „Du willst mich markieren“, wurde mir klar.

„Ja.“

Der Gedanke ließ mich erzittern. Er wollte mich auf eine Art in Besitz nehmen, die mich für die Ewigkeit an ihn band, damit ich niemals wieder von ihm getrennt werden konnte. „Tu es.“

Er erstarrte. Mit einem mal wurde er so still, dass nichts anderes als mein Atem mehr zu hören war. Dann überlief ein Zittern seinen Körper. „So eine Markierung ist unzerstörbar.“

„Aber ich würde für immer zu dir gehören.“

Der Griff seiner Hände wurde ein wenig fester. „Ja.“

„Dann tu es.“

Seine Schultern spannten sich an. Ich hatte das Gefühl, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht einfach über mich herzufallen und seine Fänge in meinem Hals zu versenken. Er atmete ein paar Mal tief durch, als müsste er sich selber beruhigen. Erst dann hob er den Kopf und schaute mich direkt an. Das Eis in seinen Augen war zu Saphiren geworden. „Es lässt sich nicht rückgängig machen“, betonte er noch einmal sehr nachdrücklich. „Ich würde dich nie wieder gehen lassen.“

Dafür bekam er ein lächeln. „Wohin sollte ich denn ohne dich gehen wollen?“

Seine Antwort bestand aus einem drängenden Kuss, der mich wohl einfach um geschmissen hätte, wenn er mich nicht so festgehalten hätte. Seine Fänge wurden sogar noch ein kleinen wenig länger, als er die Lippen löste und damit begann sich einen Weg zu meinem Hals zu küssen.

Ich spürte wie meine Haut taub wurde, wo er mich mit der Zunge berührte und ein erwartungsvolles Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Ich wusste wie es war von ihm gebissen zu werden, aber dass hier war noch viel aufregender.

Nicht nur seine Lippen, auch seine Hände wurden forschender und hielten mich fest umklammert, als er mit den Reißzähnen über meine empfindlichen Haut kratze. „Noch kannst du es dir anderes überlegen“, murmelte er und küsste die Stelle, als wollte er sich dafür entschuldigen, sie mit seinen spitzen Fängen malträtiert zu haben.

Ich grub meine Hand in sein Haar und hielt sein Kopf damit genau dort, wo er im Augenblick war. Die Botschaft war klar. Ich würde es mir nicht noch mal überlegen. Ich wollte das genauso wie er, ich wollte, dass er für immer mir gehörte.

Der Griff in meinem Nacken wurde stärker. „Für immer mein“, raunte er und dann biss er zu.

 

°°°

 

„Okay“, sagte ich uns senkte meine Stimme zu einem Flüstern. „Wir müssen jetzt ganz leise sein.“

Zaira legte sich grinsend einen Finger auf die Lippen und machte: „Pssst.“ Ihr vierjähriges Gesichts strahlte geradezu vor Aufregung.

„Hast du dein Geschenk?“, fragte ich noch mal.

Sie nickte und hielt zum Beweis den kleinen Becher aus Ton hoch, denn sie nicht nur selber gemacht, sondern auch selber angemalt hatte. Nur bei den beiden Worten „Für Papa“ hatte ich ihr ein kleinen wenig helfen müssen.

„Gut, dann lass uns mal den Papa wecken, Donasie.“ Da meine Hände voll waren, konnte ich die Tür zum Schlafzimmer nur mit dem Ellenbogen öffnen. Der Raum dahinter war zwar nicht klein, aber auch nicht sehr groß. Unser Doppelbett und der Kleiderschrank passten gerade so hinein, dass man noch bequem wischen den Möbeln hin und her laufen konnte.

Raphael lag noch im Bett und schlief. Ich ließ den Anblick, den er mir bot, einen Moment auf mich wirken. Er lag hab auf dem Bauch. Die Decke war ihm bis auf die Hüfte gerutscht und seine kurzen Haare waren vom schlaf zerwühlt. Ich liebte es, ihn so zu sehen, so völlig entspannt und friedlich.

Zaira stürmte an mir vorbei in den Raum. „Alles gute zum Vatertag!“, rief sie lautstark und kletterte neben Raphael ins Bett. Der war bei ihrem Ruf natürlich sofort hochgeschreckt und versuchte sein verschlafenes Hirn zum arbeiten zu bewegen.

Tja, das war es wohl mit der Entspannung und dem Frieden.

„Papa, aufstehen“, verlangte Zaira sehr nachdrücklich und warf sich in ihrem rosa Nachthemd mit der aufgedruckten Zauberprinzessin quer über seinen Rücken. Dabei verlor sie einen ihre Hausschuhe, auf dem ein kleines Krönchen aufgenäht war.

Zaira liebte alles, was rosa war und mit Prinzessinnen zu tun hatte. Das lag wohl daran, dass Raphael ihr immer wieder die Geschichte von Königin Cayenne und Prinzessin Zaira kindgerecht verpackt in einem Märchen erzählte. Sie wäre so gerne eine Prinzessin.

„Papa, bitte, ich hab ein Geschenk für dich.“ Sie kniff ihre dunkelblauen Augen ein wenig zusammen, da sie ihre Brille nicht trug. Es war komisch, aber kurz nachdem sie ein Jahr gewesen war, hatte ihre Augenfarbe damit begonnen, sich zu ändern. Anfangs war uns das kaum aufgefallen, doch nach und nach hatte das Eis um ihre Pupillen einen tiefen Königsblau Platz gemacht. Ungefähr zur selben Zeit hatten wir bemerkt, dass sie eine Sehschwäche entwickelte. Zaira war kurzsichtig. Das war seltsam, weil Vampire solche Dinge normalerweise ganz von alleine heilten – selbst dann, wenn sie Mistos waren.

Als Zaira nun auch noch damit begann, ihn am Arm zu ziehen, ergab er sich seinem Schicksal und rollte sich gähnend auf den Rücken. Das sie dabei von ihm runter fiel, störte keinen der beiden. Sie kletterte einfach auf seinem Bauch und hielt ihm ihr Geschenk vor die Nase. „Das habe ich für dich gemacht“, erklärte sie stolz.

Ich trat schmunzelnd in das Zimmer und stellte das vollgeladene Frühstückstablett auf dem Nachtisch ab, während Raphael blinzelnd den Becher nahm und ihn mit halb verschlafenden Augen musterte.

„Für mich?“, fragte er erstaunt.

Sie nickte eifrig. „Da kannst du Stifte reinstellen. Für dein Schlüsselbüro.“

Damit meinte sie das kleine Geschäft, dass er vor zwei Jahren eröffnet hatte. Schlüsseldienst, Schlösser aller Art, Alarmanlagen. Es machte ihn Spaß und so waren seine Fähigkeiten nicht ganz vergoldet. Die Leute kamen gerne zu ihm, weil er ihre Schlösser zum Teil öffnete, ohne sie zu beschädigen.

„Danke.“ Er setzte sich ein wenig auf und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. „So einen habe ich gebracht. Woher wusstest du das?“

Sie grinste und freute sich einfach darüber, dass Raphael ihr Geschenk gefiel.

Ich krabbelte über Raphaels Beine hinweg, auf die andere Seite es Bettes. „Ihre Quelle ist geheim“, verriet ich ihm.

Seine Lippen kräuselten sich belustigt. „Top-secret, verstehe schon.“

„Mama hat kein Geschenk“, erklärte Zaira, als sie bemerkt, dass ihr Papas Aufmerksamkeit für einen Moment verloren ging.

Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. „Mama hat mir ihr Geschenk schon gegeben“, versicherte er ihr.

Nein, hatte ich nicht. Ich hob es mir für heute Abend auf, wenn die kleine Im Bett lag und schlief.

„Was denn?“, wollte Zaira sofort wissen.

„Mama liebt mich. Das ist das tollste Geschenk, was es gibt.“

„Toller als mein Becher?“

„Natürlich nicht“, berichtigte er sich sofort. „Aber fast so toll, wie dein Becher. Dein Becher ist nur so viel toller.“ Er hielt Zeigefinger und Daumen ein ganz kleinen wenig auseinander.

Da sie nickte, schien das für sie wohl okay zu sein. Sie ließ sich seitlich von ihrem Papa rutschen und kuschelte sich dann mit dem Rücken an meine Brust. Dabei verlor sie auch noch ihren zweiten Hausschuh. „Mama hat gesagt, wir gehen nachher essen und dass ich ein Kleid anziehen darf.“

„Na wenn Mama das sagt, wird es wohl stimmen.“

„Ja. Warte, ich zeige es dir.“ Sie kroch etwas tollpatschig über ihn rüber, hüpfte vom Bett und rannte aus dem Zimmer.

Mit einem tiefen Atemzug stellte Raphael den Becher neben das Tablett auf den Nachtisch und ließ sich wieder in die Kissen sinken. „Guten Morgen, Frau Müller“, sagte er zu mir und schmunzelte.

Meine Begrüßung bestand darin mich über ihn zu beugen und ihn zu küssen. Das war etwas, bei dem ich es nie leid wurde, es zu tun.

Vier Jahre lagen nun hinter uns. Es war nicht immer einfach gewesen, aber seit dieser einen Nacht in Berlin, hatte ich keine einzige Visionen mehr gehabt.

Anfangs war es für mich schwer gewesen, diesem Frieden zu trauen. Dazu war noch die Angst gekommen, die Ailuranthropen könnten mich wieder aufspüren, aber Raphael hatte es geschafft, unsere Spuren so gründlich zu verwischen, dass das einzige Leopardenfell, das ich in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen hatte, mein eigenes war. Zum Teil war das wahrscheinlich auch unseren neuen Identitäten zu verdanken und der Tatsache, dass wir uns von der verborgenen Welt fernhielten.

So konnten wir unentdeckt und friedlich leben. Manchmal war das natürlich auch ein wenig schwer. Wir hatten so viel zurückgelassen. Nicht nur unser Leben in Arkan, auch unsere Freunde und die Familie.

Seit dem Tag, an dem wir so überstürzt aufgebrochen waren, hatte ich niemanden von ihnen mehr gesehen, oder gesprochen.

Einmal im Jahr, an ihrem Geburtstag, gestattete Raphael es sich bei seiner Mutter anzurufen. Abgesehen von Amber, war sie die einzige Verbindung zur Vergangenheit, die uns noch geblieben war. Und Amber … naja, sie war nicht lange bei uns geblieben. Raphael hatte von Anfang an recht gehabt, so ein Leben wie wir es führen mussten, war nichts für sie gewesen und im Gegensatz zu uns war es ihr möglich gewesen, zu dem zurückzukehren, was sie hinter sich gelassen hatte.

Ich vermisste sie. Zwar ließ Amber es sich trotz Raphaels wiederkehrende Proteste nicht nehmen, mehrmals im Jahr bei uns auf der Fußmatte zu stehen, aber es war nicht mehr das Gleiche wie damals in Arkan.

Als plötzlich ein Kreischen und ein panisches „Papa!“ aus den Tiefen der Wohnung kam, rissen Raphael und ich uns aufgeschreckt voneinander los. Fünf Sekunden später waren wir auch schon aus dem Schlafzimmer raus und nahmen eine kalkweiße Zaira in Empfang.

„Spinne!“, kreischte sie und klammerte sich an meine Beine. Dabei zeigte sie mit ausgestrecktem Finger auf ihr Zimmer. „Am Fenster!“ Ihr Gesicht war dabei so ängstlich, als hätte sie es mit einem riesigen, alptraumhaften Monster zu tun.

Raphael atmete erleichtert auf und strich der Kleinen über den Kopf. „Keine Sorge Schatz, ich mach sie weg.“

Sie nickte nur und schaute sehr aufmerksam dabei zu, wie Raphael in ihr Zimmer ging und sich auf die Suche nach der Spinne machte.

Ich löste ihre dünnen Ärmchen von meinen Beinen, setzte mich an Ort und Stelle in den Schneidersitz und zog sie auf meinen Schoß. „Ist schon gut“, sagte ich ihr und strich ihr beruhigend über den Kopf. Kleine Wolfsohren waren ihr gewachsen und überall am Körper wuchs ihr weiches, schwarzes Fell.

Seit wir einmal im Wald spazieren gewesen waren und dabei irgendwie eine Spinne auf ihrem Kopf gelandet war, hatte sie panische Angst vor den kleinen Krabbeltierchen. Sie würde ihr Zimmer nicht mehr betreten und uns auch nicht mehr von der Seite weichen, bis sie gesehen hatte, wie Raphael die Spinne aus ihrem Zimmer entfernt hatte.

„Die tut dir doch gar nichts“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Die ist doch nur ganz klein.“

„Nein“, widersprach sie mir sofort. „Die ist ganz groß!“ In diesem Punkt würde sie sich auch nicht umstimmen lassen.

„Ach, Donasie.“ Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf und schaute dann dabei zu, wie Raphael Jagd auf die ganz große Spinne machte.

Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um einen kleinen Weberknecht, den Raphael kurzerhand einfach aus dem Fenster warf.

„Ich werde Fliegengitter in den Fenstern anbringen“, erklärte Raphael, als er wieder zu uns in den schmalen Korridor trat und der Kleinen über den Kopf strich. „Dann kommen die Spinnen nicht mehr so leicht in dein Zimmer.“

Sie nickte, sah aber nicht wirklich beruhigt aus.

„Klopf klopf“, sagte ich, um sie abzulenken.

Sie schaute erst ein wenig verdutzt, fragte dann aber: „Wer ist da?“

„Eis.“

„Eis wer?“

„Eis wartet in der Küche auf dich.“

Ihre Augen wurden ein kleinen wenig größer. „Wirklich?“

„Wenn du möchtest.“

Und schon war die Spinne vergessen. Sie war so schnell aufgesprungen, dass man von ihr nur noch die sprichwörtliche Staubwolke sah.

Raphael hielt mir die Hand hin und zog mich zurück auf die Beine. „Du kannst ihr nicht immer Eis geben, wenn sie eine Spinne sieht.“

„Mach ich doch gar nicht. Manchmal gibt es auch Schokolade oder einen Bonbon.“

Seine Lippen verzogen sich zu seinem Schmunzeln. „Das hab ich nicht gemeint und das weißt du auch“, sagte er und zog mich in seine Arme.

Ich ließ es mir gefallen. „Ach, weiß ich das?“

„Ja, tust du.“ Er beugte sich zu mir herunter, doch bevor er mich küsse konnte, kam aus der Küche ein sehr nachdrückliches: „Mama, Eis!“

Mit einem bedauernden Seufzen, zog Raphael sich wieder zurück.

„Später“, versprach ich ihm und lächelte ihn an. „Da wartet schließlich noch ein Vatertagesgeschenk auf dich.“

Das helle Blau seiner Augen verdunkelte sich um eine Nuance. „Ich freue mich schon drauf.“

„Mama!“

Nein, es war nicht immer alles einfach. Besonders nicht, wenn man einem vierjährigen Kind Eis versprochen hatte. Die Gefahr durch die Ailuranthropen lauerte noch irgendwo dort draußen. Aber wir hatten die Dämonen seiner Vergangenheit besiegt und konnten unseren Blick nun optimistisch auf die Zukunft richten.

 

°°°°°

Epilog

 

Fahles Mondlicht schien auf die dunkel Wälder der Könige und ließ die Schatten zwischen den Bäumen fast schwarz werden. Ein Käuzchen saß in seinem Baum und plusterte gegen den Wind seiner Federn auf. Unter ihm schlichen fünf Gestalten durch das dichte Unterholz, vorne weg ein großer, dunkelbrauner Wolf. Er hatte die Ohren aufgestellt, um auch jedes noch so kleine Geräusch auffangen zu können.

Auf einmal wurde er langsamer. Leise setzte er eine Pfote auf und duckte sich dann ein wenig. Da im Gebüsch, er konnte es ganz deutlich riechen. „Pssst“, machte er. „Leise.“

Die drei tollenden Welpen hinter ihm verharrten einen Moment in der Bewegung und versammelten sich dann aufgeregt um Diego.

Was hast du gefunden?“, fragte sein Sohn.

Das ist ein Kaninchen“, kam es sofort von Prinz Aric. Er war der älteste von den Welpen und der einzige von ihnen, der auch schon zur Schule ging. „Das riecht man doch.“

Das kleine hellbraune Mädchen mit dem weißen Bauch, kicherte leise.

Der Vierte Welpe, das kleine Mädchen, dass aufgrund der Farbe ihres Fells vom Rudel meistens Goldkind genant wurde, schlürfte unwillig hinter den anderen her. „Ich will nach Hause“, quengelte sie.

Aric verdrehte seine Augen. „Sei nicht immer so eine Mimose, Kiara.“

Dafür bekam er von seiner kleinen Schwester einen bösen Blick.

Still jetzt“, sagte Diego und duckte sich noch ein wenig tiefer. Er ließ den Ginsterbusch vor ihnen keinen Moment aus den Augen. „Könnt ihr riechen, wo genau es sitzt?“

Drei kleine Nasen streckten sich in die Luft.

Links“, sagte Aric.

Diegos Sohn trippelte aufgeregt hin und her.

Ich mag zu Mama“, kam es von Kiara.

Das hellbraune Mädchen mit dem weißen Bauch, drehte ihren Kopf nach der Prinzessin um und fragte sich, warum Kiara überhaupt mitkommen wollte, wenn sie die ganze Zeit nur wieder zurück wollte.

Das ist richtig“, sagte Diego und funkelte die Welpen vergnügt an. „Na dann, zeigt mal was ihr gelernt habt.“

Drei Blicke richteten sich aufgeregt auf ihn.

Na los“, forderte er sie auf.

Da stürmten sie los. Aric lief vorne weg, das hellbraune Mädchen war direkt hinter ihm und versuchte mit ihm mitzuhalten, doch da kam von hinten Diegos Sohn angerannt. Er war schnell und überholte sie ohne Probleme.

Der Ginsterbusch war direkt vor ihnen. Aric sprang einfach hinein und schreckte damit ein graues Kaninchen auf, das panisch heraussprang und beim Anblick der anderen beiden Welpen hastig einen Haken schlug.

Diegos Sohn versuchte dem Kaninchen den Weg abzuschneiden und rannte bei dem Manöver das kleine Mädchen über den Haufen. Sie überschlug sich einmal und blieb dann mit zerrupftem Fell im Laub liegen.

Hey!“, schimpfte sie und knurrte leise, aber die Jungs interessierten sich einzig für die Jagd nach dem Kaninchen. Diegos Sohn schien nicht mal bemerkt zu haben, dass er sie umgerannt hatte. Und falls doch, interessierte es ihn nicht.

Na warte, ihm würde sie es schon noch zeigen. Die Kleine rappelte sich wieder auf die Pfoten, schüttelte ihr Fell aus und wollte den beiden gerade hinterher, als sie rechts von sich ein Geräusch hörte. Ein Rascheln und zirpen. Neugierig stellte sie die Ohren auf. Was das wohl war? Sollte sie nachschauen gehen? Eigentlich durfte sie sich ja nicht von der Gruppe entfernen.

Unentschlossen sah sie zu den anderen hinüber. Die Jungs versuchten noch immer das Kaninchen einzuholen, aber es war viel schneller als sie. Diego ging gerade zu der weinerlichen Prinzessin und stupste sie an. Keiner achtete auf sie.

Da erklang das Geräusch wieder.

Okay, sie würde nur mal kurz schauen gehen und wäre dann gleich wieder zurück.

Vorsichtig und so leise sie konnte, schlich sie davon, immer dem Rascheln nach. Es war gar nicht weit weg, sie musste nur an ein paar Bäumen vorbei, da entdeckte sie auch schon einen kleinen, schwarzen … hm. Sie war sich nicht sicher, was es war. Es zappelte und bewegte sich komisch, so als wollte es laufen, wüsste aber nicht wie.

Das Mädchen steckte die Nase in die Luft und witterte. Das war ein Vogel. Aber da lag noch ein anderer Geruch in der Luft. Blut. Neugierig trat sie näher.

Der Vogel schrie auf, als er sie kommen sah und versuchte vor ihr zu flüchten. Sein einer Flügel trommelten dabei unbeholfen auf den Boden, der andere stand in einem seltsamen Winkel von seinem Körper ab. Er war verletzt, wurde ihr klar. Und er hatte Angst vor ihr.

Sie sprang mit einem Kläffen auf ihn zu, woraufhin der kleine Vogel wieder einen panischen Schrei ausstieß, aber er war kaputt und konnte deswegen nicht einfach verschwinden. Das fand das kleine Mädchen lustig. Ihre Beute konnte nicht vor ihn fliehen. Sie sprang noch mal auf ihn zu und noch mal. Sie umkreiste ihn und biss spielerisch nach seinem Flügel, ohne ihn zu erwischen. Seine Angst fand sie lustig. Er konnte ihr nichts tun.

Sie wurde mutiger und ging so nahe heran, dass sie ihn mit der Nase anstupsen konnte.

Wieder gab er einen Schrei von sich.

Ja du blöder Vogel, ich bin viel stärker als du“, verspottete sie ihn und griff ihn ein weiteres Mal an. Dieses Mal jedoch, drehte der Vogel seinen Kopf und pickte ihr auf die Nase.

Erschrocken jaulte sie auf und machte einen Satz zurück. Er hatte sie gepickt. Dieser blöde Vogel hatte ihr gegen die Nase gepickt! Aus der Überraschung wurde sehr schnell Ärger. Sie hatte ihm nichts getan und er hatte ihr wehgetan!

Wütend machte sie einen Satz nach vorne, packte seinen Kopf und begann ihn wie eine gliederlose Puppe zu schüttele.

Der kleine Vogel schrie panisch auf und schlug wie wild mit seinem gesunden Flügel, aber er kam nicht frei – nicht bis sie ihn wegwarf und er hart auf den Boden stürzte.

Das reichte dem Mädchen aber nicht. Sie schnappte sich ihn ein weiteres Mal und warf ihn wieder weg. Und noch einmal. Und ein weiteres Mal. Sie begann ihn wieder zu schütteln, aber als sie dieses Mal die Schnauze öffnete, krachte er gegen einen Baum. Er prallte ab, fiel in das Laub und bewegte sich nicht mehr.

Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite. Nein, er lag wirklich ganz still da.

Vorsichtig, weil sie nicht wusste, ob das nur ein Trick war, um sie noch mal zu picken, trat sie an ihn heran und musste feststellen, dass der kleine Vogel nicht mehr atmete. Sie hatte ihn getötet.

Dieser Gedanke faszinierte sie so sehr, dass sie ihn einfach nur anstarrte. So klein und zerbrechlich und sie hatte ihn zerbrochen. „Geschieht dir recht“, erklärte sie ihm. Er hätte sie halt nicht picken dürfen, er war also selber Schuld an dem, was mit ihm passiert ist.

Iesha!“, rief Diego von hinten.

Beim Klang ihres Namens zuckte das kleine Mädchen zusammen und wirbelte herum. Nicht weit entfernt stand Diego mit Kiara in der Schnauze und beobachtete sie. Sein Sohn und Prinz Aric standen zu seinen Füßen. Hatten sie gesehen, was sie getan hatte? Würde sie jetzt ärger bekommen?

Unsicher schaute sie von dem Vogel zu den Wölfen und sagte dann aus einem Impuls heraus. „Ich habe einen toten Vogel gefunden.“

Wirklich?“, rief Diegos Sohn aufgeregt und wollte direkt loslaufen, um ihn sich anzuschauen, doch sein Vater hielt ihn mit einem Knurren zurück. Diego widersprach man besser nicht.

Bleibt hier“, sagte er zu den beiden Jungs und trabte dann mit Kiara in der Schnauze zu Iesha. Mit den Augen untersuchte er den kleinen Vogel. Dann, ganz langsam glitt sein Blick auf Iesha.

Sie duckte sich. Konnte er sehen, dass sie ihn getötet hatte? Wenn er es konnte, sagte er jedenfalls nichts dazu. Er fixierte sie nur einen stillen Moment und wandte sich dann wieder ab.

Komm, wir gehen zurück.“

Erleichtert atmete sie tief durch und folgte ihm in den nächtlichen Wald. Ihre Gedanken blieben aber bei dem kleinen Vogel. Ihm wehzutun hatte ihr Spaß gemacht. Es war ein tolles Gefühl gewesen. Vielleicht würde sie es noch mal tun.

 

°°°°°

Imprint

Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Publication Date: 01-04-2013

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