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Prolog

 

 

 

Ein Kichern, wie der liebliche Klang eines Windspiels. Das laue Lüftchen auf der einsamen Lichtung im Wald trug es davon. Fort von den erwachenden Frühlingsblumen, fort von dieser Oase der Seele, die nur selten von mehr als dem Wind und der Wildnis berührt wurde.

Versteckt vor den Augen der Welt, lag Sonora im weichen Gras und strich Christopher sanft lächelnd durch das karamellbraune Haar. Als seine Lippen liebkosend über ihren Hals wanderten, kicherte sie wieder. „Das kitzelt.“

Das lange Haar der jungen Frau war so rot, wie die aufgehende Morgenröte, die Haut so makellos rein und blass wie Alabaster. In ihren Augen lag das Leuchten des Mondes und ihr Mund war trotz ihrer Unschuld die reinste Versuchung. Allein ihr Lächeln ließ die Sonne erstehen, doch dieses spezielle Lächeln konnte ihr nur dieser atemberaubende Mann entlocken.

Groß war er, wild und alles was er begehrte, war Sonora. Sie war das Wesen, welches des Nachts durch seine Träume wandelte. Das hatte er ihr bei einem ihrer heimlichen Treffen zugeflüstert. Das und noch viele andere Dinge, die ihr Herz zum Erblühen brachten.

Trotz der frühen Morgenstunde und dem dünnen Seidenkleid, war Sonora nicht kalt, denn ein warmer, sehr männlicher Körper drückte sich an ihren und ließ sie eine wohlige Hitze bis in tief in ihrem Körper spüren. Sie genoss es, sie liebte es, sie fühlte sich wohl.

Seine Hand tastete sich an ihrem Bauch hinauf, berührte ihre Brust durch das Kleid hindurch. Es fühlte sich gut an, aber ihr Vater hatte sie gelehrt, sich einem Mann nicht einfach hinzugeben. Er wäre entsetzt, wenn er sie jetzt sehen könnte. Deswegen schob sie seine Hand weg. „Nicht, Christopher.“

„Warum nicht?“ Sein Mund wanderte über die zarte Haut ihrer Kehle. Sein warmer Atem jagte ihr einen heißen Schauder über den Rücken. Er war älter als sie, konnte mit Erfahrung aufbieten, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte. Dieser Gedanke reizte sie, doch sie war ein gutes Mädchen, sie würde sich auf nichts einlassen, nicht bevor er um ihre Hand angehalten hatte.

„Es würde dir gefallen, Sonora, das verspreche ich dir.“ Er drückte sich fester an sie und ließ seine Hand auf ihrem makellosen Schenkel wandern. Nur der dünne Seidenstoff ihres Kleides trennte ihn von ihrer seidigen Haut.

„Ich möchte es aber nicht.“ Als er versuchte ihre Röcke hochzuschlagen, griff sie nach seiner Hand und hielt sie fest. „Bitte, Christopher, lass das.“ Sonora war noch jung und fürchtete sich auch ein wenig vor diesem Schritt. Natürlich war sie neugierig, sehr sogar. Sie war schon immer abenteuerlustig gewesen,, doch das hier wollte sie nicht. Es war gegen ihre Überzeugung.

„Komm schon, zier dich nicht so. Es wird auch dir Spaß machen.“ Seine Hände wurden drängender und tasteten sich an Orte vor, an denen Sonora sie nicht haben wollte.

„Nein habe ich gesagt!“ Sie versuchte ihn wegzustoßen, doch er rollte sich einfach auf sie, packte ihre Handgelenke und drückte sie über ihrem Kopf ins Gras, als sei das alles nichts weiter als ein Spiel für ihn. In seinen Augen glomm eine Gier, die ihr fremd war. Plötzlich ängstigte sie sich vor diesen Augen, die sie in den letzten Wochen zu lieben gelernt hatte.

„Komm schon, du willst es doch auch.“

„Nein, lass das, was soll das? Geh runter von mir, lass mich los!“ Sie wand sich unter ihm, versuchte ihn abzuwerfen, aber er klemmte ihre Beine einfach zwischen seinen ein.

„Nein.“ Sein heißer Atem schlug ihr ins Gesicht. „Davon träume ich schon so lange und ich will nicht mehr warten. Wir werden jetzt ein wenig Spaß haben.“

„Das ist kein Spaß, bitte, lass das.“

Aber er ließ es nicht. Brutal drückte er seine Lippen auf die ihren und veränderte seinen Griff so, dass er ihre Arme mit nur einer Hand fesseln konnte. Die andere nutzte er, um ihr den züchtigen Ausschnitt aufzureißen.

Sonora schrie auf, als die kühle Morgenluft über ihre nackte Haut strich und sich seine Hand sich grob um ihre Brust legte. In diesem Moment wurde ihr klar, was gleich geschehen würde und dass sie ihm völlig ausgeliefert war. Er war zu stark, zu schwer. Sie wehrte sich, versuchte ihre Hände aus seinem Griff zu zerren, aber sie hatte ihm nichts entgegen zu setzte.

Von Angst gepackt, stieß sie einen Schrei aus und rief nach Hilfe. Da schlug er ihr so kräftig ins Gesicht, dass sie davon ganz benommen wurde und es nicht wagte, den Mund ein weiteres Mal zu öffnen.

Tränen waren der Ausdruck ihrer Verzweiflung, als er sich einfach nahm, was sie nicht bereit war freiwillig zu geben, ihr Wimmern ein Term des Schmerzes, den er ihr zufügte. Sie wollte nur, dass er aufhörte, dass er endlich von ihr abließ. Sie verstand nicht, wie er ihr etwas Derartiges antun konnte. Er liebte sie doch, das hatte er ihr so viele Male zugeflüstert. Er hatte ihre Schönheit bewundert, ihre Stärke und Anmut. Wie konnte er das nur sagen und dann dies tun?

Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können?

Alles war eine Lüge gewesen, jedes heimliche Treffen, jeder flüchtige Augenkontakt, jede unschuldige Berührung und jeder keusche Kuss. Er hatte die ganze Zeit nur eines von ihr gewollt und da sie zu diesem Schritt nicht bereit war, holte er es sich nun gegen ihren Willen.

Hätte sie doch nur auf ihren Vater gehört, er hatte sie gewarnt und ihr verboten, sich mit diesem Mann zu treffen, als er herausfand, dass die beiden einander sehr zugetan waren. Aber ihre Sehnsucht nach Christopher hatte sie immer wieder in seine Arme getrieben und jegliche Vernunft in den Wind schlagen lassen. Nur deswegen weinte sie nun im Augenblick der Erkenntnis bittere Tränen und konnte nichts weiter tun, als darauf zu hoffen, dass es einfach nur schnell vorbei sein würde.

Doch es dauerte eine Ewigkeit, bis er von ihr abließ und sie geschunden und gebrochen ihren Tränen überließ. Das wunderschöne, züchtige Seidenkleid war dreckig und zerrissen. Blut klebte an ihren Schenkeln und die Handgelenke wurden von einem blauen Kranz geziert.

Als er seine Kleidung wieder in Ordnung brachte, robbte sie rückwärts von ihm weg. Der Hass und die Verzweiflung über diesen Vertrauensbruch brannten in ihr. Nie hätte sie geglaubt, dass er ihr etwas derartiges antun könnte, niemals, bis zu diesem Morgen. Der Verrat schmerzte mehr als alles andere. Aber sie würde sich davon nicht brechen lassen. „Das wirst du mir büßen. Mein Vater wird dich …“

Seine Schelle warf sie zurück ins Gras. „Zu niemanden ein Wort! Verstanden?“ Er hockte sich zu ihr und störte sich auch nicht daran, dass sie vor ihm zurück zuckte, als er nach ihrem Gesicht griff und mit dem Daumen über die Bisswunde in ihrer Lippe strich, die er ihr selber zugefügt hatte. „Das wird unser kleines Geheimnis bleiben.“

„Du kannst mich nicht zum Schweigen bringen, ich werde allen erzählen, was du getan hast! Ich werde zu König Malik gehen, auf das Leukos dich bestrafen möge!“

Noch ehe sie reagieren konnte, hatte er sie an der Kehle gepackt, das Gesicht so eiskalt, dass Sonora zum ersten Mal das Monster in ihm erkannte. „Du wirst es niemanden erzählen. Dein Wort darauf!“

„Ich werde nicht schweigen“, röchelte sie. „Dazu kannst du mich nicht zwingen.“

Seine Maske wurde so undurchdringlich, dass sie jedes Gefühl verschlang und nichts als kalte Berechnung zurückließ. Sonora erkannte noch bevor sie den Dolch aufblitzen sah, was geschehen würde.

„Doch, das kann ich“, waren die letzten Worte, die sie in ihrem Leben vernehmen sollte. Der Dolch drang in ihre Kehle ein und besiegelte so ihr Schicksal, doch Christopher würde niemals diese Augen vergessen, diesen letzten Ausdruck darin, der ihn und die Zukunft seiner ganzen Familie verfluchte. Das Licht des Mondes war aus ihnen erloschen und hatte dem Teufel den Weg geebnet.

 

°°°°°

Licht und Schatten

 

Der Verzweiflung nahe und kaum noch fähig irgendetwas in mein gemartertes Hirn aufzunehmen, schlug ich das offene Buch gegen meine Stirn. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann ließ ich es einfach auf meinem Gesicht liegen. „Ich hasse Latein.“

„Du musst es auch nicht lieben, du musst es nur lernen“, erklärte Diego schlicht.

Das war es nicht, was ich hatte hören wollen. Missmutig zog ich das Buch so weit herunter, dass ich meinen bald ehemals Kumpel anfunkeln konnte. Da sein Lernstoff aber scheinbar viel interessanter war als ich, bemerkte er es nicht einmal.

Blödmann.

Es war Juni. Ein strahlend blauer Himmel hing über uns, genau wie die Sonne, die es sich zur Tagesaufgabe gemacht hatte, mir mein Hirn garzukochen. Schon Seit Tagen hatten wir eine Hitzewelle, die nicht nur die Menschen stöhnen ließ. Es war wirklich unerträglich heiß. Darum hatten mein bester Freund Diego Evers und ich uns ein schattiges Plätzchen gegenüber vom Verwaltungsgebäude der Uni gesucht und uns dort auf der Wiese unter einem Baum niedergelassen. Eigentlich wäre ich viel lieber nach Hause gefahren, wo ich faul im Bett liegen und mich von meiner Klimaanlage berieseln lassen konnte, aber leider hatte ich noch einen Nachmittagskurs, bei dem ich anwesend sein musste, wenn ich dieses Semester noch schaffen wollte. Wobei wollen hier nicht ganz richtig war. Meine Mutter war es, die das von mir verlangte. Ich konnte mir durchaus besseres vorstellen. „Warum zum Teufel muss ich überhaupt eine tote Sprache lernen?“

„Weil das Teil deines Studienganges ist.“

Böse schaute ich zu ihm nach oben. „Dir ist schon bewusst, dass das eine rhetorische Frage war?“

Sein Mundwinkel zuckte, doch noch immer nahm er den Blick nicht aus seinem Buch.

Diego lehnte mit dem Rücken an der trockenen Rinde. Sein Buch über Psychologie balancierte er auf seinem rechten Knie. Das linke Bein hatte er ausgestreckt, damit ich einen Platz hatte, auf dem ich meinen Kopf ablegen konnte.

Er war ein großer, stattlicher Teddybär, der in seiner Freizeit in einem Verein Kickboxen betrieb. Das sah man ihm auch an. Er hatte braune, seelenvolle Augen, die fast immer im Schatten lagen, da er sich weigerte öfter als alle sechs Monate sein dunkelbraunes Haar scheiden zu lassen. Und er hatte einen furchtbaren Geschmack was Klamotten anging. Mal ehrlich, wer trug heutzutage bitte noch rotgestreifte Shirts? Wenigstens die kurzen Jeans waren annehmbar, obwohl die auch schon mal bessere Tage gesehen hatten.

„Wie wäre es, wenn wir mal wieder zusammen Shoppen gehen würden? Ich bezahle auch.“ Und würde ihm gleich zwanzig neue Shirts kaufen, wenn ich nur dieses nie wieder sehen musste.

„Du sollst lernen“, war alles was er dazu sagte.

Seufzend über so wenig Beachtung, nahm nahm ich das Buch von meinem Gesicht und lehnte es wieder an meine Beine.

Als meine beste Freundin Luciela Lange mich vor fast einem Jahr dazu gebracht hatte, genau wie sie das Studienfach Pharmatechnik zu wählen, hatte ich noch keine Ahnung gehabt, wie langweilig es sein würde. Aus ihrem Mund hatte es sich interessant und aufregend angehört. Die Macht Menschen zu helfen und dafür zu sorgen, dass es ihnen bessergehen würde. Die Realität bestand hauptsächlich aus trockener Lektüre, die mich schon mehr als einmal zum Gähnen gebracht hatte.

Aber irgendwas hatte ich ja machen müssen und da ich absolut nicht wusste, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte, hatte ich mich ihr einfach angeschlossen. Welch ein Fehler. Ich war mir fast sicher, dass ich im nächsten Semester ein anderes Studienfach belegen würde. Hauptsache nie wieder diesen Kräuter- und Arzneimist.

Anstatt mich aber nun mit den vielen tausend Worten auf den vielen tausend Seiten zu beschäftigen, griff ich nach einer langen blonden Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte und drehte sie immer wieder um meinem Finger, während ich den Blick über das Gelände wandern ließ.

Im Moment waren nicht viele Studenten unterwegs. Die meisten saßen in ihren Lesungen, oder hatten für heute bereits Feierabend gemacht. Oh ja, Neid, deine Farbe war grün.

Als ein lauter Pfiff quer durch über das Gelände schallte, schaute ich mich danach um und entdecke zwei Jungspunde auf der Treppe vom Verwaltungsgebäude, denen wohl gleich die Augen aus dem Kopf fallen würden.

Ein umwerfend schönes Mädchen mit feurigem Haar und einer Figur, für die andere morden würden, stolzierte an ihnen vorbei. Dieses Mädchen war die Versuchung eines jeden feuchten Traums – und ich sprach hier nicht nur von Männern. Jede Kurve eine Verlockung, ein Blick wie er ins Schlafzimmer gehörte und Brüste, die beinahe ihre blaue Bluse sprengten. Selbst jetzt, wo sie ihr gewelltes Haar zu einem unordentlichen Zopf auf dem Kopf gebändigt hatte und ihre sommersprossigen Wangen wegen der Hitze gerötet waren, war sie noch immer atemberaubend.

Naja, zumindest bis sie so weit herangekommen war, dass man ihre Gewittermine sehen konnte. „Ich hasse diese hormongesteuerten Freaks“, begrüßte sie uns, warf ihre Tasche achtlos neben mich ins Gras und ließ sich dann selber daneben plumpsen. „Glauben die wirklich, wenn sie mir einen blöden Anmachspruch an den Kopf werfen, dass ich sie dann sofort bespringe?“

Ich versuchte mir das bildlich vorzustellen, doch alles was dabei herauskam war Lucy, die dem Kerl einen Kinnhaken verpasste – einfach nur weil er sie nervte. „Du weißt doch, die Hoffnung stirb bekanntlich zuletzt.“

Sie schnaubte und begann dann damit ihren Rucksack zu durchsuchen.

„Ach komm schon, Lucy, bei deinen kurzen Röcken ist es auch gar nicht so leicht wegzuschauen.“

Ihr böser Blick ließ mich nur grinsen. Andere konnte sie damit vielleicht in die Flucht schlagen, aber mich hatte sie lieb, also hatte ich nichts zu befürchten.

„Hör auf sie immer zu ärgern“, mahnte Diego mich. Er versuchte immer mein Jiminy zu sein, was mir manchmal wirklich auf die Nerven ging.

Diego hatte ich erst vor knapp vier Jahren kennengelernt. Obwohl man eigentlich sagen sollte, Lucy hatte ihn kennengelernt. Er war in ihrem Kickbox-Verein aufgetaucht und sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Anfangs hatte ich nicht so recht gewusst, was ich von ihm halten sollte, besonders da er plötzlich ständig dabei war, wenn ich mich mit ihr traf. Aber ich hatte ihn sehr schnell mögen gelernt. Er war einfach ein toller Kerl.

Vor etwa einem Jahr dann, hatten Lucy und Diego sich getrennt und ich hatte eine ganze Weile darum gebangt, ob die Freundschaft dadurch auch zerbrechen würde, aber irgendwie hatten die beiden es geschafft, im Guten auseinander zu gehen und befreundet zu bleiben.

Trotzdem begegnete ich ihnen noch heute in gewissen Momenten mit Misstrauen. Das war einfach nicht normal und ich rechnete immer mal wieder damit, dass die beiden doch noch aneinandergerieten und ich dann die Leidtragende sein würde – ich wollte nicht zwischen den Stühlen stehen. Doch wie immer war zwischen den beiden alles in Ordnung. Sie verhielten sich ganz normal. Im Grunde war der einzige Unterschied zu früher, dass sie nicht mehr miteinander herumknutschten.

Außerdem hatte ich irgendwo einmal gelesen, dass Leute, die mit ihren Ex-Partnern befreundet blieben, Psychopathen waren. Jetzt stellte sich nur die Frage, stimmte das auch, und wenn ja, wer von den Beiden tickte nicht mehr ganz richtig? Ich tippte ja auf Lucy.

„Cayenne“, mahnte Diego mich erneut und holte mich damit aus meinen Gedanken. „Du musst das Kapitel noch lesen, bevor dein Kurs in -“ Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr. „- zwanzig Minuten anfängt.“

Ich ignorierte ihn. Es war viel interessanter herauszufinden, was Lucy da so verbissen in ihrer Tasche suchte. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie Papierbogen herauszog und ihn auf mein offenes Buch klatschte.

„Füll das aus. Jetzt.“, wies sie mich an und reichte mir gleich auch noch einen Stift. „Dann kann ich es nachher noch abgeben.“

Stirnrunzelnd schaute ich mir das Blatt an und stellte fest, dass es irgendeine Anmeldung war. Wofür stand allerdings nicht drauf, weswegen ich ihn mehrmals umdrehte. „Was ist das?“

„Hast du mit deinen neunzehn Jahren etwa schon Alzheimer?“

Als ich sie nur ratlos anschaute, seufzte sie, als wäre ich unterbelichtet.

„Das ist für das Wohltätigkeitsfest in vier Wochen.“ Sie zog eine halbleere Wasserflasche aus ihrer Tasche und schraubte den Deckel ab. „Du erinnerst dich? Kleine Kinder? Waisenhaus? Bessere Zukunft?“

Ach ja. Die Uni veranstaltete jedes Jahr ein Fest, aus dem der Erlös an irgendeine Wohltätigkeitsorganisation ging. Dieses Jahr sollte es einem Waisenhaus zugutekommen. Schon letzte Woche hatte Lucy davon erzählt, gleich nach dem sehr niederschmetternden Telefonat mit meiner Mutter. Es wurden Helfer gebraucht. Nicht nur für das Fest, sondern auch für die Organisation und die Vorbereitungen. Dazu brauchten sie freiwillige Studenten.

Im Grunde fand ich die Idee gut und ich würde gerne kommen und reichlich Geld ausgeben – meine Mutter hatte genug – aber helfen und meine freien Wochenenden dafür opfern? Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. „Ich erinnere mich gar nicht zugestimmt zu haben.“

„Hast du auch nicht und nun füll das aus. Das muss heute noch eingereicht werden, Samstag ist schon das erste Treffen.“

Schon diesen Samstag? Das war ja bereits in zwei Tagen. „Kann ich nicht einfach ein bisschen Geld spenden?“

„Wie willst du das machen, wenn deine Mutter deine Kreditkarten zerschneidet und dich verarmt und Mittellos zurück lässt?“

Und genau darum war es in dem Telefonat mit Mama gegangen. In einem Anfall von Autorität hatte sie beschlossen, dass es für mich Zeit wurde, ein ambitioniertes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Sie hatte mir mehrere Möglichkeiten aufgezeigt. Entweder ich würde endlich etwas Sinnvolles in meinem Freizeit tun, oder sie würde mir jegliche Geldmittel streichen, wodurch ich dazu gezwungen wäre, mir neben der Uni noch einen Job zu suchen.

Das war schon in Ordnung, aber die Betreuung von kleinen Kindern? Ich gab es nicht gerne zu, aber alles was kürzer als einen Meter zwanzig war, fand ich unheimlich. „Hast du nicht irgendwas anderes gefunden, mit dem du mich quälen kannst?“

Lucy bedachte mich mit ihrem finsteren Blick. „Etwas für die Allgemeinheit zu tun, wird dich schon nicht umbringen.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Tu es einfach, Cayenne.“

Fast wäre mir etwas sehr Unhöfliches über die Lippen gekommen. So grummelte ich nur ein wenig vor mich hin, richtete mich dann auf und begann damit den Anmeldebogen auszufüllen.

Es war nicht so dass ich etwas gegen Wohltätigkeit hatte, oder nicht helfen wollte. Ich war einfach nur ein wenig faul, wenn es um solche Sachen ging. Es gab so viele andere Dinge, die ich in meiner Freizeit tun konnte und … na gut, manchmal war ich einfach egoistisch. Aber die Drohung mir meine Finanzmittel zu streichen, war auch nicht gerade die Lösung.

Während ich konzentriert die Zeilen ausfüllte, bemerkte ich gar nicht, wie Lucy eine kleine Gruppe von Leuten fixierte, die sich am Verwaltungsgebäude entlang bewegte. Erst als ich sie bat mir zu erklären, warum ich bei der Anmeldung jemanden über meinen Familienstand aufklären sollte und sie nicht reagierte, schaute ich wieder auf und …

Wow.

Meine Augen wurden ein wenig größer, als ich die drei Leute auf dem gepflasterten Weg entdeckte. Was für ein Leckerbissen. Damit meine ich nicht meine Mitstudentin Elena Czok und ihre Tussifreundin Nummer eins, die beide mal wieder aussahen, als seien sie auf dem direkten Weg zur roten Meile, sondern das Prachtexemplar von einem Kerl, an dessen Arm sie sich gehängt hatte. Groß war er, schlank und dann erst dieser Hintern. Deliziös. In diesen Jeans sah er einfach zum Anbeißen aus.

Ich glaubte nicht, dass ich ihn hier schon einmal gesehen hatte. Dafür waren die langen schwarzen Haare, die er sich im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte, einfach zu auffällig. Da er mir den Rücken zugekehrt hatte, konnte ich sein Gesicht leider nicht erkennen, aber allein für diese Rückenansicht lohnte es sich einen zweiten Blick zu riskieren.

„Also … einen gewissen Geschmack muss ich Elena wohl doch zugestehen.“ Wenn auch nur widerwillig. „Er allerdings könnte es wohl weitaus besser treffen.“

Lucy schnaubte auf eine Weise, die mir deutlich zu verstehen gab, dass sie nicht meiner Meinung war. „Das ist doch nur wieder so ein Idiot, der sein Hirn in der Hose trägt.“

Nun blickte auch Diego von seinem Buch auf, allerdings enthielt er sich jeglichen Kommentars.

Ich lehnte mich ein wenig zur Seite, um besser sehen zu können, als der Kerl sich ein wenig vorbeugte, um Elena tief in die Augen zu schauen. Dabei bemerkte ich erst, das die drei zu viert waren. Da war noch ein Kerl, aber der stand so ungünstig, dass ich keinen genauen Blick auf ihn erhaschen konnte. „Wenn das so weitergeht, rutscht mein Hirn auch gleich in meine Hose.“

Lucy ließ mich ihre Skepsis erkennen. „Schau du lieber wieder in deine Bücher, sonst vermasselst du noch das Semester.“

Ja, sie hatte auch immer ein paar aufmunternde Worte für mich übrig.

Das Glanzstück von einem Mann deutete auf irgendeinen Punkt hinter Elena und nickte ein paar Mal. Meine Mitstudentin hob die Hand an den Mund, als wollte sie ein Kichern verbergen, dann harkte sie sich bei ihrer Tussifreundin ein, winkte und verschwand um die Ecke des Gebäudes.

Der Typ dagegen stemmte die Arme in die Hüfte und schien einmal tief einzuatmen. Ein Luftzug wehte ihm dabei das ärmellose Hemd gegen die Körper.

Mein Gott, ich sollte mir dringend einen Freund suchen, sonst würde ich es irgendwann sein, die den nächstbesten besprang, nur weil er einen dummen Anmachspruch vom Stapel ließ.

„Füllst du das Dinge heute auch noch mal zu Ende aus?“, fragte Lucy mich mitten in meine Träumereien hinein.

Da hatte aber heute jemand die schlechte Laune gepachtet. „Ein bisschen kratzbürstig, wie?“ Trotz ihres drohenden Todesblickes, schaute ich noch ein letztes mal zu dem Kerl, der heute Nacht sicher durch meine Träume wandern würde, bevor ich die Anmeldung beendete.

Es war schon irgendwie eigenartig. Lucy konnte ein richtiges Ekelpaket sein. Seltsamerweise war sie trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – schon seit meiner Kindergartenzeit meine beste Freundin. Okay, sie war auch meine einzige Freundin. Mit anderen Mädchen kam ich einfach nicht so gut zurecht. Die waren mir alle viel zu zickig. Jungs waren da viel unkomplizierter.

Ich hatte die letzte Zeile kaum unterschrieben, da riss sie mir den Bogen bereits unter der Nase weg und ließ ihn in ihrer Tasche verschwinden. Wahrscheinlich befürchtete sie, ich könnte es mir noch mal anders überlegen.

Ehrlich gesagt würde ich das auch gerne, aber ich hatte nun mal diesen Deal mit meiner Mutter. Entweder ich tat was sie sagte, oder ich würde demnächst auf dem Trocknenden sitzen. Und das gefiel mir noch viel weniger, als ein paar Wochenenden bis zu den Semesterferien zu opfern.

„Hast du eigentlich deine Arbeit nachgereicht?“, wollte Diego wissen, als ich mich gerade wieder meiner Lektüre widmen wollte.

Manchmal war es wirklich schwer bei meinen Freunden nicht einfach die Augen zu verdrehen. Ehrlich, die beiden hatten mir gegenüber einen dermaßen übertreibenden Beschützerinstinkt, dass ich schon mehr als einmal versucht gewesen war, ihnen den Hals umzudrehen. „Natürlich.“

„Und deswegen ist sie auch eine halbe Stunde zu spät zur ersten Verlesung gekommen“, petzte Lucy.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu. „Das war keine halbe Stunde, höchstens zwanzig Minuten.“

Sie schnaubte.

Diego verengte die Augen leicht. „Du warst schon wieder unpünktlich.“ Keine Frage, ein Vorwurf. Typisch.

„Oh ja, buhu. Verklag mich doch.“ Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. So schön warm.

Von den vielen Talenten die ich besaß, war das, meine Freunde in den Wahnsinn zu treiben, wohl das größte. Deswegen wunderte ich mich auch nicht, als neben mir geseufzt wurde.

„Dabei habe ich dich doch extra früh abgesetzt.“

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich hatte es eben nicht all zu eilig.“

„Dir ist hoffentlich klar, dass du das Semester so vielleicht nicht bestehen wirst, oder?“

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Bist du jetzt endlich fertig damit auf mir herumzuhacken?“

Er schaute mich einfach nur stumm an, was eigentlich viel schlimmer war, als wenn er mir einen Vortrag hielt, denn so schaffte er es manchmal wirklich mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Und das mochte ich nicht.

„Lass sie doch“, murmelte Lucy und ließ die Wasserflasche wieder in ihrer Tasche verschwinden. „Wenn sie das Jahr noch einmal wiederholen muss, ist das ihr Problem, nicht unseres.“

Nein, das machte es nicht besser. Und da ich keine Lust mehr auf Vorwürfe hatte, wechselte ich einfach das Thema. „Ich will heute ausgehen. Irgendwelche Vorschläge?“

Allein durch seinen Blick, zeigte Diego mir sehr deutlich, was er von meinem Themenwechsel hielt.

„Wir könnten ins Small Break gehen.“ Lucy legte Das Kinn auf ihren Knien ab. „Da waren wir schon ein Weilchen nicht mehr gewesen.“

„Da waren wir erst letzte Wochen“, erinnerte ich sie und wusste nicht recht, ob ich auf das kleine Studentenlokal wirklich Lust hatte. Besonders, wenn ich an die miserable Poesie dachte, die man dort zu hören bekam. Davon konnte man ehrlich Ohrenkrebs bekommen.

„Sag ich doch.“

Ich schaute zu Diego. „Noch irgendwelche Ideen?“

„Warum? Small Break hört sich doch gut an.“

„Gut?“

„Wir könnten auch einfach wieder bei dir rumhängen“, erwiderte er.

„So wie gestern“, sagte Lucy. „Und vorgestern. Und den Abend davor und …“

„Ja ja, hab es kapiert.“ So wie die ganze letzte Woche. Ich funkelte die beiden an, gab mich dann aber geschlagen. Alles war besser, als noch einen Abend bei mir zu Hause auf meinem Zimmer festzusitzen und meine Spielekonsole zu malträtieren. „Okay, dann halt Small Break. Ist ja auch nicht so, dass wir hier in der Hauptstadt leben und es keine andere Möglichkeit gibt, sich den Abend ein wenig zu versüßen.“

„Vergiss es“, sagte Lucy sofort. „Ich gehe mit dir nicht tanzen. Dann komme ich erst wieder morgens um acht ins Bett.“

„Und du musst dran denken, dass bald die Prüfungen anstehen“, fügte Diego noch hinzu. „Du solltest lieber etwas lernen, anstatt zu feiern.“

Ich schaute von einem zum anderen. „Gebt es zu, ihr habt euch beide gegen mich verschworen.“

„Nein.“ Lucy schüttelte den Kopf. „Wir sind nur um deine Zukunft besorgt, weil wir dich so liebt haben.“

„Dann wäre es schön, wenn ihr mich ein wenig weniger liebhaben würdet“, schmollte ich.

Diego stieß mich mit der Schulter an. „Ich geh am Wochenende mit dir tanzen.“

Das ließ mich strahlen. „Abgemacht.“ Ich sprang auf die Beine, klopfte meine blaue Caprihose ab und zupfte mein luftiges Spaghettihemdchen zurecht. Dann schnappte ich mir eilig meine Umhängetasche vom Boden.

Lucy runzelte die Stirn. „Wo gehst du hin?“

„Weg, damit er es sich nicht noch mal überlegen kann.“

Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Und außerdem muss ich pinkeln.“

Das ließ sie seufzen. „Okay, warte, ich komme mit.“ Sie rappelte sich auf die Beine und schnappte sich ihre eigene Tasche. „Wir sehen uns nach der letzten Vorlesung“, sagte sie noch zu Diego, da hatte ich schon ihren Arm gepackt und zog sie hinter mir her quer über den Campus zum großen Haupthaus, in dem neben den Toiletten auch die Lesungssäle untergebracht waren.

Das Gebäude der privaten Universität war nicht nur alt, es stammte geradezu aus der Steinzeit. Von außen war es ein alter Herrensitz aus Sandstein. Innen war es über die Jahre zwar modernisiert worden, doch schöner war es dadurch meiner Meinung nach nicht geworden. Viel zu dunkel und zu antiquarisch.

Wir suchten die Toiletten in der ersten Etage auf, die aus irgendeinem Grund übervoll waren. Als ich mir dann die Hände wusch und dabei in den Spiegel schaute, blickten zwei stahlgraue Augen zurück. Man konnte mein Aussehen mit drei Worten beschreiben: Blond, lang, dünn. Ehrlich, bei mir gab es so gut wie gar keine Rundung. Das war als wäre ich im Körper einer Vierzehnjährigen stecken geblieben und hätte beim Wachsen vergessen Brüste und Hüften zu entwickeln.

Das einzige wirklich weibliche an mir waren meine überlangen blonden Haare, die heute in einem Flechtezopf bis hinunter auf meinem Hintern reichten. Wenigstens der hatte mit den Jahren eine schöne Form bekommen, auf die ich stolz sein konnte.

„Du bist hübsch genug, also komm jetzt“, forderte Lucy mich auf, sobald sie sich die Hände abgetrocknet hatte. Sie wollte noch schnell die Anmeldebögen für das Unifest von uns abgeben. Aber ich hatte keine Lust ins Sekretariat zu latschen, also erklärte ich ihr, dass ich mich schon in den nächsten Vorlesungssaal setzen würde.

Gerade als ich ihn betreten wollte, kramte ich in meiner Tasche nach dem Apfel, den ich heute Morgen noch schnell aus der Obstschale stibitzt hatte. Leider vergaß ich dabei auf den Weg zu achten und rannte voll in jemanden hinein.

Überrascht trat ich einen Schritt zurück und verzog gequält das Gesicht, als mir bewusst wurde, wer der Schönling vor mir war.

Er schaute sich stirnrunzelnd nach mir um, was mir eine gute Gelegenheit gab ihn zu mustern. Er ließ sich gut mit dem Wort Surferboy beschreiben. Gebräunte Haut, kurzes, blondes Haar und ein markantes Gesicht. Er wirkte ziemlich durchtrainiert. Und als er mich erkannte, leuchteten seine Augen auf. „Hey, Cayenne.“

Ohje. „Hallo Julian.“ Ich lächelte höflich und drückte mich dann eilig an ihm vorbei, bevor er noch mehr als eine Begrüßung loswerden konnte. Julian war ein netter Kerl, aber er war … naja, absolut nicht mein Typ. Und langsam gingen mir die Ausreden aus, warum ich nicht mit ihm ausgehen konnte. Vor den Kopf stoßen wollte ich ihn aber auch nicht, da er nun mal wirklich ein netter Kerl war, also war Flucht meine einzige Möglichkeit dieser Situation schnellstmöglich zu entgehen.

Ein paar Leute hatten sich bereits im Lesungssaal eingefunden, konnten ihm aber bei weitem noch nicht füllen. Darum hatte ich keine Probleme damit meinen Stammplatz ganz hinten am Gang für mich zu beanspruchen. Auf dem Sitz neben mir landete meine Tasche, damit auch niemand auf die Idee kam, sich da breit zu machen. Der Platz war für meine Lucy bestimmt.

Unser Tutor Professor Richard Habedank befand sich bereits hinter seinem Pult und ordnete seine Papiere. Er war schon etwas in die Jahre gekommen und aß wohl hin und wieder einen Schokoriegel zu viel. Sein Hemd saß äußerst straf und der Gürtel war auf das letzte Loch geschnallt. Und sein Unterricht … naja, sprechen wir besser nicht darüber.

Die freie Zeit die mir noch blieb, nutzte ich nicht etwa, um mich auf den Unterricht vorzubereiten, sondern um meinen Apfel systematisch abzunagen. Das Kerngehäuse war schon teilweise sichtbar, als Lucy auftauchte und mich einen Stuhl weiter scheuchte, um selber am Gang Platz zu nehmen.

Sie wirkte ein wenig missmutig und legte zu ihren Stiften und Heften noch ihr Handy dazu, was sie sonst eigentlich nie tat.

Ich grinste sie an. „Erwartest du einen Anruf?“

„Nein, eine Textnachricht von Diego.“

Hm. „Das ist ja langweilig.“ Seufzend lehnte ich mich im Stuhl zurück und schaute aus den deckenhohen Fenster hinaus in die Freiheit. „Unterricht nach zwölf sollte verboten werden.“

„Du lässt das immer so klingen, als sei es etwas Schlechtes zu lernen.“

„Bei so einem Wetter ist das auch etwas Schlechtes, ja geradezu ein Verbrechen.“ Ich schaute zu den noch offenen Flügeltüren. „Wenn wir schnell machen, sind wir hier wieder raus, bevor jemand bemerkt, dass wir überhaupt da waren.“

„Wenn du nur halb so viel Zeit in deinen Kursen verbringen würdest, wie du überlegst ihnen zu entgehen, dann wärst du wohl eine der besten Studenten hier.“ Demonstrativ schlug Lucy ihr Buch auf.

Das hieß dann wohl so viel wie, dass sie ihren Hintern in der nächsten Zeit nicht erheben würde. „Hey, ich bin noch jung, lernen kann ich noch, wenn ich alt und verschrumpelt bin.“

„Ach, und was bitte willst du bis dahin tun?“

„Das Leben genießen.“

Sie steckte einfach ihre Nase ins Buch und ignorierte mich.

Toll.

Gelangweilt beendete ich meine Mahlzeit und begann dann damit unruhig mit meinem Fingern auf den Klapptisch zu trommeln. Als sie mir einen genervten Blick zuwarf, der mir körperliche Schmerzen versprach, wenn ich das nicht unterließ, schlug ich seufzend mein Buch auf und versuchte mich ein weiteres Mal an einer toten Sprache die scheinbar nicht ganz grundlos ausgestorben war.

Bei dem schönen Wetter und der stickigen Luft hier drinnen, fiel es mir nicht ganz leicht, mich zu konzentrieren. Nicht wenn draußen ein so schöner, blauer Himmel war, der geradezu dazu einlud, den Tag am Strand, oder am See im Wald zu verbringen.

Es dauerte vielleicht noch zehn Minuten, bis die Tür zum Saal geschlossen wurde und Herr Habedank mit seinem ermüdenden Monolog begann, bei dem mir bereits nach fünf Minuten langsam die Augen zufielen. Ich war artig und hörte zu. Ja ich machte mir sogar ein paar Notizen, wenn es nötig war, doch irgendwann hingen meine Augenlider nur noch auf Halbmast und drohten mir jeden Moment zuzufallen. Da es sich aber nicht gut machte laut schnarchend im Lesesaal zu sitzen, zog ich eines von meinen Mangas aus meiner Tasche und legte es über mein Buch.

Es war nicht so, dass ich das noch nicht kannte, aber ich stand einfach auf Mangas. Mir gefielen die Zeichnungen und ein paar der Geschichten waren wirklich gut.

Während ich mich konzentriert durch die Seiten arbeitete, bemerkte ich gar nicht, wie sich aller Augen im Raum auf mich richteten. Nicht bis Lucy mir ihren Ellenbogen sehr nachdrücklich in die Rippen stieß. „Aua, verdammt, was soll das? Das tat weh.“ Tat es wirklich. Genau wie Diego betrieb das Mädel in ihrer Freizeit Kickboxen und sie ging nicht gerade sparsam mit ihrer Kraft um.

„Du wurdest gerade etwas gefragt“, zischte sie mir zu.

Ich schaute auf und begegnete dem Blick von Herrn Habedank. „Ähm … ja? Oder vielleicht nein?“

Er seufzte. Wahrscheinlich waren ihm Studenten, die gerade Mal die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege besaßen, nach all den Jahren in diesem Job, einfach nur noch lästig. „Ich habe gerade gefragt, wo Sie sich in fünf Jahren sehen.“

„Ich weiß noch nicht mal, was ich Morgen mache, woher soll ich da wissen, was ich in fünf Jahren tue?“

Einige der Anwesenden lachten.

„Das ist ein sehr gutes Beispiel für das was ich eben gesagt habe“, referierte unser Tutor und ich hatte absolut keine Ahnung, um was es hier eigentlich ging.

In diesem Moment wurde die Tür zum Lesungssaal einen Spalt geöffnet und meine Aufmerksamkeit somit ein weiteres Mal von interessanteren Dingen in Beschlag genommen.

Na sieh mal einer an, wen hatten wir denn da?

Hallo Fremder!

Auch wenn ich ihn nicht von hinten sah, so erkannte ich, wer da den Kopf zur Tür reinsteckte. Diesen schwarzen Pferdeschwanz würde ich nicht so schnell vergessen.

„Wow“, murmelte ein Mädchen in der Reihe vor uns und stieß ihre Sitznachbarin mit dem Ellenbogen an, um ihn auch auf den Neuankömmling aufmerksam zu machen.

Ich konnte ihr nur zustimmen. Genaugenommen war das sogar der gleiche Gedanke, der mir bei seinem Anblick draußen vor dem Verwaltungsgebäude gekommen war. Und nun konnte ich ihn in seiner ganzen Pracht bewundern. Dieses ärmellose Hemd stand ihm wirklich wahnsinnig gut.

Ich versuchte nicht allzu offensichtlich zu gaffen, als er leise in den Saal schlüpfte und sich nach einem freien Platz umschaute. Dabei war ich so auf ihn fixiert, dass ich beinahe den zweiten Kerl, der hinter ihm in den Raum kam, übersah. Das musste der sein, den ich vorhin nicht richtig hatte sehen können. Auch jetzt erkannte ich kaum mehr, als dass er blond und gut gebaut war.

Er schaute sich einmal um, flüsterte seinem Kumpel etwas zu und dann suchten die beiden sich schräg gegenüber am Gang einen Platz.

Ich beugte mich grinsend zu Lucy hinüber. „Frischfleisch.“

Sie schaute mich nicht an. Ihre Augen waren mit einer Intensität auf die beiden gerichtet, als wollte sie ihnen ein paar Löcher in den Hinterkopf bohren, um eine Stange Dynamit reinzustecken. Angezündet verstehst sich.

„Was meinst du, sollen wir die beiden mal ein wenig auf den Zahn fühlen?“

„Nein.“

Verwundert über ihren schroffen Ton, wandte mich ihr zu. Sie wirkte leicht angespannt. Als sie dann nach ihrem Handy griff und wild drauflos tippte, starrte sie so finster auf das Display, dass der folgende Vibrationsalarm auch gut das verängstigte Zittern ihres Handys hätte sein konnte.

„Was ist dir den für eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Gar keine.“

Oh-kay. Da litt wohl gerade jemand an PMS.

Ihr Handy vibrierte ein weiteres Mal. Sie las die eingegangene Nachricht, runzelte die Stirn und erhob sich dann. „Ich muss mal kurz telefonieren.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, verschwand eilends aus dem Lesungssaal.

Ähm … ja, das war seltsam, selbst für Lucys Verhältnisse.

Verwundert schaute ich von der Tür zu ihren Sachen und dann weiter zu den beiden Typen. Die waren wirklich niedlich. Kannte Lucy sie vielleicht? Unwahrscheinlich. Vermutlich hatte sie nur mal wieder genug vom anderen Geschlecht, oder ihr war einfach die Hitze auf den Kopf geschlagen.

Als sie zehn Minuten später allerdings immer noch nicht wieder aufgetaucht war, lehnte ich mich seufzend zurück. Der Vortrag des Professors war ermüdend und das einzige Interessante in diesem Raum waren die beiden Leckerbissen auf der anderen Seite des Ganges. Also verlegte ich mich darauf, sie zu beobachten. Leider schaute der Schwarzhaarige in diesem Moment über die Schulter und bemerkte meinen Blick. Er zwinkerte mir sogar zu.

Ich schaute schlagartig weg. Nicht weil ich plötzlich schüchtern war, ich befürchtete nur, dass mir ein Sabberfaden im Mundwinkel hing. Ja, ich brauchte ganz eindeutig mal wieder ein wenig männliche Gesellschaft – oder überhaupt endlich mal. Also jemand außer Diego. Der war ein Freund und für mich somit völlig Geschlechtsneutral.

Als der Professor kurze Zeit später den heutigen Kurs für beendet erklärte und Bewegung unter die Studenten kam, war Lucy noch immer nicht zurück. Was trieb sie nur so lange? Normalerweise war ich eine der Ersten, die immer aus dem Saal flüchtete, aber solange sie nicht wieder da war, hing ich hier fest. Super. Einfach nur super.

Genervt begann ich damit meine Sachen in meine Tasche zu räumen. Den abgenagten Griebsch ließ ich einfach auf der herunterklappbaren Schreibunterlage liegen.

„Hallo, schönes Mädchen.“

Ich schaute auf und … plötzlich fehlten mir die Worte – ein Zustand, der bei mir nicht allzu oft eintrat.

Dieser schwarzhaarige Typ mit dem Pferdeschwanz im Nacken stand vor mir. Von nahem sah er noch umwerfender aus, als aus der Entfernung. Besonders diese Augen. Sie waren wie blaue Saphire mit Brillantschliff. Blass, fast so durchscheinen wie Eis und doch irgendwie … mir fiel kein Wort ein, dass sie beschreiben konnte. Vielleicht intensiv. Stechend. Und sie lachten mich direkt an.

Mit einem hörbaren Klacken klappte ich den Mund zu und spürte wie mir eine leichte Röte in die Wangen kroch. Sowas war mir wirklich noch nie passiert. Hoffentlich hatte ich nicht gesabbert, das wäre doch wirklich zu peinlich.

Und er war auch nicht allein. Sein blonder Kumpel stand direkt neben ihm. Er war etwas breitschultriger und hatten irgendwie traurige Augen, die mich an einen getretenen Welpen denken ließen. Aber auch er war ganz niedlich. Das war wie ein doppelter Jackpot.

„Gefällt dir die Aussicht?“ Die Stimme des Schwarzhaarigen war samtweich, beinahe wie ein Streicheln.

„Ähm“, machte ich nicht sonderlich gescheit und ließ eilig meinen Manga in meiner Tasche verschwinden – musste ja nicht jeder wissen, was ich so las. „Was?“ Wirklich jetzt? Ich war auch schon mal schlagkräftiger gewesen. Am liebsten hätte ich mir mit der Hand gegen die Stirn geklatscht, aber das wäre nicht nur auffällig gewesen, sondern würde mich auch noch geisteskrank wirken lassen. Also beließ ich es einfach dabei.

So wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, fand er mich entweder urkomisch, oder machte sich gerade ganz offen über mich lustig. Ich hoffte auf ersteres. „Ich habe bemerkt, wie du ein paar Mal rübergeschaut hast.“

Aha! Das konnte ihm aber auch nur aufgefallen sein, weil er selber mehr als einen Blick in meine Richtung riskiert hatte.

Als ich nichts sagte, einfach weil mein Hirn gerade irgendwie klemmte, versuchte er es anders. „Bist du neu hier?“

Ich schaffte es tatsächlich den Kopf zu schütteln. Das rüttelte mich endlich wach. „Nö. Du?“

„Jup.“ Er klopfte Blondi auf die Schulter. „Ist unser erster Tag hier.“

„Hatte ich mir schon beinahe gedacht.“

„Warum?“ Er klang ehrlich interessiert.

„Weil du mir sonst sicher schon früher aufgefallen wärst.“ Mit einem koketten Lächeln schlug ich die Beine übereinander und ließ meinen Blick sehr auffällig über die beiden wandern. „Sehr sicher sogar.“ Hallo Selbstsicherheit, da bist du ja wieder.

Er lachte leise, was auf seinen Wangen zwei niedliche Grübchen erschien ließ. Wow, ich liebte Grübchen. Als hätte er jedes Recht dazu, ließ er sich auf Lucys Platz fallen. „Wie heißt du?“

Ja Baby! Das gefiel mir ausgesprochen gut. Ich meine, wer würde sich nicht freuen, wenn ein Kerl mit so süßen Grübchen ein wenig Interesse an einem entwickelte? „Cayenne.“ Ich lehnte mich auf meinem Platz zurück. „Cayenne Amarok.“

„Amarok.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Hat das eine Bedeutung?“

Was war das denn für eine komische Frage? „Keine Ahnung.“

Er schaute mich etwas seltsam an, verlor aber sein Lächeln nicht. „Ich bin Ryder, Ryder Randal und das ist mein Bruder.“ Er zeigte auf den Blonden mit dem Welpenblick.

„Nenn mich Tyrone“, sagte der Blonde.

„Bruder?“ Mein Blick ging von einem zum anderen. „Wirklich?“

Die sahen sich kein bisschen ähnlich. Auf mich wirkten sie eher wie … naja, Licht und Schatten. Ryder war schwarzhaarig, Tyrone blond. Ryders Haut war hell wie Alabaster, die seines Bruders sonnengebräunt. Beide waren zwar muskulös, aber Ryder war eher schmal und drahtig, wogegen Tyrone locker als Türsteher würde arbeiten können. Auf den ersten Blick hatten die beiden nur zwei Gemeinsamkeiten. Das war zum einen ihre Größe und zum anderen ihr Geschlecht. Ansonsten konnte ich bei ihnen nichts entdecken, dass sie als Geschwister auswies.

„Wirklich“, erklärte Ryder und fügte dann noch hinzu: „Ich wurde als kleiner Junge Adoptiert.“

Oh. Was sagte man da? Gratulierte man zur neuen Familie, oder war es doch besser angebracht ihm mein Beileid auszusprechen, weil er seine leibliche Familie ja offensichtlich verloren hatte. Oder hatte sie ihn weggegeben? Das war sicher keine Frage, die man bei seiner ersten Begegnung stellen sollte. „Das würde es erklären“, meinte ich daher einfach nur.

Sein Mundwinkel zuckte. „Und du? Hast du auch Geschwister?“

Ich schaute zu Tyrone hoch, der mit den Händen in den Hosentaschen neben seinen Bruder stand und mich scheinbar nicht aus den Augen lassen konnte. Ich wusste ja das ich hübsch war, aber dieser Blick war schon irgendwie aufdringlich. „Nein und das ist auch gut so. Ich bin gerne Einzelkind.“

„So hast du deine Eltern ganz für dich alleine.“

Nein, leider nicht. „So habe ich alles für mich alleine.“ Jedenfalls sollte es eigentlich so sein. Die Realität sah leider etwas anders aus. Da glänze meine Mutter durch permanente Abwesenheit und mein Vater durch … naja, der war bereits kurz nach meiner Geburt gestorben, was es doch recht schwer für mich machte, irgendeine Art von Beziehung zu ihm zu haben.

Aber das war ein Thema, dass ich lieber mied.

„Und?“ Ryder lehnte sich auf seinem Sitz zurück. „Wie sind die Kurse so?“

Ich versuchte eine Augenbraue hochzuziehen, leider funktionierte das bei mir immer nicht richtig und statt skeptisch, wirkte ich dabei nur überrascht. „Du willst über die Uni sprechen?“

Das ließ seine Augen funkeln und einen Moment glaubte ich, dass seine hellblauen Pupillen ein wenig dunkler wurden. „Worüber würdest du denn gerne sprechen?“

„Hm, keine Ahnung.“

Er musterte mich von der Sohle bis zum Scheitel so intensiv, dass ich schon wieder spürte, wie meine Wangen warm wurden. Was war nur los mit mir? „Was machst du heute Abend?“

„Warum?“

„Naja, wir sind neu in der Stadt und kennen uns noch nicht so gut aus. Vielleicht hast du ja Lust uns ein wenig herumführen.“

„Du könntest dein Handy zu Rate ziehen. Im Internet findet man auch für Berlin einen Reiseführer.“

„Du willst nicht.“ Gespielt leidig schaute er zu seinem Bruder auf. „Hast du das gehört?“

„Ich habe nur gehört, wie der Versuch deinen Charme spielen zu lassen, mal wieder voll in die Hose gegangen ist.“

Meine Mundwinkel kletterten mein Gesicht hinauf. „Charme? Und ich dachte das sei nur eine billige Anmache.“

„Oh nein, jetzt geht sie auch noch auf mein Ego los.“

Okay, er war wirklich verdammt süß.

Ein Handy klingelte. Ryder griff in seine Hosentasche und checkte das Display. „Das ist mein Schwager in Spe, da muss ich mal kurz rangehen.“ Er war schon dabei sich zu erheben, als er noch mal innehielt. „Nicht wegrennen, ich bin gleich wieder da“, sagte er zu mir, drückte dann sein Bruder auf seinen Platz, als wollte er damit verhindern, dass ich einfach verschwinden konnte und verließ den kleinen Saal.

Tyrone lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, manchmal weiß er einfach nicht was sich gehört.“

„Ach, keine Sorge, ich werde das schon verkraften.“ Ich musterte ihn noch einmal sehr gründlich und musste dabei feststellen, dass auch der blonde Bruder kein schlechter Fang wäre. Obwohl mir sein Gesicht ein wenig zu markant war. Das feinzügige Antlitz von Ryder gefiel mir auf jeden Fall besser. „Und, wie lange seid ihr schon in der Stadt?“

Die anderen Kommilitonen dieses Kurses verließen nach und nach schwatzend den Saal. Von Lucy war noch immer keine Spur zu sehen.

„Noch nicht lange.“ Er rückte die Bücher und Hefte auf der Schreibunterlage vor sich zurecht und stützte die Arme darauf. „Erst ein paar Wochen.“

„Wochen? Und da habt ihr euch noch nicht umgesehen?“

„Naja, zwei Wochen sind nicht gerade viel und die meiste Zeit haben wir damit verbracht einzuziehen und uns anzumelden und umzumelden und noch den ganzen anderen bürokratischen Mist zu regeln.“

„Wow, das muss unheimlich … spannend gewesen sein.“

Er schnaubte. „Der spannendste Moment in den Letzten Tagen war mein Ausflug in die Wäscherei, weil unsere Waschmaschine noch nicht angeschlossen ist. Jetzt weiß ich Dinge, die ich niemals wissen wollte.“

„Ach ja?“ Neugierig beugte ich mich vor. „Was denn zum Beispiel?“

„Dass es Menschen ohne jedes Schamgefühl gibt und diese Stadt verrückt ist.“

Hm. „Okay, du hast mich am Harken. Erzähl.“

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen.“ Er zuckte die Schultern, als sein es völlig uninteressant. „Da kam einfach so ein Kerl rein. Er nahm seine ganze Wäsche und stopfte sie in eine Maschine. Dabei muss er wohl festgestellt haben, das darin noch Platz ist, denn auf einmal fängt er an sich auszuziehen und diese Klamotten auch noch mit reinzustopfen.“

Ich stellte mir das bildlich vor und musste lachen. „Und, hat er alle Hüllen fallen gelassen?“

„Wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte, wahrscheinlich. Aber ich war nicht sonderlich scharf darauf gewesen, seinen nackten Hinter zu sehen, also habe ich ihn gebeten, wenigstens die Unterhose anzulassen.“

Okay, ich kannte Tyrone vielleicht erst ein paar Minuten, aber ich konnte es mir trotzdem vorstellen und grinste wohl deswegen fast im Kreis. „Dabei ist ein nackter Hintern manchmal doch ganz nett.“ Ich schielte auf seinen Hintern. Auch wenn er drauf saß, langen die Jeans so eng an, dass es nicht viel Spielraum für Phantasien übrigließ.

Tyrone verzog das Gesicht. „Nicht wenn es der von einem Siebzigjährigen ist, der die Hälfte seines Lebens wohl in der Sonne verbracht hat. Nackt, möchte ich hinzufügen.“

„Ähm … ja.“

Nur war es an ihm mit lächeln. „Na, plötzlich nicht mehr so scharf auf nackte Hintern?“

Diesen Augenblick wählte Ryder, um wieder bei uns aufzutauchen. „Nackte Hintern? Wo?“

Ich schaute von ihm zu seinem Bruder und seufzte theatralisch. „Leider nicht hier.“

Ryders Augen blitzten auf. „Das könnte ich ändern“, sagte er und lehnte sich an die Rückenlehne der vorderen Sitzreihe. „Du musst nur ganz lieb fragen.“

Genauso wie ich es eben mit seinem Bruder getan hatte, musterte nun ich ihn – und zwar sehr genau. „Auf das Angebot komme ich bei Gelegenheit vielleicht zurück.“

Das ließ ihn leise lachen. „Sag Bescheid, wenn du dich entschieden hast.“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“ Ja, ich flirte schamlos, aber hey, ich war jung, ungebunden und die beiden waren wirklich niedlich. „Okay“, sagte ich dann.

„Okay?“ Tyrone zog eine Augenbraue nach oben. Verdammt, wie machte er das? Ich wollte das auch können. „Du willst seinen nackten Hintern sehen?“ Er schüttelte sich, als würde allein der Gedanke daran ihm eine Gänsehaut bereiten.

„Nein, nicht das, sondern das mit heute Abend. Ich gehe mit meinen Freunden in ein kleines Studentencafé, ganz hier in der Nähe. Zwar gibt es da eine kleine Bühne, auf der sich so mancher Lyriker ganz freiwillig lächerlich macht, aber der Kaffee ist echt gut. Small Break, schon mal gehört?“

„Nö.“ Ryder schüttelte den Kopf. „Aber ich habe ja ein Handy mit Internetzugriff, ich kann also herausfinden, wo das ist.“

„Ich könnte euch auch einfach die Adresse geben. Das erspart euch die Arbeit.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, griff ich in meine Tasche und holte meinen Block heraus. Nach dem Stift musste ich etwas länger kramen. Ich wusste das ich einen hatte, schließlich hatte Lucy ihn mir vorhin erst gegeben.

„Hier“, sagte Tyrone und reichte mir einen Kugelschreiber, als meine Suche auch noch nach längerem herumkramen erfolglos blieb.

„Hast du etwa Angst, dass ich es mir noch mal anders überlege?“, neckte ich ihn, griff mir aber den Stift und schrieb ihnen die Adresse des Small Break auf. Und weil ich gerade schon dabei war, auch eine kurze Wegbeschreibung. „Es liegt ein wenig versteckt.“

„Ich kann sie ja hinführen.“

Die weibliche Stimme, ließ mich aufblicken und sofort verschlechterte sich meine Laune. Elena Czok, das größte Miststück auf diesem Planeten. „Oh, schau wer da aus seinem Netz gekrochen kommt, die schwarze Witwe persönlich. Kannst du dein Gift nicht irgendwo anders versprühen?“

Die kleine Schlampe mit dem kurzen Rock in den blonden Strähnchen ignorierte mich einfach. Ihre Aufmerksamkeit galt allein Ryder. „Da bist du ja wider“, sagte sie und reichte ihm die Hand, als erwartete sie einen Handkuss.

„Hi.“ Auch Ryder lächelte. Zu meiner Befriedigung schien er es aber eher aus Anstand, als aus Begeisterung über ihr tiefes Dekolleté zu tun. Und ihre Hand wurde von ihm völlig ignoriert.

Davon ließ sich eine Elena Czok, aber nicht unterkriegen. „Wie ich sehe, habt ihr euch jetzt eingeschrieben.“ Ihre Augen glitten mit eindeutigem Interesse über Tyrones Körper. „Wenn ihr jemanden braucht, der euch ein wenig herumführt, ich stelle mich gerne zur Verfügung.“

„Kein Interesse“, erwiderte Blondi schonungslos.

Das Lächeln in Elenas Gesicht verrutschte ein wenig. „Warum gleich so feindlich?“

„Weil mein Bruder einfach keine Manieren hat“, ging Ryder dazwischen, bevor Tyrone noch mal unhöflich sein konnte. „Danke für das Angebot, Elena, aber leider haben wir unsere charmante Gesellschaft heute schon jemand anderem versprochen.“

„Dann vielleicht ein anders Mal.“ Sie schenkte ihm einen koketten Augenaufschlag, der mich beinahe zum Würgen brachte. „Bist dann Jungs.“ Sie warf ihnen noch einen Luftkuss zu und wandte sich dann mit schwingenden Hüften um.

Ryders Blick blieb einen Moment an ihrem Hintern kleben.

„Pass auf, dass dir nicht die Augen rausfallen“, riet ich ihm.

Sein Mundwinkel zuckte. „Und das von dem Mädchen, das meinen Hintern angeschaut hat, als wäre er ein Sahnetörtchen.“

Ähm … ja. Das ließ ich besser mal unkommentiert. Stattdessen riss ich einfach den Zettel von meinem Block und hielt ihn Tyrone unter die Nase. „Verliert den nicht.“

„Keine Sorge“, sagte er seltsam eigenartig und ließ ihn sofort in seiner Hosentasche verschwinden. „Wir werden auf jeden Fall auftauchen. So ein kleiner Ausflug ist ganz gut, um einander kennen zu lernen.“

„Ja“, fühlte Ryder sich genötigt hinzuzufügen. „Und wenn uns die Lyriker zu langweilig werden, können wir ja immer noch woanders hingehen um zu feiern.“

Das ließ mich aufhorchen. „Eine Party?“

„Vielleicht sogar mit ein paar Drinks.“ Er grinste.

„Ja, weil man die Leute im Rausch von ihrer übelsten Seite kennenlernt, danach kann es dann nur noch besser werden“, stimmte ich schmunzelnd zu. Im Augenwinkel sah ich, wie Lucy endlich den Saal betrat.

Ich beugte mich an Tyrone vorbei und winkte sie zu mir. Ihre Stirn schlug Falten, als sie die beiden süßen Kerle bei mir sah und ihr Schritt verlangsamte sich, bis sie bei uns stand.

„Hey“, begrüßte ich sie. „Das ist meine beste Freundin Luciela, aber alle nennen sie nur Lucy“, stellte ich sie vor. „Und das sind …“

„Du sitzt auf meinem Platz“, knurrte sie Tyrone an, ohne mich auch nur zu registrieren. „Also verschwinde.“ Ihr finsterer Blick traf Ryder. „Alle beide.“

Ryder verschränkte nur die Arme vor der Brust. „Aber warum denn? Wir unterhalten uns doch gerade so nett.“

Lucy kniff die Augen leicht zusammen. „Ich erkläre die Unterhaltung für beendet.“ Sie begann damit sehr auffällig mit der Kette an ihrem Hals zu spielen. Es war ein seltsames Stück, dass sie vor ein paar Jahren von Diego bekommen hatte, eine Münze, auf der ein heulender Wolfskopf abgebildet war. Er selber trug so etwas Ähnliches an seinem Handgelenk. „Und jetzt macht das ihr Land gewinnt. Sofort.“

Was zur Hölle …

Tyrone richtete sich ein wenig gerader auf, aber es waren Ryders Augen, die meine Aufmerksamkeit erregten. Wieder hatte ich das Gefühl, dass der Ton darin dunkler wurde, intensiver. „Vielleicht sollten wir wirklich gehen.“

„Ja, das das solltet ihr“, stimmte sie grimmig zu und fixierte Tyrone, als fürchtete sie, er würde sich jeden Moment auf mich stürzen. Dabei erhob er sich nur vom Sitz, genau wie sie es wollte.

Das Lächeln war mir vergangen, ich war nur noch verwirrt. „Ähm … kennt ihr euch?“ Anders konnte ich mir Lucys Feindseligkeit nicht erklären. Ich meine, klar, bei Fremden drehte sie immer ein wenig am Rad, aber das? Das erschien mir nun doch ein wenig übertrieben.

„Nein“, sagte Ryder und musterte Lucy. „Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Träum weiter, Blutigel“, gab sie bissig zurück und begann damit ihre Sachen in ihre Tasche zu räumen. Dabei rempelte sie Tyrone mit voller Absicht mit der Schulter an.

Okay, jetzt war ich mir sicher, dass hier etwas nicht stimmte. Anderseits war Lucy in Sachen Kerle schon immer ein wenig eigen gewesen.

„Na dann.“ Ryder lächelte mich noch mal an. „Wir sehen uns.“ Er stieß sich von der Lehne ab, zwinkerte mir noch einmal zu und verschwand mit seinem Bruder dann zur Tür hinaus.

Ich wartete nicht mal bis sie außer Hörweite waren. „Was bitte war das denn gerade gewesen?“

„Was meinst du?“ Während sie den beiden noch finstere Blicke hinterherwarf, räumte sie ihre restlichen Sachen ein und schulterte dann ihre Tasche.

Wirklich? So wollte sie das jetzt halten? „Ich meine deine überaus zuvorkommendes Verhalten. Die beiden sind echt niedlich, also warum verscheuchst du sie?“

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften, als hätte sie es mit einer unbelehrbaren Göre zu tun. „Wir sind hier um für unsere Zukunft zu lernen, und nicht um süße Jungs aufzureißen.“

Aha. „Und warum muss das eine das andere ausschließen?“

Ein Blick zu mir, dann drehte sie sich herum und bewegte sich auf den Ausgang zu.

Na sag mal, das gab es doch wohl nicht. Ich sprang eilig auf und machte, dass ich an ihre Seite kam. „Hallo-ho.“ Mit der rechten Hand wedelte ich vor ihrem Gesicht herum, bis sie sie genervt wegschlug. „Könntest du mir mal antworten? Was ist denn los?“

„Nichts, was soll los sein?“ Sie zog wieder ihr Handy hervor und tippte während des Laufens eine schnelle Nachricht in die Tastatur. „Weißt du, ich habe mir überlegt, dass wir am Wochenende mal wieder richtig feiern gehen sollten. Also nicht nur tanzen, sondern gleich richtig die Sau rauslassen.“

„Ähm … okay.“ Ich runzelte die Stirn. „Aber das war noch immer keine Antwort auf meine Frage.“

Seufzend zog sie die Zwischentür zum Foyer auf und hielt sie für mich offen. „Was interessierst du dich so für diese Idioten? Das sind nur irgendwelche möchtegern Frauenversteher, die dir nur an die Wäsche wollen. Und außerdem, sieh sie dir doch nur mal an. Die sind viel zu alt für dich. Wahrscheinlich sind sie in der Grundschule ständig sitzen geblieben, was heißt, dass sie obendrein auch noch dumm sind.“

Es stimmte schon, sie wirkten wirklich ein wenig älter, als die anderen Studenten in diesem Kurs. Die meisten waren so neunzehn oder zwanzig, die beiden hatten eher wie Mitte zwanzig gewirkt. Aber selbst wenn sie etwas älter waren, war das noch lange kein Grund sie so anzugehen. „Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, du würdest die ganze Welt hassen. Aber ich verstehe nicht warum. Warum denkst du von den Leuten immer nur das Schlechteste?“

„Weil das Leben uns immer wieder zeigt, dass wir nur das Schlechte zu erwarten haben.“

Was sollte ich dazu noch sagen? Diese Emo-Seite an ihr war mir völlig neu und sie gefiel mir nicht. Naja, das würde schon werden. Spätestens heute Abend würde sie ihre Meinung ändern. Aber vermutlich war es besser ihr vorerst nicht zu verraten, dass ich die beiden ins Small Break eingeladen hatte. Das würde sie schon früh genug mitbekommen.

 

°°°

 

Die Klimaanlage in Diegos silbernem Fiat, lief auf Hochtouren und ein herrlich frisches Lüftchen kühlte mir das Gesicht. Im Hochsommer in einen Wagen einzusteigen, der den ganzen Tag in der knallenden Sonne gestanden hatte, war wie ein Gratisbesuch in der Sauna – absolut nicht zu empfehlen. Die Klimaanlage hatte so lange gebraucht den Innenraum herunterzukühlen, dass wir jetzt schon fast an meinem Haus waren.

„Gott“, schimpfte Lucy, während sie sich mit irgendeinem Ordern Luft zufächelte. Sie strich sich eine widerspenstige rote Strähne aus dem Gesicht, die sofort wieder zurück fiel. „Ich glaube ich schmelze.“

„Dann schalt doch die Lüftung an“, empfahl Diego und lenkte seinen Wagen in unsere Straße. Als einziger von uns dreien besaß er bereits seinen eigenen Wagen. Lucy hatte ihren Führerschein zwar auch schon in der Tasche, doch ihre Eltern waren zu geizig, ihr ein Auto zu finanzieren.

Dieses Problem hatte ich nicht. Genaugenommen hatte ich den schriftlichen Teil der Prüfung schon in der Tasche. Was den mündlichen dagegen anging … naja, ich war nicht direkt durchgefallen, ich hatte es nicht mal geschafft den Motor zu starten.

Als ich an meinem Prüfungstag hinterm Steuer gesessen hatte, war ich einfach erstarrt. Ich wusste was ich zu tun hatte, doch auf einmal hatte ich mich davor gefürchtet den Wagen in den Straßenverkehr zu lenken. Da waren so viele andere Autos und auch Fußgänger und ich hatte plötzlich Angst bekommen. Was wenn ich einen Unfall baute? In dem Moment erschien es mir das Klügste, schnell wieder auszusteigen und die ganze Sache zu vergessen. Seit dem hatte keinen weiteren Versuch unternommen, an meine Pappe zu kommen.

Da ich ohne Führerschein natürlich auch kein Auto brauchte, hatte ich auch keines. Aber damit hatte ich mich arrangiere. Diego fuhr mich sowieso immer dorthin, wohin ich wollte.

Er war nicht nur ein Jahr älter als Lucy und ich, er war auch wesentlich fleißiger. Seit kurzem besaß er ein paar Straßen weiter sogar eine eigene Wohnung – er hatte sich mit seiner Mutter nie sehr gut verstanden. Das war gar nicht schlecht, aufsichtsfreie Zone. Aber aus irgendeinem Grund bestanden meine Freunde die meiste Zeit trotzdem darauf, dass wir zu mir fuhren. Das hatte bestimmt etwas mit dem immer vollen Kühlschrank und dem großen Fernseher in meinem Zimmer zu tun.

„Ich hasse diese künstliche Luft“, meckerte Lucy und ließ leidend den Kopf auf die Lehne fallen. „Davon wird mir immer schlecht.“

„Dann leide halt weiter.“

Ich grinste über die Lehne nach hinten. „Oder du steckst deinen Kopf aus dem Fenster.“

Sie funkelte mich an. „Bin ich ein Hund, oder was?“

Oh Mann. Irgendwie hatte sie schon den ganzen Tag schlechte Laune und ich konnte nicht mal sagen warum. Alle Versuche ihr Gemütszustand zu bessern, waren gescheitert, deswegen hatte ich es jetzt einfach aufgegeben. Wenn sie unbedingt gereizt sein wollte, bitte, ich würde mich da nicht weiter einmischen, weil ich sie sonst irgendwann einfach aus dem Wagen schubsen würde.

Tief einatmend richtete ich meinen Blick wieder nach vorne.

Die Straße war sauber. Links und rechts standen gepflegte Bäume, alle mit einem eigenen kleinen Zäunchen um sich. Die Häuser und Grundstücke in dieser Gegend gehörten schon eher zu den Luxusmodellen. Nicht ganz Villen, aber auch nicht mehr weit davon entfernt. Und vor genau so einem Haus bog Diego auf die Zufahrt ein und parkte seinen Wagen vor einer großen, weißen Garage.

Das Haus meiner Mutter war ein Prachtbau, mit einem riesigen Garten und einem drei Meter hohen schmiedeeiserner Zaun, der nicht nur die Zeugen Jehovas draußen hielt. Ordentliche Beete. Eine reihe Bäume mit einer traurigen Kinderschaukel und einem Baumhaus, dass nur noch von meinem Kater Elvis benutzt wurde. Fehlte eigentlich nur noch ein Brunnen und ein Pool mit spielenden Kindern, um in Schöner Wohnen aufgenommen zu werden.

Meine Mutter war reich. Und nicht nur so ich-arbeite-sechzig-Stunden-die-Woche reich, nein, sie stank geradezu nach Geld. Sie stammte aus einer gut betuchten Familie. Die hatte ich zwar noch nie kennengelernt, weil sie sich in ihrer Jugend mit ihnen überworfen hatte, aber ihr Erbe war ihr geblieben. Außerdem arbeitete sie sehr viel. So viel, dass ich sie nur selten zu Gesicht bekam, da sie sich fast immer auf irgendwelchen Geschäftsreisen befand.

Ich liebte meine Mutter, keine Frage, aber durch ihr häufiges Fehlen war sie im Grunde eine Fremde für mich. Es kam nicht selten vor, dass ich sie nur alle paar Wochen für wenige Tage zu Gesicht bekam, weil sie irgendwelche wichtigen Angelegenheiten für ihre Firma in aller Welt zu regeln hatte. Irgendwas mit Immobilien. Ich hatte mich nie genug dafür interessiert, um genauer nachzufragen und sie hatte sich nie die Mühe gemacht, mich darüber aufzuklären.

Ja, die Beziehung zu meiner Mutter war ein wenig kompliziert.

Sobald ich mich abgeschnallt hatte, stieg ich aus und kollidierte mit einer Wand aus Hitze, die mich fast wieder in den Wagen zurückgetrieben hätte.

Auch Lucy ächzte. „Wenn diese Hitzewelle endlich vorbei ist, machte ich drei Kreuze im Kalender.“

„Nicht nur du.“ Ich wartete noch bis Diego den Wagen abgeschlossen hatte, dann traten wir durch die Garage in unsere weitläufige Küche. „Bin zu Hause!“, rief ich laut. Nur weil meine Mutter wie immer durch Abwesenheit glänzte, hieß das noch lange nicht, dass ich keinen Aufpasser hatte, der jeden meiner Schritte dokumentierte und an meine Erzeugerin weiterreichte.

Wie selbstverständlich marschierte Diego direkt zu unserem doppeltürigen Kühlschrank und holte sich eine Flasche Apfelschorle hinaus, die er auch sofort an die Lippen setzte. Lucy begnügte sich mit einem kalten Glas Wasser aus der Leitung, während ich die Nase in unsere Vorratskammer steckte, um nach meinen heiß geliebten Gurken Ausschau zu halten. Ich liebte saure Sachen und für saure Gurken könnte ich sterben. Aber ich fand keine.

Eine schlanke Brünette, mit kurzen fransigen Haaren, einer etwas zu großen Nase und einem Wäschekorb unter dem Arm, trat in die Küche. Ihr Blick glitt über uns drei und beäugte kritisch wie wir uns über die Vorräte hermachten. „Wie ich sehe, ist der Heuschreckenschwarm zurückgekehrt.“

„Ja, aber diese Heuschrecke findet keine Gurken.“ Ich steckte den Kopf aus der Kammer, „Hast du keine besorgt?“

„Natürlich habe ich welche besorgt.“ Die Brünette mit Namen Victoria Walker, war nicht nur unsere Haushälterin, sie war auch die Frau, die meinen Mamaersatz spielte, wenn meine Mutter mal wieder außer Haus war. Babysitter, Wachhund und Nagel zu meinem Sarg, alles in einem. „Unterstes Regal, ganz rechts. Da müssten noch drei Gläser stehen.“ Sie ging zu Diego, der gerade eine Tupperdose mit irgendwelchen Essensresten etwas genauer unter die Lupe nahm und nahm ihm diese direkt wieder aus der Hand. „Ich mache gleich essen, also verderbt euch nicht jetzt schon den Magen.“

Ich fand die Gläser und trat mit meiner Beute aus der Kammer. „Was gibt es denn?“, fragte ich und versuchte das Glas zu öffnen. Er saß ziemlich fest.

Da Lucy sich dieses Leid nicht ansehen konnte, nahm sie es mir aus der Hand, öffnete den Verschluss mit einem Knacken und reichte es mir zurück.

„Entrecôte-Braten mit Avocado-Bruschetta und als Nachspeise habe ich Panna-Cotta vorbereitet.“

Ich angelte mir eine Gurke aus dem Glas und biss genussvoll hinein. Hm … köstlich.

„Kling lecker“, sagte Diego und ließ nicht erkennen, ob es sein ernst war, oder er einfach nur höflich sein wollte.

„Ich finde es klingt wie ein Zungenbrecher.“

Victoria funkelte mich an. „Los, raus mit euch, verlasst die Küche, bevor ich euch in den Ofen stopfe.“

Grinsend schnappte ich mir Diegos Hand und huschte mit ihm aus den Raum zur breiten Treppe in den Flur, bevor Victoria sich daran erinnern konnte, mich nach meinem Tag an der Uni zu fragen. Ich hatte keine Lust ihr zu erzählen, dass ich zu spät in die Vorlesung gegangen war. Obwohl sie das trotzdem immer irgendwie herausbekam – wirklich, vor dieser Frau war kein Geheimnis sicher. Bis jetzt war ich noch ahnungslos, was das Wie betraf, aber irgendwann würde ich es noch herausfinden.

Der Flur war ganz in Weiß gehalten. Hohe Fenster sorgten für jede Menge Tageslicht und ein langer Läufer in beige schonte den hellen Marmorboden. Die Treppe samt Geländer bestand wie vieles in diesem Haus aus Glass und Chrome. Natürlich auch alles in Weiß. Manchmal gab mir dieses Gebäude das Gefühl in einem Musterhaus zu wohnen, in dem jeder Fleck beseitigt wurde, sobald er sich aus seinem Versteck traute.

Unser Weg brachte uns in die erste Etage in mein ganz persönliches Reich. Ein leicht chaotisches Zimmer mit einem eigenen Bad, das eigentlich völlig unnötig war, da außer Victoria und mir sowieso niemand hier wohnte. Okay theoretisch gehörte meine Mutter auch noch dazu, aber die war im Grunde ja nie da.

Mein Bett war ein großer Futon. Gegenüber wurde die Wand von einem Flatscreen samt Boxen und Abspielgeräte eingenommen. Es hatte etwas von einer Mischung aus Wohn- und Schlafzimmer. Und natürlich fehlten auch hier nicht die großen Fenster.

Das Prunkstück meines Zimmers war allerdings das große Regal mit meiner Sammlung an Horrorfilmen. Ich liebte es mich eingekuschelt vor dem Fernseher zu grusel und Zombies, Geister und verrückten Serienkillern dabei zuzuschauen, wie sie die Nerven der Schauspieler strapazierten, bevor sie sie umbrachten. Besonders Filmmischungen aus Horror und Psychothriller hatten es mir angetan. Darum waren meine Wände auch mit Postern von den verschiedensten Horrorfilmen beklebt. Dabei waren sowohl Klassiker, als auch Neuerscheinungen.

Lucy ließ ihre Tasche direkt an der Tür auf den Boden fallen und strebte direkt auf den Spielestapel zu, der sich neben der Anlage türmte. Diego warf sich mit einem Buch ins Bett und mein Weg führte mich ins Badezimmer. Es war nicht besonders groß, aber es besaß sowohl eine Badewanne, als auch eine Dusche. Mein Ziel jedoch war das Waschbecken. Bei dieser Hitze brauchte ich dringend eine kleine Abkühlung. Außerdem wollte ich dieses klebrige Gefühl loswerden.

Ich strich mir das kalte Wasser sogar in meine langen blonden Haare. Dann schaute ich mich einfach nur einen Moment im Spiegel an. Graue Augen schauten zurück. Diego hatte mir mal gesagt, wenn ich wütend war, sei es, als würde er in einen Sturm blicken. Für mich waren sie einfach nur grau.

Meine Haare waren so lang, dass sie mir bis auf den Hintern reichten. Eigentlich hatte ich sie mir schon ein paar Mal abschneiden wollen, doch meine Mutter war strickt dagegen. „Mädchen haben lange Haare“, sagte sie immer und hatte fast einen Tobsuchtsanfall bekommen, als ich sie mir vor ein paar Jahren ohne ihre Zustimmung etwas gekürzt hatte. Seitdem hatte ich einen großen Bogen um Friseursalons gemacht.

Mein Gesicht war sehr feminin, mein Körper hochgewachsen und schlank, obwohl ich von Lucy auch schon als Mager bezeichnet wurde. Das war nicht nett von ihr gewesen. Ich hatte Rundungen: Sie waren ein wenig versteckt, aber vorhanden. Und es konnte ja nicht jeder so einen großen Busen wie sie haben. Sie war eben die Kurvenreichere von uns beiden und die, auf die die Blicke meist zuerst fielen. Es hatte wohl mit dem exotischen Touch zu tun, den sie ihren Genen verdankte. Klar war ich hübsch, aber sie war hübscher und wäre sie nicht meine Beste Freundin, wäre ich wohl schon allein aus diesem Grund gezwungen, sie zu hassen.

„Kommst du da irgendwann auch noch mal raus?“, rief Lucy.

„Ja, gleich.“ Ich warf noch einen Blick auf die vielen Fotos, die ich an den Spiegelrahmen gesteckt hatte. Bilder von mir und Lucy, von meiner Mutter, von Diego und Lucy. Und ganz oben, direkt in der Mitte steckte das Abbild eines jungen blonden Mannes, der lächelnd hinter dem Tresen eines Bistros stand und gerade eine überdimensionale Kaffeemaschine bediente. Das war mein Vater.

Vorsichtig griff ich nach dem Bild und zog es von seinem angestammten Platz. Von den vielen Jahren war es schon ganz abgegriffen, jetzt musste ich es mit Fingerspitze anfassen, um es nicht noch weiter zu beschädigen, aber es war eine der wenigen Erinnerungen, die ich an ihn hatte.

Mein Vater war tot. Kurz nachdem ich geboren wurde, hatte ein Autofahrer ihn erwischt und damit für immer aus meinem Leben gerissen. Ich hatte ihn nie kennenlernen dürfen und der Typ der ihn auf dem Gewissen hatte, war bei dem Unfall selber ums Leben gekommen, also gab es niemanden, dem ich dafür das Leben zur Hölle machen konnte.

Da ich ihn nie gekannt hatte, vermisste ich ihn auch nicht. Und doch hatte ich oft das Gefühl, dass mir etwas im Leben fehlte. Ein Teil von mir war einfach leer und konnte wohl niemals aufgefüllt werden.

„Bist du ins Klo gefallen?!“

„Ich komm ja gleich!“ Mann, da war aber jemand ungeduldig.

Schnell steckte ich das Bild zurück an seinen angestammten Platz, schnappte mir mein Gurkenglas und ließ die Tasche einfach wo sie war.

Diego hatte es sich mit überkreuzten Beinen auf dem Bett bequem gemacht. Seine Nase steckte in dem gleichen Buch, dass er schon heute Mittag in den Händen gehalten hatte und kurz war ich versucht es ihm wegzunehmen, ließ ihn dann aber einfach und setzte mich zu Lucy auf den Boden. Sofort wurde mir ein Kontroller in die Hand gedrückt. Bevor ich ihn jedoch benutzte, warf ich noch einen Blick auf den kleinen Napf neben der Tür. Voll. Hm. Das war jetzt schon der dritte Tag in Folge. Wenn er sich morgen immer noch nicht geleert hatte, würde ich nach dem King suchen müssen. Aber drei Tage war noch kein Grund besorgt zu sein. Er hatte sich schon länger draußen rumgetrieben.

„Los jetzt, ich will unseren Highscore brechen.“

„Na dann.“ Ich stellte das Gurkenglas neben mich, steckte mir noch eine saure Kukumber in den Mund und begann dann gemeinsam mit Lucy Zombies das Gehirn wegzuballern. Anfangs lief es ziemlich gut. Unsere Gegner fielen reihenweise und wir hinterließen auf unserem Weg eine Spur aus Blut, Gedärmen und Leichen. Aber dann piepte mein Handy und lenkte mich einen Moment ab. Als ich zurück auf den Bildschirm schaute, fielen gerade drei Zombies über mich her und rissen mich in Stücke.

„Cayenne!“, schimpfte Lucy.

Ich ignorierte sie, fischte in meiner Jeans nach meinem Mobilphone und las die eingegangene Nachricht.

Lucy warf genervt den Kontroller in ihren Schoß und ließ ich rücklings auf den Boden fallen. „Ist es wenigstens wichtig?“

„Nein.“ Schnell tippte ich eine Antwort und steckte das Gerät dann zurück in meine Hosentasche. „Nur Julian, der wissen will, was ich heute Abend mache.“

„Armer, liebeskranker Trottel.“

„Ach, ich finde ihn eigentlich ganz süß.“

Diego schnaubte, was mich dazu brachte, mich zu ihm umzudrehen.

„Was?“

„Er tut mir leid, weil er nicht versteht, dass er bei dir niemals eine Chance haben wird“, sagte er ohne aufzublicken.

„Wer behauptet das?“

Diego warf mir einen das-ist-jetzt-nicht-dein-ernst-Blick zu. „Gegenfrage. Für wie viele Kerle hast du dich schon ernsthaft interessiert?“

Hm, das war nicht weiter schwer zu beantworten. Zwar flirtete ich gerne und genoss die Aufmerksamkeit vom anderen Geschlecht, aber bisher hatte es da nur einen gegeben, bei dem ich mir mehr erhofft hatte – einen einzigen. „Yannick“, sagte ich fröhlich, als würde die Erinnerung an ihn nicht mehr schmerzen. Es war schließlich schon fast eineinhalb Jahr her und es war ja auch nicht so gewesen, dass wir uns ewige Liebe geschworen hätten. Da gab es nur diesen einen Kuss und das Versprechen, dass wir uns morgen wiedersehen würden.

Doch das hatten wir nicht getan. Genaugenommen sahen wir uns nie wieder gesehen, denn er war einfach verschwunden. Erst Tage später erfuhr ich, dass er umgezogen war. Wortlos, ohne einen Anruf, oder eine Nachricht. Einfach weg. Ich hatte mehrere Tage lang durchgeheult.

„Genau“, stimmte er mir zu. „Yannick, und sonst niemanden.“

Naja, es hatte da noch ein paar Küsse gegeben, und hier und da ein wenig Gefummel, aber nie etwas Ernsthaftes. „Naja, das ist so nicht ganz richtig.“ Ich stand auf und warf mich neben ihn aufs Bett. „Dich habe ich auch noch lieb.“

Sein Lächeln wirkte ein kleinen wenig gequält. „Das ist etwas anderes.“

Das stimmte wohl. „Aber deswegen nicht weniger wert.“ Ich kuschelte mich an ihn und griff mir sein Buch. Wörter, Wörter, und noch mehr Wörter. Kaum Bilder. Nicht das ich Bilder brauchte um einen Buch zu lesen, aber bei einer so trockenen Lektüre, war das schon ganz hilfreich. „Wie schaffst du es nur, dabei nicht einzuschlafen?“

„Ich finde es interessant.“

Ich kam nicht mehr dazu eine Erwiderung abzugeben, denn Victoria verkündete lautstark, dass das Essen fertig war und wir unsere Popöchen nach unten bewegen sollten.

Der leckere Geruch empfing mich schon an der Zimmertür und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das Essen selber war sogar noch besser, sodass ich mich eine Stunde später pappensatt zurück auf mein Zimmer schleppte und mich in mein Bett fallen lassen wollte. Leider bestand Lucy darauf unsere Bücher aufzuschlagen und so verbrachten wir die nächsten Stunden mit lernen – naja, sie verbrachten sie mit lernen, ich stöhnte die meiste Zeit nur herum und versuchte sie immer wieder von amüsanteren Zeitvertreiben zu überzeugen. Leider waren meine Freunde was das anbelangte knallhart und ließen nicht mit sich reden.

Kurz vor acht allerdings hatte ich genug von Kräutern und Heilpraktiken des neunzehnten Jahrhunderts und legte das Buch einfach zur Seite. Ich hatte nicht vergessen, dass wir heute noch weg wollten. Und auch nicht, wen ich im Small Break treffen wollte. Darum erhob ich mich von meinem Platz und begann damit mein Kleiderschrank systematisch nach brauchbaren Klamotten zu durchforsten.

Lucy beobachtete mich dabei misstrauisch über ihr Buch hinweg. „Was machst du da?“

„Ich suche mir ein Outfit, da dieses hier durchgeschwitzt ist und ich keine Lust habe, damit das Haus zu verlassen.“

Nun verengte sie auch noch leicht die Augen. „Das Haus verlassen?“

„Wer von uns beiden hat jetzt schon mit seinen neunzehn Jahren Alzheimer?“

Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Du willst jetzt noch ins Small Break?“

„Das wird Victoria dir nicht erlauben“, warf Diego noch mit ein.

Ich grinste ihn über die Schulter hinweg an. „Wer sagt denn, dass sie es wissen muss?“

„Och nee.“ Lucy schaute so mitleidig, als würde ich sie darum bitten, mir den Arsch abzuwischen. „Muss das sein?“

Ich ignorierte sie und verschwand mit meinen Klamotten im Bad. Zwar hatte ich absolut kein Problem damit mich vor Diego umzuziehen, aber ich wollte noch schnell unter die Dusche springen und komplett nackt wollte ich mich ihm nun nicht zeigen.

Leider musste ich dazu den Schandfleck meines Körpers enthüllen. Eine großflächige Brandnarbe an meinem linken Bein, die fast den gesamten Oberschenkel einnahm.

Es war Jahre her, dass ich sie mir zugezogen hatte. Ein Unfall bei einem Grillfest, als ich gerade mal neun gewesen war. Noch heute erinnerte ich mich an die unglaublichen Schmerzen, als die Flammen an mir hochgeklettert waren. Nur das schnelle handeln meines damaligen Kindermädchens Joel hatte wohl Schlimmeres verhindert. Trotzdem hatte ich danach eine Hauttransplantation gebraucht und musste wochenlang im Krankenhaus bleiben. Seitdem hielt ich mich von Grills und Brandbeschleunigern fern. Die vernarbte Haut allerdings würde ich trotzdem niemals wieder loswerden.

Ich hasste diesen Anblick. Die Wülste und gespannte Haut waren einfach nur hässlich, weswegen ich sie fast immer mit einer eigens dazu gedachten Stulpe bedeckte. Aber zum Duschen musste ich die nun mal ablegen.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich fertig war und in frischen Jeans und Bluse aus dem Bad trat.

„Das sollten wir nicht tun“, sagte Diego sofort und versuchte damit wohl mal wieder die Stimme der Vernunft zu geben. „Wir müssen morgen früh in die Uni.“

„Sei kein Spielverderber.“ Ich schnappte mir eine kleine Handtasche, steckte mein Portemonnaie, Schlüsselkarte und etwas Make Up zu dem kleinen Schlüssel hinein und hängte sie mir über Kopf und Schulter, damit sie mich beim Klettern nicht behindern konnte.

„Victoria wird dich wieder er-wi- hi-schen“, singsange Lucy.

„Ja“, stimmte ich ihr zu und schlüpfte in meine braunen Overknees. „Aber erst wenn wir zurück sind und dann kann sie es mir nicht mehr verbieten. Also lasst uns gehen.“ Wobei gehen in diesem Fall klettern bedeutete. Und zwar das Blumenspalier vor meinem Fenster hinunter. Dabei mussten wir nur aufpassen, dass wir den geliebten Oleander meiner Mutter nicht beschädigten. Genauso wie Victoria, konnte meine Mutter es nicht ausstehen, wenn ich mich heimlich davon machte. Aber wirklich sauer wurde sie nur, wenn wir dabei ihre Beete kaputt machten. Das hatte ich herausgefunden, als ich einmal völlig besoffen versucht hatte, über das Spalier wieder durch mein Fenster zu kommen. Hatte nicht geklappt.

Irgendwie war es schon traurig, das ich mich auf diesem Wege aus dem Haus schleichen musste, schließlich war ich bereits neunzehn. Aber meine Mutter betonte immer wieder, dass dies ihr Haus war und ich mich somit an ihre Regeln zu halten hatte. Wenn ich mir eine eigene Bleibe suchte und einen Job und alles was sonst noch so zum Überleben in der Großstadt nötig war, dann könnte ich auch alleine entscheiden, wann und wie lange ich Abends ausging. Bis dahin allerdings, musste ich immer genau angeben wohin es mich verschlug und spätestens um zehn wieder zu Hause sein.

Zum Leid der Autoritätsfraktion, hatte ich aber meinen eignen Kopf und der würde mich heute zu zwei echt süßen Kerlen ins Small Break führen.

Um meine Freunde ein wenig anzuspornen, öffnete ich mein Fenster und warf einen Blick nach unten. Doch als ich ein Bein aufs Brett heben wollte, stand Diego neben mir und zog es einfach wieder zu.

„Hey!“, schimpfte ich.

„Wir sollten heute wirklich hier bleiben“, beharrte er mit diesem eindringlichen großer-Bruder-Blick.

Bitte? Ich hatte mich doch wohl gerade verhört. „Wenn du nicht mitkommen willst, bitte, aber ich habe keine Lust den ganzen Abend hier rumzusitzen und Bücher zu wälzen. Ich gehe jetzt ins Small Break und werde mich dort ein wenig amüsieren. Du kannst mitkommen, oder auch nicht.“ Damit öffnete ich das Fenster erneut und kletterte auf den kleinen Sims, bevor er es wieder schließen konnte. „Also, was ist nun, folgt ihr mir, oder gehe ich alleine?“ Es war schon schlimm genug, dass ich als Studentin immer noch um Erlaubnis fragen musste, wenn ich abends das Haus verlassen wollte. Ich brauchte nun wirklich nicht noch mehr Aufpasser, die mir mein Leben vorschreiben wollten.

Doch meine Argumente waren wie üblich unschlagbar. Deswegen verdrehte Lucy nur die Augen und schubste mich beinahe aus dem Fenster, als ich ihrer Meinung nach nicht schnell genug kletterte. Diego brauchte einen Moment länger, was wohl daran lag, dass er sich erstmal die Schuhe anziehen musste.

Das Spalier hinunter zu kommen, war nicht weiter schwer. Ich hatte das bereits so oft gemacht, dass mir jeder Schritt ins Blut übergegangen war. Diego allerdings stelle sich immer ein bisschen tölpelhaft an und ließ mich mehr als einmal um Mamas Oleander bangen. Trotzdem musste ich Lächeln. Das war es was unsere Freundschaft ausmachte. Der Zusammenhalt, auch wenn wir nicht immer unbedingt einer Meinung waren. Wir waren ein eingespieltes Team, in allen Lebenslagen. Dafür liebte ich die beiden.

Lucy warf einen wachsamen Blick zur Terrassentür. Die ganze Front war an dieser Stelle aus Glas und ließ uns wissen, dass Victoria sich in dem Raum befand. Nicht nur dass das Licht brannte, die Schiebetür war auch offen, um die schwüle Luft des Tages hinaus zu lassen. Deswegen mussten wir nicht nur leise sein, sondern uns auch davon fernhalten.

Um zum Haupttor zu kommen, müssten wir dort eigentlich vorbei. Zu unserem Glück gab es hinten bei meinem Baumhaus aus Kindertagen aber noch eine Hintertür, die im allgemein ungenutzt blieb. Darum hatte Victoria bis heute auch noch nicht bemerkt, dass ich mir bereits vor zwei Jahren den Schlüssel dafür gemopst hatte, um beim Schlüsseldienst einen zweiten anfertigen zu lassen.

Wenig elegant landete Diego schließlich auf dem Boden.

Ich legte den Finger auf die Lippen, warf einen vorsichtigen Blick zur Terrassentür und winkte den beiden dann mir zu folgen.

Im Schatten des Hauses ging es in den hinteren Teil des Gartens, wo schon seit meiner jüngsten Kindheit vier Bäume standen, in deren Schatten ich auch heute noch gerne saß. Direkt in der Mitte, so dass sie alle miteinander verbunden waren, war eine große Plattform, auf der ich als kleinen Mädchen oft mit Lucy gespielt hatte. Daneben an einem abstehenden Ast, baumelte eine einsame Schaukel, die schon seit Jahren nicht mehr genutzt wurde. Mein Ziel jedoch war das kleine Tor ein paar Meter weiter. Es war eines der wenigen in unserem Haus, dass nicht mit der Schlüsselkarte und Zugangscode funktionierte – ja, meine Mutter war ein wenig paranoid. Kam wahrscheinlich von der Sorge, jemand könnte sich an ihrer kleinen Kunstsammlung vergreifen wollen. Es waren zwar nur ein paar Gemälde und einige Skulpturen, aber sie waren schweineteuer. Wie bereits gesagt, ich war kein Kind von Traurigkeit.

Mit einem letzten Blick hinter mich, versicherte ich mich, dass Diego und Lucy bei mir waren und kramte dann den kleinen Schlüssel aus meiner Tasche.

Das Tor quietschte leise, als ich es öffnete und hinter mir wieder verschloss. Doch kaum das wir draußen waren und ich mich nach Diegos Wagen umsah, wurde mir etwas siedeheiß bewusst. Diego hatte heute vor unserer Garage geparkt. „Mist“, murmelte ich.

Lucy drehte sich zu mir herum. „Was ist los?“

„Diegos Wagen steht noch drinnen.“ Und den da jetzt unauffällig rauszubekommen, würde nicht klappen. Um Punkt acht Uhr abends verschloss Victoria nämlich das Haupttor. Ich war zwar in der Lage es wieder zu öffnen, aber das würde drinnen einen Alarm auslösen – selbst mit dem Zugangscode. Wieder eine von Mamas bescheuerten Sicherheitsmaßnahmen.

„Dann sollten wir vielleicht einfach zurück gehen“, schlug Diego vor.

„Vergiss es.“ Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, heute Abend ein wenig Spaß zu haben und deswegen würde ich den auch haben. Außerdem wollte ich mich wirklich mit den beiden Jungs aus der Uni treffen. Darum schlug ich den Weg nach rechts ein und stiefelte die Straße hinunter. Dabei fischte ich mein Handy aus der Tasche und haperte nicht lange. Ein Taxi war schnell bestellt und schon bald saß ich eingequetscht zwischen meinen Freunden auf dem Rücksitz und gab dem Fahrer die Adresse vom Small Break.

„Das hätten wir geschafft.“ Ich strahlte Diego an, doch der hatte nur ein Grummeln für mich übrig und schaute dann stur aus dem Fenster. War er etwa beleidigt? „Alles klar?“

„Sicher.“

Das kam definitiv zu schnell. „Du bist doch nicht etwa sauer?“

Er schaute mich nicht mal an. Das war mir Antwort genug. Sein Schweigen sagte mir den Rest.

Ich überlegte nur einen Moment und tat dann das, was mir als erstes in den Sinn kam: Ich steckte ihm den Finger ins Ohr.

Jetzt bekam ich seine Aufmerksamkeit in Form von einem bösen Blick.

Na toll. „Willst du jetzt den ganzen Abend beleidigt sein, nur weil ich keine Lust habe den ganzen Tag in meiner stickigen Bude zu hocken?“

„Nein. Sobald wir umkehren, bin ich wieder ganz der Alte.“

„Ich will aber nicht umkehren.“

Er wandte sich wieder der vorbeiziehenden Landschaft vor dem Fenster zu.

„Ach nun komm schon, wir wollen uns doch nur ein wenig amüsieren.“ Ich setzte mein unschuldigstes Lächeln auf, das, dem er niemals widerstehen konnte. „Es wird lustig werden, das verspreche ich dir.“

Er ignorierte mich weiter.

Na toll, Miesmacher. Ich schaute nach links zu Lucy. „Willst du nicht auch mal etwas dazu sagen?“

„Nee, lieber nicht, weil wenn du hörst, dass ich seiner Meinung bin, kündigst du mir noch die Freundschaft.“

„Ja, wenn ich das höre, könnte das durchaus passieren“, stimmte ich ihr zu.

Die Stimmung im Taxi wurde zunehmend drückender. Ich ließ mir meine Laune trotzdem nicht verderben. Doch nach zwanzig Minuten Fahrt, war ich froh, aus dem Wagen zu kommen. Zwar war das Small Break nur ein kleines Café, aber es war immer noch besser, als den Abend wieder zu Hause zu versauern.

Ich bezahlte den Fahrer und trat auf den Bordstein.

Die vordere Front des kleinen Lokals war ein einfaches Schaufenster, dass einen Blick auf das gemütliche Innenleben erlaubte. Draußen standen drei runde Tische, die alle mit Studenten besetzt waren. Ein paar kannte ich vom Sehen her aus der Uni.

Ich grüßte sie im Vorbeigehen, hielt mich aber nicht lange mit ihnen auf, denn im inneren hatte ich bereits Tyrone entdeckt, der allein an einem der Tische saß und nachdenklich in seine Tasse starrte. Doch da stand noch eine zweite Tasse, weswegen ich davon ausging, dass sein Bruder nicht weit sein konnte, auch wenn ich ihn gerade nicht sah.

Ein kleines Glöckchen kündigte unsere Ankunft an. Sofort drang das Jaulen eines Poeten an meine Ohren. Ein Blick auf die kleine Bühne in der Mitte sagte mir, dass ich unseren aktuellen Folterknecht nicht kannte.

„Was willst du?“, fragte Diego und wandte sich schon Richtung Tresen.

„Das gleiche wie immer.“ Ich schaute zu Tyrone, der meine Ankunft offenbar noch nicht bemerkt hatte. „Bringst du mir einen mit? Ich will da jemand begrüßen.“

„Begrüßen?“ Lucy schaute sich nach bekannten Gesichtern um und erstarrte dann. „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz.“

„Warum?“ Ich drückte Diego ein wenig Geld in die Hand und wollte mich dann auf die Socken machen, doch Lucy hielt mich plötzlich am Arm fest. „Hey! Was soll das? Lass mich los.“

Tat sie nicht. „Hast du eigentlich zugehört, was ich vorhin zu dir gesagt habe?“

„Meinst du meinen Vortrag über schlimme Jungs die mir an die Wäsche wollen?“

Dafür bekam ich einen wirklich finsteren Blick.

„Ach nun hab dich doch nicht so. Du kennst sie doch gar nicht und ein Abend in ihrer Gesellschaft wird dich schon nicht umbringen. Wir sind doch hier um dem Alltag mal ein wenig zu entkommen, also mach jetzt nicht so einen Aufstand.“

Sie drückte die Lippen zusammen, ließ aber von mir ab. Dabei funkelte sie Tyrone an, als sei er das schlimmste war der Welt seit dem Urknall passiert war.

„Was ist nur los mit dir?“, fragte ich und warf meinen langen Zopf über die Schulter.

„Gar nichts“, knurrte sie nicht sehr überzeugend.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Ohne weiter auf sie zu achten durchquerte ich das Lokal in die kleine Sitznische, die Tyrone ausgesucht hatte. Kaum, dass ich noch drei Schritte von ihm entfernt war, hob er den Kopf und aus dem nachdenklichen Ausdruck, wurde ein Lächeln. „Ah, da bist du ja. Ich hatte mich schon gefragt, ob du noch kommst.“

„Was, hast du etwa geglaubt, ich würde euch versetzten?“

Lucy warf mir bei diesen Worten ein einen mörderischen Blick zu. „Deswegen also wolltest du unbedingt hier her. Du hast dich mit diesem Idioten verabredet.“ Das Tyrone jedes ihrer Worte hören konnte, war ihr scheinbar völlig egal.

Ich zuckte nur unschuldig mit den Schultern und rutschte direkt neben den Sonnyboy auf die Bank. „Wo ist Ryder?“

Tyrone hob die Hand und zeigte in die gegenüberliegende Ecke, wo der dunkelhaarige Bruder gerade inmitten einer Gruppe aus drei Studentinnen saß und mit ihnen lachte.

Ich schmunzelte. „Der weiß wohl wie er sich die Wartezeit vertreiben muss.“

Lucy ließ sich auf der anderen Seite des Tisches auf einem Stuhl nieder, verschränkte die Arme und funkelte uns abwechselnd an.

Ich ignorierte sie. Das war das Beste was ich machen konnte, wenn sie eh nur schlechte Laune verbreiten wollte.

„Und habt ihr gut hergefunden?“, fragte ich dann.

Tyrone nickte und lehnte sich auf seinem Platz zurück. Dabei legte er seinen Arm hinter mir auf die Lehne. Nicht als wollte er sich an mich heran machen. „Das war nicht weiter schwer.“

Ich beugte mir vor um einen Blick in seine Tasse zu werfen und verzog das Gesicht. „Kaffee.“

„Latte Macchiato.“ Er lächelte. „Wir befinden uns in einem Café. Was also sollte ich sonst trinken?“

„Tee.“

„Das heißt du magst keinen Kaffee?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ist mir viel zu bitter. Und Leute die das anderes sehen, sind mir doch ein wenig suspekt.“

„Warum wolltest du dann hier her?“

„Wollte ich gar nicht. Sie hat mich dazu gezwungen.“ Sehr nachdrücklich deutete ich auf Lucy, wodurch ihr Blick gleich noch finsterer wurde. Aber seltsamerweise sagte sie nichts.

„Sie scheint über ihren Aufenthalt hier auch nicht sehr glücklich zu sein.“

„Ach quatsch.“ Ich winkte ab. „Meine Lulu brauch nur immer ein bisschen, um sich an Fremde zu gewöhnen. Für sie sind alle Männer frauenverschlingende Ungeheuer.“

„Erzähl nicht so einen Blödsinn“, murrte Lucy, wandte aber endlich den Blick ab. Das konnte aber auch an Diego liegen, der mit drei Tassen in der Hand an unseren Tisch trat und unsere Konstellation stirnrunzelnd musterte.

„Ich glaube du hast dich im Tisch geirrt.“ Diese Worte waren direkt an Tyrone gerichtet, doch der ließ sich auch von Diegos drohender Aura nicht einschüchtern.

„Du nicht auch noch“, stöhnte ich und schaute vorwurfsvoll zu ihm nach oben. „Können wir nicht einfach nur einen netten Abend verbringen? Bitte?“

„Natürlich.“ Diego stellte die Tassen ab, aber anstatt sich zu uns zu setzen, machte er auf dem Absatz kehrt und ließ sich auf einem einsamen Sessel in der Ecke nieder. Dort holte er sein Handy heraus, als wäre es eine Lebensaufgabe, sich ihm zu widmen.

War das jetzt wirklich sein ernst?

„Dir ist klar, dass das deine Schuld ist, oder?“, fragte Lucy Tyrone.

Okay, jetzt reichte es mir langsam. „Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Sonst hast du auch kein Problem damit, wenn wir jemanden treffen. Ihr tut ja gerade so, als würde ich mich mit ein paar Terroristen anfreunden wollen.“

„Woher weißt du, dass das nicht so ist?“

Das war doch wohl nicht ihr Ernst. „Schön, bitte, wenn du es unbedingt so willst, dann spiel halt die beleidigte Leberwurst. Ich bin hier um meinen freien Abend zu genießen und genau das werde ich nun auch tun. Komm Tyrone.“ Ohne weiter auf sie zu achten, nahm ich ihn bei der Hand und zog ihn aus der Ecke raus. Er wirkte zwar einen Moment überrascht, ließ sich aber kein zweites Mal bitten. Doch während ich ihn durch den Laden zog, spürte ich etwas sehr Seltsames, etwas Vertrautes, so als würde er zu mir gehören. Das war wirklich schräg.

Ich musterte ihn einen Moment, verbannte den Gedanken dann aber in die hinterste Ecke meines Kopfes. Schließlich war ich hier um Spaß zu haben und nicht um irgendwelchen komischen Gefühlen nachzugehen, die einfach nur irritierend waren.

Mein Ziel war der Tisch an der Bühne. Nicht wegen den poetischen Ergüssen des Darstellers, sondern weil Ryder sich dort niedergelassen hatte. Leider bemerkte ich erst beim Nährkommen, wer die drei Weibsbilder bei ihm waren. Elena und ihre beiden Gehirnzellen. Mein Schritt verlangsame sich.

„Wir können uns auch woanders hinsetzen“, gab Tyrone mir zu verstehen.

Einen Moment war ich versucht das Angebot anzunehmen, aber dann dachte ich mir, warum sollte ich mir den Abend von dieser falschen Schlange verderben lassen? Ich wollte mich amüsieren. Auch wenn meine Freunde sich heute wie zwei riesige Idioten benahmen. „Nein“, sagte ich daher. „Das geht schon in Ordnung.“

Ryder schaute auf, sobald wir auf einen Schritt herangetreten waren. „Hallo schöne Frau“, gurrte er und schenkte mir ein charmantes Lächeln.

„Hi.“ Ich ließ mir von Tyrone den Stuhl zurechtrücken und setzte mich direkt neben Ryder. Der blonde Bruder nahm den Platz auf meiner anderen Seite. „Und, worüber redet ihr gerade?“

„Elena hat mir eben von ihrer Abschlussfeier in der Schule erzählt.“

„Der Abschussfeier, auf der sie völlig ausgeflippt ist, weil ihre Verabredung ihr beim Tanzen auf den Fuß getreten ist?“, fragte ich zuckersüß.

Elena warf mir einen giftigen Blick zu. „Wenigstens hatte ich eine Verabredung. Mit wem warst du noch gleich da? Ach ja, mit niemanden.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Diego ist niemand?“

„Diego zählt nicht.“

„Das sagst du nur, weil er dich hat abblitzen lassen. Mehrmals, wie ich hinzufügen darf.“ Ja ich war boshaft, aber ich konnte dieses kleine Flittchen wirklich nicht ausstehen. Nicht mehr nachdem was sie getan hatte.

Ryder schaute schmunzelnd zwischen uns hin und her, während Tussifreundin eins und zwei mir böse Blicke zuwarfen. „Hier liegen wohl leichte Spannungen in der Luft.“

Ich lächelte unschuldig. „Ich weiß nicht was du meinst.“

Das Schnauben zu meiner linken überraschte mich nicht.

„Dann habe ich hier vielleicht das Mittel, um die ganze Situation ein wenig zu entspannen.“ Aus seiner Innentasche zog er einen Flachmann und hielt ihn mir lächelnd hin. „Lust?“ Seine Augen blitzten herausfordernd.

Da brauchte ich nicht lange überlegen. Ich griff danach, schraubte den Deckel auf und nahm einen großen Schluck. Die Flüssigkeit darin brannte mir in der Kehle und ließ mir die Tränen in die Augen steigen. Hustend setzte ich sie wieder ab. „Was zum Teufel ist das?“

„Selbstgebrannter. Ein Freund von mir macht den.“

Elena schaute interessiert auf die Flasche. „Ich habe noch nie Selbstgebrannten getrunken.“

„Och“, machte ich. „Eine Runde Mitleid.“ Damit setzte ich die Flasche in zweites Mal an. Dieses Mal war ich darauf vorbereitete. Leider minderte dies das Brennen nicht.

„Hey.“ Tyrone griff nach meinem Arm und drückte ihn hinunter. „Nicht so viel, das Zeug ist wirklich heftig.“

„Was?“, fragte ich. „Machst du dir etwa sorgen um mich?“

„Ich will auf jeden Fall nicht, dass du mir einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus landest.“

Ich winkte ab. „Ich kann einiges vertragen.“

Elena schnaubte, wurde aber rigoros ignoriert. Es störte sie wohl, dass ihr langsam aber sicher die Aufmerksamkeit entzogen wurde. Das hinderte sie aber nicht daran zu versuchen sie zurückzubekommen. „Und, was macht ihr morgen Abend?“

„Das wird sich zeigen.“ Ryder grinste mich an und nahm dann den Flachmann entgegen, den ich ihm hinhielt. Er nahm einen Schluck und gab ihn dann seinem Bruder.

Mir wurde herrlich warm. Unter meiner Haut kribbelte es angenehm, als der Alkohol sich in meinem Blut bemerkbar machte. „Also eher einer von der spontanen Sorte.“

„Man weiß schließlich nie, was das Leben für einen bereit hält“, stimmte er mir zu.

„Wir könnten ja etwas unternehmen“, warf Elena ein. Sie spürte wie ihr die Kontrolle Zusehens entglitt und das gefiel ihr gar nicht.

Gehirnzelle Nummer eins entschuldigte sich mit einem Lächeln und suchte das Klo auf. Der Flachmann wurde weiter herumgereicht. Ich warf einen Blick über die Schulter, um mich nach Lucy umzuschauen. Sie saß nicht mehr an unserem Tisch.

„Und was macht man hier so am Wochenende?“, fragte Tyrone direkt an mich gewandt.

Ich wollte schon antworten, als mit die Anmeldung wieder in den Sinn kam. „Wohltätigkeit.“

Er zog fragend eine Augenbraue nach oben. Wie schaffte er das nur?

„In ein paar Wochen findet hier so ein Fest statt, dessen Erlös an ein Waisenhaus gehen soll. Ich habe mich für die Teilnahme als Helfer angemeldet.“

„Ein Fest.“ Ryder lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Klingt interessant.“

Ich machte eine wage Handbewegung. „Es ist für einen guten Zweck.“ Und auch wenn ich nicht unbedingt begeistert war, so wusste ich doch wie wichtig das war. Da kam mir eine Idee. „Ihr könnt euch ja auch anmelden. Helfende Hände werden immer gebraucht.“

Tyrone reichte mir den Flachmann. Ich schaute mich kurz um, da Alkohol in diesem Café eigentlich verboten war und nahm einen weiteren Schluck. Er brannte sich einen Weg in meinen Magen und löste dort ein herrliches Wärmegefühl aus.

„Klingt nicht schlecht“, sagte Ryder. Und dann an seinen Bruder gewandt: „Was meinst du?“

Er zuckte mir den Schultern. „Klar, warum nicht.“

„Ich habe mir auch schon überlegt mitzumachen“, warf Elena ein. „Die armen kleinen Kinder, sie brauchen unsere Hilfe. Sie haben es in ihrem Leben schon schwer genug.“

Ob die beiden Kerle die Falschheit in ihren Worten sahen? „Seit wann willst du etwas machen, dass dir nicht zum eigenen Vorteil gereicht?“

„Ich mache oft Dinge, die anderen helfen“, fauchte sie mich verärgert an, zwang sich dann aber wieder zu einem Lächeln. „Tut mir leid. Ich werde auch mal kurz die Toilette aufsuchen.“ Damit stand sie auf und gab ihrer zweiten Gehirnzelle ein Zeichen ihr zu folgen.

Ich grinste in mich hinein.

„Ist da etwa jemand schadenfroh?“ Ryder schmunzelte.

Ich guckte so unschuldig, wie es mir nur möglich war. „Ich weiß nicht wovon du redest.“

Neben mir lachte Tyrone leise in sich hinein.

„Aber natürlich“, stimmte Ryder mir zu und griff nach seinem Flachmann. Er ging noch ein paar Mal herum, bevor wie ihn geleert hatten und nach einiger Zeit fühlte ich mich herrlich frei und ungezwungen. Ich lachte über Ryders alberne Witze und lächelte Tyrone an, als er versehentlich gegen meine Hand stieß. Er war wirklich süß. Wie ein kleiner tolpatschiger Welpe mit großen unschuldigen Augen.

Zwischendurch stellte ich fest, dass Lucy sich zu Diego gesetzt hatte und uns aus der Ferne grimmig beobachtete. Elena kam irgendwann zurück. Gehirnzelle eins und zwei tauchten aber nicht wieder auf. Die hatten sich wohl für den Abend verabschiedet.

Ryder erzählte gerade, wie er als Kind versucht hatte ein Glas mit Marmelade aus dem Hängeschrank in der Küche zu holen und dabei ausversehen den ganzen Schrank heruntergerissen hatte – man sollte sich eben nicht an einen Schrank hängen – als mir ein wenig schummerig vor Augen wurde.

„Ich stand da und war völlig geschockt“, erklärte er mit übertriebener Gestik. „Überall um mich herum lagen Dosen und Gewürze und …“

„Alles okay?“, fragte Tyrone und berührte meine Hand.

Ich lächelte tapfer. „Klar. Ist nur ein wenig warm hier drin.“

Ryder machte wieder dieses seltsame Ding mit seinen Augen. „Vielleicht solltest du mal ein wenig rausgehen und frische Luft schnappen. Der Selbstgebrannte kann einen schon mal umhauen.“

„Ich begleite dich“, sagte Tyrone sofort und erhob sich von seinem Stuhl.

Wann bitte hatte ich zugestimmt? Aber als er mir dann auch noch die Hand hinhielt, konnte ich nicht widerstehen. Das war echt süß, so ein richtiger Gentleman. Als ich mich erhob, griff ich auch sofort nach seiner Hand. Nicht weil ich so scharf auf ihn war, sondern weil ich feststellen musste, dass die Welt um mich herum leicht schwankte. Vielleicht hatte ich ja doch ein wenig zu viel getrunken.

„Hoppla“, sagte Tyrone und umfasste meine Taille, um mich zu stützen.

Dankbar lächelte ich zu ihm hinauf. Hm, er roch echt gut. „Ich glaube ich habe es ein wenig übertrieben.“

„Dann ist es ja gut, dass die Flasche bereits leer ist.“ Er griff ein wenig fester zu und führte mich an den anderen Gästen vorbei aus dem Café. Lucys mörderischen Blick ignorierte ich dabei, genau wie Diegos zusammengedrückte Lippen. Keine Ahnung was den beiden heute für eine Laus über die Leber gelaufen war, aber solange sie sich wie ein paar Spießer aufführten, konnten sie mir gestohlen bleiben.

Leider wollten meine Füße nicht mehr ganz so, wie ich wollte. An der Türschwelle stolperte ich und fiel wohl nur nicht auf die Nase, weil Tyrone mich fester packte.

„Immer schon langsam“, murmelte er leise.

Mein Alkoholspiegel musste hör sein, als mir bisher klar gewesen war. „Koordinationstechnisch sollte ich heute wohl nicht mehr viel unternehmen“, sagte ich, und ließ mich von ihm nach draußen bringen.

Die nächtliche Luft war herrlich. Ein laues Lüftchen, dass mir angenehm über die Haut strich.

Tyrone setzte mich auf die Bank vor dem Schaufenster und sich gleich daneben. „Ich bin froh, dass du gekommen bist.“

„Hast du geglaubt ich kneife?“

„Naja, ich saß schon eine gute Stunde hier rum, bevor du aufgetaucht bist.“ Genau wir vorhin, legte er seinen Arm hinter mir auf die Rückenlehne. Dieses Mal jedoch spürte ich, wie seine Finger meinen Nacken streiften, als wollte er testen, ob ich ihm das erlaube.

Ich lächelte. „Wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch. Sowas finde ich wichtig. Lügner sind schrecklich. Ich meine, warum sagt jemand etwas, wenn er es nicht so meint, oder gar nicht will?“

Ein Schatten fiel über seine Augen. „Manchmal zwingen einen die Umstände dazu.“

„Nichts zwingt einen dazu ein Lügner zu sein. Es bleibt immer die Entscheidung des einzelnen.“ Eine Gänsehaut kroch über meinen Rücken, als seine Finger erneut über meine Haut strichen. Es war angenehm. „Was wird das?“, fragte ich ihn ganz direkt.

„Ich weiß nicht.“ Seine Finger fasten nach einer losen Haarsträhne. „Es kann werden was immer du willst.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Baggerst du mich gerade an?“

Er verzog das Gesicht, sodass ich lachen musste. „Das klingt ein wenig vulgär. Ich würde eher sagen, ich taste mich vorsichtig heran.“

„Und wenn ich das nicht will?“

„Dann höre ich sofort auf.“ Er rutschte ein Stück näher, sodass ich seine Körperwärme auf meinem Arm spüren könnte. „Möchtest du denn, dass ich aufhöre?“

„Ich weiß nicht. Was genau hast du denn vor?“

„Das liegt allein an dir. Wir könnten wieder hineingehen, oder … auch nicht.“

Die Andeutung dahinter verstand ich sehr wohl – ich war ja nicht blöd. Betrunken und blond, aber nicht blöd – doch so schnell ließ sich eine Cayenne Amarok nicht herumkriegen. „Ich darf nicht mit fremden Männern spielen.“ Ich lächelte unschuldig. „Das hat mir meine Mama verboten.“

„Ich bin nicht fremd, wir haben mehr gemeinsam, als du glaubst.“

Er sagte das so leicht hin, aber ich hatte schwer das Gefühl, dass hinter diesen Worten mehr steckte, als ich mir klar war. „Und das wäre?“

„Wir sind jung, wir sind allein, und wir sind …“ Plötzlich stutzte er und wandte sich nach dem Schaufenster herum, um ein Blick ins Innere zu erhaschen. Seine Mine verfinsterte sich. „Na klasse.“

Ich folgte seinem Blick, konnte aber nichts erkennen, da sich eine Menschentraube in der Nähe der Bühne gebildet hatte. „Was ist da los?“

Tyrone warf mir einen unschlüssigen Blick zu und erhob sich dann. „Warte kurz, ich bin gleich wieder da.“ Und schon bewegte er sich auf den Eingang zu.

Warten? Von wegen. Ich hatte mir noch nie von jemand etwas vorschreiben lassen und hatte nicht vor ausgerechnet jetzt damit anzufangen. Also erhob ich mich auf wackligen Beinen und folgte ihm in das Lokal hinein.

Das erste was mir auffiel, waren die poetischen Ergüsse, sie war verstummt. An ihrer Stelle war wütendes Keifen getreten und die Stimme dahinter kannte ich nur zu gut, Lucy.

Was war denn jetzt schon wieder los? Lucy war schon immer sehr hitzig gewesen, handelte impulsiv und oft unüberlegt. Eigentlich Eigenschaften, die man mehr bei mir vermutet hätte, aber ich dagegen dachte mindestens eine Minute über etwas nach, bevor ich handelte. Nicht so meine beste Freundin.

Mit Tyrone vor mir, drängte ich mich durch die Traube, die sich um den Tisch von Ryder und Elena gebildet hatte.

„…eure Finger von ihr!“, giftete Lucy Ryder an, als ich sie zwischen den Leuten endlich ausmachen konnte. „Oder ich schwöre, dein Leben wird die Hölle werden!“

Ihre Wut ging in Wellen von ihr aus und ließ keinen Zweifel daran, dass sie gleich gewalttätig werden würde. Direkt hinter ihr stand Diego als stumme Rückendeckung.

Sie brauchte diese Unterstützung nicht, denn Lucy fürchtete sich vor gar nichts. Außerdem hatte ich schon gesehen, wie sie in ihrem Verein Kerle niedergerungen hatte, die nicht nur doppelt so viel Gewicht wie sie auf die Waage brachten, sondern auch Schultern hatten, hinter denen sich eine ganze Fußballmannschaft verstecken konnte.

Ich schaute stirnrunzelnd zwischen von ihr zu Ryder. Ja, Lucy war aufbrausend, aber niemals ohne Grund. Hier jedoch konnte ich keinen erkennen.

Ryder ließ sich von ihrem Auftreten nicht einschüchtern. „Nur zu“, spornte er sie an. „Mach was du nicht lassen kannst.“

„Du solltest mich nicht auf die Probe stellen“, warnte sie ihn.

„Das tue ich nicht, aber es ist ihre Entscheidung, was sie macht. Vielleicht ist es für sie an der Zeit den goldenen Käfig zu verlassen.“

Ich dränge mich vor Tyrone und sah zwischen den beiden hin und her. Über was stritten die sich da nur?

„Das hast mit Sicherheit nicht du zu entscheiden.“

Selbstgefällig verschränkte Ryder seine Arme vor der Brust und lehnte sich lässig auf seinem Stuhl zurück. „Meinst du? Vielleicht sollte ich sie ihr ja sagen.“

„Pass auf was du da von die gibst du mieser …“

Diego zischte sie an.

Aus dem Augenwinkel sah Lucy zu mir herüber und in dem Moment wurde mir klar, dass sie über mich sprachen. „Was ist hier los?“, forderte ich zu erfahren.

Beide ignorierten mich.

„Halt dich von ihr fern“, wiederholte Lucy mit drohendem Unterton.

Ryder schnaubte. „Zwing mich doch.“

Und in dem Moment geschah es. Lucys eh schon kurzer Geduldsfaden riss. In einer eleganten Drehung riss sie ihr Bein hoch und zielte damit auf Ryders Kopf. Ich sah schon wie er den Boden knutschte, doch es kam ganz anders. Mit Reflexen, die ich ihm niemals zugetraut hätte, sprang er auf, fing er ihren Fuß ab, drehte ihn einmal herum und stieß sie von sich. Sie landete nur nicht auf der Fresse, weil Diego so geistesgegenwärtig war sie abzufangen.

Der Knall des umfallenden Stuhls war das einzige Geräusch in dem Raum.

Das machte sie erst Recht sauer. Als wäre Diego der Schuldige, stieß sie ihn von sich, holte mit der Hand aus und schlug nach Ryder. Doch der tänzelte zur Seite und blockierte damit meine Sicht. Zumindest bis er sich duckte und Lucys Faust direkt auf mich zuflog.

Ich spürte nur noch wie mich ein sehr schlagkräftiges Argument am Kinn erwischte, dann fiel ich wie ein gefällter Baum unter kollektivem Luftschnappen der Schaulustigen einfach um.

 

°°°°°

Durchgeknallt

 

Einen Moment schaute ich orientierungslos um mich. Warum zum Teufel saß ich auf dem Boden und warum tat mein Kopf so weh? Meine Sicht wurde von Tränen verschleiert. Direkt vor mir hockten ein paar Leute. Sie sprachen mit mir, doch ich konnte mit ihren Worten nichts anfangen. Ihre Gesichter … sie waren irgendwie verschwommen. „Was …“

Ein paar blassblauer Augen stach aus der Menge hervor.

Ryder.

„Mir ist schlecht“, murmelte ich.

Eine Hand strich mir übers Haar. „Ganz ruhig, alles wird gut.“

„Oh Gott, Cayenne, es tut mir so leid, das wollte nicht.“

Was wollte sie nicht?

Ein vertrauter Arm legte sich um meine Taille und half mir auf. Ich verlor den Boden unter den Füßen und klammerte mich hastig an einen Körper. Die schnelle Bewegung ließ eine neue Welle der Übelkeit über mir zusammenschlagen.

„Bitte, das musst du mir glauben.“

Lucy. Auf einmal ergaben die Kopfschmerzen einen Sinn. Lucy hatte versucht Ryder zu schlagen, aber sie hatte mich getroffen.

„Du weißt, ich hätte dich niemals geschlagen.“

Ich wurde auf einen Sessel gesetzt und endlich kapierte ich, wer mich da getragen hatte. Diego. Ich blinzelte in der Hoffnung damit endlich die Schatten an den Rändern meines Sichtfelds loszuwerden. Daher sah ich wohl auch, wie Lucy ihre Hand nach mir ausstreckte – die Hand mit der sie mir gerade eine verpasst hatte. Es war nichts anderes als ein Reflex, der mich davor zurückschrecken ließ.

Betroffenheit flackerte über ihr Gesicht. „Cayenne …“

„Geh weg, Lucy.“ Wow, ich glaubte nicht, dass ich in meinem Leben schon einmal solche Kopfschmerzen gehabt hatte.

„Was?“

„Du sollst mich in Ruhe lassen!“, fauchte ich sie an und drückte mir die Hände gegen die pochenden Schläfen. Das war echt der Gipfel. Für heute hatte sie den Bogen einfach überspannt. Miese Laune hin oder her, dass gab ihr noch lange nicht das Recht, so um sich zu schlagen und Unbeteiligte zu treffen.

„Hey, schau mich mal an.“ Eine Hand berührte mich vorsichtig an der Wange.

Ich blinzelte und eindeckte Ryder vor mir hocken.

„Nimm deine Pfoten von ihr!“, zischte Lucy.

„Ich werde sie schon nicht beißen. Außerdem warst du es, die sie niedergeschlagen hat“, zischte er zurück.

Damit war der Abend für mich wohl gelaufen. Mir war übel, ich konnte kaum gerade laufen und mein Kopf fühlte sich an, als wollte er sich jeden Moment in seine Einzelteile auflösen. Doch das Schlimmste war wohl diese Übelkeit, die mir die Galle in die Kehle trieb. „Ich glaub, ich muss gleich kotzen.“

„Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung“, überlegte Ryder und jeglicher Humor war aus seiner Stimme verschwunden.

„Hey, dann muss ich ja morgen nicht in die Uni“, witzelte ich, aber meine Tränen machten das Ganze nicht sehr amüsant. Ich fragte mich, ob sie mir den Wangenknochen gebrochen hatte, oder ob ich in nächster Zeit eine Augenklappe brauchen würde. Aber vor allen Dingen fragte ich mich, wann dieser Schmerz verschwinden würde. Es tat einfach nur wahnsinnig weh.

„Dafür aber ins Krankenhaus.“

„Kein Krankenhaus.“ Ich schüttelte leicht den Kopf und bereute es auf der Stelle. „Au, scheiße.“ Mein Gehirn muss sich gelockert haben und schwamm nun frei in meinem Kopf herum. Das war kein sehr angenehmes Gefühl. Hätte ich nur auf Tyrone gehört und hätte draußen auf ihn gewartet, aber wie immer hatte ich ja meinen Willen durchsetzten müssen. Mist aber auch.

„Tyrone, frag mal Eiswürfeln oder sowas.“ Vorsichtig und viel sanfter als ich es ihm zugetraut hätte, strich Ryder mir die Haare aus dem Gesicht. Ein Wow-Kribbeln prickelte über meine Haut. „So, dann lass mal sehen.“ Doch mitten in der Bewegung stoppte er und ich musste nur leicht den Kopf drehen, um durch verschwommene Sicht zu erkennen, dass Diego sein Handgelenk gepackt hatte.

„Du nimmst jetzt deine Finger von ihr.“

„Diego“, seufzte ich. Auf diesen Beschützerkram hatte ich jetzt echt keinen Bock.

„Ich will doch nur nach ihrem Gesicht sehen.“

„Das können wir auch machen. Wir sind ihre Freunde, nicht ihr.“

„Diego“, sagte ich erneut, da mein erster Einspruch einfach ignoriert wurde.

Ryder schnaubte. „Wer solche Freunde hat, brauch keine Feinde.“

Im Bruchteil einer Sekunde lag Ryder auf dem Boden. Es gab einen dumpfen Aufschlag, dann einen Knall und dann ragte Diego drohend über ihm auf.

„Diego!“ Ich fuhr auf und obgleich der Schmerz in meinem Kopf mich fast umhaute, blieb ich auf den Beinen – schwankend – und funkelte ihn und Lucy böse an.

„Was soll der Mist?“, fragte ich sie. „Er will doch nur helfen.“

Nun war es an Lucy, zu schnauben. „Er will ganz sicher etwas, aber bestimmt nicht helfen.“

Vorsichtig und ohne Diego aus den Augen zu lassen, kam Ryder wieder auf die Beine und stellte sich so, dass ich mich zwischen ihm und meinen Freunden befand.

Langsam verstand ich die beiden nicht mehr. Den ganzen Abend schon benahmen sie sich so seltsam und jetzt hatte ich langsam die Schnauze voll davon. Ich wollte eine Erklärung, sofort. „Was ist heute nur los mit euch?“

Beide schwiegen mich an.

Natürlich. Eine einfache Erläuterung abzugeben, wäre ja auch viel zu unkompliziert.

Seufzend setzte ich mich zurück in den Sessel, als mir klar wurde, dass ich vorläufig keine Antwort bekommen würde. Nicht vor Ryder und Tyrone und den ganzen Schaulustigen, die nicht einmal so taten, als würden sie sich mit ihren eigenen Dingen beschäftigen. „Geht nach Hause.“

„Nicht ohne dich“, kam es prompt von Diego.

„Geht.“

„Nein.“

Jetzt wurde ich sauer. Für einen Abend hatten die beiden meine Geduld echt genug auf die Probe gestellt. „Ich hab gesagt, ihr sollt verschwinden!“

Lucy sah mich an. In ihrem Blick lag Sorge, aber auch Trotz. „Cayenne…“

„Nein!“ Mit einem Ruck wirbelte mein Kopf zu ihr. Der Schmerz darin raubte mir für einen Moment die Sicht und weitere Tränen schossen mir in die Augen. Ich wagte nicht, sie wegzuwischen, mein Gesicht schmerzte auch so schon genug. „Für heute hab ich von euch beiden die Nase gestrichen voll. Lasst mich in Ruhe.“

„Bitte Cayenne, wir …“

„Verschwindet endlich!“, fauchte ich sie an. Noch nie in meinem Leben hatte ich sie weggeschickt, aber wie sagte man so schön? Es gab für alles ein erstes Mal. Und heute hatte ich einfach genug von den Beiden.

Zuerst machte es nicht den Anschein, als zögen die beiden einen schnelle Abgang in Betracht und ich wollte sie schon ein weiteres mal anfauchen. Doch dann hörte ich wie sich ihre Schritte entfernten. Nur Augenblicke später klingelte die kleine Glocke über der Tür. Dann knallte die so laut zu, dass ich unwillkürlich zusammen zuckte und eine neue Welle der Übelkeit über mir zusammenschlug.

Toll, jetzt fühlte ich mich erst recht schlecht. Natürlich war mir bewusst, dass Lucy mich nicht mit Absicht geschlagen hatte, aber das Diego jetzt auch noch auf Ryder losgegangen war, brachte das Fass einfach zum Überlaufen.

Leise Schritte erklangen. Der Poet auf der Bühne nahm sein Gedicht wieder in Angriff und nach und nach wandten sich die Gäste wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu.

Zwischen ihnen tauchte Tyrone mit einem Kühlpack in der Hand auf und reichte es mir. „Hier, halt dir das ans Auge.“

Dankbar nahm ich es an mich und drückte es vorsichtig gegen mein Gesicht. Oh, das tat echt gut. „Normalerweise sind sie nicht so.“ Warum verteidigte ich ihr Verhalten jetzt auch noch?

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Sie sind deine Freunde, sie wollen nur auf dich aufpassen.“

Ich vergrub mein Gesicht im Eisbeutel. „Manchmal benehmen sie sich aber mehr wie…“ Ich überlegte, aber mir viel kein passender begriff ein.

„Leibwächter?“, schlug Ryder vor, wofür er von Tyrone einen seltsamen Blick bekam.

„Ja, so könnte man das wohl nennen.“

Ryder beugte sich besorgt zu mir. „Besser?“

Ich nickte nur.

„Gut, dann schau mich mal an, schau auf meinen Finger.“

Langsam hob ich den Kopf und folgte mit den Augen den Bewegungen seines Fingers.

„Ich glaub nicht dass du eine Gehirnerschütterung hast“, diagnostizierte Ryder.

„Was, bist du Arzt?“

„Nein, aber ich hab jede Folge von Emergency Room gesehen“, witzelte er. „Es wird ein bisschen anschwellen und du wirst wahrscheinlich ein Veilchen davontragen, aber ansonsten scheint alles in Ordnung zu sein.“

„Vielleicht sollten wir sie doch lieber in ein Krankenhaus bringen“, überlegte Tyrone laut.

„Nein, ich hasse Ärzte.“ Außerdem würde Victoria mich umbringen und vermutlich in Ketten legen, wenn sie von dieser Sache Wind bekam. Was meine Mutter dazu zu sagen hatte, wollte ich gar nicht erst wissen. Nicht nur dass ich ausgerissen war, ich trug auch das Zeichen einer Schlägerei davon.

„Okay, kein Krankenhaus“, sagte Ryder. „Aber du versprichst uns, dass du zum Arzt gehst, wenn es bis morgen noch nicht besser sein sollte.“

Das tat ich nicht. Ich gab nie Versprechen ab, die ich nicht vorhatte zu halten und damit ich freiwillig einen Arzt aufsuchte, musste man mich schon an die Tür zum Jenseits klopfen.

„Versprich es, oder ich bringe dich jetzt sofort ins Krankenhaus“, drohte Ryder, der meine Gedanken offenbar erriet.

„Du bist ja schlimmer als Diego.“

Ryders Mundwinkel zuckten. „Du weichst aus.“

Resigniert stöhnte ich. „Ja okay, ich verspreche hiermit feierlich, dass ich mich den weißen Kittelträgern ausliefere, sollte sich mein Zustand in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht bessern.“

„Braves Mädchen.“

Seine Augen lachten mich an. Diese Augen, so faszinierend und einmalig, schlugen mich in ihren Bann, genauso wie schon in der Uni. Ohne zu wissen, wie und warum, hob ich meine Hand und strich langsam daran entlang. „Solche Augen hab ich noch nie gesehen.“

Ein leichtes Runzeln erschien auf seiner Stirn. „Noch nie?“

Was war das denn für eine Frage? „Äh … nein.“

Mit Tyrone wechselte er einen vielsagenden Blick aus, den ich nicht verstand.

Ständig diese seltsamen Blicke. Langsam hatte ich das Gefühl, dass mir hier etwas Entschiedenes entging. Nicht nur die beiden, auch meine so genannten besten Freunde, wechselten ständig solche heimlichen Blicke, wenn sie glaubten, dass ich gerade nicht hinsah.

Wachsam schaute ich zwischen den beiden hin und her. „Was geht hier eigentlich vor sich?“

Ryders Gesicht entspannte sich wieder. „Mach dir darüber keinen Kopf, Prinzessin.“

„Prinzessin?“ Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt.

Er lächelte nur und stand dann auf. „Komm, ich bring dich nach Hause.“

Na klasse, das war ein Ort, an dem ich jetzt unbedingt mit einem Veilchen auftauchen sollte. Aber früher oder später musste ich eh dorthin zurück Und da nach meinem beeindruckenden Niedergang nichts mehr mit mir anzufangen war, konnte ich mich Veronica genauso gut jetzt gleich stellen.

Tyrone bestellte ein Taxi und obwohl ich den beiden versicherte, dass ich es damit auch allein nach Hause schaffte, wollte keiner von ihnen etwas davon hören. Nachdem Ryder mir noch dreimal gedroht hatte, mich ins Krankenhaus auf die Notfallstation zu befördern, wenn ich nicht endlich klein bei gab, willigte ich seiner Begleitung ein. Irgendwie war es auch nett ihn dabei zu haben. Er ließ mich nicht alleine, würde aufpassen, falls ich doch umfallen sollte, würde mich in seine starken Arme nehmen und … Moment falscher Gedankengang. Mein Kopf musste mehr abbekommen haben, als ich bisher angenommen hatte.

Auf der Fahrt sprachen wir nicht viel miteinander. Einerseits, weil ich durch den Schlag immer noch ziemlich außer Gefecht gesetzt war und andererseits, war es auch keine unangenehme Stille. Ich bemerkte sogar, wie ich mich immer mehr entspannte und war beinahe enttäuscht, als wir unser Ziel viel zu schnell erreichten.

Die Taxigebühr übernahm ich, ließ mir dann aber von Ryder aus dem Wagen helfen und hatte auch nichts dagegen, dass er mich zum Haupttor begleitete.

Mit Interesse ließ Ryder seinen Blick auf unser Grundstück gleiten und blieb dann am Zaun hängen. „Wow, beeindruckender Schuppen. Hat ein bisschen was von Knast.“

Ich folgte seinem Blick. „Meine Mutter hat immer gerne alles unter Kontrolle. Schutz und Sicherheit geht ihr über alles.“

„Wirkt auf mich eher, als wollte sie jemanden darin festhalten.“

Da ich das auch schon ein paarmal gedacht hatte, schwieg ich einfach.

Er bedachte mich mit einem kleinen Lächeln. „Soll ich dich noch reinbringen?“

„Nein, das schaffe ich alleine.“ Nicht auszudenken, was Victoria sagen würde, wenn ich mitten in der Nacht mit einem blauen Auge und einem fremden Kerl auftauchen würde.

„Bist du sicher?“

„Ja, ich bin ein großes Mädchen. Ich gehe schon alleine auf die Toilette und habe keine Angst im Dunkeln. Ganz ehrlich, das Monster in meinem Schrank fürchtet sich mehr vor mir, als ich mich vor ihm.“

„Wenn das Monster wüsste, wie einfach es dich niederschlagen könnte, hätte es vielleicht nicht mehr so viel Angst vor dir.“

„Dann sollten wir es ihm wohl besser nicht verraten.“ Ich wollte lächeln, ließ es dann aber sein. Allein schon diese kleine Muskelbewegung schmerzte.

„Oooder“, sagte er lang gezogen, „ich zeige dir, wie du dich verteidigen kannst.“

„Da brauchst du aber sehr viel Zeit, und noch viel mehr Geduld.“

„Glaubst du, Ja?“ Er lächelte wieder und dieses Mal war ich mir hundertprozentig sicher, dass sich die Farbe seiner Augen leicht verdunkelte.

„Ich bin ziemlich lernresistent.“

„Das werden wir ja dann sehen.“

Als hinter ihm ein Motorrad aufheulte, zuckte ich überrascht zusammen.

Direkt neben uns hielt ein Typ mit einem schwarzen Helm auf seinem Kopf. Als er sein Visier bei laufendem Motor hochklappte, erkannte ich Tyrone darunter und staunte nicht schlecht. „Wow, gehört die euch?“

„Seine“, bestätigte Ryder. „Meine ist viel beeindruckender.“

Tyron schnaubte und reichte seinem Bruder einen zweiten Helm. Dieser war rot mit weißen Blitzen darauf.

Ryder nahm ihn schmunzelnd entgegen, aber bevor er ihn aufsetzte, sagte er noch: „Wir sehen uns dann morgen in der Uni. Und denk an dein Versprechen.“

„Ja ja, Krankenhaus, Ärzte, Gehirnchirurgie. Ich werde es schon nicht vergessen.“

Schmunzelnd schwang sich Ryder hinter Tyron auf das wirklich beeindruckende Motorrad. „Bis morgen dann.“ Er klappte das Visier herunter, stellte die Beine nach oben und sobald ich einen Schritt zurückgewichen war, gab Tyrone auch schon Gas.

Ich blieb noch stehen und sah den beiden solange hinterher, bis sie von der Nacht verschlungen wurden. Erst dann kramte ich meine Schlüsselkarte aus meiner Tasche hervor und öffnete mit ihrer Hilfe und einem Zahlencode für das Tastenfeld das Tor. Ich hatte es noch nicht wieder richtig geschlossen, da hörte ich auch schon, wie die Haustür aufgerissen wurde.

Na super, jetzt würde es witzig werden.

Tief durchatmend drehte ich mich herum und marschierte erhobenen Hauptes auf eine wutschnaubende Victoria zu.

„Wo warst du?“, wünschte sie auch sofort zu erfahren.

„Ist doch egal, jetzt bin ich wieder da.“ Ich trat an ihr vorbei ins Haus und überließ es ihr die Tür zu schließen. Plötzlich war ich einfach nur noch müde und wollte nichts anderes als unter meine Decke zu schlüpfen. Das Bett schien eine himmlische Verlockung zu sein. Aber dazu müsste ich erst an Victoria vorbei und die konnte wie ein Pitbull sein.

„Egal?“ Victoria schmiss die Tür ins Schloss. „Es ist vieles, aber sicher nicht …“ Sie stockte für einen Moment. „Was hast du da im Gesicht?“

„Ein Kühlpack.“ Tyrone hatte gesagt, dass ich es behalten könnte und ich war ihm wirklich dankbar dafür. Wofür ich nicht dankbar war, war mein überbesorgtes Kindermädchen, das mein Gesicht sehen wollte und kreidebleich wurde, als sie das aufblühende Veilchen entdeckte.

„Mein Gott, was ist dir denn zugestoßen?“

Lucys Faust. „Nichts, ich bin einfach nur ungünstig gestürzt.“

Ihre Augen verengten sich leicht. „Hältst du mich wirklich für so dämlich, dass du glaubst ich würde dir diese erbärmliche Ausrede abkaufen?“

Eigentlich war es mir gerade ziemlich egal, was sie glaubte. „Sonst noch was?“

Diese blöde Frage brachte mir eine Standpauke ein, von der mir die Ohren schlackerten. Von Stubenarrest, über verschärfte Regeln, Gittern vor meinen Fenstern, selbstzerstörerisches Verhalten und einen Psychiater war wirklich alles dabei. Natürlich ließ sie mich auch wissen, dass meine Mutter davon erfahren würde und sicher auch noch etwas dazu beizutragen hatte.

Ich ließ alles über mich ergehen und behielt jeden weiteren Kommentar für mich, da ich wusste, dass ich es sonst nur schlimmer machen würde. Natürlich könnte ich ihr einfach sagen, dass es Lucy gewesen war, aber meiner Meinung nach ging sie das absolut nichts an. Sie hatte es schließlich nicht mit Absicht gemacht und ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass man ihr wegen Gewalthandlungen gegen mich Hausverbot erteilte. Das würde ich Victoria glatt zutrauen.

Fast eine Viertelstunde dauerte die Prozedur, bis sie mich endlich in mein Zimmer entließ. Mir schwirrten die Ohren, mir platzte der Kopf, aber vor allen Dingen war ich einfach nur müde. Nicht mal meine Klamotten streifte ich noch ab. Ich fiel einfach mit dem Kühlpack im Gesicht ins Bett und ließ den Schlaf meine Kopfschmerzen kurieren.

 

°°°

 

Pünktlich um halb sieben schrille mein Wecker los. Ein grausiges Piepen, das meine Ohren in seiner Beständigkeit malträtierte, bis ich mir ein Kissen auf den Kopf drückte. Ausdauer hatte er, das wusste ich aus Erfahrung. Wenn ich ihn einfach ignorierte, würde er auch in zehn Minuten noch nicht still sein.

Weil ich morgens nie das Bett verlassen wollte, hatte Victoria mich eines Abends damit überrascht. Ich wusste bis heute nicht, ob ich ihr dafür dankbar sein sollte, oder den Wecker nachts heimlich neben ihr Bett stellen sollte, damit sie mal erfuhr wie es war, so aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Mit schweren Augenlidern tastete ich nach dem kleinen Schränkchen neben dem Bett. Stifte, ein Buch, etwas Papier … klirr. Das war die Lampe gewesen.

Seufzend richtete ich mich ein wenig auf, packte den Störenfried mit nur einer Hand und zog so lange daran, bis der Stecker aus der Steckdose rutschte und das grausige Geräusch damit einen schrecklichen Tod starb. Dann zog ich meinen Arm zurück unter meine Decke und kuschelte mich wieder tief in meine Kissen.

Keine Minute später hämmerte jemand mit einem Presslufthammer gegen meine Tür, gefolgt von einem viel zu gut gelaunten: „Aufstehen, Cayenne, die Sonne lacht.“

Von wegen, die lachte mich höchstens aus. „Geh weg“, nuschelte ich.

„Steh freiwillig auf, oder ich komme rein.“

Das war keine leere Drohung. Mist. „Ist ja gut, ich steh ja schon auf.“ Keine Ahnung ob sie mich durch die Tür überhaupt hörte und eigentlich war mir das auch völlig gleichgültig. Ich wollte einfach weiter hier liegen bleiben. Da ich meinen Folterknecht aber nur zu gut kannte, schlug ich seufzend die Decke zur Seiten und richtete mich noch halb schlafend auf. Nach einem kurzen Check meiner Vitalfunktionen stellte ich fest, dass es meinem Kopf ein wenig besser ging, aber ich hatte einen Geschmack nach verfaulten Äpfeln im Mund und das bisschen Schlaf, wollten die Ringe unter meinen Augen einfach nicht verschwinden lassen. Die Aussicht auf Uni machte das Ganze auch nicht unbedingt angenehmer.

Müde quälte ich mich aus meinen Bett, schälte meine verschwitzten Klamotten vom Leib und stellte mich unter die Dusche, in der Hoffnung, den Tag dadurch zu überstehen.

Kaum zehn Minuten später, stand ich in ein Handtuch gehüllt vor den Spiegel und bewunderte zum ersten Mal das prächtige Veilchen am linken Auge. Oh wow, treffen konnte Lucy, das muss man ihr lassen. Hatte sie wohl beim Kickboxen gelernt.

Der Anblick des blauen Auges verbesserte meine frühmorgendliche Stimmung nicht unbedingt. Nicht weil meine beste Freundin mir eine verpasst hatte, sondern weil sie sich aufgeführt hatte, wie eine Geistesgestörte und mir selbst auf Nachfrage nicht erklärt hatte, warum.

Lucy war schon immer leicht reizbar und auch ein wenig jähzornig gewesen. Keine gute Kombination. Und aus diesem Grund hatte ich nun ein Veilchen, das in den herrlichsten Blautönen schimmerte.

Stöhnend nahm ich meinen Föhn zur Hand und trocknete meine Haare im Schnelldurchlauf. Kurz war ich am überlegen, ob ich den Fleck mit Concealer abdecken sollte, aber leider hatte ich keinen da. Also trug ich nur ein wenig Lipgloss auf, suchte mir dann aus meinem Schrank eine schwarze Leggins und dazu ein weißes Shirt, das bis über den Po reichte. Mit einem schwarzen Gürtel rundete ich das Ganze noch ab und befand mich dann für fertig, um dem Tag entgegenzutreten.

Erst als ich in meine Lieblingssandaletten schlüpfte, fiel mir auf, dass Victoria gar nicht zum Kontrollgang aufgetaucht war, um sicher zu gehen, dass ich das Bett auch wirklich verlassen hatte.

Verwundert, aber nicht allzu bekümmert, schnappte ich mir noch meine Tasche und verließ dann mein Zimmer. Wie jeden Morgen wartete Diego draußen sicher bereits auf mich. Aber zuerst musste ich noch einen kleinen Abstecher in die Küche machen, um irgendwas zwischen die Zähne zu bekommen.

Ich war schon halb die Treppe hinunter, als ich Stimmen aus dem Esszimmer hörte. Die eine gehörte unverkennbar Victoria, aber bei der anderen musste ich zweimal hinhören, um mir auch wirklich sicher zu sein, dass ich mich nicht täuschte. Sie sprach mit Diego und sie hatte ihren ernsten Tonfall drauf, den normalerweise ausschließlich für mich reserviert war.

Was war denn jetzt los?

Verdutzt schlich ich die Treppe hinunter. Natürlich wusste ich, dass Lauschen sich nicht gehörte, aber meinen besten Freund mit meinem Hausmädchen tuscheln zu hören, machte mich halt neugierig. Die dritte, knarrende Stufe übersprang ich und spitzte dann die Ohren.

„…das gemacht?“, fragte Victoria aufgebracht, als ich mich leise an der Wand entlang drückte, immer weiter auf den Türrahmen zum Esszimmer zu.

„Nein“, entgegnete Diego. „Das war Lucy.“

„Lucy?“ Ihre Stimme überschlug sich fast.

„Ja, sie wollte den Typen schlagen, traf aber sie statt ihn.“

Das gab es doch nicht, Diego verriet mich an Victoria! Ich drückte mich ganz fest an die Wand und wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.

Ein Stuhl wurde zurückgeschoben.

„Haben sie ihr etwas erzählt?“ Wider Victoria.

„Soweit ich weiß nicht, aber wir waren nicht die ganze Zeit bei ihr. Sie hat uns rausgeschmissen. Wir haben gewartet und sind hinterhergefahren, als die das Taxi genommen hat, aber ich weiß nicht, ob er ihr etwas gesagt hat.“

„Wisst ihr, was sie von ihr wollen?“

„Keine Ahnung, aber es ist ziemlich sicher, dass sie etwas im Schilde führen. Sie wollen etwas von Cayenne, sonst hätten sie sich bereits nach dem ersten Aufeinandertreffen mit Lucy verzogen.“

Was zur Hölle sollte der Scheiß? Langsam wurde ich sauer. Nicht nur, dass mein bester Freund mich gerade bei meinem Schließer verpetzte, nein, jetzt unterstellte er den Brüdern auch noch niedere Motive! Es konnte ja nicht sein, dass Tyrone und Ryder mich um meinetwillen mochten, sie müssen gleich irgendwelche bösen Hintergedanken haben.

„Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Victoria seufzte. „Okay, ich werde mich darum kümmern. Sorgt ihr nur dafür, dass sie diesen Jungs fern bleibt.“

„Ich versuche mein Bestes.“

In dem Moment platzte mir die Hutschnur. Was glaubten die eigentlich wer sie waren, einfach über mein Leben zu entscheiden? Ich trat aus meiner Deckung und funkelte Diego wütend an. „Ein schöner Freund bist du.“

Über mein plötzliches Auftauchen war Victoria wirklich erschrocken und das gelang normalerweise niemals jemand. Sie wollte aufstehen und zu mir gehen, doch da war ich schon halb aus dem Haus. Das Frühstück fiel aus. Die Tür knallte ich so stark ins Schloss, dass mir davon die Ohren klingelten.

Ich war richtig sauer.

Da ging das Arschloch doch wirklich hinter meinem Rücken zu Victoria und erzählte ihr alles Brühwarm. Ich konnte es einfach nicht fassen. Das war als hätte er einen unausgesprochenen Schwur gebrochen, nein, noch schlimmer, damit hatte er mein Vertrauen missbraucht.

Wütend stampfte ich die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Ich brauchte Diego nicht, um in die Uni zu kommen, das hatte ich früher auch nicht getan.

Was bildet er sich eigentlich ein? Es war ja nicht so, dass ich ständig gefährliche und halsbrecherische Dinge anstellte. Aber mir so in den Rücken zu fallen, das hätte ich nie von ihm erwartet. Gestern Lucy, heute er. Die beiden hatten doch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank!

Ich war so sauer, dass ich nicht auf die Ampel achtete und fast noch von einem Wagen angefahren wurde. Er hupte mich an, aber als ich ihn anschrie, hörte er ganz schnell damit auf. Heute sollte sich besser niemand mit mir anlegen.

Die Bushaltestelle war vielleicht noch zwanzig Meter entfernt, als ich Diego hinter mir nach mir rufen hörte. Ich ignorierte ihn und verfluchte die öffentlichen Verkehrsmittel dafür, dass sie nie kamen, wenn man sie mal wirklich brauchte.

Als Diego dann auch eilig an meine Seite kam, wandte ich mich demonstrativ von ihm ab.

„Cayenne …“

„Verzieh dich.“

„Nein das werde ich nicht.“

„Verzieh dich, oder ich rufe um Hilfe.“

Wie gewöhnlich wurde sowas einfach ignoriert. Stattdessen umrundete er mich, damit wir von Angesicht zu Angesicht standen. „Ich hab das nicht gemacht, damit du Ärger bekommst, sondern weil es das Beste für dich ist.“

Jetzt wurde ich wirklich zornig. „Das Beste? Woher willst du wissen, was das Beste für mich ist?!“, spie ich ihm entgegen.

Zwei Mädchen, die auch auf den Bus warteten, sahen neugierig in unserer Richtung und tuschelten leise.

„Ist euer Leben so langweilig, dass ihr über meins lästern müsst?“, fuhr ich sie an. Ich hasste neugierige Leute.

Stöhnen rieb sich Diego übers Gesicht. „Ich versteh ja dass du sauer bist, aber ich bin dein Freund.“

„Ein Dreck verstehst du!“, schrie ich ihn an. Manchmal hasste ich es, wenn er sich wie mein großer Bruder aufführte. Immer glaubte er alles besser zu wissen, dabei hatte er die Weisheit genauso wenig mit Löffeln gefressen, wie ich. „Und ein Freund würde einen anderen nicht verraten, du bist nicht mein Freund!“

Schweigen. Er sah mich einfach nur an. Sein Gesicht verriet nicht, was in seinem Kopf vor sich ging, doch die Kränkung konnte ich deutlich in seinen Augen lesen. „Das meinst du nicht Ernst.“

„Das ist mein vollster Ernst.“ Meine Stimme bebte vor Zorn und ich wusste, dass ich ihn damit getroffen hatte, aber es war mir egal. Er war mir in den Rücken gefallen und das konnte ich ihm nicht einfach so verzeihen. Das grenzte schon an Verrat.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich von ihm ab und ignorierte seine stummen Blicke. Als der Bus dann endlich kam, stieg ich ohne ein weiteres Wort ein und verkrümelte mich ganz nach Hinten. Die ganze Fahrt über fragte ich mich, wie er mir so etwas antun konnte. Wie konnte er zu Victoria gehen? Ich verstand es einfach nicht.

Vor Wut kochend, verpasste ich auch noch fast meine Station und als das blöde Getuschel der beiden Mädchen von der Haltestelle wieder losging, konnte ich nicht anderes, als sie ein weiteres Mal anzuschnauzen. Heute sollte mir echt keiner krumm kommen. Ich war drauf und dran jemanden zu schlagen.

Wie jeden Morgen wartete Lucy vor dem Eingang der Uni auf mich, aber anstatt sie zu begrüßen, tat ich so als wäre sie Luft und marschierte einfach an ihr vorbei. Sie eilte mir natürlich hinterher, aber bevor sie mich erreichen konnte, war ich schon im Gebäude und schlug ihr die Tür mit voller Absicht vor der Nase zu. Die blöden Blicke der anderen beachtete ich gar nicht.

Ich hatte den Lesungssaal fast erreicht, als ich natürlich ausgerechnet Elena über den Weg laufen musste, die mit Gehirnzelle Eins und Zwei noch auf dem Gang herumlungerte.

„Na sieh mal einer an, wen der Wind da ins Haus getragen hat“, spottete sie, sobald ich in Hörweite war. „Nettes Veilchen“, setze sie noch drauf.

Okay, das war zu viel. In den nächsten Momenten machte ich Lucy Konkurrenz. Ich stampfte auf Elena zu, packte sie am Kragen ihrer Bluse und zog sie ganz nah an mein Gesicht.

„Hey!“

„Ich bin heute echt nicht in der Stimmung für so was, wenn du also nicht auch mit einem Veilchen rumlaufen willst, solltest du ausnahmsweise Mal deine Schnauze halten!“

Leider ließ sie sich davon nicht einschüchtern. „Versuchs es nur, dann fliegst du von der Uni und wir sind dich endlich los.“

Selbst jetzt musste sie eine dicke Lippe riskieren. Ich wollte zuschlagen, aber dann dachte ich an die Folgen und konnte es nicht tun. Elena mag das größte Miststück auf Erden sein, aber sie trug keine Schuld daran, dass meine besten Freunde so miese Verräter waren. „Übertreib es nicht“, zischte ich noch und stieß sie von mir. Sie kippte fast um, was mir wenigstens eine kleine Befriedigung gab, aber dann sah ich wie Lucy hinter mir auftauchen und sofort war mein Fünkchen Freude wieder verpufft.

„Cayenne.“

„Nichts da Cayenne, lass mich einfach in Ruhe.“ Ich beeilte mich in den Lesungssaal zu kommen. Leider ließ Lucy sich nicht so einfach abhängen.

„Du musst mit mir reden.“

„Ich muss vieles, aufs Klo, essen, irgendwann sterben, aber mit dir reden, das muss ich nicht.“ Ich verzog mich auf meinen Stammplatz und kramte die Sachen für den Kurs heraus. Vielleicht sollte ich Kopfschmerzen vortäuschen, die nicht mal wirklich vorgetäuscht wären und einfach wieder nach Hause gehen. Doch Victoria würde mich dann ganz sicher ins nächste Krankenhaus karren, also verwarf ich diesen Gedanken sofort wieder.

Als Lucy sich dann neben mich setzte, rutschte ich demonstrativ einen Platz weiter. Meine Stimmung war echt im Keller.

Grummelnd starrte ich vor mich hin und bekam so gar nicht mit, wie Lucys eigentliches Opfer den Saal betrat. Erst als sie „Zisch ab!“ giftete, schaute ich auf und entdeckte Ryder lächelnd neben ihr stehen.

Mit einem Mal schien der Tag nicht mehr ganz so düster. Das hatte sicher auch etwas damit zu tun, wie fantastisch er in diesen schwarzen Shorts aussah.

Natürlich war Tyron bei ihm, aber irgendwie bekam ich meine Augen nicht von Ryder weg. Ich erinnerte mich genau daran, wie seine Hand meine Wange berührt hatte und konnte schon wieder dieses Kribbeln spüren. Das machte mich irgendwie unruhig.

„Bist du taub, oder was?“

Ryder schenkte ihr genauso viel Aufmerksamkeit, wie ich es tat. „Wie geht’s deinem Gesicht?“

War ja irgendwie klar, dass er als erstes darauf zu sprechen kam. „Alles wieder in Ordnung“, versicherte ich, aber ein Blinder hätte bemerkt, dass er mir das nicht abkaufte. „Okay, ich hab noch leichte Kopfschmerzen, aber schon viel besser als gestern.“

„Das freut mich zu hören.“ Er lächelte, und oh wow, mehr fiel mir dazu nicht ein. „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, heute was mit uns zu unternehmen.“

„Hat sie nicht!“, fuhr Lucy ihn an.

Ich wandte mich zu ihr und hätte sie am liebsten angeschnauzt, dass sie sich da nicht einzumischen hatte. „Danke für deine Hilfestellung, aber ich kann für mich selber sprechen.“

„Cayenne, bitte“, flehte sie mich an. „Du musst mir vertrauen, triff dich nicht mit dem da.“

„Warum denn nicht“, fragte Ryder ehrlich interessiert.

Sie funkelte ihn wütend an. „Sieh zu das zu Land gewinnst, das nächste Mal trifft meine Faust dich.“

„Aber bitte nicht wieder in Cayennes Nähe. Wir wollen doch kein weiteres Missgeschick heraufbeschwören.“

„Pass auf was du sagst, du widerlicher Blutigel“, knurrte sie machte mit diesem Geräusch jedem Raubtier Konkurrenz.

Also langsam reichte mir ihr Verhalten. „Kannst du mir mal verraten, was mit dir los ist?“

„Ja“, sagte Ryder. „Das wäre wahrscheinlich gar nicht schlecht. Du weißt schon, weil dicke Luft niemals gut für eine Freundschaft ist, da ist es doch besser mit offenen Karten zu spielen.“

War Lucys Blick vorher schon gruselig, so wurde er nun zum Fürchten. „Sieh einfach zu, dass du verschwindest.“

„Mir gefällt es hier eigentlich ganz gut.“

Lucy sprang so schnell von ihrem Platz auf, dass ich es gar nicht richtig mitbekam und obwohl sie fast ein Kopf kleiner als er war, wirkte sie dennoch ziemlich bedrohlich. „Wenn du nicht endlich die Kurve kratzt, wird es dir noch leidtun.“

Einen Moment sah es aus, als würde Ryder es drauf ankommen lassen wollen, doch zum Glück kam es gar nicht erst soweit, den Tyrone legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter und schüttelte nachdrücklich den Kopf.

Mit einem unwilligen Blick gab Ryder nach und trat einen Schritt zurück. „Ein kleiner Tipp: Ein Psychoklempner könnte dir bei deinen Aggressionsproblemen sicher helfen.“

Sie funkelte ihn nur wütend an.

„Also dann Prinzessin.“ Er hob die Hand zum Abschied. „Wir sehen uns sicher später noch.“

„Nicht wenn ich es verhindern kann“, grummelte Lucy laut genug, dass ich es hören konnte.

Ryder ging nicht weiter darauf ein. Mit seinem Bruder an der Seite, suchte er sich einen Platz weiter vorne.

Als ich die beiden dabei beobachtete, wurde mir bewusst, dass Lucy es schon wieder getan hatte. Verstand sie denn nicht, dass ich genau deswegen sauer auf sie war? Es war einfach nicht zu fassen. Was war nur in meine Freunde gefahren?

Als Professor Habedank kurz darauf den Saal betrat, war ich noch immer damit beschäftigt dieses Problem zu wälzen. Das nahm mein ganzes Denken so in Anspruch, dass ich kaum etwas von dem mitbekam, was der Professor dort unten referierte. Das einzige was mir im Moment klar vor Augen lag, war, dass meine Freunde mich von den Brüdern fernhalten wollten. Nur, was hatten Ryder und Tyrone getan, um das zu rechtfertigen? Waren sie vielleicht eifersüchtig? Oder glaubten sie wirklich, dass die beiden irgendwelche Hintergedanken hatten? Und wenn ja, warum? An mir war nichts Besonderes, ich war wie jede andere hier und so hatten sie sich noch nie aufgeführt.

Je länger ich über die ganze Sache nachdachte, umso mehr Fragen taten sich. Am Ende des Kurses rauchte mein Kopf, aber von einer Antwort war ich noch meilenweit entfernt. Daher beschloss ich nach Kursende ein ernstes Gespräch zu führen. Allerdings musste ich mich auf das schwächere Glied stürzen. Lucy war so stur, dass sie eher unsere Freundschaft riskierte, als mal nachzugeben. Diego dagegen … der schuldete mir sowieso noch etwas, nachdem er mich heute bei Victoria verpetzt hatte.

Sobald der Professor die heutige Lesung für beendet erklärte, stopfte ich eilig meine Sachen in meiner Tasche und drängte mich an Lucy vorbei aus dem Saal. Ich musste schnell sein, wenn ich Diego alleine erwischen wollte. Das war vielleicht nicht gerade nett, aber was die beiden hier momentan abzogen, war auch nicht unbedingt die feine Art.

Meinen besten Freund auf dem weitläufigen Unigelände auswendig zu machen, erwies sich als sehr leicht, da wir uns immer auf den Stufen vom Verwaltungsgebäude trafen, einfach weil es sehr mittig lag.

Schon von weitem sah ich Diego auf seinem angestammten Platz sitzen. Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber je näher ich kam, desto deutlicher wurde es. Im Moment war war er nicht sehr glücklich. Und da ich wusste, dass es wegen mir war, fühlte ich mich auf einmal auch nicht mehr so gut. Aber ich würde jetzt sicher nicht klein beigeben, schließlich war ich hier das Opfer.

Als ich mich neben ihm auf die Stufe setzte, schaute er mir vorsichtig entgegen.

Einen Moment zögerte ich, einfach weil ich nicht genau wusste, wie ich anfangen sollte. „Das hättest du nicht tun dürfen“, sagte ich dann auch ganz direkt. Lange um den heißen Brei herumzureden, lag mir einfach nicht.

„Ich wollte dich nicht verletzten, Cayenne.“

„Aber genau das hast du getan.“ Und deswegen war ich auch so wüten, wurde mir klar. Nicht weil er Scheiße gebaut hatte, sondern weil ich enttäuscht war. Er hatte mich verraten und das tat einfach weh. „Du bist hinter meinem Rücken zu Victoria gegangen und hast ihr etwas erzählt, dass ich für mich behalten wollte.“

„Aber diese Jungs …“

„Das hat gar nichts mit Tyrone und Ryder zu tun“, unterbrach ich ihn grob. „Ich habe nichts gesagt, weil ich Lucy schützen wollte. Oder glaubst du meine Mutter wird begeistert sein, wenn sie erfährt, was passiert ist?“

Dazu schwieg er.

„Ja, ich bin sauer auf sie – und das zu recht – aber ich will sie doch nicht verlieren. Ich will keinen von euch beiden verlieren, doch wie ihr euch gerade aufführt … am liebsten würde ich euch nacheinander den Hals umdrehen.“

Diego seufzte.

„Ich will Antworten“, sagte ich dann auch ganz direkt. „Und keine Ausflüchte, verstanden?“

Für einen Moment sah er mich nur an. „Was willst du wissen?“

„Warum versucht ihr mich von Tyrone und Ryder fernzuhalten?“

„Weil wir deine Freunde sind und dich nur beschützen wollen“, sagte er geradeheraus. „Die beiden meinen es nicht gut mit dir.“

Ja, das war mir bereits ein paar Mal zu Ohren gekommen. „Und wie kommst du darauf?“

Einen Moment schien er mit sich zu ringen. Dann wandte er sein Blick in der Ferne. „Das ist nicht so leicht zu erklären. Ich weiß es einfach.“

Ich blieb stur. Mit einer solchen Antwort wollte ich mich nicht abspeisen lassen. „Und woher?“, bohrte ich weiter.

Seufzend lehnte er sich zurück und richtete seine Augen wieder auf mich. „Kannst du mir nicht einfach vertrauen?“

„Kannst du mir nicht einfach antworten?“

Lange schwieg er, saß einfach nur da und ließ den Mund verschlossen. Als er ihn dann öffnete, bekam ich nicht die Antwort, die ich hören wollte. „Nein.“

In diesem einen Wort steckte so viel, dass ich für einen Moment gar nicht wusste, was ich sagen sollte. Sprachlos saß ich einfach da, doch dann fasste ich mich wieder. „Schön!“, gab ich schließlich von mir und erhob mich von meinem Platz. „Bevor du mir nicht antwortest, haben wir uns nichts mehr zu sagen.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt, doch Diego hatte war noch nicht fertig.

„Ich werde nicht zulassen, dass du dich mit diesen Jungs weiter triffst, Cayenne. Das werden Lucy und ich nicht erlauben.“

Ich fuhr wieder zu ihm herum und funkelte ihn böse an. „Das wagst du nicht.“

Sein trauriger Blick zerriss etwas tief in mir. So hatte ich ihn noch nie gesehen. „Weißt du, ich hätte nie für möglich gehalten, dass du einmal Fremde deinen Freunden vorziehen würdest.“

Wie ein Geist spuckte mir dieser Satz den Rest des Tages im Kopf herum.

Das war unfair. Sie hatten den Scheiß gebaut und jetzt hatte ich das schlechte Gewissen. Klar, genau das war der Grund, warum er es gesagt hatte, aber trotzdem. Noch nie war ich so im Klinisch mit Lucy gewesen und es fiel mir echt schwer, sie den ganzen Tag um mich zu haben und nicht mit ihr über Elena herzuziehen.

Als es dann Zeit für den letzten Kurs des Tages wurde, war ich mit meinen Nerven mehr oder weniger am Ende. Dann war auch noch der Lesungssaal verschlossen, was bedeutete, dass die ganzen Studenten sich auf dem Korridor davor herumtrieben. Das war der Moment, in dem ich am liebsten einfach nach Hause gefahren wäre, um mich in meinem Zimmer zu verkriechen, nur um diesen Tag endlich hinter mir lassen zu können.

Lucy folgte mir schon wieder wie ein Schatten und erinnerte mich damit ununterbrochen daran, dass wir doch eigentlich die besten Freundinnen der Welt waren. Schon seit dem Kindergarten, in dem sie Lars eine verpasst hatte, weil er mir wieder und wieder meine Stifte weggenommen hatte. Mit dieser Aktion hatte sie den Keim unserer Freundschaft gesät. Doch jetzt schien er langsam zu verdorren.

Das gefiel mir nicht.

Ich schob die Gedanken an sie zur Seite, als Tyrone und Ryder in der Näher der Tür herumlungern sah. Wieder fiel mein Blick auf Ryders schwarze Shorts. Mann, selbst seine Beine fand ich attraktiv. Er sollte sich mal im Modelgeschäft versuchen, da würden er bestimmt reichlich abräumen. Die fleischgewordene Sinnlichkeit. Solche Kerle gehörten echt verboten.

„Sie schmachtete von weitem, doch das Unerreichbare blieb ihr trotzdem fern.“

Ich sah über die Schulter zu Elena. Sie wollte es heute wohl echt wissen. „Hast du nicht irgendeinen Lakai, den du nerven kannst?“

Elena überging das einfach und schlenderte an meine Seite. „Schlag ihn dir aus dem Kopf, er gehört mir.“

Beinahe hätte ich gelacht, aber ich konnte mich gerade noch zusammen reißen. „Glaubst du echt, dass er sich auf dein Niveau herunterlassen würde?“

„Mein Niveau ist höher als deines.“

„Und wie kommt es dann, dass er heute Morgen zu mir gekommen ist und deine Anwesenheit nicht einmal zur Kenntnis hat?“

„Mitleid, mehr nicht.“ Sie sah mich abschätzend an. Das kurze braune Haar hatte sie hinter die Ohren geklemmt und das Gesicht war mal wieder viel zu stark geschminkt. „Er musste sich um dich kümmern, er war schließlich der Grund dafür, dass deine Freundin dich niedergeschlagen hat.“

Das traf mich nicht. Ich wusste, dass es nur ein Versehen war, wenn auch ein schmerzhafter. „Wenigstens hab ich eine Freundin.“

„Ich hab mehr Freunde als du, und er“, - Sie deutete mit einem eindeutigen glitzern in den Augen auf Ryder - „wird auch bald zu ihnen gehören. Ich halte ihm sogar einen ganz besonderes Plätzchen frei.“

Mann, die ging mir echt langsam auf den Zeiger. „Soweit wird es nicht kommen.“

„Ach ja? Wie willst du dass bitte verhindern?“ Ihre Augen glitzerten Boshaft. Sie dachte wohl an den gleichen Moment, der auch mir durch den Kopf schoss, damals, in der Neunten. Wie ich sie dafür gehasst hatte.

Meine Gesichtszüge verhärteten sich. Der musste echt Mal jemand einen Dämpfer verpassen und ich hatte schon genau das richtige Werkzeug dafür. „Sie hin und weine.“

Ich ließ sie hinter mir und schlenderte lässig zu den Brüdern herüber.

Noch bevor ich sie ansprechen konnte, bemerkte Ryder meine Gegenwart und unterbrach das Gespräch mit Tyrone. Seine eingehende Musterung trieb mir einen Schauder über den Rücken. „Hallo Prinzessin.“

Ich war mir nicht ganz sicher, was ich von diesem Kosenamen halten sollte, aber wenn ihr ehrlich war, störte es mich nicht wirklich. „Schicke Shorts.“

„Danke.“

Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter und stellte zu meiner Befriedigung fest, dass Elena uns nicht aus den Augen ließ. Gut. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Was immer dein Herz begehrt.“

„Es hört sich vielleicht ein bisschen seltsam an“, gab ich zu bedenken und grinste auch Tyrone kurz an.

Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Glaub mir, ich bin so einiges gewohnt.“

Ich setzte das verführerischste Lächeln auf, das ich besaß. „Gut, dann küss mich.“

„Bitte?“ Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Er schien nicht weniger überrascht als sein Bruder, doch er fing sich wesentlich schneller. „Ist das dein Ernst?“

Er hielt das ganz offensichtlich für einen Witz, was ich verstehen konnte. Ich war keine von denen, die sich einem Jungen der ihnen gefiel sofort an den Hals warf, aber ich war mir sicher, dass ich Elena auf diese Art so richtig eins Auswischen konnte. Das hatte sie auf jeden Fall verdient. „Mein vollster Ernst.“

Für einen Moment sah er mir tief in die Augen, als fände er dort die Antworten des Lebens und runzelte abermals die Stirn. „Und du bist dir sicher, dass ich keine geknallt kriege, wenn ich das mache?“

„Jedenfalls nicht von mir.“

Er verstand die Anspielung auf Lucy, die unweit von uns entfernt mörderische Blicke in unsere Richtung abschoss. „Nun gut, wenn du das wirklich willst, werde ich mich deinem Wunsch beugen.“ Lächelnd trat er an mich heran, berührte meine Wange mit den Fingerspitzen und hinterließ eine prickelnde Spur auf meiner Haut.

Ich hatte schon Jungs geküsst, das war nichts Neues für mich, aber jetzt, als sein Gesicht dem meinen immer näher kam, hielt ich für einen kurzen Moment doch tatsächlich den Atem an. Als seine Lippen dann auf meine trafen, war das wie ein elektrischer Schlag, der alle meine Sinne erwachen ließ. Er war vorsichtig, ein wenig zurückhaltend, als sei er sich nicht sicher, wie weit er gehen durfte.

Seine Lippen waren weich und zugänglich. Ein aufregendes Gefühl machte sich in mir breit und als er sich nach meinem Geschmack viel zu schnell von mir trennte, hätte ich mich fast vorgebeugt, um das ganze noch ein wenig in die Länge zu ziehen.

Aber ich riss mich zusammen. Das was ich bekommen hatte, reichte für meine Zwecke. Elenas hochroter Kopf machte das mehr als deutlich.

„Danke“, sagte ich lächelnd und trat einen Schritt von ihm zurück. Dabei genoss ich einen Augenblick Elenas Wut, bis ich Lucy bemerkte, die aussah, als würde sie dem nächsten, der ihr über den Weg lief, den Kopf mit bloßen Händen abreißen.

Trotzig erwiderte ich ihren Blick.

„Du hast mich nicht um meiner Willen geküsst“, erkannte er ganz richtig.

Wie nett, ein Kerl der nicht auf den Kopf gefallen war. „Ich hab nicht dich, sondern du mich geküsst“, korrigierte ich ihn schmunzelnd und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Aber nein, ich wollte Elena nur auf den Boden der Tatsachen zurückholen.“

„Elena?“

„Sie hat dich auserkoren.“

„Für was?“

Wir sahen gleichzeitig zu ihr rüber. Sie tat so, als würde sie es nicht bemerken, aber der kleine Seitenblick verriet sie.

„Was glaubst du?“, fragte ich, statt zu antworten.

„Ich glaube, dass ich es gar nicht so genau wissen möchte.“ Er lächelte mich an und dieses Lächeln verschlug mir beinahe den Atem. Wieder einmal bemerkte ich diese unglaublichen Augen. „Aber wenn du ihr wieder Mal eins auswischen willst, sag nur Bescheid. Ich bin dabei.“

„Träum weiter Genosse, das war eine einmalige Kostprobe.“

„Was? Erst wirfst du mir den Knochen zu und dann verwehrst du ihn mir?“ Gespielt geschockt schaute er zu seinem Bruder, der das Ganze mit einem Stirnrunzeln beobachtet hatte.

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. „Diesen Knochen musst du dir schon verdienen.“ Wie waren wir auf Fleischreste gekommen?

„Das heißt ich bekomme noch eine Chance?“

„Verlass dich nicht darauf.“

Der Tutor für diesen Kurs tauchte im Flur auf und öffnete den schwatzenden Studenten die Tür. Ein Strom aus Leibern drängte in den Saal dahinter.

Ich wollte mich ihnen schon anschließen, aber da hielt Ryder mich schnell am Arm fest. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“

Frage? Verwundert zog ich die Augenbrauen zusammen. Hatte er mich was gefragt? Ich konnte mich nicht daran erinnern und so benebelt war ich von seinem Kuss nun auch wieder nicht. „Was für eine Frage?“

„Ob du Lust hast, heute was mit uns zu unternehmen.“

Da dämmerte es mir. Das hatte heute morgen wissen wollen, doch ich hatte ihm nicht antworten können, da Lucy ihm fast an die Gurgel gesprungen war. Automatisch drehte ich mich zu ihr um. Sie beobachtete uns immer noch.

„Meinst du, du schaffst es, dich von ihr loszumachen?“, wollte er wissen.

Das war eine ausgezeichnete Frage. Lucy folgte mir fast überall hin. Sie war wie mein zweiter Schatten und ich glaubte nicht, dass sie mich ohne Einwände einfach ziehen lassen würde. Aber warum machte ich mir darüber eigentlich den Kopf? Ich war sauer auf sie, sie hatte sich da gar nicht einzumischen. „Was haben wir denn vor?“

„Das wirst du schon sehen.“

„Das ist ziemlich wage.“

„Glaub mir, es wird dir gefallen.“

Ryder sagte das so überzeugend, dass ich ehrlich neugierig wurde. Ich wollte mit, aber ich brauchte einen Plan, um meinen Schatten loszuwerden. Die rettende Idee kam mir, als ich Julian bemerkte, der mit seinem Kumpel schwatzend im Lesungssaal verschwand. „Okay“, sagte ich und schaute wieder zu den Brüdern. „Aber dann müssen wir es gleich machen. Habt ihr einen fahrbaren Untersatz?“

„Unsere Motorräder stehen draußen“, sagte Tyrone und beteiligte sich damit zum ersten Mal an diesem Gespräch.“

„Wo?“, wollte ich wissen.

„Draußen auf dem Parkplatz.“

Das traf sich ausgezeichnet. „Dann lauft mal zu euren Maschinen und macht sie startklar, ich komme gleich nach.“

Ryder zog eine Augenbraue nach oben – menno, der konnte das ja auch. „Und den letzten Kurs schwänzen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Anders geht es nicht.“ Nur so würde ich Lucy lange genug aufhalten können, um hier unbemerkt zu verschwinden.

Die beiden Brüder tauschten einen Blick, dann grinste Ryder. „Aber lass uns nicht zu lange warten.“

„Ich werde mir Mühe geben.“ Ich hob die Hand und tat so, als wollte ich mich für heute von ihnen verabschieden. Dann verschwand ich im Vorlesungssaal.

Wie nicht anders zu erwarten, folgte mir Lucy, doch anstatt mich auf meinem Stammplatz zu setzten, suchte ich den Raum nach meinem Opfer Julian ab.

Er saß ziemlich Mittig und ich musste mich an ein paar Leuten vorbei drängeln, um zu ihm zu gelangen. Als ich mich neben ihm auf den Sitz plumpsen ließ und er mich sofort anlächelte, kam ich mir schon ein wenig schäbig vor, seine Schwärmerei für mich so auszunutzen. Aber wie hieß es so schön? Jeder war sich selbst der nächste und ich würde ja auch nichts unmenschliches von ihm erbitten. „Du musst etwas für mich tun“, sagte ich auch sofort ohne weitere Umschweife.

Interessiert lehnte er sich zurück und lächelte. „Ach ja, muss ich das?“

Wenn ich hier raus wollte, dann ja. Und um ihn davon zu überzeugen, gab es ein ganz einfaches Mittel. „Wenn du das machst, bin ich dir was schuldig.“

Damit hatte ich seine Aufmerksamkeit. „Was soll ich denn machen?“

Das war genau die Frage, auf die ich gewartet hatte. Zur Belohnung bekam er ein Lächeln von mir. „Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du Lucy ein Weilchen ablenken könntest.“

„Ablenken?“

„Ja, damit sie mir nicht folgen kann.“

Julian musterte mich unbehaglich. „Ich weiß ja, dass ihr euch gestritten habt, aber ich weiß nicht, ob ich da mit reingezogen werden will.“

„Komm schon, nur fünf Minuten, mehr Zeit brauche ich nicht. Du hast bereits zugesagt.“

„Was hast du denn vor?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ist eine Überraschung für mich.“

Er warf einen Blick auf meine Freundin und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Lucy ist ziemlich nachtragend und ich will eigentlich keine Probleme mit ihr bekommen.“

„Bitte Julian.“ Ich setzte meinen schönsten Schmollmund auf. „Tu es für mich.“

Sein tiefer Atemzug verriet mir, dass ich ihn überzeugt hatte. „Aber dafür schuldest du mir wirklich was.“

„Ja, sogar mit Zinsen, wenn du darauf bestehst.“

„Okay.“ Noch ein tiefer Atemzug. „Ich mache es.“

„Danke!“ Strahlend drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und erhob mich wieder von meinem Platz. Als ich mich mit vielen Entschuldigungen aus der Reihe herausarbeitete, folgte er mir auf dem Fuße. Ich freute mich richtig darauf etwas mit Tyrone und Ryder, weit weg von meinen Freunden, zu unternehmen, um den ganzen Stress einfach mal hinter mir zu lassen.

Ohne weitere Verzögerungen, steuerte ich auch direkt die Tür an. Julian dagegen setzte sich zu Lucy und begann damit sie vollzuquatschen, um sie daran zu hindern, mir sofort zu folgen.

Die kleine Ablenkung würde nicht lange vorhalten, das war mir bewusst. Deswegen beeilte ich mich aus dem Gebäude zu kommen.

Das Unigelände war um diese Zeit weitestgehend verlassen, genau wie der halbleere Parkplatz davor. Darum fiel es mir auch gar nicht schwer die beiden knatternden Motorräder nahe der Straße auswendig zu machen. Ryder und Tyrone waren bereits startklar.

Ich liebte es, wenn ein Plan funktionierte.

Die Motorräder der beiden waren prächtige Maschinen. Nicht diese kleinen Dinger, mit denen Sechzehnjährige durch die Gegend tuckerten und sich für richtig große Macker hielten, nein, das hier waren richtig große Geräte, mit viel Chrom, Lack und Leder. Und die beiden Kerle, die oben drauf saßen, waren auch nicht gerade ein Grund schreiend die Flucht zu ergreifen.

Ich war wirklich beeindruckt.

„Na los Prinzessin, schwing dich in den Sattel“, forderte Ryder mich auf. Seine stimmte klang durch das Visier seines Helmes ein wenig gedämpft.

„Bei so einer netten Einladung kann ich ja wohl schlecht nein sagen.“ Ich trat an sein Motorrad und schwang mich hinter ihn auf den Sitzt. Einen Moment überlegte ich, wo ich mich am besten festhielt und entschied, das Ryder selber wohl den besten Haltegriff abgab, den ich auf diesem Gerät würde finden können.

„Pass auf, dass du nicht an den Auspuff kommst“, warnte er mich. „Der wird echt heiß, und“, - er reichte mir einen zweiten Helm nach hinten, von dem ich nicht sagen konnte, wo er den plötzlich her hatte - „Sicherheit geht vor.“

„Wie Ihr befiehlt, Meister“, witzelte ich und wollte den Helm nehmen, da packte eine Hand meinen ausgestreckten Arm und hinderte mich daran. Im nächsten Moment flog der Helm im großen Bogen auf die Straße. Ein kleines Stück der Lackierung brach ab und glänzte mattschwarz im Sonnenlicht.

Im ersten Moment begriff ich nicht, was geschehen war, erst als jemand an meinem Arm zog, kapierte ich, dass es Diego war, der mich da festhielt und versuchte mich vom Motorrad runterzuholen.

Verdammt, wo kam der denn auf einmal her? Genau wie Lucy sollte er doch in seinem Kurs sitzen und sich auf die Abschlussprüfungen vorbereiten.

„Verdammt, was soll der Mist?“ Ich wehrte mich, schaffte es aber nicht, mich ihm zu entziehen. „Lass mich los.“

„Nein, du fährst mit mir.“

Plötzlich war da eine weitere Hand. Tyrone war von seiner Maschine abgestiegen und hatte Diego am Handgelenk gepackt. „Ich glaube, dass sie bei uns bleiben möchte.“

Diegos Augen verengten sich zu schlitzen. „Vorsicht, du weißt nicht, mit wem du es hier zu tun hast.“

Bei diesem grimmigen Ausdruck konnte Tyrone locker mithalten. „Oh glaub mir, wir wissen bestens über dich und Lucy Bescheid.“

„Dann wisst ihr auch, wozu wir fähig sind“, knurrte Diego ihn an. „Also Pfoten weg.“

„Hör sofort damit auf, Diego.“ Ich funkelte meinen besten Freund an. „Das hier geht dich nichts an, ich bin schließlich nicht dein Privatbesitz.“

„Aber du bist meine Freundin und ich habe dir gesagt, dass ich das nicht zulassen werde.“ Sein Blick war genauso unnachgiebig, wie sein Griff. „Als steig von dieser verdammten Maschine, wenn du nicht möchtest, dass ich dir herunterziehe.“

So ein verfluchter Mist.

Nun mischte sich auch Ryder ein. „Okay, ich denke das reicht. Cayenne, du solltest besser absteigen.“

Augenblicklich stellte ich meine Befreiungsversuche ein. Ungläubig sah ich Ryder an. „Was?“ Das konnte doch jetzt nicht sein Ernst sein. Die ganze Aktion umsonst? Ich hatte mich in Julians Schuld gebracht, dafür, dass er mich jetzt von seiner Maschine haben wollte? Aber warum auch nicht. Er kannte mich doch schließlich kaum. Für ihn war ich nur irgendein Mädchen, dass ihm mehr Ärger bereitete, als es wert war.

Verärgert drückte ich die Lippen aufeinander. „Schön!“, fauchte ich und schwang mich vom Sattel. „Ich hoffe du bist zufrieden!“, blaffte ich Diego an und befreite mich von ihm. Ich stieß Tyrone zur Seite, obwohl er ja eigentlich der Einzige war, der zu mir gehalten hatte und stampfte verstimmt davon.

Weit kam ich aber nicht, denn Diego folgte mir auf dem Fuße und griff wieder nach meinem Arm, um mich aufzuhalten. „Ich hab gesagt, du fährst mit mir.“

So ein Mistkerl. „Danke, aber ich kenne den Weg zu Bus, also nimm deine Pfoten weg.“ Ich zog an meinem Arm, aber er gab nicht nach.

„Das war keine Bitte, Cayenne.“

Ungläubig starrte ich ihn an. „Gibst du mir etwa Befehle?“

„Wenn es sein muss.“ Er zog mich zu seinem Wagen. Ich war so baff, dass ich es einfach zuließ und auch nichts sagte, als er mir die Beifahrerseite aufschloss und mich praktisch auf den Sitzt schubste, wo ich trotzig die Arme vor der Brust verschränkte. Ich konnte nicht glauben, was hier geschah. Das grenzte doch schon an Kidnapping. Als er dann neben mir saß und den Motor startete, überwand ich meinen inneren Schweinehund für einen Moment.

„Was ist mit Lucy? Die sitzt noch im Kurs.“ Da wo ich eigentlich auch sein sollte.

„Lucy kann alleine nach Hause fahren“, brummte er und lenkte den Wagen aus der Parklücke.

Das war echt ein Schlag ins Gesicht – ich musste es wissen, ich gerade erst einen abbekommen. „Ach, sie lässt du machen was sie will, aber bei mir führst du dich auf wie ein wildgewordener Pavian!“

„Sie ist nicht du“, sagte er schlicht und gab Gas.

Was sollte das jetzt nun wieder heißen? Seit wann machte er einen derartigen Unterschied zwischen Lucy und mir? War denn die ganze Welt verrückt geworden? Die Show, die er da eben abgezogen hatte, war nicht nur peinlich, sie war geradezu erniedrigend gewesen. Als wäre ich nichts weiter als ein dummes kleines Kind, dem man nicht zutrauen konnte mehr als zwei Schritte am Stück zu machen, weil es so unterbelichtet war.

Hatte ich heute morgen vor Wut gekocht, so stand ich nun kurz vor dem explodieren. Ja ich zitterte geradezu und hätte am liebsten auf etwas eingeschlagen, als ich sah wie Tyrone und Ryder im Rückspiegel immer kleiner wurden.

Das mein sogenannter bester Freund mir das angetan hatte, würde ich ihm nie verzeihen.

Es wurde keine sehr angenehme Fahrt. Natürlich bemerkte ich Diegos kleine Seitenblicke und auch den angespannten Zug um seinen Mund, aber ich beachtete es nicht. Noch nie in meinem Leben war ich so sauer auf ihn gewesen.

Als Diego eine halbe Stunde später auf der Auffahrt vor unserem Haus parkte, bekam ich auch fast noch Wutanfall, weil der Sicherheitsgurt sich nicht auf Anhieb öffnete.

„Warte, ich helfe …“

Ich warf ihm einen mörderischen Blick zu, der ihn wohl davor warnte mir im Augenblick zu nahe zu kommen. Nachdem was er sich gerade geleistet hatte, sollte er mir besser die nächsten hundert Jahre fern bleiben.

Als der Gurt sich endlich löste, war ich sowas von raus aus dem Wagen, doch als Diego dann auch noch Anstalten machte auszusteigen, funkelte ich ihn warnend an. „Denk nicht mal im Traum daran“, knurrte ich.

Ich lass die Unentschlossenheit in seinen Augen und für einen kurzen Moment glaubte ich, dass er etwas sagen wollte. Aber wieder besseren Wissens klappte er den Mund zu, ließ sich zurück in seinen Sitz sinken und drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Um ihm meine Wut noch zu verdeutlichen, knallte ich die Wagentür mit aller Kraft zu und stolzierte mit erhobener Nase ins Haus. Auch hier schlug ich die Tür etwas zu hart zu.

Aus dem weitläufigen Wohnzimmer, mit dem Panoramafenster zum Garten, kam ein erschrockener Laut. Keine zwei Sekunden später eilte Victoria auch schon in den Flur. „Cayenne, mein Gott hast du mich …“ Sie stockte einen Moment. „Ist alles okay mit dir?“

„Sehe ich aus, als wäre alles okay?“, fauchte ich sie an und schmiss wutentbrannt meine Tasche quer durch den Flur. Sie rutschte über den Marmorboden und knallte am anderen Ende gegen die Wand. „Und komm mir jetzt bloß nicht wieder mit deinem Blödsinn, von dir will ich im Moment auch nichts wissen!“

Ihre Sorge wurde zu offener Distanziertheit. „Ich weiß zwar nicht was passiert ist, aber …“

„Na dann sprich doch wieder hinter meinem Rücken mit Diego, das hat doch heute morgen auch super geklappt.“ Bevor sie noch etwas dazu sagen konnte, stampfte ich an ihr vorbei ins Wohnzimmer zur Terrassentür. Die riss ich so heftig auf, dass sie im Rahmen wackelte. Ich achtete nicht darauf, stampfte einfach weiter in den Garten.

Im Moment brauchte ich jemand, bei dem ich mich so richtig auskotzen konnte. Aber Victoria war scheiße, meine Freunde waren Idioten, Tyrone und Ryder waren Vollidioten und meine Mutter hielt es mal wieder nicht für nötig zu Hause zu sein. Wann war mein Leben noch mal so scheiße geworden?

Ach ja, gestern.

In meinem Zimmer würde ich es im Moment auch keine Sekunde aushalten, ohne die Wände hochzugehen, darum verschwand ich hinters Haus zu den vier Bäumen mit der Plattform. Dort ließ ich mich einfach ins Gras fallen, schlang die Arme um die Beine und legte mein Kinn darauf ab. Und auf einmal fühlte ich mich einfach nur noch einsam.

Ich konnte nicht verstehen, was daran so schlimm war, wenn ich meinen Freundeskreis etwas erweiterte. Es war ja nicht so, dass ich Serienmörder und Psychopathen mit nach Hause brachte und in meiner Freizeit Vandalismus betrieb. Ich hatte einfach nur einen netten Nachmittag verbringen wollen. Und das nicht mal unbedingt ohne Lucy und Diego. Wenn die beiden nur endlich wieder vernünftig werden würden, könnten wir uns doch problemlos zu fünft amüsieren.

Aber aus irgendeinem Grund drehten die beiden im Moment voll am Rad. Das Ryder und Tyrone da lieber einen Rückzug machten, konnte ich ihnen nicht mal wirklich verübeln. Wer ließ sich schon freiwillig in so eine stressige Situation ziehen, wenn er dem auch einfach entgehen konnte? Schließlich war ich für die beiden nur irgendeine Fremde. Sich mit Elena zu treffen, wäre vermutlich viel unkomplizierter.

Als in der Nähe ein leises Maunzen erklang, legte ich den Kopf in den Nacken und schaute nach oben zu der kleinen Plattform. Sie hatte eine offene Einstiegsluke, durch die ich gerade mit gelben Augen beobachtet wurde.

„Na du kleine Kratzbürste.“ Ich schnalzte ein paar Mal mit der Zunge.

Wieder wurde ich angemaunzt. Dann begann der schwarze Kater geschickt mit dem Abstieg über die alte Leiter. Stück für Stück kam er herunter. Nur die letzten zwei Meter sprang er einfach ins weiche Gras. Dann stolzierte er maunzend auf mich zu und schmiegte seinen Körper solange gegen mein Bein, bis ich eine Hand löste und damit begann ihn hinter den Ohren zu kraulen. Das gefiel ihm so gut, dass er sich kurzerhand neben mir ins Gras plumpsen ließ und die Streicheleinheit sichtlich genoss.

„Wenigstens einer, der nicht völlig durchgeknallt ist.“

Genießerisch schloss er die Augen und warf seinen Motor an.

Das war meine Kratzbürste Elvis. Er war schwarz mit halblangem Fell. Seinem Namen verdanke er der kessen Locke am Kopf, die mich immer an die Haartolle vom King of Rock erinnerte. Und genau wie ein Rockstar, war auch dieser Kater schon immer recht eigenwillig gewesen. Er kam und ging wie es ihm gefiel und nahm dabei keine Rücksicht auf besorgte Besitzer, die nach ihm suchen mussten, wenn er mal wieder für mehrere Tage verschwand.

Als auf der Straße zwei Motoren aufheulten und Elvis deswegen das Schnurren einstellte, warf ich einen genervten Blick durch den Zaun.

Direkt auf der anderen Seite hielten zwei Motorräder am Bordstein. Ich erkannte sie sofort, Ryder und Tyrone.

Verstimmt drückte ich die Lippen aufeinander. Ich hatte keine Ahnung, was das nun wieder sollte, aber ich erinnerte mich noch sehr genau daran, wie Ryder verlangt hatte, dass ich mich vom Acker machen sollte. Darum funkelte ich ihn auch an, als er sein Visier hochschob und sogar noch den Nerv besaß mir zuzuzwinkern.

Als Elvis sich plötzlich erhob, rechnete ich schon damit, dass er sich eilig aus dem Staub machen würde. Nicht nur wegen dem Lärm, den die beiden Jungs machten, Elvis mochte keine Fremden. Nein, das war falsch, Elvis mochte im Grunde niemanden. Doch jetzt musste ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass er direkt auf den Zaun zumarschierte, durch die engen Stäbe schlüpfte und sich trotz der dröhnenden Geräusche wie selbstverständlich Ryder nährte. Und als wäre das nicht bereits seltsam genug, schmiegte er sich doch tatsächlich an Ryders Bein. Der Kater, der selbst die Leute die ihn Fütterte, nicht an sich heranließ, ging zu einem Wildfremden, als sei es sein bester Freund. Das war wirklich faszinierend.

Als Ryder dann auch noch seine Hand ausstreckte und mein verrückter Kater sich von ihm streicheln ließ, stand meine Welt plötzlich Kopf. Elvis war noch nie zu jemand außer mir zutraulich gewesen.

Stirnrunzelnd erhob ich mich und trat an den Zaun. Als ich das Gitter mit den Händen umschloss, schaute Ryder zu mir auf.

„Ist das deiner?“

„Katzen haben keine Besitzer, sie besitzen“, sagte ich, als wäre es eine Glückskeksweisheit.

„Wohl wahr“, grinste er.

Als auch Tyrone sein Visier hochklappte, plusterte Elvis sich auf, fauchte und rannte eilig zurück in unseren Garten, wo er sofort nach oben ins Baumhaus verschwand. Na bitte, das war der Kater den ich kannte.

„Du hast ihn verscheucht“, sagte Ryder vorwurfsvoll zu Tyrone, der nur gleichgültig mit den Schultern zuckte.

„Katzen mögen mich halt nicht.“

„Woran das wohl liegt.“ Ein wissendes Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Elvis mag niemanden“, warf ich ein, und lenkte Tyrones Aufmerksamkeit damit auf mich.

„Er mag dich.“

Irgendwas an seinen Worten gefiel mich nicht. Seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton, den ich nicht zuordnen konnte.

„Vergessen wir die Katze“, sagte Ryder. „Kommst du jetzt raus, oder sollen wir warten, bis wir wieder erwischt werden?“

Da seine Worte im ersten Moment keinen Sinn ergaben, brauchte ich eine Sekunde, um sie zu verstehen. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Warst du nicht der Mistkerl, der mich praktisch von seinem Motorrad verband hat?“

„Wenn man nicht gewinnen kann, sollte man wenigstens dem Anschein nach nachgeben und es später noch einmal versuchen.“

„Du konntest nicht gewinnen?“

Ryder und Tyrone begannen beide zu grinsen, wobei Tyrone noch versuchte, sich ein wenig zurückzuhalten.

„Was ist daran so witzig?“

„Du Prinzessin“, lächelte Ryder. „Wenn es nach mir gegangen wäre, lege Diego jetzt mit einer gebrochenen Nase im Krankenhaus, aber ich habe geglaubt, dass das nicht so ganz in deinem Sinne wäre, also habe ich nachgegeben.“

„Und jetzt bist du hier, um die Jungfrau in Nöten aus den Fängen der Unterdrücken zu befreien?“

„Wenn die Jungfrau das möchte.“

Darüber musste ich erst mal gründlich nachdenken. Es war nicht so, dass ich an einem kleinen Ausflug mit ihnen kein Interesse mehr hatte, aber wer versicherte mir denn, dass sie es sich mittendrin nicht wieder anders überlegten?

Andererseits war ich neugierig und musste eigentlich schon allein aus Trotz mit ihnen gehen, einfach um Diego zu zeigen, dass er so nicht mit mir umgehen konnte. Ich war schließlich nicht sein Besitz und er hatte mir keine Vorschriften zu machen. Er konnte Veto einlegen und mit mir diskutieren, aber mich herumzuschubsen ging einfach zu weit.

Der rebellische Teil in mir erhob würdevoll sein Haupt und spornte mich dazu an, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und mich ins Abenteuer zu stürzen.

„Also, was ist nun?“ Erwartungsvoll winkte Ryder mich zu ihnen.

Okay, wenn ich schon in die Hölle kam, dann wenigstens mit ein bisschen Spaß. „Wartet kurz.“

Da der Zaun, der unser Grundstück umschloss, mehr als drei Meter hoch war, konnte ich nicht einfach mal so rüber steigen, sondern musste den Ausgang benutzen. Nicht den Haupteingang, sondern den Seiteneingang, durch den ich auch gestern Abend verschwunden war. Aber um den zu benutzen, brauchte ich den kleinen Schlüssel aus meiner Handtasche und die lag oben in meinem Zimmer.

Sich unbemerkt an dem Wachhund Victoria vorbeizuschleusen, war beinahe unmöglich, deswegen versuchte ich es gar nicht erst. Ich ging einfach ins Haus hinein, beachtete sie nicht weiter, als sie den Kopf aus der Küche stecke und verschwand nach oben in meinem Zimmer. Dort musste ich aber erst ein wenig nach meine Handtasche suchen, weil ich mich nicht daran erinnern konnte, wo ich sie hingelegt hatte. Ich fand sie neben meinem Bett.

Der Schlüssel war schnell an mich gebracht, aber dann zögerte ich. Wenn ich jetzt wieder in den Garten ging, würde Victoria vielleicht neugierig werden und mir folgen. Immer ein Aufpasser im Nacken zu haben, war wirklich lästig. Ich musste wissen, wovon ich sprach, denn irgendwie war da immer jemand, der mich im Auge behielt. Zu Hause war es unser Hausmädchen, unterwegs Diego und Lucy und vor meinem zwölften Lebensjahr hatte ich meinen Babysitter Joel gehabt, der mir auf Schritt und Tritt gefolgt war.

Vielleicht hatte ich deswegen diesen unbändigen Drang auszubrechen und die Ketten die mich fesselten zu sprengen, um meine Flügel auszubreiten. Mein Gott, ich war mittlerweile neunzehn Jahre alt, da sollte man mir doch ein wenig gesunden Menschenverstand zugestehen. Und trotzdem erwischte ich mich zwei Minuten später mal wieder dabei, wie ich heimlich das Spalier vor meinem Fenster herunterkletterte und dann eilig durch den Garten zum Hintereingang schlich.

Flink ließ ich mich selber heraus, eilte dann um die Ecke zu den beiden Jungs, die noch immer am Bordstein standen und auf mich warteten. Ich zögerte nicht, schnappe mir nur den Helm, den Ryder mir bereits entgegenhielt und schwang mich dann hinter ihn auf das Motorrad. Ich setzte mir den Deckel auf den Kopf, stellte die Beine hoch und schlang meine Arme um Ryders Taille.

„Halt dich gut fest“, verlangte er und schob sein Visier herunter. Er ließ den Motor ein paar Mal aufheulen, bevor der das Gas betätigte und endlich losfuhr.

Ein Ruf nach mir, ließ mich noch einmal zum Haus zurückschauen. Der Lärm hatte Victoria herausgelockt. Grinsend winkte ich ihr noch zum Abschied zu, dann bretterten wir auch schon die Straße hinunter.

 

°°°°°

Nächstenliebe

 

Wie ein Äffchen klammerte ich mich an Ryder und bangte darum, nicht in den nächsten Baum zu krachen, was bei einem Wald für dauerhaftes Herzrasen sorgen konnte. Bei jeder Bodendelle und Wurzel hüpfte mein Magen hoch, nur um dann gleich wieder eine Etage tiefer zu purzeln. Ich hatte keine Ahnung wo genau wir uns befanden. Die Straßen und Wege die Ryder und Tyrone genommen hatten, waren mir ab einem bestimmten Zeitpunkt unbekannt gewesen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob wir uns überhaupt noch in der Stadt befanden.

Als Tyrone dann auch noch seinen Motor hochjagte und Ryder auf die Herausforderung ansprang, war ich kurz davor, ihm einfach hysterisch ins Ohr zu kreischen, um den beiden zu verdeutlichen, was ich von einem Wettrennen mitten im Wald hielt. Und doch war ich geradezu verzückt. Ich tat nichts außer zu sitzen und mich festzuklammern, aber das Adrenalin rauschte nur so durch meine Adern, als müsste ich in diesem Tempo diese Höllenmaschine zwischen den Bäumen hindurch lenken. Selbst als die Jungs dann auf einer kleinen schattigen Waldlichtung anhielten und die Motoren abschalteten, wollte mein Puls sich nicht beruhigen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz sich gleich selbständig machen und schreiend vor mir davon laufen würde. Das nannte man dann wohl eine Höllenfahrt.

Ryder zog sein Helm vom Kopf. Auf seinen Lippen lag ein breites Grinsen. „Du kannst mich jetzt loslassen, wir sind da.“

„Ich weiß“, sagte ich nur, aber meine Arme wollten sich nicht so einfach von ihm lösen.

Er musterte mich besorgt. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ja klar, gib mir nur noch einen Moment.“ Vielleicht beruhigte sich mein Herz sich ja dann ein bisschen.

„Ah, verstehe“, lächelte er. „Du gehst noch ein bisschen auf Tuchfühlung.“

„Träum weiter.“ Ich zwang meine Arme von seiner Taille und versuchte noch im Sitzen mir den Helm vom Kopf zu ziehen. Keine gute Idee. Ich verlor mein Gleichgewicht und wäre wohl einfach von der Maschine gekippt, wenn Tyrone nicht plötzlich hinter mir gestanden und mich an den Schultern gepackt hätte.

„Immer schön langsam“, sagte er und half mir herunter, bevor er sich daran machte, das Ding von meinem Kopf zu bekommen.

„Danke.“ Ich strich mir meine Haare aus dem Gesicht, warf meinen Zopf über die Schulter und lächelte. Dabei bemerkte ich, dass Tyrones Halsausschnitt ein wenig verrutscht war. Die Haut, die er sonst darunter verbarg, wirkte irgendwie … komisch. Zu hell, zu glatt und leicht uneben.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, was ich da sah. Beinahe automatisch legte ich meine Hand auf meinen linken Oberschenkel.

„Also, wenn du nicht aufhörst ihn so anzustarren, muss ich noch eifersüchtig werden“, scherzte Ryder und schwang sich selber von seiner Maschine.

Ertappt schaute ich zu ihm und dann gleich wieder zurück. „Tut mir leid, ich habe nur gerade etwas … äh … gesehen.“

Tyrone zog eine Augenbraue nach oben. „Gesehen?“

„Die Brandwunde.“ Ich zeigte auf sein Halsausschnitt. „Dein Shirt ist verrutscht.“

Mit einem Mal wurde er ein wenig distanziert und zupfte sofort sein Hemd zurecht.

Ich konnte es ihm nachfühlen. Ich selber versteckte meine hässliche Narbe auch vor der Welt. Ja meisten versteckte ich sie sogar vor mir selber, weil ich sie weder sehen, noch mich an die Schmerzen erinnern wollte, die ich damals erlitten hatte.

„Schau mich nicht so an“, murmelte Tyrone und legte seinen Helm auf Ryders Motorrad ab.

Ich versuchte wieder mal das mit der Augenbraue – klappte nicht. „Wie schau ich dich denn an?“

„Mitleidig.“

Ja, aber höchstens, weil ich Mitleid mit mir selber hatte. Ich hasste meine Brandnarbe.

„Mit dem brauchst du nun wirklich kein Mitleid haben“, gab Ryder seinen Senf dazu und legte seinen Helm neben dem seines Bruders. „Die Verletzung hat der Schwachkopf selber zu verantworten.“

Das war aber nicht nett. „Warum?“

„Weil er unbedingt in ein brennendes Haus rennen musste, um den Helden zu spielen. Leider ist er dabei nicht ganz unbeschadet aus dieser Sache raus gekommen.“

„Ich bin kein Held“, brummte Tyrone und funkelte seinen Bruder an.

„Gut, dann bleibe ich halt bei Schwachkopf.“

„Ach leck mich doch.“

„Nein, das überlasse ich lieber den Mädels.“

Okay, das fand ich jetzt irgendwie witzig.

Missmutig suchte Tyrone sich ein Plätzchen im Gras und ließ sich einfach drauf plumpsen. Das machte er ganz genauso, wie Lucy das immer tat. Warum musste ich ausgerechnet jetzt an sie denken? Ich wollte ein bisschen Spaß haben und keine Schuldgefühle.

„Also gut“, sagte Ryder dann. „Wo wir die Stimmung nun schon aufgelockert haben, was sagst dazu?“

Ich ließ kurz meinen Blick schweifen, fand aber nichts, außer ein paar Bäumen. „Was sage ich wozu?“

„Na zu dem hier.“ Er machte eine weite Geste, die alles um uns herum einschloss. „Unserem magischen Ort.“

Ich sah mich erneut um. Eine einfache Wiese, mit ein paar Wildblumen, umschlossen von einem endlosen Gewächs von Bäumen. In einiger Entfernung konnte ich sogar den Lärm von der Schnellstraße hören. Für mich sah das hier nicht nach etwas besonderem aus, es war einfach nur eine kleine Lichtung. „Was ist hier dran magisch?“

„Er zieht dich nur auf“, mischte Tyrone sich ein. „Das hier ist einfach nur eine Wiese, voller ekliger Käfer, dreckiger Würmer und sehr viel Vogelscheiße.“ Wie zum bestätigen seiner Worte, schnipste gegen einen Dreckkrümel, der Ryder am Bein traf.

Seine Worte brachten mich zum Grinsen. „Ah, verstehe. Er sieht aus wie ein Engel, hat aber ein ziemlich dreckiges Maul.“

Ryder grinste zustimmend.

„Und du siehst aus wie … hm.“ Ich sah den großen Kerl, mit den schwarzen Haaren an, aber mir wollte irgendwie nichts Passendes einfallen.

„Adonis?“, schlug Ryder vor.

„Oh je, da hat aber jemand ein ziemlich aufgeblasenes Ego.“ Nicht dass ich ihm nicht zustimmen würde, er war immer noch ein ziemlicher Leckerbissen. Aber das musste ich ihm ja nicht auch noch unter die Nase reiben. Sein Ego war – wie bereits erwähnt – schon groß genug. „Passt du damit überhaupt noch durch die Tür?“

„Ha ha, sehr lustig.“

Tyrones Ausdruck veränderte sich von einem Moment auf den Anderen. Der traurige Welpenblick verschwand und machte einem Hauch von Erheiterung Platz. Und dann lachte er leise. Das war das erste Mal, dass er das in meiner Gegenwart tat und es ließ ihn gleich viel entspannter wirken.

Das war geradezu ansteckend, sodass auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte.

„Sehr schön“, unterbrach Ryder uns ungeduldig. „Jetzt wo wir uns alle auf meine Kosten amüsiert haben, schlage ich vor, dass wir langsam mal anfangen.“

Ah, jetzt kam wohl die Überraschung. Ich war gespannt. „Womit fangen wir denn an?“

„Mit deinem Training.“ Er baute sich vor mir auf. „Also los, schlag mich.“

Für einen Moment glaubte ich, mich verhört zu haben, aber dann war ich mir sicher, er hatte gerade um Schläge gebeten. „Warum sollte ich das tun?“

„Damit du dich in Zukunft verteidigen kannst, wenn es nötig ist.“

Ich verstand immer noch nicht, was er von mir wollte. Vielleicht stand ich einfach nur auf der Leitung, aber die Hand gegen ihn zu erheben, widerstrebte mir. Er hatte mir doch gar nichts getan.

Ryder schien mein Unbehagen zu spüren. „Keine Sorge, du tust mir schon nicht weh.“

Er fing meinen spöttischen Blick auf.

„Nun komm schon, ich hab dir doch gesagt, dass ich dir beibringen werde, dich zu verteidigen und ich würde mein Versprechen gerne einhalten, aber dazu brauche ich dich. Also los, hau zu.“

Und da machte es endlich klick – Gott, mein Hirn musste von Lucys Schlag schwerer geschädigt worden sein, als ich bisher angenommen hatte. Das hatte er gestern Abend vor meinem Haus zu mir gesagt, nur irgendwie hatte ich das nicht ernst genommen. „Ich kann dich nicht einfach schlagen, so was mache ich nicht.“ Unbehaglich verschränkte die Arme vor der Brust.

Sein Lächeln erstarb augenblicklich und plötzlich wirkte er echt bedrohlich. Ich wusste nicht, ob ich etwas Falsches gesagt hatte, aber irgendwie musste ich ihn ziemlich verärgert haben. Seine Muskeln an den Armen spannten sich an, dann holte er aus und im nächsten Moment sauste seine Faust geradewegs auf mein Gesicht zu.

Vor Schreck stieß ich einen spitzen Schrei aus, kniff die Augen zusammen und wartete auf den Schmerz. Und wartete und wartete und … es geschah nichts. Darum öffnete ich sie vorsichtig einen Spalt und erblickte seine zusammengeballte Hand direkt vor meinem Gesicht. Schon ganz automatisch wich ich eine Stück davor zurück und funkelte ihn an. „Was soll das denn bitte?“

„Das war nur zu Demonstrationszwecken.“ Der Trottel hatte wirklich den Schneid, mir auch noch zuzuzwinkern.

Okay, erstmal tief durchatmen, er hatte nicht wirklich vorgehabt mich zu schlagen. Trotzdem hatte ich mit einem Mal das unbändige Bedürfnis, ihm eine zu Scheuern – allein schon aus Prinzip.

„Nicht so grob Ryder“, mahnte Tyrone. „Sie ist doch nur ein Mädchen.“

„Ja genau“, stimmte ich ihm zu. „Nicht so grob, ich bin doch nur ein Mädchen.“ Ich stockte. Halt, Moment, was hatte ich da gesagt? „Hey, hast du mich gerade beleidigt?“

Ryder schmunzelte. „Okay Schluss jetzt mit dem Geplänkel, schlag endlich zu.“ Erneut baute er sich vor mir auf, bereit jede Attacke sofort abzuwehren.

Okay, wenn er so wollte, dann konnte er es haben. Nachdem er mich so erschreckt hatte, wollte ich nichts lieber tun. Ich holte aus, ballte meine Hand zur Faust und schlug ihm gegen den Arm.

Völlig perplex starrte er mich an. Hatte er nicht damit gerechnet, dass ich es machen würde? Hatte ich zu fest geschlagen?

„Was bitte war das?“, fragte er mit. Der Spott triefte geradezu aus seine Stimme.

Nichts dergleichen, wurde mir klar, er amüsierte sich nur auf meine Kosten. „Ich hab dich geschlagen“, sagte ich beleidigt und verschränkte wieder die Arme vor der Brust.

„Wann?“ Je länger er mich ansah, umso breiter wurde sein Grinsen.

Na toll, jetzt machte er sich ganz offen über mich lustig. „Du brauchst deine Schmerzen nicht zu überspielen“, sagte ich überheblich. „Es ist ganz offensichtlich, dass ich dir wehgetan habe.“

Tyrone fing wieder an zu lächeln. Tja, Sarkasmus brachte mich hier wohl auch nicht weiter.

„Äh … ja. Okay. Versuchen wir es anders.“ Ryder überlegte kurz. „Wen auf der Welt gilt dein Hass am allermeisten?“

Das war eine einfache Frage. „Elena Czok.“

„Gut, dann stell dir jetzt vor ich bin Elena und dann mach das, was du gerne tun würdest.“

Ein glitzern trat in meine Augen. Da fiel mir auf Anhieb eine Menge Dinge ein, aber eine stach ganz besonders daraus hervor. „Hast du eine Schere?“

„Eine Schere?“ Verwirrt verengten sich seine Augenbrauen zu einer.

„Ja, Elena liebt ihre Haare“, erklärter ich. „Wenn ich sie abschneiden würde, würde sie das vernichten.“

Schnaubend schüttelte Tyrone den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. „Mädchen“, war sein einziger Kommentar.

„Da ist was Wahres dran“, bestätigte Ryder und sah mich ein Weilchen nachdenklich an. „Okay, du darfst nicht wie ein Mädchen denken“, erklärte er schließlich.

„Aber ich bin ein Mädchen“, gab ich zu bedenken.

„Und was für eins“, witzelte Tyrone.

Ryder verdrehte die Augen. „Gut“, nahm er den Faden wieder auf. „Kein Haare abschneiden, kein kratzen, oder beißen. Stell dir vor, du bist ein Kerl, ein richtiger nämlicher Mann, dem das Testosteron nur so aus allen Poren trieft und dann schlag zu.“

„Kann ich nicht.“

Langsam schien Ryder zu verzweifeln. „Warum nicht?“

„Weil, wenn ich ein Junge wäre, würde ich keine Mädchen schlagen.“

„Aber ich bin doch kein Mädchen.“

„Du hast gesagt, ich soll mir vorstellen, dass du Elena wärst und so ungern ich das auch zugebe, dass eine solche Person zu meinem Geschlecht gehört, Elena ist ein Mädchen.“

Stöhnend rieb Ryder mit den Händen über sein Gesicht „Du machst mich echt fertig.“

Nun war es an der Zeit, dass ich frech grinste und Tyrone, na ja, ich glaubte, dass er sich in seinem Leben noch nie so köstlich amüsiert hatte. Aber es freute mich, dass ihn mal ein bisschen aus der Reserve locken konnte.

„Gott, Ryder“, witzelte er. „Werd bloß nie Lehrer.“

„Hör auf mich zu kritisieren“, brummte Ryder seinen Bruder an. „Oder kannst du es besser?“

„Klar kann ich das.“ In einer geschmeidigen Bewegung, die ich einem so muskulösen Kerl gar nicht zugetraut hätte, kam er auf die Beine und stellte sich vor mich. „Gib mir dein Arm“, forderte er mich schmunzelnd auf.

Wie verlangt, hielt ich ihm meinen Arm hin.

Tyrone ergriff mich am Handgelenk. Nicht gerade fest, doch ziemlich unnachgiebig, genauso wie Diego es vorhin vor der Uni getan hatte. „Und jetzt versuch dich zu befreien.“

Ich tat es, aber es war natürlich zwecklos. Ich zerrte und zog so doll ich konnte und versuchte sogar seine Finger wegzubiegen, aber gegen seine Kraft hatte ich nicht den Hauch einer Chance. „Geht nicht“, sagte ich irgendwann und gab mich damit geschlagen.

Tyrone gab mich frei und hielt mir dann seinen Arm hin. „Jetzt halt du mich fest.“

Oh, das konnte er haben. Ich nahm sein Handgelenk, hielt ihn so fest wie ich konnte, nicht gewillt, mir so schnell die Blöße zu geben. Ich wusste, dass er sich befreien würde, logisches Denken. Das männliche Geschlecht hatte im Allgemein nun mal mehr Kraft als das weibliche. Das war einfach eine Tatsache, aber ich wollte es ihm nicht zu leicht machen. Umso deprimierter war ich, als er sich in Sekundenbruchteilen mit nur einer einzigen Drehung seines Arms, von mir freimachte.

„Kraft alleine bringt dir gar nichts“, erklärter er mir. „Die Technik macht es. Greif noch mal zu und dann schau genau hin.“

Ich tat es. Dann demonstrierte er mir im Zeitlupentempo, wie er seinen Arm ohne jegliche Anstrengung einfach aus meinem Griff herausdrehte. Das sah gar nicht so schwer aus. Drei Mal führte er es vor, dann überließ er es mir, mich aus seinen Fängen zu befreien. Nach fünf Minuten kapierte ich die Bewegung, nach zwanzig Minuten entwand ich mich problemlos seines Griffs und nach einer halben Stunde zog ich die beiden damit auf, dass sie es nicht mehr schafften mich festzuhalten. Wegen der ewigen Reibung, brannte meine Haut am Handgelenk wie Hölle, aber das war es mir wert. Nun würde Diego mich nicht noch einmal einfach so vom Fleck weg kidnappen können.

Doch das war nicht alles, was mir die beiden zeigten. Tyrone erklärte mir noch, dass Rückzug manchmal die beste Verteidigung war und lehrte mich leichte Schläge abzuwehren und auszuteilen. Den Ernst an der ganzen Sache wurde jegliche Nahrung genommen, da Ryder sich pausenlos über uns lustig machte, solange bis Tyrone sich auf ihn stürzte und ihn niederrang. Erst nach Ryders kläglichen Erbarmen-Rufen, ließ Tyrone von ihm ab und nun war es an ihm, seinen adoptierten Bruder aufzuziehen.

Ryder ließ sich geschlagen ins Gras fallen und streckte alle Viere von sich, während Tyrone sich an dem Fach unter dem Sattel seines Motorrads zu schaffen machte und drei Flaschen Wasser hervorzauberte. Die eine reichte er mir, die Zweite warf er neben seinem Bruder ins Gras und mit der Dritten setzte er sich zu uns.

„Danke“, sagte ich und schraubte sie auch sofort auf. Die Temperaturen waren noch immer weit über dem Normalmaß und das ganze Rumgeboxe und Abwehren hatte mich ganz schön aus der Puste gebracht. Aber nicht nur mir ging es so. Die Rangelei zwischen den beiden, ließ auch sie nicht mehr ganz so frisch aussehen und Ryder musste erst mal tief Luft holen, um wieder richtig zu Atem zu kommen.

„Wenig Kondition, wie?“, spottete ich und setzte die Flasche an meinen Mund. Das Wasser darin war zwar warm, aber zum Durstlöschen reichte es allemal.

„Und das muss ich mir von der mit dem blauen Auge anhören.“

Ich hob den Finger, um ihm zu verdeutlichen, dass er sich mit der Erwiderung einen Moment gedulden musste, bis ich die Flasche wieder abgesetzt hatte. „Das mit dem Auge hat nichts mit meiner Kondition zu tun, sondern mit meinem langsamen Reaktionsvermögen, zurückzuführen auf zu viel Alkoholkonsum“, gab ich dann ziemlich altklug von mir.

„Das solltest du nicht zu laut in die Welt hinaus schreien.“ Mit seinem T-Shirt, fächelte er sich Luft zu, aber ich glaubte nicht, dass das wirklich etwas brachte. „Man ist mir heiß.“

„Und das, obwohl er sich kaum bewegt hat“, grinste Tyrone leise und schraubte seine eigene Flasche auf.

„Oh“, stöhnte Ryder. „Ich glaub ich werde langsam alt.“

Skeptisch schaute ich zu Tyrone. „Ist der immer so melodramatisch?“

Der blonde Bruder schüttelte den Kopf. „Nein, meistens ist er schlimmer.“

Dafür warf Ryder ihm einen bösen Blick zu.

„Was den? Ich sage nur die Wahrheit.“

„Du solltest lieber still sein, sonst erzähle ich hier mal ein paar Wahrheiten über dich“, grummelte Ryder, entlockte seinem Bruder damit aber nur ein kleines Schmunzeln.

„Siehst du“, sagte Tyron zu mir. „So und noch viel schlimmer.“

Ryder schubste seinen Bruder und schmiss ihn damit fast um. Das konnte Tyron natürlich nicht auf sich sitzen lassen und schubste gleich zurück.

Da sah man es mal wieder. Die beiden waren lustig und hatten auch die einen oder anderen Flausen im Kopf. Warum konnten Lucy und Diego das nicht sehen? Ja, ich wusste schon, weil die beiden es ihrer Auffassung nach nicht gut mir mir meinten, aber warum das so war, das erklärten sie mir nicht. Ja, sie machten geradezu ein Geheimnis daraus und wenn ihr ehrlich war, machte mich das wahnsinnig.

Aber wenn ich gerecht sein wollte, dann musste ich auch hinzufügen, dass Ryder und Tyrone sich den beiden gegenüber auch nicht gerade zuvorkommend benahmen. Gut, wenn man die ganze Zeit so feindlich angemacht wurde, konnten sich einem schon mal die Stacheln aufstellen. Besonders Ryder schien keine Gelegenheit ungenutzt lassen zu können, um Lucy zu provozieren. Das war fast wie in der dritten Klasse, als die Jungs den Mädchen an den Haaren gezogen hatten, um ihnen zu zeigen, dass sie sie mochten.

Vielleicht war das ja das ganze Problem.

Da meine Freunde ja nicht bereit waren mit mir zu sprechen, ging ich der ganze Sache am Besten einmal von dieser Seite auf den Grund. „Darf ich euch mal was fragen?“

Beide unterbrachen sich.

„Immer doch, Prinzessin“, sagte Ryder und schubste seinen Bruder noch ein letztes Mal zur Seite.

Wie ich das Prinzessinnengequatsche finden sollte, war mir noch nicht ganz klar. Die Frage an der Stelle war doch, meinte er das als Kompliment, oder hielt er mich für eine verzogene Göre? „Du hast gesagt, dass ihr Lucy und Diego nicht kennt, aber wenn ihr aufeinander trefft und euch ankeift, dann habe ich immer das Gefühl, dass da viel mehr im Argen liegt, so als hättet ihr eine gemeinsame Vergangenheit.“

Nach wie vor hielten beide Blickkontakt mit mir, aber etwas veränderte sich. Die Stimmung war nicht mehr ganz so entspannt, als wären die beiden plötzlich auf der Hut vor mir

„Habt ihr nicht mal Lust mir das Ganze zu erklären? Ich bin nämlich wirklich wahnsinnig neugierig.“

Tyrone klopfte ein paar Mal mit dem Finger auf den Deckel seiner Flasche. „Da gibt es nichts zu erklären.“

„Ach wirklich nicht? Dann ist ein solches Verhalten für euch also völlig normal?“

„Was Tyrone damit sagen möchte“, mischte Ryder sich ein, bevor sein Bruder noch mal den Mund aufmachen konnte. „Wie sagt man das am Besten. Dir ist das doch bestimmt auch schon mal passiert. Du lernst jemand neuen kennen, wirfst nur einen Blick auf ihn und kannst ihn auf Anhieb nicht ausstehen.“

Ja, das war mir nicht fremd, aber … „Das ergibt keinen Sinn. Diego sagt, dass ihr etwas im Schilde führt und unsere Bekanntschaft kein Zufall war.“ Genaugenommen hatte er behauptet, dass die Beiden es auf mich abgesehen hätten.

Ryder runzelte die Stirn. „Was soll es denn sonst gewesen sein?“

Ich zuckte mir den Schultern. „Keine Ahnung, aber die beiden beharren darauf, dass ihr es nicht gut mit mir meint und ich würde gerne wissen, warum sie das glauben.“

„Frag sie doch einfach.“

Sehr witzig. „Meinst du nicht, dass mir diese Idee nicht schon alleine gekommen ist? Aber sie wollen nicht mit mir reden.“

Ryder seufzte. „Ganz ehrlich, ich habe nicht den blassesten Schimmer, was in den Köpfen deiner Freunde los ist. Wir haben sie gestern das erste Mal gesehen. Du warst doch selber dabei. Lucy ist wie eine Furie auf mich losgegangen, nicht umgekehrt. Und warum sie das Gerücht in die Welt setzen, dass wir in Bezug auf dich Hintergedanken haben, kann ich dir auch nicht sagen. Wir mögen dich einfach, mit dir kann man Spaß haben, dass ist alles.“

Das kaufte ich ihm nicht ab und das hatte auch seinen Grund. „Vorhin vor der Uni hat Tyrone aber etwas ganz anderes gesagt.“ Ich schaute den blonden Bruder direkt an. „Du meintest, ihr wisst bestens über Diego und Lucy Bescheid. Was hast du damit gemeint?“

„Das was Elena uns erzählt hat“, sagte Tyrone schnell. Zu schnell für meinen Geschmack. Das ganze wirkte einstudiert, als hatte sie sich die Antworten vorher zurechtgelegt, falls diese Fragen aufkamen. Auf einmal hatte ich ein ganz merkwürdiges Gefühl. Es war nicht unangenehm oder so, ich hatte einfach das Gefühl, dass mir etwas entging. Es nagte an mir, aber ich konnte nicht mit dem Finger drauf deuten.

„Sie ist nicht gerade ein Fan von euch“, fügte Ryder noch hinzu. „Und bevor ihr gestern im Small Break aufgetaucht seid, haben wir schon eine Weile gewartet und uns mit ihr unterhalten. Sie hat die ganze Zeit über euch gelästert, besonders über dich.“

Das hingegen konnte ich mir sehr gut vorstellen. Und was sie da sagten, schien auch Sinn zu machen, wenn man mal von dieser Kleinigkeit absah, dass Diego und Lucy absolut und unwiderruflich gegen die Bekanntschaft mit dem Brüdern waren.

Egal wie ich es drehte und wendete, hier würde ich scheinbar keine Antworten finden. Vielleicht interpretierte ich da auch einfach zu viel hinein und meine Freunde hatten schlicht keinen Bock mich mit den Brüdern zu teilen. Diese Erklärung war genauso gut wie jede andere, die ich bisher gefunden hatte.

„Hey.“ Ryder stupste mich mit dem Bein an. „Lass die beiden einfach ein wenig schmoren, die werden sich schon wieder einkriegen.“

Bei Diego konnte ich ihm zustimmen, bei Lucy allerdings konnte man sich da nie so sicher sein. „Wahrscheinlich hast du recht. Ich habe mich nur noch nie so heftig mit ihnen gestritten. Und Geheimnisse hatten wir auch noch nie voreinander gehabt. Das nervt einfach.“

„Jeder hat seine Geheimnisse“, erklärte Tyrone leise.

Ich musste an mein Bein denken. Es gab nur sehr wenige, die etwas davon wusste. „Ja, aber nicht vor jedem.“

Irgendwie war die Stimmung plötzlich im Keller. Das gefiel mir nicht. Wir hatten uns die ganze Zeit so gut amüsiert. Deswegen waren wir doch überhaupt erst hier her gefahren, um ein wenig Spaß zu haben und die ganzen Miesmacher hinter uns zu lassen. Doch jetzt schien die gute Laune einfach verflogen zu sein. Das musste ich dringend ändern, also tat ich, wie so oft in meinem Leben, das erstbeste, was mir in den Sinn kam, ohne auch nur einen Moment über die Konsequenzen nachzudenken.

Ich nahm meine noch fast volle Wasserflasche, schraubte sie den Deckel bedächtig ab und kippte sie dann direkt über Ryders Brust um.

„Hey!“ Mit einem Satz war er auf den Beinen und schaute völlig entgeistert an seinem nun feuchten Shirt herunter. Da er aber viel zu schnell aufgesprungen war, war er leider nicht ganz so nass geworden, wie ich mir das vorgestellt hatte. „Warum hast du das gemacht?“

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern und nahm einen kleinen Schluck von dem übrigen Wasser. Hm lecker. „Ich weiß nicht, mir war langweilig.“ Langsam schlich sich ein Lächeln in mein Gesicht. „Außerdem hast du vorhin gesagt, dass dir Heiß ist. Ich wollte nur für ein wenig Abkühlung sorgen.“

Ryder verengte seine Augen zu Schlitzen und verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich. Er hätte echt bedrohlich gewirkt, wäre da nicht dieses verräterische Funkeln in diesen blassblauen Augen gewesen.

Mein Grinsen wurde breiter und als er sich auf seine Wasserflasche stürzte, um es mir mit gleicher Münze heimzuzahlen, war ich schon auf den Beinen und brachte ein paar Meter Sicherheitsabstand zwischen uns. „Da musst du schon schneller sein“, zog ich ihn auf.

„Das kannst du haben.“ Mit der Flasche bewaffnet sprang er nach vorne, aber da ich ja nicht dumm war, hatte ich bereits damit gerechnet und rannte zum nächsten Baum, hinter dem ich frotzelnd Schutz suchte.

Als ich mich dann jedoch nach ihm umsah, musste ich leider feststellen, dass er bereits direkt hinter mir stand. Überrascht schaffte ich es gerade noch so auszuweichen, als er nach mir griff.

„Was bist du?“, fragte er lächelnd. „Ein ängstliches Kaninchen?“

„Nein, nur schneller als du.“ Lachend rannte ich um den Baum herum, doch wie aus dem Nichts stand plötzlich Tyrone vor mir und empfing mich mit offenen Armen – Wortwörtlich. Er fing mich ab, schlang die Arme um mich und ich kam nicht mehr weiter. Dann lachte er mir auch noch leise ins Ohr, als ich mit meinen kläglichen Ausbruchsversuchen nicht wirklich weiterkam und dann sah ich Ryder mit einem fetten Grinsen im Gesicht neben uns auftauchte.

„Das ist unfair!“, lachte ich und wehrte mich noch heftiger gegen Tyrones Klammergriff, aber weder der eine, noch der andere Bruder beachtete meinen nutzlosen Ausruf.

Ryder ging langsam, zu Tyrones Motorrad und holte zwei neue Wasserflaschen daraus hervor. Er genoss seinen Augenblick der Macht.

„Nein!“, warnte ich ihn. „Das wagst du dich nicht!“

Plock, plock. Zwei Deckel fielen ins Gras.

„Ich warne dich Ryder!“

Sein Grinsen wurde breiter, je näher er mir kam.

„Bleib weg von mir!“

Er stand nur noch einen halben Meter von mir entfernt.

„Komm mir nicht zu nahe!“, versuchte ich als letzten Ausweg.

„Rache ist süß.“ Seine Augen blitzen auf und dann wurde ich nass.

Kreischend schlug ich die Hände über den Kopf. Ich konnte nicht entkommen, also versuchte ich Schadensbegrenzung, doch es brachte rein gar nichts! Das kalte Wasser traf meinen überhitzten Körper, wie ein Schlag. Es lief mir über den Kopf, die Haare, Nacken, Brust, Rücken, Arme. Es durchnässte mein Shirt und meine Leggins und lief mir dann an den Beinen hinab in meine Lieblingssandaletten. Erst nachdem Ryder beide Flaschen komplett über mich ausgeleert hatte, gab Tyrone mich wieder frei.

Klitschnass stand ich wie ein begossener Pudel mitten im Wald und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass weiße Shirts nach Kontakt mit Wasser sehr durchscheinend wurden. Zum Glück trug ich wenigstens einen dunklen BH.

Ich drehte mich zu Tyrone um und wollte ihn böse anfunkeln, doch als ich sah, dass er auch durchnässt war, schlich sich ein Lächeln in mein Gesicht. „Das war dann wohl ein Eigentor.“

„Das war es mir wert“, erwiderte er schlicht, und schüttelte die nassen Haare aus.

„Iiih!“, schrie ich, als mich die Tropen trafen.

Ryder gluckste. „Das bisschen Wasser macht ja jetzt wohl auch keinen Unterschied mehr.“

Leider konnte ich ihm da nur zustimmen. Wie konnte ich von zwei kleinen Flaschen nur so durchnässt werden? „Zwei gegen einen ist unfair“, sagte ich. „Und zwei Jungen gegen ein armes, hilfloses Mädchen sowieso.“

„Du bist nicht hilflos“, sagte Tyrone und zeigte mit ein paar harmlose Kratzer auf seinem Arm.

„Ohhh“, spottete ich. „Hat der arme kleine Tyrone ein böses Aua-aua? Soll ich pusten kommen?“

Seine Augen verengten sich leicht. „Na warte.“ Blitzschnell schnappte er sich vom Boden seine Flasche und weiter ging die Wasserschlacht. Jeder spritzte jeden voll. Angreifen treffen, und ausweichen. Lachend rannten wir voreinander Weg und jagten uns gegenseitig über die Wiese. Es war das reinste Chaos und es machte einen Riesenspaß.

Als wir endlich aufhörten, war die Sonne gerade dabei sich für den Tag zu verabschieden. Sieben leere Flaschen dekorierten das Gras und wir drei waren nass bis auf die Knochen – dabei aber wenigstens glücklich.

„Meine Haare sind so nass, dass ich sie auswringen kann.“ Ich führte es ihnen direkt mal vor.

„Was soll ich denn sagen?“, fragte Ryder. „Du hast mir eine Flasche in die Hose gekippt.“ Wie zum Beweis zupfte er an seinen nassen Shorts herum.

„Du standest gerade so günstig, da konnte ich einfach nicht widerstehen.“ Grinsend warf ich meinen Zopf auf den Rücken und schaute zu Tyrone, der gerade versuchte sein Shirt ein wenig zu trocknen. „Gib es auf.“

Gespielt böse schaute er mich an. „Du bekommst keine Wasserflaschen mehr von mir.“

„Na und? Dann bringe ich das nächste Mal eben selber welche mit. Aber nicht die Kleinen, sondern gleich die eineinhalb Liter Flaschen.“

Ryder gluckste. „Dass nenne ich mal eine Kampfansage.“

„Das mussten wir aber auf ein anderes Mal verschieben“, erklärte Tyrone mit einem Blick zum Himmel. „Wir sollten uns langsam auf dem Weg zurück machen.“

Das wollte ich nicht, aber leider musste ich ihm recht geben. Es war bereits kurz nach neun, was bedeutete, dass ich bereits seit mehreren Stunden abhandengekommen war und Victoria mittlerweile wahrscheinlich die Nationalgarde alarmiert hatte. Die Frau konnte es echt nicht leiden, wenn sie nicht wusste wo ich mich herumtrieb. Und da mein Handy in der Tasche steckte, die dich in einem Anfall von die-ganze-Welt-ist-Scheiße quer durch den Raum geschleudert hatte, konnte sie mich nicht mal auf diesem Weg erreichen.

Vor unserem Aufbruch zauberte Tyrone aus dem Fach unter seinem Sitz noch eine dünne Lederjacke hervor, die er mir reichte, damit ich während der Fahrt nicht fror. Dann machten wir uns auch schon auf den Weg zurück in die Zivilisation.

Langsam schlängelten wir uns zwischen den Bäumen zurück auf die Straße. Erst da schalteten sie ein paar Gänge höher und lenkten ihre Maschinen mit Vollgas Richtung Heimat.

Ich drückte mich an Ryders Rücken und musste zugeben, dass ich es ein kleinen wenig genoss. So ein Motorrad hatte schon seine Vorteile.

Der Rückweg kam mir länger vor, als die Hinfahrt. Wahrscheinlich weil die beiden dieses Mal nicht so rasten und doch schien er viel zu schnell zu enden.

Ich hatte es wirklich nicht eilig nach Hause zu kommen, nicht wenn ich an den Ärger dachte, der dort auf mich wartete und ich wusste dass es Ärger geben würde. Aber wie jede Fahrt, endete auch diese hier und zwar genau vor der offenen Einfahrt zu unserer Garage.

Sobald Ryder das laute Röhren seiner Maschine ausgestellt hatte, rutschte ich vom Sattel und befreite meinen Kopf von dem Helm – dieses Mal ganz alleine. „Das müssen wir unbedingt mal wieder machen“, lächele ich und reichte Ryder den geliehenen Helm. „Das hat echt Spaß gemacht.“

„Dem kann ich nur zustimmen.“ Er stieg vom Motorrad und verstaute den Ersatzhelm in dem Fach unter dem Sattel. „Was machst du morgen?“ Durch das Visier klang seine Stimme ein wenig gedämpft.

Nichts, wollte ich sagen, in Vorfreude auf ein freies Wochenende, dass ich vielleicht sogar mit den beiden verbringen konnte, aber dann fiel mein Lächeln in sich zusammen, als mir das Sommerfest an der Uni und der Deal mit meiner Mutter in den Sinn kam.

Mein Gesicht musste wohl etwas verlautet haben, denn Ryder schob sein Visier nach Oben und musterte mich fragend. „Was ist los?“

„Ach nichts weiter.“ Ich stöhnte. „Ich muss nur Morgen um Neun zum Appell in der Uni antreten.“

Ryder verstand nicht.

„Sommerfest, kleine Kinder, Wohltätigkeit“, erklärte ich schlicht. „Erinnerst du dich? Ich hab euch gestern davon erzählt.“

„Stimmt.“ Nachdenklich schaute Ryder mich an und hob beinahe schon geistesabwesend seine Hand, um mir eine lose Strähne hinter das Ohr zu streichen. Dabei streifte er meine Haut und jagte mir damit einen leichten Schauder über den Rücken. Es war kaum mehr als der Hauch einer Berührung, doch mein ganzer Körper kribbelte plötzlich, als erwarte er mehr davon.

Leicht verunsichert, über eine solche Reaktion, trat ich von ihm zurück. Ich konnte nicht sagen, ob ich ihn damit kränkte, oder ob er das überhaupt wahrnahm, denn er ließ sich nichts anmerken.

„Das ist wirklich schade. Ich hab mich heute wirklich gut amüsiert.“

„Ich auch“, musste ich ehrlich zugeben und lächelte sogar ein wenig. „Aber ich hab mich nun mal Angemeldet, also muss ich das auch machen.“ Und das nicht nur, weil ich mir sonst würde einen Job suchen müssen. Zwar war ich nicht unbedingt freiwillig dazu gekommen, doch ich hatte mich verpflichtet und deswegen würde ich das auch durchziehen.

„Aber doch bestimmt nicht den ganzen Tag, oder?“

„Ich denke nicht, aber ein wenig Freizeit werde ich wohl oder übel opfern müssen.“

Ryder schmunzelte über meinen kleinen Witz. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern …

„Cayenne Amarok!“

Vor Schreck zuckte ich zusammen und riskierte einen schnellen Blick zum Haus. Na super, das würde jetzt sicher lustig werden. Wenn Victoria diesen Ton anschlug, war sie ernstlich angefressen und beinahe noch schlimmer als meine Mutter.

Sie marschierte aus dem Lichtschein der Türbeleuchtung direkt auf mich zu und machte dabei schwer den Eindruck, auf einer wichtigen Mission zu sein. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber ihre Haltung alleine reichte mir schon aus, um sicher zu sein, dass es gleich einen Großaufstand geben würde.

„Deine Mutter?“

„Nein, mein Zuchtmeister. Meine Mutter glänzt die meiste Zeit meines Lebens durch Abwesenheit.“ Oh Backe, plötzlich wurde mir etwas bewusst. Ich stand hier nicht nur, kurz vor der Sperrstunde, dreckig und nass mit zwei wildfremden Jungs, nein, ich stand hier, kurz vor der Sperrstunde, dreckig und nass, mit zwei wildfremden Jungs auf Motorrädern. Und leider war es mehr als offensichtlich, dass ich mich gerade noch auf einem davon befunden hatte. Natürlich hatte sie mich bereits beim Wegfahren auf einem davon gesehen, aber … naja, es machte die Situation für mich nicht unbedingt besser.

So zügig wie sie auf mich zukam, war ich wirklich am überlegen, schnell wieder aufs Motorrad zu steigen und zu verschwinden, einfach um den Stress zu entgehen.

„Das dürfte jetzt interessant werden“, seufzte ich.

„Bekommst du jetzt Ärger?“

Ich begegnete Victorias zornfunkelnden Augen. „Nur wenn sie auf dem Weg zu mir nicht von einem Kometen getroffen wird.“

„Wir können ja noch mit reinkommen“, bot Tyrone an. „Dann wird es vielleicht nicht so schlimm.“

Das bezweifelte ich doch stark. Victoria würde die beiden nur noch in ihr Drama von verantwortungslosen Jugendlichen, leichtsinnigen Teenagern und folgenschweren Entscheidungen mit einbeziehen. Nein, das war definitiv keine gute Idee, diese Peinlichkeit ersparte ich mir doch lieber. „Fahrt ruhig, ich komm schon klar. Das ist nicht mein erstes Mal.“

„Sicher?“

Ich begegnete Tyrones Blick und sah etwas wie Sorge. Bei Ryder war nichts dergleichen zu erkennen, als er sich zurück auf seinen Ofen schwang. Er schien nur etwas belustigt. Wahrscheinlich versuchten seine Eltern nicht ihm jeglichen Spaß im Leben zu versauen.

„Ja, ich bin mir sicher und jetzt haut schon ab.“ Bevor Victoria euch auch noch zu fassen bekommt, fügte ich im Stillen hinzu.

„Wie du meinst, Prinzessin.“ Ryder klappte sein Visier herunter und im nächsten Moment durchbrach das Röhren seines Motors die Stille des Abends. Er hob noch mal die Hand zum Abschied und fuhr dann auch schon an. Tyrone tat in etwa das gleiche, nur dass er noch mal unschlüssig zu meiner Zuchtmeisterin schaute, die gerade dabei war, das Gartentor aufzureißen. Aber auf mein drängendes Zeichen hin, verzog er sich auch ganz schnell.

„Kannst du mir mal sagen wo zum Teufel du die ganze Zeit gewesen bist?“, fauchte sie mich an, sobald sie vor mir stand.

„Weg“, sagte ich schlicht und trat an ihr vorbei in den Garten. Mir war klar, dass sie es ein bisschen genauer wissen wollte, aber beim besten Willen, selbst wenn ich es ihr hätte sagen wollen, hätte ich das nicht gekonnt. Wir waren auf einer Wiese mitten im Wald gewesen und ich glaubte nicht, dass dieser Ort einen Namen hatte.

„Cayenne, das ist kein Witz, ich hab mir …“ Sie stockte und ihr prüfender Blick glitt an mir herab. Ich konnte nur ahnen, was sie sah. Mich, die dreckig und nass, mit zerfledderter Frisur in einer viel zu großen Lederjacke steckte. „Was ist dir denn zugestoßen?“

„Gar nichts, wir drei hatten nur ein wenig Spaß.“

Ihr Blick und ihre plötzlich noch steifere Haltung, sagten mir alles, was in ihrem Kopf vorging. Bei diesem einen Thema konnte ich in ihr Lesen wie in einem Buch und was ich da lass, ließ mich genervt und angeekelt zugleich die Augen verdrehen. „Oh bitte!“

„Was bitte?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kenne die Art Spaß, die Jungs in diesem Alter von einem Mädchen wollen.“

„Selbst wenn es so wäre, ich bin volljährig und dich geht das überhaupt nichts an. Aber wenn es dich beruhigt, wir haben nur eine kleine Wasserschlacht veranstaltet. Das meinte ich mit Spaß, okay?“

„Nein es ist nicht okay.“

Natürlich nicht. Genervt verdrehte ich die Augen und kehrte ihr dann den Rücken. Ich wollte ins Haus, denn ohne Ryders Körperwärme begann ich langsam zu frösteln. Und drinnen konnte sie mich schließlich genauso gut anschreien, wie hier draußen.

Victoria ließ sich nicht so leicht abhängen. Hatte ich schon mal erwähnt, dass sie wie ein Pitbull sein konnte?

„Ich möchte nicht, dass du dich noch weiter mit den beiden verabredest“, sagte sie, als wir fast das Haus erreicht hatten.

Wie angewurzelt blieb ich stehen, weswegen sie fast in mich hineingelaufen wäre. Jetzt fing der nächste damit an. Ich schloss für einen Moment die Augen und zwang mich, meine Wut herunterzuschlucken. Erst als ich mich im Griff hatte, begann ich zu sprechen. „Ich weiß nicht was ihr alle gegen sie habt und ganz ehrlich, langsam ist mir das auch scheißegal. Ich mag sie und solange ich keinen vernünftigen Grund höre, der mich mich davon überzeugt, dass sie die größten Vollpfosten seit Menschengedenken sind, hat keiner von euch das Recht mir vorzuschreiben, mit wem ich mich treffen darf und mit wem nicht.“

„Deine Mutter hat mir die Aufgabe übertragen, auf dich aufzupassen“, erwiderte sie genauso ruhig, nur mit diesem keinen ungeduldigen Ton dabei. „Das alleine gibt mir jedes Recht dazu, dir den Umgang mit jemand zu verbieten, wenn ich der Meinung bin, das er nicht gut für dich ist.“

Wütend funkelte ich sie an. Ich hasste es, wenn sie die Autoritätsperson heraushängen ließ. „Ich bin keine drei mehr, ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen.“

„Oh ja, weil man mit neunzehn ja auch schon sooo erwachsen ist. Aber wenn du meinst weder deine Mutter noch mich zu brauchen, dann verhalte dich auch so. Such dir einen Job, eine Wohnung und …“

„War ja klar, dass du die Karte wieder ausspielst. Was kommt als nächstes? Rufst du meine Mami an und beklagst dich bei ihr über ihre ach so böse Tochter, damit sie mir wieder damit drohen kann meine Kreditkarten zu sperren, wenn ich nicht auf dich höre?“

Sie funkelte mich an. „Vielleicht wird dich das schockieren, aber genau das werde ich tun, denn nur so bekommt man kleine verwöhnte Gören in den Griff.“

Wie bitte? Ich hatte mich wohl gerade verhört. „Pass bloß auf, sonst sorgt diese kleine verwöhnte Göre dafür, dass du dir einen neuen Job suchen kannst.“

„Wie willst du das anstellen? Das würde Arbeit bedeuten und vor der drückst du dich doch wann immer es dir möglich ist.“

„Tu nicht so, als würde ich den ganzen Tag faul im Bett liegen“, quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Ich studiere schließlich.“

„Oh wie beeindrucken.“

Also gleich würde ich voll ausflippen. Die meiste Zeit meines Lebens, kam ich mit Victoria eigentlich ganz gut zurecht. Wir hatten ein gutes Verhältnis und sprachen über beinahe alles. Ich konnte mit jedem Problem zu ihr kommen und wusste, sie würde es verstehen, aber jetzt gerade wollte ich ihr gerne etwas an den Kopf werfen – vorzugsweise etwas sehr Schweres. „Sind wir dann fertig?“

„Vorläufig.“

Ich trat ins Haus und war kurz versucht ihr die Tür vor der Nase zuzuknallen. Ich hasste es wie die Pest, wenn sie mich wie eine kleine dumme Pute behandelte, nur weil ich nicht nach ihrer Pfeife tanzte. Aber irgendwann würde ich ihr ihre kleinen Gemeinheiten schon noch heimzahlen, darauf konnte sie Gift nehmen.

 

°°°

 

Um kurz vor neun am Samstagmorgen, fand ich mich vor dem Verwaltungsgebäude der Uni ein. Schon vom Weiten bemerkte ich, dass ich weder die einzige noch die erste war. Es hatten sich sogar verdammt viele Freiwillige auf den steinernen Stufen vor dem Gebäude versammelt. Ein paar Gesichter erkannte ich, wie zum Beispiel Elena mit ihren beiden Gehirnzellen, oder auch Lucy, die ein wenig Abseits stand und mich beim Nährkommen sofort ins Auge fasste. Da ich wegen ihrem Verhalten aber noch immer verärgert war, ignorierte ich sie und wandte mich stattdessen einer anderen bekannten Person zu.

Wie es schien hatten sich auch Julian und sein bester Freund Gideon freiwillig zum Dienst gemeldet. Die beiden saßen ziemlich Mittig auf der Treppe und unterhielten sich sehr Gestenreich miteinander. Gideon traf sogar fast die Truller neben sich. Er war es auch, der mein Näherkommen bemerkte und seinen Freund einen nicht sehr unauffälligen Stoß verpasste, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.

Männer, mehr gab es da nicht zu sagen.

„Hey“, wurde ich auch schon begrüßt, kaum dass ich in Hörweite war.

Ich ließ mich neben Julian auf die Stufe fallen und wischte ein paar Krümmel von meinem Frühstück an meiner halblangen Jeans ab. Es hatte Croissant vom Bäcker an der Ecke gegeben. „Wisst ihr, wie das Ganze hier ablaufen soll? Mir hat man nur gesagt, wo wir uns treffen.“

„Nicht so wirklich“, kam es von Julian. „Ich weiß nur, dass der Typ, der die Leitung übernommen hat, uns hier einsammeln soll. Alles weitere kommt danach.“

„Welcher Typ? Einer der Tutoren?“

Es war Gideon, der den Kopf schüttelte und sein braunes Haar damit ein wenig durcheinander brachte. „Ich habe gehört, es ist der neue Sozialarbeiter, der gestern hier angefangen hat.“

Ein Sozialarbeiter? Also würden wir entweder von einem übereifrigen Jungspund, oder aber einem alten Besserwisser herumkommandiert werden. Das waren beides keine besonders zufriedenstellenden Aussichten.

Der Tag ging mir jetzt schon auf die Nerven und dabei hatte er noch nicht einmal richtig begonnen.

„Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Gideon und zeigte auf einen schmalen, weißhaarigen Mann, der mit energischen Schritten und einer alten Aktentasche in der Hand den Pflastersteinweg entlanglief. Das war dann wohl Option Nummer zwei, der alte Besserwisser. Welche Freude.

Ja, ich hatte schlechte Laune. Normalerweise konnte ich Samstags ausschlafen, aber heute hatte Victoria mich mit einem Vorschlaghammer geweckt und wurde dann auch noch biestig, als ich sie nach meinen geliebten sauren Gurken gefragt hatte. Als dann das Haus verlassen hatte und Diego direkt vor unserer Ausfahrt vorfand, war sie endgültig in den Keller getuscht. Ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie er mich gestern praktisch von der Uni entführt hatte.

Um ihn dann daran zu hindern, mir wieder zur Bushaltestelle zu folgen und mir ein schlechtes Gewissen einzureden, war ich dann mit meinem Fahrrad hergefahren. Und das bei diesen Temperaturen. Okay, jetzt am Morgen ging es noch halbwegs. Ich durfte nur nicht daran denken, was das Thermometer heute Nachmittag sagen würde.

Der weißhaarige Mann mit den braunen Augen und dem markanten Gesicht trat unten vor die Treppe und klatsche einmal laut in die Hand. „Würdet ihr mir bitte einen Moment euer Gehör schenken?“

Ein paar taten es. Der Rest wurde durch Zischen und Anstoßen der andere Studenten darauf aufmerksam gemacht, dass der Verantwortliche eingetroffen war.

Es dauerte ein wenig, aber am Ende waren alle ruhig und schauten interessiert zum Fuß der Treppe.

„Danke. Also, ich bin Edward Walker, aber ihr könnt mich ruhig Eddy nennen. Ich hab mich bereit erklärt die Organisation des Wohltätigkeitsfest in vier Wochen zu übernehmen, aber da ich das unmöglich allein schaffen kann, freue ich mich so viele fleißige Helfer begrüßen zu können.“

Eigentlich schon seltsam. Wie hatte Gideon gesagt, er war erst seit gestern an der Uni? Wie kam er dann dazu jetzt schon so eine große Veranstaltung zu leiten?

„Uns wurden ein paar Räume zur Verfügung gestellt, in die wir uns nun erstmal begeben, um die Einzelheiten zu besprechen. Kommt mir einfach nach.“ Er setzte sich wieder in Bewegung und erklomm die große Freitreppe.

Murmeln und Rascheln setzte ein, als alle ihre Sachen einsammelten und dem Mann in das Gebäude folgten. Auch ich erhob mich klopfte mir den Staub vom Hintern und betrat zwischen Julian und Gideon das Reich der Autoritätspersonen.

Dieses Gebäude war noch düsterer, als das in dem die Lesungssäle untergebracht worden waren. Die Fenster waren kleiner, die Decken höher und der alte Holzboden völlig verschlissen. Der Raum in den dieser Eddy-Typ uns brachte, war so staubig, dass ich niesen musste, sobald wir ihn betraten.

Tische waren kreuz und quer verteilte, ein paar Stühle stapelten sich an der Wand und eine alte mit Kreide beschmierte Tafel klebte an der Stirnseite.

„Sucht euch bitte einen Platz.“

Damit begann ein Gedränge und Geschiebe von Tischen und Stühlen. Leider gab es für die fast vierzig Leute keine ausreichenden Sitzgelegenheiten, weswegen ich mich irgendwann auf einem Tisch an der Wand wiederfand, um überhaupt ein Plätzchen zu haben, auf dem ich meinen Hintern parken konnte. Julian und Gideon setzten sich zu mir und Lucy entdeckte ich auf einem Stuhl ganz in meiner Nähe. Sie wirkte missgelaunt und hatte einen Ausdruck im Gesicht, der mich an Verstopfungen denken ließ. Als sie mich anschaute wurde es sogar noch schlimmer.

War sie jetzt etwa mit mir stinkig?

„Okay, dann hört mal alle her“, forderte Eddy uns auf, was mich guten Gewissens den Blick abweiden ließ. „Ich werde euch gleich eine Liste mit den vorgesehenen Ständen ausgeben. Schaut sie euch an und sucht euch einen aus, den ihr bewirten wollt. Vorne an die Tafel werde ich eine weitere Liste hängen. Tragt euch da ein, wenn ihr euch entscheiden habt. Ich brauchte zwei bis drei Leute für jeden Stand. Wenn ihr fertig seid, machen wir weiter.“

Wieder kam Bewegung unter die Leute. Zettel wurden gereicht und zwischen dem Murmeln ertönte das Geräusch von knisterndem Papier.

Ich war nicht so blöde mich um die Blätter zu schlagen, sondern wartete einfach ab, bis Julian sich eines geschnappt hatte und schaute dann bei ihm mit hinein.

Die Liste war in Stichpunkten gehalten, mit genauen Angaben dazu, was an den einzelnen Ständen zu tun wäre. Da hatten wir zum Beispiel den Wassertrog, bei dem es darum ging Bälle auf ein Ziel zu werfen. Wenn man traf, würde eine Person in ein Wasserbecken fallen.

Das strich ich direkt. Ich hatte kein Interesse daran auf dem Fest baden zu gehen. Kinderschminken kam auch nicht in frage, einfach weil ich es kaum schaffte eine gerade Linie zu zeichnen. Lose ziehen, Essensstände, Bälle werfen, der heiße Draht, Eierlauf. Das war nur ein Teil von den Dingen, auf der Liste und irgendwie hörte sich in meinen Ohren keines davon besonders verlockend an.

Wie war ich nur hier gelandet? Ach ja, ich hatte keine Lust neben der Uni noch arbeiten zu gehen. Victoria hatte vielleicht doch recht, ich war ein kleinen wenig verwöhnt. Aber mal ehrlich, wenn man so aufgewachsen war und einem von klein auf praktisch alles in den Arsch gesteckt wurde, dann war es auch sehr schwer, sich mit weniger zufrieden zu geben. Also war es im Grunde nicht meine Schuld, sondern die meiner Mutter. Sie trug die Verantwortung dafür, dass wir reich waren – nicht dass ich mich beklagen wollte.

„Irgendwie sind die ganzen Attraktionen hauptsächlich auf Kinder ausgelegt“, überlegte Gideon.

Julian warf ihm einen schrägen Blick zu. „Das könnte vielleicht daran liegen, dass wir das für ein Kinderheim machen und die kleinen Monster auch an dem Fest teilnehmen werden.“

Das stimmte schon, aber irgendwie hatte Gideon mit seinem Einspruch auch recht. Die Kinderheimkinder hatten schließlich kein Geld. Es waren die Erwachsenen, die wir ausnehmen wollten, damit die Kleinen es etwas besser hatten, weswegen wir eigentlich auch ein paar Attraktion für Erwachsene anbieten sollten. „Was nehmt ihr denn?“, wollte ich wissen.

„Der Wassertrog hört sich interessant an“, sagte Gideon sofort.

Julian wiegte seinen Kopf leicht hin und her. „Vielleicht die Schatzsuche im Sandkasten. Und du?“

„Keine Ahnung. Ich glaub ich schau einfach mal, wo noch ein Plätzchen für mich frei ist.“ Im Grunde war es auch völlig egal, wo ich untergebracht wurde, ich hatte schon jetzt keine Lust darauf, einfach weil Kinder mir unheimlich waren. Diese großen Augen und die hohe Stirn … gruselig. Meine Horrorfilme waren nichts dagegen.

„Du könntest ja auch die Schatzsuche machen“, überlegte Julian.

„Den ganzen Tag im Sand buddeln? Ich glaube nicht, dass das etwas für mich ist.“ Am besten suchte ich mir etwas aus, wo wenig Kinder sein würden, so wie beim Lose ziehen, oder den Essensständen. „Ich geh mal schauen.“ Schwungvoll hüpfte ich vom Tisch und bahnte mir einen Weg nach vorne an die Tafel. Ich musste ein wenig warten, da schon ein paar vor mir da waren. Aber alles Warten hatte irgendwann ein Ende und dann war ich an der Reihe. Mein Favorit Lose ziehen, schloss ich sofort aus, als ich Elenas Namen sah. War ja klar, dass die blöde Kuh sich das einfachste schnappen würde.

Bei den Essensständen zögerte ich. Zwar würde ich da wenig mit Kindern zu tun haben, dafür aber den ganzen Tag am heißen fettigen Grill stehen und das war auch nicht unbedingt besser.

Am Ende entschied ich mich für Ringe-werfen, einfach weil sich da noch niemand eingetragen hatte und das sicherlich nicht weiter schwer werden würde. Ja, ich gab es ja zu, auch ich versuchte es mir einfach zu machen.

Als ich mich umdrehte um auf meinen Platz zurückzukehren, stand ich plötzlich direkt vor Lucy. Sie schaute mich böse an.

Ich schaute böse zurück.

Das taten wir fast eine ganze Minute, doch dann seufzte sie einmal tief, als hätte sie es geschafft ihren inneren Schweinehund zu überwinden. „Wollen wir mit den albernen Kindereien nicht endlich aufhören?“

„Erzählst du mir endlich, was ich wissen will?“

Das folgende Schweigen war mir Antwort genug.

„Das ist dann wohl ein ganz klares Nein von uns beiden.“ Ich ließ sie stehen und kehrte zu meinem Platz bei Julian zurück. Gideon war bereits nach vorne zur Tafel verschwunden, Julian wusste noch immer nicht genau, was er wählen sollte.

„Wenn du nicht bald eine Entscheidung fällst, dann bekommst du nur doch das was übrig bleibt“, erklärte ich ihm sehr ernst und scheuchte ihn damit auf.

Es dauerte noch fast zwanzig Minuten bis Eddy ein weiteres Mal um unsere Aufmerksamkeit bat und damit begann uns zu erklären, was genau von uns erwartet wurde. Plakate malen, Dekoration herbeischaffen, die Werbetrommel rühren. Einer der Studenten gab an, dass er billig Flugblätter herstellen könnte und wurde prompt dazu verdonnert, dies in die Tat umzusetzen.

„Wir brauchen Inspiration, Kreativität und Ideen“, schwafelte unser ganz persönlicher Sozialarbeiter. „Ich möchte von euch Eigeninitiative sehen und bin auch immer bereit mir eure Vorschläge anzuhören.“

Mein Vorschlag wäre ja, die Arbeit jemand anderem zu überlassen.

„Denk dran, wir machen das hier für die Kinder und jeder Cent den wir verdienen, wird von unserem Sponsor noch einmal verdoppelt. Gebt also auch euren Freunden und Familien Bescheid. Selbst wenn sie nur kommen um eine Cola zu trinken, ist das Geld, dass den Kindern zugute kommt.“ Er schaute uns nacheinander an, als wollte er sicher gehen, dass die Botschaft auch wirklich bis in unseren Köpfen vorgedrungen war. „So, ich werde dann jetzt nacheinander die einzelnen Stände aufrufen. Wenn ihr den hört, für den ihr euch eingetragen habt, kommt noch vorne und holt euch eure Aufgabenliste ab. Wenn ihr die habt, könnt ich euch mit euren Teamkollegen in die bereits erwähnten Räume begeben, wo ihr hoffentlich alles an Material findet, das ihr für die Vorbereitungen benötigt. Wenn ihr mich braucht, ich werde immer irgendwo hier rumlungern. Okay, dann fangen wir mal an. Als erstes, Bälle werfen.“

Drei Studenten erhoben sich, nahmen ihre Anweisungen entgegen und verließen dann gemeinsam schwatzend den Raum.

„Der heiße Draht.“

Dieses Mal waren es nur zwei, die sich dafür hatten begeistern lassen. Sie folgten dem Beispiel ihrer Vorgänger und verschwanden dann genauso schnell.

Da Eddy der Liste alphabetisch folgte, musste ich eine ganze Weile warten und konnte dabei zuschauen, wie der Raum sich nach und nach leerte. Als Elena mit ihren beiden Gehirnzellen verschwand, musste ich leider bemerken, dass Lucy noch immer im Raum war und kam nicht umhin mich zu fragen, für was sie sich eingetragen hatte.

Die Antwort darauf erhielt ich, als unser Sozialarbeiter beim Buchstaben R wie Ringe-werfen angekommen war. Ich rutschte vom Tisch und kaum dass ich stand, musste ich mitansehen, dass auch Lucy sich von ihrem Platz erhob.

Meine Augen verengten sich leicht. „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz.“

„Warum? Wir machen doch sonst auch alles zusammen.“ Ihr Ton war herausfordernd.

Einen Moment war ich wirklich am überlegen, ob ich einfach an die Decke gehen sollte. „Wenn du wirklich nach dem Warum fragen musst, dann solltest du vielleicht noch mal zurück in die Grundschule gehen.“ Ich latschte nach vorne, schnappte mir den Zettel vom Sozialfuzzi und sah zu, dass ich aus dem Raum kam. Wie es schien, hatte sich außer Lucy und mir auch niemand sonst dafür eingetragen, also bestand kein Grund dazu, noch länger zu bleiben.

Natürlich ließ meine sogenannte beste Freundin sich nicht so einfach abhängen. Sie folgte mir nicht nur in den Korridor, sondern auch in den erstbesten leeren Vorbereitungsraum, den ich fand. „Verschwinde“, fauchte ich sie an, als sie dann auch noch damit anfing sich häuslich niederzulassen. „Wir haben uns nichts zu sagen.“

„Oh glaub mir, ich hätte eine Menge zu sagen. Ich übe mich nur gerade ein wenig in Zurückhaltung.“

Ich versuchte mal wieder das mit den Augenbrauen. Klappte wie immer nicht. „Sowas hast du?“, spottete ich und kehrte ihr den Rücken zu, um den Informationszettel in meiner Hand in Ruhe zu lesen.

„Ja. Das sieht man schon allein daran, dass ich nicht sabbernd hinter jedem Kerl her renne, nur weil er einen netten Hintern hat und deswegen auch noch meine Freunde im Stich lasse.“

Oh, das hatte sie jetzt nicht gesagt. „Welche Freunde meinst du? Das Weibsbild, dass sich kein bisschen unter Kontrolle hat und mir während eines Wutanfalls ein blaues Auge verpasst hat? Oder den Kerl, der sich im Moment aufführt, als wäre ich sein Eigentum und mich nach belieben herumschubst? Meinst du diese Freunde?“

Sie funkelte mich an. „Du bist doch selber Schuld. Du warst es doch, die sie ins Small Break eingeladen hat.“

Also … das war doch wirklich nicht zu fassen. „Gibst du mir jetzt wirklich die Schuld daran, dass ich wegen dir ein Veilchen habe?“

„Hättest du auf mich gehört, wäre es niemals so weit gekommen. Aber wie immer versuchst du mal wieder deinen Kopf durchzusetzen. Was andere sagen oder denken ist dabei völlig egal. Wir wollen dich doch nur beschützen, aber du bist einfach nur egoistisch.“

„Ich?! Ich bin egoistisch?!“ Das war doch wirklich die Höhe! „Wer von uns beiden hat denn hier Geheimnisse? Du und Diego, ihr werft mit kryptischen Beschuldigungen um euch und erwartet dann von mir, ein kleines Naivchen zu sein, das artig nickt und sich still in die Ecke setzt. Aber das könnt ihr vergessen. Solange ihr mit dem Scheiß nicht aufhört, haben wir uns nichts mehr zu sagen.“ Ich klatschte ihr den Zettel vor der Nase auf den Tisch. „Viel Spaß beim Ringe-werfen.“ Erhobenen Hauptes kehrte ich ihr den Rücken und stampfte aus dem Raum hinaus. Ich konnte wirklich nicht glauben, was hier gerade passierte. Was ging nur in ihrem Kopf vor sich? Da waren doch nicht nur ein paar Schrauben locker, da saß überhaupt keine mehr fest. Sie benahm sich wie eine Irre und schob mir dann auch noch die Schuld dafür in die Schuhe. Fehlte eigentlich nur noch, dass sie mir erklärte, den Weihnachtsmann gäbe es wirklich.

Grummelnd suchte ich die Arbeitsräume ab, in der Hoffnung noch einen leeren zu finden, einfach weil ich im Moment niemanden sehen wollte. Leider waren sechs Räume bei fast vierzig Personen nicht gerade viel. Also schob ich mir einen Tisch in eine Ecke des Korridors, besorgte mir eine von diesen Plastikplatten, die wir als Aushängeschild für unsere Stände gestalten sollten und machte mich allein an die Arbeit.

Ich war noch nie besonders kreativ gewesen, weswegen ich mein Handy herausholte und mir im Internet ein paar Ideen besorgen wollte. Von den vielen Vorschlägen die ich bekam, wurde ich geradezu erschlagen. Wer hätte gedacht, dass es so viele Bastelverrückte gab? Es gab sogar richtige Clubs, Vereine und Gruppen. Und das nicht nur für Kinder. Am Ende legte ich das Handy weg und entschied mich für eine ganz einfache Variante.

In der Mitte würde ich einfach ein großes Clipart vom Ringe-werfen setzen und oben drüber für alle die der Bildersprache nicht mächtig waren, es noch mal in Buchstaben verfassen. An die Seiten könnte ich dann auch noch vereinzelte Ringe setzen. Diese Idee war wahrscheinlich genauso gut wie jede andere auch. Also begann ich damit ein Ständerwerk zu zeichnen.

Hatte ich schon einmal erwähnt, dass ich absolut kein Michelangelo war? Bereits die ersten Linien gestalteten sich als schwerer, als ich es vermutet hätte.

„Warum arbeiten Sie hier draußen so allein?“

Vor Schreck setzte mein Herz beinahe einen Schlag aus. Ich war so mit mir konzentriert gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie dieser Eddy von hinten an mich herangetreten war.

„Erschrecken Sie mich doch nicht so!“ Vorwurfsvoll funkelte ich ihn an.

„Erschrecken deutet immer auf ein schlechtes Gewissen hin“, schmunzelte der Sozialfuzzi und begutachtete meine bisherige Arbeit.

Danke Freud. „Oder darauf, dass sich ein alter Mann an ein junges, unschuldiges Mädchen heranschleicht“, konterte ich und versuchte mein Herz zur Ruhe zu bewegen. Himmel, Arsch und Zwirn, Freddy Krüger war gar nichts im Vergleich zu diesem Moment. Okay, das war vielleicht ein wenig übertrieben.

Er warf einen Seitenblick auf mich und blieb einen Tick zu lange an meinem Gesicht hängen, genauer gesagt, an dem Veilchen.

Ich starrte stur zurück. Sollte er doch glotzen.

„Haben Sie alles, was sie brauchen?“

Oh je, so einer war das. „Bitte, Sie brauchen mich nicht Siezen. Nennen Sie mich einfach Cayenne.“ Ich war schließlich nicht meine Mutter.

„Gerne.“ Er Lächelte mich an und ich musste zugeben, dass er sich für einen alten Knacker gut gehalten hatte. In seiner Jungend hatte er bestimmt nichts anbrennen lassen. „Aber dann tu mir bitte auch den gleichen Gefallen.“ Er beugte sich ein wenig zu mir herüber, als wollte er mir ein kleines dreckiges Geheimnis anvertrauen. „Dann komme ich mir wenigstens nicht ganz so alt vor, wie ich bereits bin.“

„Sie wollen, dass ich Sie Cayenne nenne?“, fragte ich gespielt überrascht. Natürlich war mir klar, dass er das nicht damit gemeint hatte.

Ein leises Lachen kroch aus seiner Kehle. „Ich denke, dass Eddy schon genügt.“

Okay, er war vielleicht doch kein alteingesessener Besserwisser, als den ich ihn bereits abgestempelt hatte.

Wieder huschte sein Blick zu mein Gesicht.

Na toll. „Mein Freundin hat versehentlich mich erwischt, als sie einen Kerl verdreschen wollte.“ Ich dachte zurück an dem Moment, als mich der Schlag getroffen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, wie hart Lucy zuschlagen konnte und ganz ehrlich, au diese Erfahrung hätte ich auch gerne verzichtet.

„Ihre Freundin scheint nicht sehr gut zielen zu können.“ Er lehnte sich mit dem Hintern neben mich an den Tisch. „Obwohl sie eigentlich doch recht gut getroffen hat.“

„Das war keine Absicht gewesen“, verteidigte ich sie sofort. „Sie wollte Ryder schlagen, aber der hatte keine Lust darauf Bekanntschaft mit ihrer Faust zu machen und ist deswegen abgetaucht. Leider stand ich zu diesem Zeitpunkt direkt hinter ihm.“

„Das nennt man dann wohl einfach Pech.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was hat dieser Ryder den getan, um so etwas zu verdienen?“

Das war eine sehr gute Frage, aber leider wollte mir niemand eine Antwort darauf geben. „Ich weiß nicht. Sie sagen, dass sie es nicht gut mit mir meinen.“

„Sie?“

„Diego und Lucy, meine besten Freunde.“ Und seit gestern auch Victoria. Alle hatten was gegen die beiden, aber keiner nannte mir einen Grund. Das war doch äußerst merkwürdig.

Ich blieb einen Moment schweigend in meinen Gedanken, bis ich bemerkte, dass der Sozialarbeiter mich ziemlich eindringlich beobachtete. Da setzte ich sofort wieder mein Pokerface auf. „Was?“ Man, mein Wortschatz heute war mal wieder von der richtig ausgeklügelten Sorte.

„Möchtest du mir erzählen, was dir auf dem Herzen liegt?“

Ich lachte auf. „Warum sollte ich Ihnen etwas erzählen wollen?“

„Manchmal hilft es mit einem Außenstehenden zu reden. Ich kann gut zuhören und vielleicht hab ich sogar einen Ratschlag für dich.“

Zuerst wollte ich dankend ablehnen, aber dann öffnete ich auf einmal den Mund und plötzlich fand ich mich in der Erzählung der letzten beiden Tage wieder. Von dem ersten Blick auf den süßen Knackarsch, über den Besuch im Small Break, bis zu dem Ausflug mit Tyrone und Ryder auf die Wiese im Wald.

Er unterbrach mich kein einziges Mal, hörte nur aufmerksam zu und erst beim Reden bemerkte ich, wie sehr mich das Verhalten meiner Freunde belastete. Seit dem Schlag, hatte ich kaum ein Wort mehr mit Lucy gewechselt und wenn doch, dann hatten wir uns eigentlich nur angegiftet. Und seit Diego mich praktisch mit Gewalt nach Hause chauffiert hatte, wurde ich bei seinem Anblick so wütend, dass es besser war, wenn er mir gar nicht mehr unter die Augen trat und das obwohl wir drei praktisch vierundzwanzig sieben aufeinander hockten. „… ich weiß nicht was Momentan los ist“, sagte ich schlussendlich. „Ich mag die Jungs einfach und keiner scheint das zu verstehen.“

„Hm“, machte er und schien sich wirklich Gedanken darüber zu machen. „So wie sich das anhört, möchtest du deinem Alltag mal entkommen, etwas Neues erleben und diese Jungs bieten dir die perfekte Gelegenheit. Deine Freunde machen sich darüber bestimmt so ihre Gedanken. Vielleicht haben sie einfach nur Angst, dass du ihnen entgleitest.“

„Sie meinen, sie sind eifersüchtig?“ Der Gedanke war mir bereits gekommen, aber ich hatte ihn als unrealistisch abgetan. Schließlich gibt es niemanden, der mir die beiden ersetzen könnte – niemals.

„Vielleicht“, räumte er ein. „Wenn du mich fragst, solltest du einfach noch mal mit ihnen reden und ihnen sagen, was in dir vorgeht, damit sie dich verstehen können und sowas nicht noch einmal passiert.“ Mit einem Nicken deutete er auf mein Veilchen.

Ich dachte darüber nach. Das mit dem Reden hatte ich eigentlich schon versucht, aber dabei war es mehr darum gegangen, wie sie sich aufführten und was sie mir verschwiegen. Wie sehr ihr Verhalten mich kränkte und dass ich Tyrone und Ryder einfach mochte, dass war bisher nicht wirklich zur Sprache gekommen. „Sie scheinen wirklich etwas von ihrem Job zu verstehen.“

Dafür bekam ich ein richtig breites Lächeln. „Danke. Und wenn du noch mal jemanden zum Reden brauchst, ich stehe gerne zu deiner Verfügung.“

„Ich werde es mir merken.“ Nicht das ich wirklich vorhatte, mich bei einem Sozialheini einzufinden. In meinem bisherigen Leben, war ich auch immer recht gut ohne einen klargekommen.

Mit einem „Das freut mich, aber ich muss jetzt mal nach den anderen schauen“ verabschiedete er sich von mir und überließ mich wieder meiner Arbeit.

Ich brauchte fast zwei Stunden, bis ich das Clipart skizziert hatte. Es war ziemlich schief, unterproportional und wahrscheinlich hätte das sogar ein Dreijähriger besser hinbekommen, aber ich war schließlich nicht hier, um an einem Kunstwettbewerb teilzunehmen.

Den Schriftzug bekam ich wesentlich besser hin und die herumfliegenden Ringe wurde alle sogar halbwegs rund. Leider sahen sie nicht wirklich wie Ringe aus. Als ich mein Werk betrachtete, hatte ich eher das Gefühl ein paar Bälle anzuschauen. Vielleicht hätte ich versuchen sollen sie dreidimensional und mit Perspektive zu zeichnen.

Egal, sein Zweck würde es trotzdem erfüllen.

Als es dann Zeit war aus der Skizze ein richtiges Schild zu machen und ich mich danach umschaute, wie die anderen Studenten das taten, machte Julian mich auf ein Gerät aufmerksam, dass mich entfernt an einen Lötkolben erinnerte. Damit würde ich die Linien ins Plastik brennen können. Der Vorteil daran war, dass auch Regen, Schnee und Sturm das Schild nicht beschädigen konnten. Der Nachteil? Es stank zum Himmel. Ich musste alle Fenster in meiner Nähe aufreißen, um bei den widerlichen Dämpfen nicht einfach in Ohnmacht zu fallen.

Zu meiner Überraschung machte es mir wirklich Spaß. So bemerkte ich kaum wie die Zeit zerrann und ehe ich mich versah, war es schon kurz vor Zwei. Ein paar der anderen Teilnehmer hatten sich bereits aus dem Staub gemacht.

Das Schild war zwar noch lange nicht fertig, aber ich entschied trotzdem, dass es für mich langsam an der Zeit war das Weite zu suchen. Meine Arbeitsmaterialien verstaute ich in einem der Räume, bevor ich auf dem Mädchenklo versuchte diesen Gestank aus meiner Haut zu reiben. Keine Chance, da würde ich wohl durch eine Waschstraße müssen.

Da es eh nichts brachte, schulterte ich meine Kuriertasche und verließ dann das Unigelände.

Ich wollte gerade mein Fahrrad holen, als mein Blick auf den silbernen Fiat von Diego stieß, der so nahe bei den Fahraständern geparkt worden war, dass es kein Zufall sein konnte.

Diego selber lehnte mit verschränken Armen an der Motorhaube und schaute mir unsicher entgegen. Offensichtlich wusste er nicht, wie ich auf seine Anwesenheit ragierte. Klar, unser letztes Zusammentreffen war nicht gerade von Freude durchtränkt gewesen und heute morgen hatte ich ihn auch einfach stehen gelassen, aber jetzt beschloss ich, dass es an der Zeit war Eddys Rat in die Tat umzusetzen.

Ich ließ mein Fahrrad, Fahrrad sein, ging direkt zu ihm hinüber und lehnte mich dicht neben ihm an die sonnengewärmte Motorhaube. Aber dann wusste ich leider nicht, wie ich anfangen sollte. Etwas lag wie eine Kluft zwischen uns. Das war was Neues für mich. Auch wenn Diego eher der schweigsame Typ war, hatten wir nie Probleme gehabt miteinander zu sprechen und ich musste ehrlich zugeben, dass ich das als sehr unangenehm empfand. Als ich es nicht mehr aushielt, durchbrach ich das Schweigen schließlich. „Was machst du hier?“

„Ich warte auf dich.“ Ein Sonnenstrahl ließ den goldenen Ring an seiner rechten Hand funkeln. Den hatte ich ihm vor zwei Jahren geschenkt. Er war in Handarbeit hergestellt worden. Das chinesische Zeichen der Freundschaft war oben drauf graviert. Zwei Ringe hatte ich damals in Auftrag gegeben, einen für ihn und einen für Lucy. Sie waren schweineteuer gewesen und doch konnten sie den Wert der beiden nicht aufwiegen.

Als ich still blieb, verlagerte Diego unruhig sein Gewicht. „Ich wollte dich nach Hause bringen.“

Ich dachte wieder an gestern, wo er mich praktisch in seinen Wagen gezerrt hatte, um mich Zuhause abzusetzen. An einer Wiederholung hatte ich kein Interesse. „Und wenn ich nicht nach Hause will?“

„Wir können auch woanders hinfahren.“ Ein vorsichtiges Lächeln zeichnete sich um seinen Mund ab. „Ganz wie du möchtest.“

Mein Blick klebte immer noch an diesem Ring. Für mich war das nicht einfach nur ein Kinkerlitzchen, es hatte eine Bedeutung. Freundschaft, Vertrauen, Zusammenhalt. „Weißt du, ich hatte vorhin ein sehr interessantes Gespräch mit diesem neuen Sozialfuzzi und er hat mir empfohlen, dass wir mal miteinander reden sollten.“ Und das am Besten ohne Gekeife.

„Okay.“

„Irgendwie ist gerade alles ein wenig scheiße und das gefällt mir nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir schon einmal so miteinander gestritten haben.“

„Weil wir das nicht haben“, kam es sehr leise von ihm. „Jedenfalls nie ernsthaft.“

„Ihr hattet auch noch nie Geheimnisse vor mir.“ Ich schaute auf meine Schuhe und kickte ein kleines Steinchen weg. „Ich verstehe einfach nicht, warum das plötzlich anders ist. Das fühlt sich scheiße an.“

„Keiner von uns möchte dich verletzen, Cayenne.“

Leicht verbittert verzog sich mein Mundwinkel. „Aber genau das ist es, was ihr beide macht. Ich hab ja verstanden, dass ihr mich nur beschützen wollt, auch wenn ich keine Ahnung habe, welche Gefahr mir drohen könnte. Aber so wie ihr das macht ist es falsch, Diego. Als du mich gestern von Ryders Motorrad heruntergezogen hast … ich kann noch immer nicht glauben, dass du das wirklich getan hast. Ich bin doch nicht irgendein Ding, dass du herumschubsen kannst, ich bin deine Freundin.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich und in seinen Augen lag Reue. „Ich wollte es nicht tun und es tut mir leid, dass ich es getan habe, aber einfach mit zwei fremden Kerlen zu verschwinden ist gefährlich. Keiner von uns weiß etwas über sie. Sie könnten Straftäter sein.“

Das ließ mich schnauben.

„Ich meine es ernst. Wenn ich dich hätte gehen lassen, wäre das, als hätte ich erlaubt, dass du zu einem wildfremden Mann in den Wagen steigst. Die Welt ist kein sicherer Ort, Cayenne. Für dich sind Geschichten über Misshandlung, Vergewaltigung und Mord bloß theoretische Szenarien aus den Nachrichten, aber so etwas passiert jeden Tag.“

Das war mir sehr wohl bewusst. Leider rechtfertigte das seine übertreibenden Handlungen nicht. „Und du glaubst dass Ryder und Tyrone dazu fähig sind?“

Er wiegte den Kopf leicht hin und her. „Ich kann es nicht ausschließen.“

„Du könntest versuchen sie besser kennenzulernen. Das würde dir vielleicht deine Angst nehmen.“

Er machte nicht den Eindruck, als hätte er irgendein Interesse daran.

„Kannst du ganz offen mit mir sein?“

Etwas in seinem Gesicht veränderte sich, wurde wachsam. „Ich versuche es.“

Mir lagen mehrere Sachen auf der Zunge, aber ich beschloss, mit dem Harmlosesten anzufangen. „Du hast gesagt, dass die beiden es nicht gut mit mir meinen. Wie kommst du darauf?“

„Das hast du mich schon mal gefragt.“

„Ich weiß.“

Diego stöhnte. Ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeite, als ringe er mit sich, mir etwas Wichtiges zu sagen, von dem er nicht wusste, wie er es mir beibringen sollte. „Sie sind nicht die, für die sie sich ausgeben“, sagte er schließlich.

„Na dann erklär mir, wer sie sind.“

Er schlug die Augen nieder und fixierte ein vertrocknetes Blatt auf dem Boden. „Ich wünschte, du würdest mir einfach vertrauen.“

„Ich vertraue dir, aber so wie ihr euch aufführt kannst du es mir nicht verübeln, dass ich Antworten will.“

Eine ganze Weile sagte Diego kein Wort. Sein Mund war fest zu einem dünnen Strich verschlossen. Es kam mir so vor, als versuchte er sich selber am sprechen zu hindern. Doch schließlich siegte unsere Freundschaft über die Dämonen die ihn quälten. „Ryder und Tyrone sind keine Brüder. Weder Adoptiert, noch sonst irgendwie, sie sind einfach nur Freunde oder Bekannte, das weiß ich nicht so genau und sie sind hier, weil sie…“ Er stoppte einen Moment, zögerte, suchte nach den richtigen Worten. „Cayenne, die beiden sind aus einem bestimmten Grund hier.“

„Und der wäre?“

Diego öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Zweimal machte er das, bevor er weiter sprach. „Keine Ahnung.“

Lüge! Er log mir mitten ins Gesicht und erwartete offensichtlich noch, dass ich ihm das abkaufte. Ich stieß mich vom Wagen ab und funkelte ihn an. „Wenn du es mir nicht sagen willst, okay, aber halt mich nicht für blöd!“

„Ich halte dich ganz sicher nicht für blöd“, erwiderte er sofort. „Aber frag dich doch mal selber, was du überhaupt über sie weißt, über ihre Familie, oder ihre Vergangenheit. Hat einer von ihnen dir irgendwas aus ihrer Zeit vor Berlin erzählt?“

Wenn ich ehrlich war … „Nein.“ Im Grunde hatten wir immer nur über mich, die Uni, oder irgendwelche banalen Dinge gesprochen.

„Da siehst du es doch selber. Die beiden sind aus dem Nichts aufgetaucht. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über sie, die älter als zwei Wochen sind. Keinen Wohnort, keine Schule, keine Familie oder Papiere über eine Adoption.“

Ich runzelte die Stirn. „Das hört sich ja an, als hättest du sie von einem Privatdetektiv durchleuchten lassen.“

Darauf ging er nicht ein. „Sie machen ein Geheimnis um ihre Person und genau deswegen solltest du dich von ihnen fernhalten. Sie sind …“

„Tante Klara und ihr Kaffeeklatsch!“

Ryder.

Na das passte ja wie die Faust aufs Auge. Okay, schlechter Vergleich.

Ich beugte mich ein wenig an Diego vorbei, um sie sehen zu können.

Mit ihren Helmen unter den Armen, kamen Tyrone und Ryder geradewegs auf uns zu. Dabei wirkten sie nicht sehr erfreut.

„Brauchs du noch einen Moment, um aus dem Nähkästchen zu plaudern, oder bist du fertig?“, fragte Ryder mehr als spöttisch.

Diegos Gesicht verfinsterte sich. „Lasst sie endlich in ruhe und verschwindet.“

„Das machen wir, sobald sie uns dazu auffordert.“ Mit einem Zwinkern lächelte Ryder mir zu.

Diego fixierte mich, als wartete er darauf, dass ich genau das tat, aber ich wollte die beiden weder wegschicken, noch mich zwischen die Fronten ziehen lassen.

„Sieht nicht so aus, als wolle sie uns demnächst loswerden.“

Diego stieß sich so plötzlich vom Wagen ab, dass ich hastig nach seinem Arm griff. Gut, wenn er es wirklich darauf anlegte, könnte ich ihn niemals halten, aber es half, er blieb neben mir.

„Hört auf ihn zu ärgern!“, mahnte ich die beiden.

„Er hat doch angefangen.“ Das waren Tyrones erste Worte des Tages und die waren so kindisch, dass ich mir ein Schnauben nicht verkneifen konnte.

„Ich habe mit nichts angefangen, sondern ihr die Wahrheit über euch erzählt“, zischte Diego den beiden zu.

„Wahrheit“, spottete Ryder. „Ein großes Wort für einen Lügner.“

„Ich lüge nicht.“

Da war ich mir nicht so sicher, besonders da ich gerade eben noch selber das Gefühl hatte, von ihm belogen zu werden.

„Ach, tust du nicht?“ Ryder tat überrascht. „Und was bedeutet dann diese Geschichte, in der wir zwei ganz böse Jungs mit üblen Hintergedanken sind, die sich mit voller Absicht in ihr Leben geschlichen haben, um böse Dinge mit ihr zu tun? Das ist dann wohl nur ein Ausdruck deiner blühenden Phantasie, oder wie soll ich das sonst verstehen?“

Naja, so ganz unrecht hatte Ryder da nicht, wie ich mir eingestehen musste.

Selbstgefällig verschränkte Ryder die Arme vor der Brust. „Na, jetzt hast du wohl nicht mehr so viel zu sagen.“

Ich konnte spüren, wie sich Diegos Muskeln unter meinen Händen anspannten. „Nicht“, bat ich ruhig. Ich wollte nicht, dass die drei sich jetzt auch noch die Köpfe einschlugen. „Und du hör endlich auf ihn zu provozieren.“

Wenn Blicke töten könnten, wüsste ich nicht, wer von den beiden zuerst umfallen wäre. Ich musste dringend etwas unternehmen, um sie abzulenken, also sagte ich das erstbeste, was mir in den Sinn kam. „Was macht ihr eigentlich hier?“ Ja, schon klar, das war nicht unbedingt brillanteste aller Fragen, aber es interessierte mich und würde die Streithähne hoffentlich ein wenig auf andere Gedanken bringen. „Heute sind keine Kurse.“

„Sag an!“, grinste Ryder und seine faszinierenden Augen begannen wieder mit diesem seltsamen Farbenspiel. „Wir waren verabredet, schon vergessen?“

„Ähm.“ Mehr kam nicht über meine Lippen. Wann hatten wir uns verabredet? Ich erinnere mich nur, dass er mich gestern gefragt hatte, was ich heute mache. Zu mehr war es gar nicht gekommen, weil Victoria dann auf den Plan getreten war.

Ryder lachte. „Ist das zu fassen? Wir kommen extra her, suchen die halbe Uni nach ihr ab und unser Mädchen hier vergisst es einfach.“ Er tat so entsetzt, dass ich beinahe gelächelt hätte.

„Ich habe es nicht vergessen, wir hatten nichts Festes ausgemacht.“

Für einen Moment dachte Ryder nach, dann nickte er, als wollte er mir zustimmen. „Gut, dann frag ich dich halt jetzt. Hast du Lust etwas mit uns zu unternehmen? Vielleicht können wir unser kleines Sparring ja noch Toppen.“

Am liebsten wäre ich sofort losgehüpft, um mit den beiden davon zu düsen, aber Diego sah mich so eindringlich und bittend an, dass ich zögernd zwischen den Dreien hin und her schaute. „Du kannst ja mitkommen“, schlug ich ihm mit hoffnungsvollem Tonfall vor. Mir war klar, dass wenn er ja sagt, es ein ziemlich anstrengender Tag werden würde, aber so konnte er sich wenigstens nicht beschweren. Er würde nicht nur dabei sein, er könnte auch selber sehen, dass Ryder und Tyrone keine Kleinkriminellen waren.

„Nicht mal wenn die Hölle zufriert“, zischte er. „Und du wirst auch nicht mit ihnen gehen.“

Da, er tat es schon wieder! Das zweite Mal in zwei Tagen. Und das nach dem Gespräch, das wir gerade geführt hatten. Wann genau war er zu meinem Boss geworden?

Jegliches Wohlwollen schwand aus meiner Stimme. „Zwing mich nicht, mich zwischen euch zu entscheiden“, knurrte ich ihn an. „So wie du dich momentan verhältst, bin ich mir nicht sicher, auf wen meine Wahl fallen würde.“

Die Kränkung in Diegos Augen war echt und sofort taten mir meine Worte leid, aber warum versuchte er auch schon wieder mir Vorschriften zu machen? Er war mein Freund und nicht mein Vorgesetzter.

Wir starrten uns an. Keiner von uns wollte zuerst wegsehen und so traf ich eine Entscheidung. „Ryder, ich würde sehr gerne mit euch mitgehen.“ Ich ließ Diegos Arm los und wollte mich in Bewegung setzen, da schoss Diegos Hand vor und schloss sich genau wie gestern um mein Handgelenk. Das fand ich nicht lustig. „Lass mich bitte los.“ Dank Tyrone hätte ich mich auch so befreien können, aber ich wollte nicht schon wieder eine Szene, darum hoffte ich darauf, dass er zu Besinnung kam und selber merkte, wie lächerlich er sich verhielt.

Er gab mich nicht frei.

„Bitte Diego. Wenn du nicht mit willst, ist das okay. Wir können ja morgen etwas unternehmen“, schlug ich vor. „Was sagst du dazu?“

„Das gleiche wie eben schon.“

Okay, wenn er es nicht anders wollte. In einer geschickten Bewegung drehte ich meinen Arm aus seinem Griff und machte, dass ich wegkam, bevor seine Überraschung nachließ und er erneut nach mir greifen konnte. Es waren nur ein paar Sekunden, aber sie reichten um zwischen den Brüdern in Deckung zu gehen.

Diegos Augen verdunkelten sich. Als er dann auch noch einen Schritt auf uns zumachte, spannten die Ryder und Tyrone an, als wollten sie auf eine handgreifliche Konfrontation vorbereitet sein.

Kerle!

„Hör damit auf, Diego, du benimmst dich wie ein eifersüchtiger Gockel“, sagte ich noch während er auf uns zubewegte und plötzlich blieb er stehen. Er funkelte die beiden Jungs böse an, rührte sich aber keinen Millimeter mehr. „Wir sehen uns morgen“, versprach ich. „Ich ruf dich an, okay?“ Tyrone legte mir die Hand auf den Rücken und wollte mich zu den Motorrädern schieben, die ein Stück weiter an der Straße geparkt waren, aber ich wollte erst noch eine Antwort von Diego haben. „Okay?“, fragte ich ein bisschen eindringlicher.

„Victoria hat dir verboten, dich mit den beiden zu treffen.“

Ich konnte mir ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen. Seit wann interessierte es uns was Victoria wollte? Genau das wollte ich ihm sagen, doch plötzlich wurde ich die genaue Bedeutung seiner Worte bewusst.

Es stimmte schon, meine ganz privater Wachhund hatte es mir untersagt und zwar gestern Abend, kurz bevor ich ins Bett gegangen war. Danach hatte ich mit Diego weder telefoniert, oder mich auf eine andere Art mit ihm verständigt. Und auch jetzt hatte ich mit keinem Wort erwähnt, was zwischen ihr und mir vorgefallen war, also woher wusste er das?

Darauf gab es nur eine logische Antwort, er hatte schon wieder hinter meinem Rücken mit ihr gesprochen. „Am besten du gehst gleich zu ihr und verpetzt mich wieder, das kannst du momentan doch so gut.“ Ich funkelte ihn noch mal an und gab dem Druck auf meinem dann Rücken nach.

Leise vor mich hinköchelnd ließ ich mich zu den Motorrädern bringen. Ich konnte nicht glauben, dass er es schon wieder getan hatte. So ein Mistkerl!

„Hey, das Lächeln nicht vergessen.“ Ryder gab mir mit dem Finger einen Stups auf die Nase und zauberte dann aus dem Fach unter seinem Sattel den Helm für mich hervor.

Mit einer Verbeugung, reichte er ihn mir. „Für Euch, meine Schöne.“

Mir war klar, dass Ryder diese Show nur abzog, um Diego noch zusätzlich zu nerven, aber gerade war mir das völlig egal. Ich selber verhielt mich auch nicht weniger auffällig, als ich danach griff, mich dann zu meinem idiotischen Freund umdrehte und ihn demonstrativ auf den Kopf setzte. Ein vorwurfsvoller Blick ging noch in seine Richtung, dann schwang ich mich hinter Ryder in den Sattel, rutsche ganz nahe an ihn heran, um mich manierlich an ihm festklammern zu können.

„Bereit?“, fragte Ryder über die Schulter hinweg.

Tyrone startete bereits seine Maschine.

„Ja, lass uns hier verschwinden.“ Egal wohin, einfach nur weg.

„Dein Wunsch ist mir wie immer Befehl.“ Sein Motor heulte auf.

Sobald Tyrone losgefahren war, setzte Ryder ihm hinterher, schaltete ein paar Gänge hoch und dann rasten wir auch schon mit Vollgas über den Asphalt.

Der kühle Wind vertrieb die sommerliche Hitze von meiner Haut. Es war angenehm, aber leider half es mir nicht dabei die düsteren Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben.

Ich war sauer, richtig sauer. Diego war schließlich mein verfluchter Freund und trotzdem verband er sich hinter meinem Rücken mit Victoria. Da musste ich mich doch fragen, wie oft hatte er das schon getan? Wie viele von unseren kleinen Geheimnissen waren bereits bis zu unserem Hausmädchen vorgedrungen? Es war einfach scheiße von ihm. Und mir dann auch noch vorschreiben wollen, was ich zu tun und zu lassen hatte, das war wirklich der Gipfel.

Noch während mein Ärger wuchs, machte Ryder mich auf etwas hinter uns aufmerksam.

Ich warf einen Blick über die Schulter und konnte es kaum glauben, als ich den silbernen Fiat entdeckte. Diego! Das gab es doch nicht, jetzt verfolgte er mich schon. Das grenzte ja schon an Stalking. „Gib Gas!“, rief ich über den Motorlärm hinweg und augenblicklich wurde die Maschine noch schneller.

Wir überholten in rasender Geschwindigkeit Tyrone, der sofort wieder zu uns aufschloss, aber Diego blieb hinter uns. Der wollte mich heute echt noch zur Weißglut bringen.

Vor uns tauchte eine rote Ampel auf. Tyrone und Ryder schlängelten sich zwischen den wartenden Autos durch, machten aber an der roten Ampel nicht halt. Ich schrie noch, das rot sei, da zischten wir schon auf die Kreuzung. Autos hupten. Ich kniff die Augen zusammen und wartete auf den Zusammenstoß. Auf eine Kühlerhaube, die mich quer über die Kreuzung schleuderte, auf eine Windschutzscheibe, in die ich hinein donnerte, auf den harten Asphalt, auf dem ich mir die Hälfte meiner Knochen brach, aber nichts geschah. Vielleicht war ich schon tot und es war so schnell gegangen, dass ich es gar nicht gespürt hatte. Doch die Vibration unter mir blieb gleichmäßig und unter meinen Händen spürte ich Ryders Lachen in der Brust.

Vorsichtig wagte ich es meine Augen zu öffnen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass wir die Kreuzung hinter uns gelassen hatten. Ich lebte, war unversehrt und saß noch immer hinter Ryder auf der Maschine. Tyrone ein Stück vor uns. Auch er war völlig in Ordnung.

Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte mir, dass Diego weiter Hinten feststeckte. Er würde uns nicht mehr einholen und so oft, wie die beiden danach abbogen, war es sehr unwahrscheinlich, dass er unsere Spur verfolgen konnte.

Das war gut. Trotzdem würde ich Ryder einen kräftigen Knuff verpassen, sobald diese Höllenmaschinerie anhielt. Einfach bei Rot auf eine vielbefahrene Kreuzung zu rasen war saudämlich.

 

°°°°°

Grauen bei Nacht

 

„Okay, Ketschup oder Mayonnaise?“

Ich schluckte meinen Bissen herunter, weil es einfach keine besonders attraktive Eigenschaft war mit vollem Mund zu sprechen und zu riskieren, dass einem dann auch noch das halb durchgekaute Essen aus dem Mund fiel. „Kommt auf das Gericht an. Pommes mit Mayo, Würstchen mit Ketschup. Oder auch Senf, das habe ich sogar fast lieber.“

Angewidert verzog Ryder das Gesicht. „Igitt, Senf.“ Dann biss er wieder in seinen Burger.

Nach unserer kleinen Verfolgungsjagd, hatten wir vor einer Burgerbude direkt an der Straße halt gemacht, um uns zu stärken und unsere knurrenden Mägen zu besänftigen. Mit unserer Beute waren wir dann zu dem einen der drei Tische gegangen, die durch große steinerne Blumenkästen ein wenig von der Straße abgetrennt wurden. Jetzt spielten wir nebenbei Frage und Antwort. So hatte ich bereits herausbekommen, dass Ryder ein Leckermäulchen war, das für Schokokekse sterben könnte, Tyrone eine Schwäche für Lakritze hatte und das beide gerade mal neunzehn waren. Das hatte mich schon ein wenig überrascht, ich hatte sie älter eingeschätzt.

„So, dann bin ich jetzt wohl wieder dran“, sagte ich und ließ das letzte Stück meines Cheeseburgers mit extra viel Gurken in meinem Mund verschwinden. Ein paar Mal kauen, runterschlucken. „Tyrone.“ Ich schaute quer über den Tisch hinweg zu ihm rüber. „Was magst du lieber, Vanilleeis mit heißer Himbeersoße, oder ein leckeres Banana Split mit einer extra Portion Sahne?“

„Keins von beiden“, sagte er wie aus der Pistole geschossen. „Ich mag kein Eis.“

„Kein Eis?“ Ich war entsetzt. „Von welchem Planeten stammst du denn?“

„Ich glaube man nennt ihn Erde“, grinste er und nahm die nächste Fritte zur Hand. „Gut, dann bin ich jetzt dran. Hunde oder Katzen?“

Ehe ich antworten konnte, klingelte mein Handy neben mir auf dem Tisch – mal wieder. Das war das vierte Mal, seit wir hier angehalten hatten und genau wie die Male davor, war es wieder Diego, der wegen seinem Verrat vermutlich zu Kreuze kriechen wollte. Aber das konnte er vergessen. Nachdem was er sich geleistet hatte, konnte er von mir aus zur Hölle fahren und in Lava baden. Das machte ich ihm auch sehr deutlich, indem ich ihn einfach wegdrückte. Und wenn ich eh schon dabei war, konnte ich es auch gleich ganz ausschalten. So konnte er mich wenigstens nicht weiter belästigen.

Als wenn es diese kleine Unterbrechung niemals gegeben hätte, schaute ich wieder hoch. „Wo waren wir stehen geblieben?“

Auch Tyrone überging den kleinen Zwischenfall. „Hunde oder Katzen.“

„Ach ja, eindeutig Katzen“, antwortete ich. „Die kleben einem nicht die ganze Zeit am Hintern, sodass du ständig Gefahr läufst über sie rüber zu fallen und haben auch nicht das Bedürfnis dir den Schritt vollzusabbern.“

Dafür bekam ich von beiden ein leises Lachen.

Mein nächstes Ziel war damit wieder Ryder, der direkt neben mir auf der Holzbank saß. „Und was ist mit dir? Banana Split, oder Vanilleeis mit heißer Himbeersoße?“

„Banana Split. Es gibt nichts Besseres auf der Welt als Banana Split.“

Da konnte ich ihm nur zustimmen. Das war auch meine Lieblingssorte. Insgeheim freute ich mich, dass wir etwas gemeinsam hatten.

„O-kay, dann bin ich jetzt wohl wieder dran.“ Einen Moment sah er mich nachdenklich an, dann verzog sich sein Mund zu einem listigen Lächeln. „Auf welche Art Typ stehst du. Blond, brummig, und schweigsam?“ Er deutete auf Tyrone. „Oder gut gebaut, schwarzhaarig mit Zopf, Charme, und einem überaus angenehmen Charakter.“ Er deutete auf sich selber.

Tyrone schnaubte spöttisch und ließ seine Fritte im Mund verschwinden.

Ich war mir nicht sicher, worauf er mit dieser Frage hinaus wollte, aber plötzlich wurde ich mir etwas anderes bewusst. „Ist euch aufgefallen, dass ich doppelt so viele Fragen beantworten muss wie ihr?“

„Das liegt daran, dass wir zwei gegen ein spielen“, lächelte Ryder. „Und jetzt nicht ablenken, ich will eine Antwort haben.“

Das war mir schon klar, aber ich würde hier auch auf niemanden mit dem Finger deuten, das konnte er vergessen. „Das Aussehen spielt für mich nur an zweiter Stelle eine Rolle. Worauf es mir ankommt sind Ehrlichkeit und Vertrauen. Klar, ich will keinen Quasimodo, aber in erster Linie sollte ein Kerl mich zum Lachen bringen können. Er sollte mich verstehen, unternehmungslustig sein, spontan, ein bisschen romantisch, verrückt uuund“ - Ich machte eine Kunstpause - „er muss verdammt gut küssen können.“

„Na dann bin ich ja genau der Richtige“, behauptete Ryder und warf Tyrone einen bösen Blick zu, weil der sich vor Lachen an seinen Pommes verschluckte.

Ich reichte ihm meine Limo und wartete bis er sich von seinem Anfall erholt hatte, bevor ich meine nächste Frage an ihn richtete. „Also gut. Wo schaust du bei einem Mädchen zuerst hin. Augen oder Hintern?“

Tyrone lächelte. „Was glaubst du?“

„Das ist hier nicht gefragt. Also?“ Ich deutete ihm mit der Hand zu antworten und sein Lächeln wurde noch breiter.

„Es gibt nichts besseres, als einem Mädchen in die Augen zu sehen und das verliebte Funkeln darin zu erblicken.“ Er sah mir genau in die Augen und wow, das war echt süß. „Aber ein netter Hintern ist auch nicht zu verachten.“

Ich verdrehte die Augen, das war ja klar.

„Guck nicht so, du hast gefragt.“

Ja, das stimmte und eigentlich überraschte mich diese Antwort auch nicht. Schließlich betrachtete ich auch ganz gerne mal die Kehrseite eines Mannes.

„Dann würde ich jetzt gerne von dir wissen, glaubst du an Mythen?“

„Mythen?“

Tyrone nickte. „Ja, Vampire, Werwölfe und der ganze Kram.“

„Ich weiß nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und klaute mir eine von Tyrones Fritten von seiner Pappschalle. „Wäre schon irgendwie cool, wenn es so was gäbe.“

„Und nehmen wir mal an, solche Wesen existieren wirklich, was wärst du dann gerne?“

Auf halbem Wege zu meinem Mund machte ich halt. „Das war jetzt aber eine zweite Frage.“

„Die gehört noch zur ersten dazu.“

„O-kay.“ Da war ich zwar anderer Meinung, aber bitte, ich hatte nichts dagegen einzuwenden. „Wenn es so etwas wirklich geben würde, wäre ich gerne eine Hexe.“

Tyrone legte seine Stirn in Falten. „Eine Hexe?“

„Ja klar, das wäre doch der Wahnsinn. Mit dem ganzen Hokus Pokus, und dem Simsalabim. Überleg' doch mal, nur eine Bewegung mit dem Zauberstab“ - Ich schwang den Pommes in meiner Hand, auf und ab. - „und zack, die coolsten Klamotten von allen würden mir gehören.“

„Mädchen“, kommentierte Ryder kopfschüttelnd.

Ich lehnte mich zurück und zog eine Augenbraue hoch. „Was soll das heißen, Mädchen? Was wärst du denn gerne?“

„Ich doch ganz klar, ein Vampir“, sagte er ohne zu zögern und klaute sich auch eine von Tyrones Pommes.

„Warum ist das klar?“, wollte ich wissen. Ein Vampir war so ziemlich das Letzte, was ich sein wollte. Ich meine, das ewige Leben hatte schon was Verlockendes, wenn man darauf stand, doch auch wenn ich nicht besonders Christlich war, meine Seele würde ich für so etwas nicht hergeben wollen.

„Na mit all den Kräften. Du kannst Leuten deinen Willen unterwerfen, siehst magisch gut aus, auch wenn ich das natürlich nicht mehr brauche.“

Ich kicherte.

„Man kann sich rasend schnell bewegen“, erklärte er weiter. „Und alle deine Sinne sind hochsensibel.“

„Nicht zu vergessen, das Blut trinken, von schönen Jungfrauen“, ergänzte ich noch spöttisch.

Er grinste schelmisch und ließ dabei ein Stück seiner Zähne blicken. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal bemerkte, das, wann immer er lächelte, nur seine Lippen verzog. Noch nie hatte er dabei auch nur den Ansatz seiner Zähne gezeigt. Obwohl ich zugeben musste, dass er das durchaus öfter tun sollte. Es stand ihm gut … zu gut, wie ich mir eingestehen musste.

„Bist du denn noch eine Jungfrau?“

„Warum, wärst du dann ein Vampir?“

Seine hellen Pupillen verdunkelten wieder auf diese seltsame Weise. „Wenn ich dann an dir knabbern dürfte.“ Er zog seine Augenbrauen hoch und runter und ich musste wieder kichern. Was tat ich hier eigentlich? Flirtete ich etwa? Plötzlich war ich mir seiner Nähe nur allzu bewusst. Er saß so dicht neben mir, dass sich unsere Beine berührten und wie auf Befehl spürte ich wieder dieses leichte Kribbeln.

„Okay“, sagte ich schließlich, um meine Unsicherheit zu überspielen. „Wenn du ein Vampir bist, darfst du an mir rumknabbern!“

Tyrone verschluckte sich wieder, schlimmer als vorhin. Tränen schossen ihn in die Augen und in seinem Gesicht saß ein Grinsen, das er einfach nicht loswurde.

Ich warf ihm einen kritischen Blick zu. „Was ist daran so witzig, das du fast krepierst?“

Er schüttelte den Kopf und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Nichts, nur das ihr den besten Mythos von allen vergesst.“

„Was du nicht sagst. Was wärst du den gerne?“

Sein Blick bekam etwas Gefährliches. „Wild und animalisch.“ Er warf seinen Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf. Laut und durchdringend. Ein paar Leute auf der Straße drehten sich erschrocken nach uns um, doch das registrierte ich nur am Rand. Ich war von dem Ton, die Art wie er das machte, so gebannt, dass in mir der Drang erwachte, ihm zu antworten.

Genau wie er, legte ich meinen Kopf in den Nacken und stimmte in seinem Geheul mit ein. Lauter, intensiver, sodass nicht nur die Leute auf der Straße, sondern auch der Koch in der Burgerbude aufsah um nachzuschauen, was wir hier für Unsinn trieben.

Ich konnte kaum glauben, was ich da tat. Ich saß mitten in der Stadt beim Mittagessen und jaulte mit Tyrone um die Wette. Und es fühlte sich genial an. Frei und unbesonnen. Nein, ich war keine Hexe, ich war ein Wolf, der grazile König des Waldes.

Erst als Tyrone sein Heulen abbrach, kam auch ich wieder zur Ruhe und sah in die Gesichter der Jungs, die seltsam zufrieden wirkten. Beide mit einer Pommes in der Hand, die auf halben Wege in der Luft hängen geblieben waren.

Auch ich hielt lächelnd hielt ich meine Pommes hoch. „Ich hab den Größten.“

Tyrone gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus Schnauben und Lachen war. „Na das bezweifle ich doch stark.“

„Doch, ich …“ Ich unterbrach mich, sobald mit die Zweideutigkeit meiner Worte aufging und konnte nur noch die Augen verdrehen. „Typisch Kerle.“

Die letzten vier Fritten verleibte sich Tyrone ein, bevor wir ihm die auch noch streitig machen konnten und stand dann von seinem Platz auf. „Ich bin dann mal drüben.“ Und schon war er weg.

Ich sah ihm noch hinterher, wie er in eiligen Schritten die Nische verließ, über die Straße eilte und einem hupenden Autofahrer den Stinkefinger zeigte.

„Wo geht er hin?“

„Unterhaltung für heute Abend besorgen.“ Mit dem Finger deutete er auf eine Videothek ein Stück die Straße herunter.

„Und was schaut ihr euch an?“

„Da Tyrone heute mit aussuchen dran ist, wird es ein grusliger Abend.“

„Horrorfilme?“, fragte ich entzückt und hüpfte fast von der Bank. „Ich liebte Horror!“ Das Regal in meinem Zimmer war Beweis genug. Leider stöhnten Diego und Lucy nur noch, wenn ich mit einem neuen Film bei ihnen ankam. Dabei gab es doch nichts Besseres als sich um Mitternacht einen Horrorfilm bei Popcorn und ausgeschalteten Licht, reinzuziehen.

Ich glaubte, meine Stimme hatte einen Hauch meiner Begeisterung preisgegeben, denn Ryder schmunzelte amüsiert. „Möchtest du uns heute Abend Gesellschaft leisten?“

Eine kleine Stimme in meinem Kopf ermahnte mich nein zu sagen. Seltsamer Weise hatte diese Stimme auffallende Ähnlichkeit mit der von Diego. Das allein war bereits Grund genug sie zu ignorieren. „Klar, auf jeden Fall.“

Noch ehe Ryder überhaupt die Chance bekam, mir Platz zu machen und mich aus meiner Nische rauszulassen, stieg ich auf die Bank hoch und kletterte über seinen Rücken hinweg. Dabei traf ich ihn mit dem Knie an der Schulter. „Oh Sorry.“

Er ächzte übertrieben. „Die Grazie eines Elefanten.“

Ich streckte ihm die Zunge raus, kehrte ihm dann den Rücken zu verließ ohne auf ihn zu warten den Sitzbereich der Burgerbude. An der Straße jedoch holte er mich wieder ein, da ich warten musste, wenn ich nicht überfahren werden wollte.

Mit einem „Hier“ hielt er mir ein Handy vor die Nase – mein Handy. „Das hast du in deinem Überschwung liegen gelassen.“

Oh je. „Danke.“ Ich nahm es ihm ab und ließ es in meiner Tasche verschwinden. Die hing zum Glück die ganze Zeit an ihrem Riemen über meine Schulter, sonst hätte ich die in meiner Aufregung auch noch vergessen.

Als sich zwischen dem Strom an Fahrzeugen eine Lücke auftat, eilten Ryder und ich schnell auf die andere Straßenseite.

Von außen wirkte die Videothek recht klein, doch sobald man durch die Tür trat und das kleine Glöckchen einen neuen Kunden ankündigte, bemerkte man wie weit nach hinten das Geschäft noch ging.

Reihe um Reihe standen Regale so dicht aneinander, dass man von der Auswahl an Filmen geradezu erschlagen wurde und in der Luft lag der süßliche Geruch einer Popcornmaschine.

Um diese Tageszeit war der Laden nicht sehr gut besucht und so entdeckte ich Tyrone ohne weitere Probleme vor einem Regal im hinteren Bereich. In jeder Hand hielt er eine DVD-Hülle und arbeitete sich konzentriert durch die Klappentexte auf der Rückseite.

Unbemerkt trat ich von hinten an ihn heran und spähte auf Zehenspitzen über seine Schulter hinweg auf die Filme die er sich ausgesucht hatte. Hm, das waren beides nicht unbedingt Klasse A Filme. Darum zeigte ich auf eine Hülle, die sich direkt vor seiner Nase befand. „Nimm den da, der ist gut.“

Irritiert sah er von der Hülle in seiner Hand zu mir. „Was machst du denn hier?“

„Das ist ein freies Land, oder?“

„Ich hab sie für heute Abend eingeladen“, beantwortete Ryder die Frage und nahm seinem Bruder die beiden weißen Kärtchen aus der Hand, mit denen man am Tresen die Filme bekam.

Mit gestrecktem Hals, lass ich die Titel, die Tyrone rausgesucht hatte. „Den solltest du nicht nehmen, der ist scheiße.“

Erneut sah Tyrone zu mir. „Bist du ein Experte, oder was?“

„Komm mich mal besuchen und sieh dir meine Sammlung an, dann fragst du das nicht mehr“, gab ich zuckersüß zurück.

Zum Schluss beherzigte Tyrone meinen Rat und tauschte den Film gegen einen andere ein. Dann machten wir uns mit drei Kärtchen bewaffnet auf zum Tresen, wo ich dem Einkauf noch Popcorn und anderes Knabberzeug aus der Auslage hinzufügte. Als ich dann aber eine meiner Kreditkarten zückte und sie dem Verkäufer reichen wollte, riss Ryder sie mir auf halben Wege aus der Hand.

„Hey!“

„Keine Kreditkarten“, sagte er ernst und drückte sie mir wieder in die Hand.

Ähm … „Warum?“

„Die kann man zurückverfolgen.“

Stirnrunzelnd schaute ich zu Tyrone. War das sein ernst?

Ryder schnaubte und zog seine eigenes Portemonnaie aus der Hosentasche. „Das war ein Scherz.“ Er reichte dem Mann an der Kasse ein paar Geldscheine, während Tyrone bereits unsere Beute an sich nahm. „Du bist unser Gast, also bezahlen wir.“ Das Wechselgeld ließ er in seiner Brieftasche verschwinden, dann schob er mich auch schon Richtung Ausgang.

Das Kribbeln, das bei seiner Berührung über meinen Rücken kroch, machte mir eine Gänsehaut. Es kam jedoch nicht gegen den kleinen Argwohn an, der mich bei Tyrones Aussage beschlichen hatte und plötzlich musste ich wieder an das Gespräch mit Diego denken. Nicht dass ich auf einmal glaubte die beiden wären gefährlich, aber was wusste ich bisher eigentlich über sie? Sie fuhren Motorrad, waren seit gerade mal zwei Wochen in der Stadt und hatten einen Schwager, was bedeutete, dass es da noch eine Schwester geben musste. Okay, es konnte auch noch ein weiterer Bruder sein, aber ich tippte einfach mal auf ersteres.

Damit hatte ich mein Wissen über sie im Grunde auch schon ausgeschöpft. Aber das würde sich doch sicher ganz einfach ändern lassen. „Wo wohnt ihr eigentlich?“, wollte ich wissen, als Tyrone mir die Tür aufhielt.

„Gleich um die Ecke.“ Ryder schob mich hinaus und lenkte mich dann die Straße nach rechts runter.

„In dieser Gegend?“ Ich ließ mein Blick über die Gebäude schweifen. Nobel war anders.

„Na was hast du denn gedacht?“, fragte Tyrone. „Das wir nach dem Stopp an der Videothek noch mal durch die halbe Stadt müssen?“

Ja, okay, das war dann wohl nicht unbedingt die intelligenteste Frage gewesen. „Und ihr wohnt schon alleine?“

„Ganz schön neugierig.“ Ryder legte mir einen Arm um die Schulter und führte mich in eine Seitenstraße.

Ich schubste seinen Arm wieder runter. „Nicht neugierig, nur ein kleinen wenig … okay, ja, ich bin neugierig. Du hast bei unserem ersten Treffen mit deinem Schwager telefoniert, was heißt, da muss es noch eine Schwester geben.“

„Zwei“, grummelte Tyrone.

Ryder lachte. „Eine ältere und eine Jüngere, aber die wohnen beide noch zu Hause bei unserem Vater.“

„Das heißt ihr wohnt alleine?“

„Jup.“ Ryder ließ seine Augenbrauen hüpfen. „Möchtest du es dir jetzt noch mal anders überlegen?“

„Warum, hast du anrüchige Absichten?“

Sehr auffällig ließ er seinen Blick über meinen Körper wandten und zwinkerte mir dann mal wieder zu, als er bemerkte, wie sich meine Wangen leicht röteten. „Vielleicht.“

Demonstrativ machte ich einen Schritt von ihm weg. „Ich glaube ich sollte mir einen Elektroschocker besorgen.“

„Eine kalte Dusche würde schon ausreichen“, erklärte Tyrone und steuerte dann die Haustür mit der Nummer siebenunddreißig an, wo er dann einen Schlüssel aus der Tasche zog und uns in ein Mehrfamilienhaus einließ.

Das Gebäude wirkte ein wenig gepflegter, als die Wohnhäuser drumherum. Nicht nur von außen, auch von innen. Zwar schien alles schon ein wenig alt, aber durchaus sauber. Was ich jedoch zu meinem entsetzen feststellen musste, war, dass es hier keinen Fahrstuhl gab. Nichts ungewöhnliches für Altbauwohnungen, doch zu meinem Leidwesen wohnten die beiden nicht in den unteren Stockwerken.

Es verlangte mir die ganze Kapazität meiner Lunge ab, nach oben in den siebenten Etage zu kommen. „Also Jungs“, keuchte ich, während ich die letzten Stufen überwand. Gott, ich hatte absolut keine Kondition. „Bevor dieses Haus keinen Aufzug hat, werde ich die Wohnung nicht mehr verlassen.“ Es konnte niemand von mir verlangen, dass ich diese Strapazen ein zweites Mal auf mich nahm.

„Dann teilst du dir aber das Zimmer mit Ryder“, sagte Tyrone entschieden und öffnete uns die Wohnungstür. „Mein Zimmer gehört mir alleine.“

Ryder grinste schelmisch.

Man, wie schafften die beiden es nur, nach dem Aufstieg so locker da zu stehen? Das Volumen ihrer Lungen musste ja gigantisch sein. „Okay“, stimmte ich Richtung Ryder zu. „Du schläfst auf dem Boden, ich kriege das Bett.“

„Das kannst du vergessen“, erwiderte er nachdrücklich. „Mein Zimmer, mein Bett.“

Ich tat entsetzt. „Du würdest ein armes Mädchen auf dem Boden schlafen lassen?“

„Wenn du mich ganz lieb bittest, darfst du vielleicht zu mir unter die Decke kriechen.“

„Danke, da schlafe ich doch lieber auf dem Boden“, versetzte ich und trat hinter Tyrone in die Wohnung.

Von dem etwas verwinkeltem Flur gingen – einschließlich der, durch die wir gerade getreten waren – sechs Türen ab. Eine links, zwei geradezu, eine rechts und neben der Wohnungstür führte noch eine in die Küche.

Das erste was mir jedoch auffiel waren die nackten Wände und die praktisch nicht vorhandene Einrichtung. Ich wunderte mich, bis ich durch den Flur geradezu in das Wohnzimmer kam. Hier sah es nicht anders aus, aber in der Ecke standen Farbeimer, Tapetenrollen, Pinsel, Abdeckfolie, und anderer Kram, den man zum renovieren brauchte.

Da sie gerade erst hier her gezogen waren, sollte mich das eigentlich nicht wundern. Trotzdem erschien mir die wenige Einrichtung ein wenig … schlicht. Die einzigen Möbel in diesem Raum waren ein Fernsehschrank, mit Fernsehanlage und eine kleine rote Eckcouch. Nicht mal ein Tisch gab es. Dadurch wirkte der große Raum gleich noch leerer.

„Wir kamen noch nicht dazu uns häuslich einzurichten“, erklärte Ryder, der mich vom Türrahmen aus beobachtete. „Da gab es ein paar andere Dinge, die Vorrang hatten.“

„Was denn?“ Ich sah mich weiter um und entdeckte in der Ecke eine Kiste mit einem Telefon und einem Bilderrahmen.

„Abgesehen von dem ganzen Bürokratischen Mist, den so ein Umzug mit sich bringt? Ein paar heiße Schnecken an der Uni aufreißen.“

Ahja. Das wurde schlich nicht kommentiert. Stattdessen trat ich neugierig wie ich war zum Telefon und nahm den Bilderrahmen zur Hand. Zwei kleine Jungs – ganz klar Tyrone und Ryder – bauten darauf am Strand eine Sandburg, zusammen mit einem blonden Mann.

„Da haben wir Urlaub in der Türkei gemacht.“

Ich strich mit dem Finger über den pausbackigen Jungen mit den strubbligen, schwarzen Haaren, die in alle Himmelsrichtungen abstanden. Die kleine Zahnlücke war entzückend. „Wie alt wart ihr da?“

„Sechs. Das war mein erster Sommer in der Familie.“

Da fiel mir wieder ein, dass er ja adoptiert war. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie das sein musste, bei wildfremden Menschen aufzuwachsen. Andererseits … Victoria war ja auch nicht meine Mutter, verbrachte aber mehr Zeit mit mir, als meine Erzeugerfraktion es jemals getan hatte. „Sind deine Eltern … ich meine, wie bist du …“ Hm, wie fragte man sowas am besten?

„Was mit meinen leiblichen Eltern ist?“ Er kam zu mir rüber und nahm mir das Bild aus der Hand. Als er weiterredete, sah er mich nicht an. „Ich habe keine Ahnung. Sie haben mich nach der Geburt abgegeben. Soweit ich weiß, waren sie noch sehr jung, und fühlten sich der Aufgabe ein Kind großzuziehen nicht gewachsen.“ Das Bild landete wieder neben dem Telefon. „Ich habe sie nie kennengelernt, also vermisse ich sie auch nicht.“

Das redete ich mir auch häufig ein, wenn ich an meinen Vater dachte.

„Außerdem mag ich mein Leben so wie es ist. Und sieh es doch mal so. Hätten meine leiblichen Eltern damals nicht diese Entscheidung getroffen, würde ich jetzt nicht hier mit dir stehen.“ Lächelnd sah er mich wieder an. Und wie er das sagte, süß, einfach nur süß.

Ich schaute zurück auf das Bild, in das lächelnde Gesicht des kleinen Blondschopfs. „Aber bist du denn niemals neugierig, woher du kommst?“

„Naja, damals nach dem Tod meiner Mutter hatte ich so eine Phase gehabt, einfach weil ich … ich weiß nicht, vielleicht wieder eine Mutter haben wollte? Und schließlich gab es da ja noch die Frau die mich zur Welt gebracht hatte. Aber mit der Zeit hat sich dieser Wunsch wieder in Luft aufgelöst.“

Seine Mutter war gestorben? „Wir scheinen ja mehr gemeinsam zu haben, als ich bisher geglaubt hatte.“

„Was meinst du?“ Er schlenderte hinüber zum Sofa und ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf der Rückenlehne drauf fallen.

Ich folgte seinem Beispiel, behielt meine Hände aber in meinem Schoß und stellte meine Tasche auf dem Boden ab. „Ich habe auch einen toten Elternteil.“ Das war zwar nicht unbedingt eine tolle Gemeinsamkeit, aber es war eine Gemeinsamkeit.

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Da du von deiner Mutter bereits gesprochen hast, ist dir wohl dein Vater abhanden gekommen.“

Ja, so konnte man es auch ausdrücken. „Ich war erst ein paar Wochen alt gewesen, als mein Vater eine Straße überqueren wollte. Da war so ein betrunkener Autofahrer der Meinung gewesen, dass rote Ampeln nicht für ihn gelten und ist mitten über die Kreuzung gerast. Dabei hatte er es nicht nur geschafft meinen Vater, sondern gleich auch noch sich selbst ins Jenseits zu befördern.“

„Ohu“, machte Ryder. „Jetzt verstehe ich auch deinen tätlichen Angriff auf mich.“

Da sprach er wohl von dem Knuff, denn ich ihn verpasst hatte, sobald wir vom Motorrad abgestiegen waren. Ich hatte doch gesagt, dass ich das tun würde. „Da ich meinen Vater nur von Fotos kenne, kann ich nicht wirklich sagen, dass er mir fehlt. Bei dir ist das sicher etwas anderes. Du hast deine Adoptivmutter schließlich kennengelernt.“

„Ja.“ Er nickte und etwas Trauriges trat in seine Augen. „Ich konnte mich auch noch von ihr verabschieden.“

Ich war schon versucht den Mund zu öffnen, um ihn zu fragen, was er damit meinte, zwang mich dann aber den Mund geschlossen zu halten.

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Dabei spannte sich dein Shirt über seiner Brust. „Du hast doch noch eine Frage, das sehe ich dir an.“

Ich schüttelte meinen Kopf und zog meinen Zopf über die Schulter, sodass ich etwas hatte, an dem ich herumspielen konnte.

„Du kannst ruhig fragen.“

„Ich will nicht zu aufdringlich sein.“ Außerdem war das ein heikles Thema.

Er lachte. „Du hast dich schon mehr oder weniger selber eingeladen, aufdringlicher geht es ja wohl kaum. Außerdem, was soll schon groß passieren? Ich meine außer dass du keine Antwort bekommst.“

Da würden mir so einige Dinge einfallen. Wovon, dass er sauer wird und mich rausschmeißt noch das harmloseste war. Ich biss mir auf die Lippe.

„Nun komm schon, spuck es aus“, drängte er mich und trotz meiner Vorbehalte öffnete ich zögernd den Mund.

„Na ja, ich hab mich nur gefragt, wie deine Mutter gestorben ist.“

„Krebs.“ Sein Blick verdunkelte sich mal wieder – das bildete ich mir doch nicht ein, oder? „Das war nicht schön gewesen und am Ende hat sie nur noch im Krankenhaus zwischen all diesen Maschinen und Schläuchen gelegen. Als ich sie das letzte mal sah, habe ich sie kaum noch erkannt.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht glauben und auf einmal wirkte er so verletzlich, dass ich ihn fast in den Arm genommen hätte. „Wir haben sie fast jeden Tag besucht. Manchmal haben Tyrone und ich uns zu ihr ins Bett gelegt. Einfach nur dagelegen und sie gebeten, wieder gesund zu werden.“

Ich musste schlucken. Allein schon die Vorstellung … das war ja noch schlimmer, als ich erwartet hätte. Meine Mutter war zwar nie zu Hause, aber wenn ich daran dachte, dass ihr so etwas widerfuhr … mir schnürte sich fast die Kehle zu.

„Eines Tages ist unser Vater alleine zu ihr gefahren. Er war fast zwei Tage weg gewesen.“ Sein Blick wurde leer in Erinnerung an die Vergangenheit. „Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als er durch die Haustür kam, uns beide einfach in die Arme nahm und weinte.“

Oh Gott, das war grausam.

„Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. In diesem Augenblick wusste ich, dass wir sie nie wieder sehen würden. Sie war jetzt bei den Engeln und wachte über uns.“ Er lachte erstickt auf, aber es klang irgendwie verzerrt. Dieser Verlust traf ihn noch heute. „Das hat der alter Herr uns damals gesagt. Wenn wir nur daran glaubten, ist sie dort oben und passte auf uns auf.“

Ob mein Vater das auch tat? Er kannte mich doch schließlich gar nicht. Okay, das war ein blöder Gedanke. Ein Leben nach dem Tod und dieser ganze Quatsch war völlig unrealistisch. Wenn man abkratzte, war man einfach weg und nichts und niemand konnte daran noch etwas ändern.

Aber manchmal, besonders wenn ich meine Mutter dabei erwischte, wie sie heimlich die wenigen Fotos aus der kleinen Pappschachtel unter ihrem Bett durchschaute, wünschte ich allein um ihrer Willen, dass es anders wäre. Sie sah immer so traurig und allein aus, wenn sie die Bilder zur Hand nahm. Ich wusste, dass sie ihn vermisste und wahrscheinlich noch immer liebte, denn ich hatte sie nie mit einem anderen Mann gesehen. „Manchmal ist die Welt einfach nur scheiße.“

Er schnaubte verbittert. „Das ist mal ein wahres Wort.“

„Ich meine, da bekommst du nun schon die Chance auf eine Familie und dann kommt sowas dabei raus. Dabei wirkst du immer so fröhlich.“

„Was soll ich denn sonst tun? Mich in mein Zimmer einschießen und in Depressionen verfallen?“

„Nein“, gab ich kleinlaut zu. „Natürlich nicht, aber ich meine … wenn mir so etwas passieren würde, ich weiß nicht, ob ich je wieder …“ Unschlüssig fuchtelte ich mit der Hand in der Luft herum. Lachen könnte? Glücklich sein? Wahrscheinlich hätte ich auch noch zu viel Angst meine Mutter in ihrem letzten Tagen zu besuchen. Sie war so eine starke Frau, dass ich sie mir krank und ans Bett gefesselt gar nicht vorstellen konnte.

„Hey, hör mir mal zu.“ Er nahm seinen Arm von der Lehne und griff nach meinem Kinn, sodass ich ihn ansehen musste. Dabei kam er mir unheimlich nahe, als wollte er damit die Eindringlichkeit seiner Worte untermalen. „Glaub mir, am Anfang war es alles andere als leicht. Besonders Tyrone hat es schwer getroffen. Aber wenn der Schmerz auch nie ganz verschwindet, das Leben geht weiter, das mussten wir beide lernen. Wir hatten nur zwei Möglichkeiten, entweder wir trauern der Vergangenheit nach, oder wir lernen damit zu leben. Unsere Mutter hätte nicht gewollt, dass wir um sie weinen.“ Sein Daumen strich mir beruhigend über die Wange. „Und sie hätte auch nicht gewollt, dass du deswegen traurig wärst. Dafür war sie ein viel zu fröhlicher Mensch gewesen.“

Das konnte schon sein, aber trotzdem war sie jetzt nicht mehr als ein Haufen Staub.

„Komm schon“, sagte Ryder. „Lach wieder. Du weißt doch, ein strahlendes Lächeln erhellt die Welt.“

Das was daraufhin auf meinen Lippen erschien, war kein Lächeln, es war gerade mal der klägliche Abklatsch eines Versuchs. „Dann müssten aber viel mehr Leute lächeln.“

„Deines wäre doch schon mal ein guter Anfang.“ Seine Stimme war auf einmal viel leiser und der Blick seiner Augen, dieser faszinierenden Tore zur Seele … etwas veränderte sich darin.

Mir wurde bewusst, wie nahe er mir doch eigentlich war und dass sein Daumen noch immer sanft über meine Wage strich. Kribbelnde Spuren prickelten auf meiner Haut. Mein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig und auf einmal musste ich an den Showkuss in der Uni denken. Wie weich seine Lippen doch gewesen waren.

Mir wurde klar, würde ich mich jetzt nach vorn beugen, würde er mich nicht abweisen. Ich konnte es ihm ansehen, er wollte es, doch es verwirrte mich. Etwas in mir hinderte mich daran es zu tun. Es wäre nicht richtig, ich kannte ihn doch kaum.

Das in der Uni war etwas anderes gewesen, da wollte ich nur Elena eins auswischen, aber wenn wir das hier jetzt machten, dann hätte es eine Bedeutung und ich war mir nicht sicher, wie ich das finden sollte. Bedeutungen verkomplizierten alles. Bedeutungen waren mit Verpflichtungen verbunden. Bedeutungen ließen eine Freundschaft nicht zu und vor allen Dingen würde diese Bedeutung mir noch mehr Schwierigkeiten machen, als ich eh schon hatte.

Nein, das war eine Grenze, die ich nicht überschreiten sollte. Ich räusperte mich, wandte mein Gesicht aus seinem Griff und schaute mir die leeren Wände an. Ich versuchte mich daran zu erinnern, über was wir gerade noch gesprochen hatten, doch irgendwie verhinderte seine mir viel zu bewusste Gegenwart, dass mein Gehirn wieder in Gange kam. „Ähm, also … ich.“ Denk nach, lass dir was einfallen! Mein Blick glitt zurück auf das Bild. „Wo ist eigentlich Tyrone abgeblieben?“ Puh, ich war gerettet.

„In seinem Zimmer“, lächelte Ryder und die Art wie er das tat, zeigte mir deutlich, dass er genau wusste, was hier fast geschehen wäre. Und das er es noch immer wollte. „Den sehen wir so schnell nicht wieder.“

Schlecht, ganz schlecht. Alleine mit Ryder war nicht das, wonach mir im Moment der Sinn stand. Keine Ahnung warum, aber plötzlich fühlte ich mich in seiner Gegenwart nicht mehr all zu wohl. Es machte mich einfach nervös, mit ihm allein zu sein. Das musste schleunigst geändert werden. „Warum? Was treibt er denn da drinnen?“

Sein Lächeln wurde breiter und ein Hauch seiner strahlend, weißen Zähne wurde wieder sichtbar. „Sieh es dir an, es wird dir bestimmt gefallen.“

 

°°°

 

Ein finsterer Totenschädel blickte mir entgegen. Seine leeren Augenhüllen schienen mich bis auf die Seele durchbohren zu wollen und sein grausiges Lächeln hatte etwas psychopathisches, bei dem sich mir die Nackenhaare sträuben wollten. Er wirkte als wollte er jeden Moment aus dem Bild springen und jemanden fressen. Die Keep-out-Aufschrift darunter machte es auch nicht unbedingt besser.

Mein Gott, ich musste Tyrone unbedingt fragen, wo er den herhatte, der würde sich prima an meiner Wand machen.

Ich klopfte an seiner Zimmertür und musste kaum eine Sekunde warten, bis ich das „Herein“ hörte und grinsend in den Raum trat.

Er saß mit dem Rücken zur Wand auf seinem schmalen Bett, das neben einem Stapel Kartons das einzige Möbelstück in diesem doch eher kleinen Raum war.

„Versteckst du dich vor uns?“, fragte ich und ließ meinen Blick neugierig über die offenen Kisten schweifen. Klamotten und Krempel quollen daraus hervor. In einer entdecke ich sogar ein abgegriffenes Stoffkrokodil, dass ich völlig ungeniert herausnahm und dann grinsend in die Luft hielt. „Dein Schmuseteddy?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Sein Name ist Crocks und er gehört meiner kleinen Schwester. Sie hat ihn mir mitgegeben, damit ich sie nicht vergesse.“

Das war irgendwie süß. Ich legte ihn zurück in die Kiste und schaute in eine andere hinein. „Wie alt ist denn deine kleine Schwester?“

„Vierzehn.“

„Also noch fast unschuldig.“ Da ich außer ein paar Boxershorts und einer kleinen Sammlung an Comicheften nichts mehr interessanteres fand, schlenderte ich zu ihm herüber. Erst dabei bemerkte ich die kleine Blechkiste neben ihm, in der sich ein Haufen Zeichenstifte und Kohlestäbe lagen. An seinen aufgestellten Beinen lehnte eine große Holzunterlage, an der er ein Blatt Papier befestigt hatte. In seiner Hand hielt er einen Bleistift. „Du malst?“

„Manchmal.“

Ich setzte mich neben ihm ins Bett und schaute auf ein noch fast leeres Blattpapier. Leider waren bis auf ein paar Striche und Kreise noch nicht viel zu erkennen. „Was wird das?“

„Heute.“

„Hä?“ Es war doch einfach herrlich, wie gut ich mich verbal äußern konnte.

„Ich male, was heute passiert ist“, erklärte er mit einem kleinen Lächeln. Mein überaus ausdrucksstarkes Vokabular amüsierte ihn mehr als mir lieb war. „Aber ich habe gerade erst angefangen, es gibt also noch nicht viel zu sehen.“

„Schade.“ Es wäre nämlich wirklich interessant zu sehen, was er so zustande brachte. Wenn ich mir seine Ausrüstung anschaute, musste er schließlich wissen was er da trieb.

Tyrone betrachtete mich einen Moment nachdenklich. Dann legte er sein Zeichenbrett zur Seite, rutschte nach vorne an die Bettkante und zog darunter eine große Zeichenmappe hervor, die er mir reichte. „Falls es dich interessiert.“

„Und ob.“ Ich riss ihm das Ding praktisch aus der Hand, streifte mir dann mit den Füßen die Schuhe herunter und machte es mir dann im Schneidersitz bequem. Die große Mappe landete auf meinem Schoß. Sie war definitiv schon eine Weile in Gebrauch. Die Ränder waren abgegriffen und die Ecke hatte ein Eselsohr. Und sie war schwer. Da schienen so einige Zeichnungen drinnen zu sein.

Während ich sie aufschlug, setzte Tyrone sich wieder zurück an die Wand und griff nach seinem Zeichenbrett.

Bereits das erste Bild entlockte mir ein erstauntes: „Wow.“

Ein Auge blickte mir entgegen. Mit all den Schattierungen und Einzelheiten wirkte es so verdammt echt, dass ich mit einem Mal wusste, woher das Keep-Out-Schild an der Tür kam. „Das ist fantastisch.“

Ein schiefes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Es ist ganz gut.“

„Nun mal nicht so bescheiden.“ Ich blätterte weiter zu der Kohlezeichnung einer tanzenden Frau und konnte nicht glauben, dass es jemanden gab, der ein Bild so lebendig wirken lassen konnte. Ich war schon froh, wenn mein Strichmännchen nicht ausschließlich aus krummen Linien bestand. „Ich habe noch nie so viel Talent gesehen. Das ist einfach der Wahnsinn.“

„Danke“, sagte er leicht verlegen, aber ich war mir sicher, dass er sich insgeheim über das Kompliment freute.

Langsam blätterte ich mich durch die Mappe. Auf ein paar der Bilde entdeckte ich Ryder. Tyrone hatte es geschafft, seine Augen auf eine Art lebendig wirken zu lassen, dass man das Gefühl bekam, sie würden einen direkt ansehen. Ich sah Frauen und Männer, die ich nicht kannte, Kinder. Ein Bild zeigte ein brennendes Haus. Davor ein Mann, der ein weinendes Mädchen in den Armen hielt, im Hintergrund ein Wolfskopf, der traurig den Mond anheulte. So traurig das Bild auch war, wurde mir die Geschichte, die dahinter stand bewusst. „Das der Brand von dem Ryder erzählt hat. Der von dem du deine Narbe hast.“

„Ja“, war das Einzige, was er dazu zu sagen hatte und sein Ton sagte mir, dass ich mich mit der Antwort begnügen sollte, weil er nicht weiter darüber sprechen würde.

Als ich weiter blätterte, entdeckte ich das Bild einer schmächtigen Frau in einem Krankenhausbett. Ich musste nicht erst fragen, um die Geschichte dahinter zu erfahren, hatte Ryder sie mir doch gerade erst erzählt.

Während ich die Mappe durchsah, entdeckte ich sogar ein Bild von mir. Klitschnass saß ich auf einem Motorrad. Den Kopf lachend in den Nacken gelegt. In einer Hand eine Wasserflasche, in der Anderen ein Helm. Zu meinen Füßen saß Elvis und im Hintergrund konnte ich sogar Diego sehen, wie er mich grimmig beobachtete. Nur eine Sache daran störte mich. „Das Veilchen hättest du weglassen können.“

„Ich male, was ich sehe.“

„Ja“, stimmte ich ihm zu. „Jedes deiner Bilder hat seine ganz eigene Story.“ Und dieses war die von dem Tag auf der Wiese. Er hatte es geschafft, den ganzen Tag in einem einzigen Bild zu festzuhalten – fast wie ein Tagebuch.

Danach kam ein Bild von einer hübschen jungen Frau. Kurze Haare umrahmten ein herzförmiges Gesicht mit der kleinen Stupsnase. Durch ihre mandelförmigen Augen bekam sie entfernte Ähnlichkeit mit mit Tyrone. Ihr Lächeln wirkte frei und unbefangen.

Auch auf den folgenden drei Seiten war die junge Frau in verschiedenen Posen abgebildet. „Wer ist das? Du hast sie öfter gemalt.“

„Das ist Vivien.“ Seine Augen wurden traurig und ich fragte mich, was sie ihm wohl bedeutete, aber bevor ich auch nur die Chance bekam, darüber nachzudenken, ob ich ihn darauf ansprechen sollte, wurde meine Aufmerksamkeit vom nächsten Bild in Anspruch genommen.

Verwundert runzelte ich die Stirn. „Das ist Lucy“, stellte ich fest. Eindeutig. Die langen, gewellten Haare, die Figur, das trotzig verzogene Gesicht. Selbst die Klamotten waren original sie.

Tyrone beugte sich ein wenig zur Seite, um besser sehen zu können. „Ja, das ist Lucy.“

„Warum hast du Lucy gemalt?“

„Ich weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist mir einfach im Gedächtnis geblieben. Siehst du ihre Augen?“ Er strich am unteren Augenlid entlang. „Stark, unbeugsam.“

„Stur?“ Ich grinste ihn an.

Seine Mundwinkel kletterten leicht an seinen Wangen hinauf. „Ja, auch das.“

Lächelnd blätterte ich weiter. Es waren nicht mehr viele Bilder und als ich fertig war, schiele ich zurück auf seine Zeichentafel. „Stört es dich, wenn ich beim Malen zugucke?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber es ist nicht sehr aufregend.“

„Das lass mal meine Sorge sein.“ Ich packte die Zeichenmappe ordentlich zur Seite, machte es mir neben ihm bequem und beobachtete, wie er mit geübter Hand weitere Linien auf das Papier brachte. Strich für Strich erweiterte er die Skizze. Es dauerte nicht lange, bis sich Formen und Einzelheiten herauskristallisierten. Drei Personen an einem Tisch, im Hintergrund der Grillmeister, der die Drei am Tisch erschrocken anstarrte, uns drei, wie mir bald bewusst wurde. Ryder, der lächelnder weise zu mir sah, vor ihm auf dem Tisch ein Banana Split, die Augen glänzend, der Mund gab zwei lange Zähne preis. Tyrone stellte ihn auf dem Bild als Vampir dar und mit diesen faszinierenden Augen, die er aus der Realität nahm, wirkte er beinahe lebendig.

Er malte nicht nur, was er dort gesehen hatte, er ließ auch Sachen einfließen, über die wie gesprochen hatten. Sich selber stellte er als Wolf dar, als großen Wolf. Die Vorderpfoten auf den Tisch gestellt, den Kopf in den Nacken gelegt, heulte er zu einem nicht vorhandenen Mond hinauf. Tyrone brachte es sogar fertig, die Züge des Wolfs so zu modellieren, dass ich ihn in dem Tier wiedererkannte.

Er malte ein Tablett mit einem Berg Fritten vor sich, nach denen ich gerade griff. Auf meinem Kopf einen spitzen Hut, hinter meinem Ohr ein Zauberstab geklemmt. Aber was mich am meisten faszinierte, war der Schatten, den er zu meinem Körper zeichnete. Es war offensichtlich, dass er mich als Hexe darstellte, aber mein Schatten war der eines Wolfs, der genau wie Tyrone zum Himmel empor heulte. „Warum malst du da einen Wolfsschatten?“ Soweit ich mich erinnerte, hatte ich nichts davon gesagt, dass ich meinen Mythos geändert hatte. Das war still und heimlich in meinem Kopf geschehen.

„Weil du wie einer geheult hast.“ Ein leises Lächeln schlich sich in sein Gesicht. „Lauter noch als ich.“

„Na ich musste dich doch übertönen.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter.

Weitere Einzelheiten wurden herausgearbeitet. Ich spürte die Bewegung seines Arms, konnte fast sehen, wie die Muskeln darin arbeiteten. Schattierungen, Linien. Alles folgte in einer schnellen Reihenfolge, nichts wirkte ungeschickt, oder laienhaft, nichts musste korrigiert werden. Er wusste ganz genau, was er da tat.

Irgendwann beugte Tyrone sich zu Seite und schaltete eine kleine Lampe am Kopfende des Bettes ein und erst da bemerkte ich, wie dunkel es bereits im Raum geworden war. Wir mussten bereits Stunden hier sitzen und ich hatte es nicht einmal bemerkt.

„Ich würde gerne was wissen“, sagte er, als er sich wieder seiner Skizze widmete und einen Löffel, mit einem Bananenstück in Ryders Hand zeichnete.

„Na dann würde ich vorschlagen, du fragst.“

Er sah mich nicht an, als er den Mund wieder öffnete. „Dieser Diego, was ist er für dich?“

„Diego?“ Ich war ein bisschen überrascht über diese Frage, was wohl der Grund dafür war, dass ich mit einer Gegenfrage reagierte. „Warum?“

„Weil er sich verhält, wie ein extrem eifersüchtiger Freund. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum er versucht dich mit seinen Geschichten über uns abzuschrecken.“

Oder neuerdings auch zu Entführung und wilden Verfolgungsjagden neigte. „Das macht er nur, weil er sich Sorgen um mich macht.“

„Und? Hat er einen Grund dazu?“

„Nein“, gab ich locker von mir. „Ich weiß wo ich hintreten muss, wenn er Kerl zu zudringlich wird.“

Ein schiefes Lächeln erschien in Tyrones Gesicht. „Also einfach nur ein besorgter Freund.“ Keine Frage, eine Festhelling.

„Mein bester Freund“, bestätigte ich. „Auch wenn ich ihn im Moment gerne mal durch den Fleischwolf drehen möchte.“

„Du bist schon so ein kleinen wenig blutrünstig, kann das sein?“

„Nö.“ Ich schüttelte den Kopf. „Außer wenn es um Filme geht, ansonsten bin ich völlig handzahm.“

Als aus dem Nebenraum plötzlich laute Musik zu uns in Zimmer dröhnte, schaute ich überrascht auf. Da war wohl jemand in Feierlaune.

„Keine Panik, das ist nur Ryder.“ Mit dem Zeichenstift in der Hand deutete er auf seine Tür. „Schau.“

Ich schaute, sogar eine ganze Weile, aber nichts geschah. Ich wollte schon fragen, ob ich auf etwas bestimmtes achten sollte, als plötzlich von Außen etwas unter der Tür hindurchgeschoben wurde. Ähm … okay. „Ihr schickt euch Briefchen? Wie süß.“

Tyrone schnaubte. „Keine Briefchen.“

„Was dann?“

„Sieh es dir doch einfach an.“

Da ich neugierig war, tat ich genau das und schon bevor ich es aufgehoben hatte, bemerkte ich, dass es kein Zettel war, sondern eine leere Popcorntüte. Etwas ratlos hielt ich sie hoch, so dass auch Tyrone sie sehen konnte.

„Ich glaube, Ryder möchte uns damit etwas sagen.“ Er lächelte. „Kannst du erraten was?“

Ich drehte die Tüte in der Hand ein paar Mal hin und her, suchte nach einer kleinen Nachricht, die er darauf gekritzelt haben könnte, aber da war nichts. Es war eine einfache Popcorntüte, wie man sie jedem Supermarkt bekam. „Vielleicht das es Popcorn gibt?“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern.

Er nickte und sagte: „Ich mag es nicht, wenn er hier reinkommt, deswegen schiebt er mir manchmal Sachen unter der Tür durch.“

Da machte es bei mir klick. Zu einem richtigen DVD-Abend gehörte nun mal leckeres Popcorn dazu.

„Genau“, sagte er, mein Gesicht richtig deutend und erhob sich von seinem Bett. „Ryder möchte, dass wir herauskommen.“

„Dann sollten wir ihn wohl nicht warten lassen.“ Noch bevor er bei mir war, ließ ich mich selber heraus und augenblicklich dröhnte die Musik noch lauter an unsere Ohren. Zusammen mit ein paar Klängen, die sich anhörten, als würde in der Küche irgendeine arme Seele gequält werden. Vielleicht war ich auch die arme Seele. Die Töne taten wirklich in den Ohren weh.

Ich folgte den Geräuschen bis in die Küche. Ryder stand – oder besser gesagt tanzte – vor dem Herd herum, ließ das Korn in der Pfanne poppen und sang dabei so schief mit, dass mein Trommelfell geradezu vibrierte. Wahrscheinlich versuchte es sich eiligst aus dem Staub zu machen, um der Misshandlung zu entgehen.

Ich fand es absolut niedlich.

Als er mich bemerkte, trat er mit einem langen Schritt zu mir, schnappte sich meine Hand und drehte mich einmal im Kreis. Dann drückte er mich an sich und kippte mich singend nach hinten.

Überrascht schrie ich auf. „Oh Gott!“ Lachend klammerte ich mich an seinen Armen fest, weil das die einzige Möglichkeit war das Gleichgewicht zu behalten. „Das hört sich ja schrecklich an.“

Mit einem Ruck riss er mich wider hoch, sodass ich gegen ihn fiel und sich sein Gesicht auf einmal direkt vor meinem befand. Sein Blick war eindringlich und die Pupillen wurden ein wenig dunkler. Es war schon fast eine Herausforderung. Dann drehte er mich plötzlich wieder von sich weg, nur um mich ein weiteres Mal an sich zu zeihen und mit mir zusammen den Rest des Songs durch die kleine Küche zu wirbeln. Erst als die Nachrichtensprecherin in Radio zu reden begann, gab er mich wieder frei und stellte das Gerät leiser.

Mir war heiß und ich bemerkte, wie ich ins Schwitzen gekommen war. Und das hatte wohl nicht nur etwas mit dem wilden Tanz und dem warmen Wetter zu tun. Ryder dagegen wirkte wie frisch aus dem Ei gepellt. „Wie machst du das nur?“ Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweißfilm von der Stirn.

„Immer die falschen Töne treffen“, grinste er mich an. „Ein bisschen mit den Hüften wackeln“ - er demonstrierte es direkt- „und die Füße immer im Takt bewegen.“

Ja, super. „Nein, ich meinte, du siehst aus, als wärst du von der Couch aufgestanden und nicht als hättest du gerade wild durch die Küche getanzt.“ Die, wie ich feststellen musste, nicht so renovierungsbedürftig aussah, wie der Rest der Wohnung. Eine Einbauküche, geflieste Wände und ein gefliester Boden. Es war offensichtlich, dass dieser Raum schon so eingerichtet gewesen war, als sie hier eingezogen waren.

„Kondition“, gab er mir zur Antwort und verließ mit einer Schüssel Chips in der Hand den Raum, während sich Tyrone nun dem Popcorn widmete.

Ryder ging hinüber ins Wohnzimmer. Ich folgte ihm und bemerkte sofort die Veränderung, die während meiner Abwesenheit stattgefunden hatte. Vor der Couch lag jetzt eine riesige Matratze. Kissen und Decken türmten sich sowohl dort, als auch auf der Sofa. Der Fernseher befand sich nun am Fußende und nicht mehr an der Wand. Neben der Matratze hatte Ryder eine Kiste gestellt, die als provisorischer Tisch diente.

„Da war aber jemand ganz schön fleißig“, merkte ich an, als er die Schale mit den Chips zu den bereits vorbereiteten Sachen auf die Kiste stellte. „Machst du das jeden Abend, oder nur heute?“

„Nur heute.“ Grinsens zwinkerte er mir zu. „Zu dritt hätten wir nicht genug Platz auf der Couch gehabt und ich dachte mir, so wäre es gemütlicher.“

Zwar fand ich, dass die Couch durchaus groß genug war, aber die Geste fand ich so süß, dass ich das für mich behielt.

„Na los“, forderte er mich auf. „Such dir einen Platz.“

Ich sah das Bettzeug vor mir liegen und dachte an die Klamotten, die ich schon den ganzen Tag trug. Sie waren dreckig und verschwitzt. Damit wollte ich mich nicht zwischen die Decken werfen, das wäre eklig. „Ich glaub ich setzte mich lieber auf die Couch.“

„Warum?“

„Naja, weil meine Klamotten schmutzig sind.“

Sein Mundwinkel wanderte langsam aber sicher nach oben. „Na dann zieh sie doch aus.“

Den spöttischen Blick, den ich ihm zuwarf, triefte nur so vor Sarkasmus. „Das hättest du wohl gerne.“

Das funkeln seiner Augen verriet, dass es ihn jedenfalls nicht stören würde.

„Vorsicht“, warnte Tyrone ihn und kam mit dem noch warmen Popcorn in einer weiteren Schüssel ins Wohnzimmer. „Sie weiß wo sie hintreten muss, wenn ein Kerl zudringlich wird.“ Er stellte sie zu den anderen Sachen.

„Hmpf“, machte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich war mir nicht sicher, ob er mich in dem Moment mit meinen eigenen Worten verarschte, oder mir einfach nur den Rücken stärken wollte. So schelmisch wie sein Ton war, fiel mein Verdacht auf den ersten Punkt.

Tyrone klopfte mir mitfühlend auf die Schulter und verschwand dann aus dem Wohnzimmer, nur um kaum eine Minute später mit einer Handvoll Klamotten wieder aufzutauchen. „Hier, das müsste dir passen“, sagte er, als er sie mir in die Hand drückte.

Ich faltete die beiden Wäschestücke auseinander. Das eine Teil war ein einfaches weißes T-Shirt mit grinsenden Comicskelett, das auf einem Grabstein saß. Das andere entpuppte sich als eine schlabbrige Jogginghose mit weißen Streifen an der Seite. „Passen würde mir das wohl nur, wenn ich hundert Pfund zulege“, überlegte ich laut.

Ryder grinste. „Du kannst dich immer noch nackt zu uns setzten.“

„Ähm … ja, danke, aber ich verzichte.“ Ich drückte die Klamotten an meine Brust, als würde ich befürchten, Ryder könnte sie mir wieder aus den Armen reißen. „Ich geh mich dann mal kurz umziehen.“

„Das Bad ist gleich neben der Küche“, erklärte Tyrone und ließ etwas Popcorn in seinem Mund verschwinden.

Dankend schnappte ich mir noch meine Tasche und machte ich mich auf den Weg.

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das Bad in einem ganz ähnlichen Zustand, wie die Küche war. Alles gefliest, in der Ecke eine Dusche, ein Klo und ein Waschbecken. Es war sehr klein, kaum genug Platz, für eine Person und es gab nicht Mal ein Fenster, weswegen sofort eine Lüftungsanlage ansprang, als ich den Lichtschalter betätigte, aber es war alles sauber und gepflegt.

Nicht gerade das, was ich in einem reinen Männerhaushalt erwartet hätte, besonders da diese Männer auch noch in meinem Alter waren. Wenn ich schon allein daran dachte, wie unordentlich Diego war. Ständig musste ich ihm seine Sachen hinterher räumen. Besonders gerne ließ er benutztes Geschirr in meinem Zimmer stehen, wir hatten schließlich eine Haushälterin. Nur mochte ich es nicht, wenn Victoria in mein Zimmer kam, also war ich am Ende die Dumme, die es beseitigen musste.

Hier dagegen blitzte alles wie ein neuer Penny. Und da sollte noch einmal ein Kerl behaupten, ohne uns Frauen sei er völlig aufgeschmissen – also was das Aufräumen betraf.

Ich zog meine verschwitzten Klamotten aus, unterzog mich einer schnellen Katzenwäsche und schlüpfte dann in die sauberen Sachen von Tyrone. Wie erwartet waren sie viel zu groß und sie rochen irgendwie seltsam. Nicht unangenehm, sondern … keine Ahnung wie ich das beschreiben sollte. Vertraut? Irgendwie erinnerte mich der Geruch an Lucy und Diego. Das fand ich schon ziemlich sonderbar.

Aber wie hieß es so schön? Einem geschenktem Gaul schaute man nicht ins Maul, also gab ich mich einfach mit dem zufrieden, was ich hatte.

Beim rausgehen stopfte ich meine Klamotten in meine Kuriertasche, ließ die dann einfach im Flur stehen und begab mich wieder ins Wohnzimmer.

Tyrone lag bereits auf der Couch. Zur Stütze hatte er sich ein paar Kissen hinter den Rücken geklemmt. Genau wir ich hatte er sich umgezogen. Eine kurze Schlabberhose und ein altes, verwaschenes T-Shirt, das wohl mal weiß gewesen war. Jetzt hatte er einen Arm hinter den Kopf gelegt und zeppte sich durch das Menü der ersten DVD.

Ryder war nicht zu sehen.

Ich schmiss mich auf die Matratze, legte mir ein paar Kissen zurecht, um mich richtig schön darin einkuscheln– natürlich direkt neben dem Tisch mit den Fressalien – und zog mir eine Decke über die Beine. „Was gucken wir zuerst?“

„Deine Empfehlung.“

Ah, Dreizehn Geister. Als ich gehört hatte, dass die beiden diesen Film noch nie gesehen hatten, war ich geschockt gewesen. Es war echt eine Schande, dass sie ihn nicht kannten, aber das würde sich jetzt ändern, dank mir!

Der Film war nicht so gruselig, Mittelklasse würde ich sagen, aber er war einer meiner Lieblingsstreifen. Besonders den Geist der die Prinzessin genannt wurde, fand ich cool. Die ganzen Schnittwunden in der Haut und wie sie es machte, dass das Badewasser sich rot färbte, einfach klasse. Oder auch die Mutter mit ihrem großen, fetten Sohn, und … ach eigentlich fand ich alle Geister irgendwie cool, sogar den Torso. Nur die liebende Mutter war etwas langweilig. Dafür machte die Geschichte, die hinter ihr stand die ganze Story wieder interessanter.

Ungeduldig wartete ich auf Ryder und steckte mir zum Zeitvertreib schon mal ein paar frische Popcorn in den Mund – hm lecker. Doch als er fünf Minuten später immer noch nicht da war, verzog ich den Mund. „Was macht er denn so lange?“

„Geduld ist eine Tugend“, schwafelte Tyrone altklug.

„Das war keine Antwort auf meine Frage.“

„Weil ich die Antwort nicht kenne. Ich bin sein Bruder, nicht seinen Nanny.“

„Und ich dachte schon, ich brauche Ewigkeiten“, murmelte ich und nahm mir noch eine Handvoll Popcorn.

„Brauchst du auch“, stimmte Tyrone mir zu, woraufhin ich ein Popcorn nach ihm warf. „Hey!“ Er pflückte es von seiner Hose und warf es zurück.

Dafür bekam er von mir gleich noch eins. Dieses Mal traf ich ihn am Kopf. Das war ein großer Fehler. Was ich nicht bemerkt hatte, neben ihm stand auch eine Schüssel. Er griff einmal hinein und gleich darauf befand ich mich im Winterwunderland.

„Das kriegst du zurück.“ Ich griff gleich mit beiden Händen zu, schmiss es nach ihm und zog mir dann lachend die Decke über den Kopf, damit ich die kommende Attacke abwehren konnte.

Erst passierte gar nichts, dann hörte ich das Knarren der Couch und im nächsten Moment war meine Decke weg. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er den gesamten Inhalt seiner Schüssel über meinen Kopf entleerte.

„Ahhh!“ Abwehrend schlug ich noch die Hände hoch, aber das nützte nichts, das Zeug war plötzlich überall. „Na warte.“ Das würde er zurück bekommen. Ich pflückte mir eines von der Decke, warf es grinsend in meinen Mund und griff gerade nach der Schüssel auf dem Tisch, als Ryder mit offenen Haaren und nichts anderem als einer bequemen Stoffhose in der Raum trat.

„Eigentlich war das zum Essen gedacht“, bemerkte er trocken und konnte Tyrone und mich auf einer Wiese aus Popcorn bewundern.

Wir grinsten ihn beide an.

„Sie hat angefangen“, behauptete er ohne dabei auch nur ein bisschen rot zu werden, wischte die weißen Flocken von der Couch zu mir herunter und wollte sich wieder hinlegen, hielt aber in der Bewegung an, weil ich eine weitere Portion der leckeren Versuchung nach ihm warf.

„Wer hat angefangen?“

„Du“, beharrte er und strich sich das Popcorn aus den Haaren.

Er war nicht mal halb fertig, da warf ich ihm bereits Neues hinein. Dann fragte ich noch mal grinsend: „Wer hat angefangen?“

Dieses Mal antwortete er nicht. Er sprang einfach auf und wollte sich auf mich stürzen. Aber darauf war ich gefasst gewesen. Kaum ein Bein auf der Matratze, fuhr ich hoch und versteckte mich lachend hinter Ryder.

„Haltet mich daraus.“ Er wollte zur Seite gehen, aber ich hielt mich an seinem Rücken fest und benutzte ihn als Deckung.

Von der Matratze schnappe sich Tyrone die Munition, und warf sie. Zu meinem Erstaunen schaffte er es irgendwie das meiste auf mich zu werfen – und das obwohl ich immer noch hinter seinem Bruder stand. Das nannte ich mal Leistung.

„Hey!“, protestierte Ryder. „Ich hab damit nichts zu tun.“

„Doch“, lächelte Tyrone. „Du stehst im weg.“

Und im nächsten Moment war Ryder auch mit von der Partie.

Popcorn flog durchs ganze Zimmer. Jeder bewarf jeden. Irgendwie erinnerte mich das stark an gestern, nur das die Munition dieses Mal nicht aus Wasser bestand.

Als es zu wild wurde, ergab ich mich als erstes. Natürlich bekam ich noch eine letzte Attacke ab, aber dann ließen die beiden mich in Ruhe und beendeten den Krieg, mit einem Unentschieden für sich und einem Verloren für mich.

Irgendwie fühlte ich mich dadurch stark benachteiligt.

Leider hatten wir mit unserer Aktion das ganze leckere Popcorn zu einem Ende in der Mülltonne verdammt, denn keiner von uns wollte es noch essen, nachdem wir alle darübergerannt waren.

Ryder besorgte in der Küche einen Besen, während Tyrone und ich Kissen, Decken, Couch und Matratze von dem Popcorn befreiten.

„Du hast trotzdem Angefangen“, beharrte ich weiter und schüttelte eine Decke aus.

„Leidest du an Gedächtnisverlust? Du hast den ersten geworfen.“

„Ja, aber nur weil du gesagt hast, das ich lange brauche.“

„Stimmt ja auch“, grinste er und schnipste einen weißen Krümmel nach mir.

So ging es weiter, bis Ryder es dann geschafft hatte, auch das letzte Popcorn, aus unserer Reichweite zu entfernen und wir endlich mit dem eigentlich geplanten DVD Abend beginnen konnten.

Natürlich schnappte ich mir wieder den Platz bei den Fressalien, dann gab es noch eine kleine Rangelei um die Kissen und Decken, aber dann begann der Film.

Still und konzentriert folgten wir dem Geschehen. Das Feuer in dem alten Haus, die Besichtigung des zu erwägenden neuen Hauses. Die Teilung des Anwalts. Das einzige Geräusch war unser Kauen, oder das wenige Knistern mit den Tüten, wofür es jedes Mal von allen Seiten ein „Schhh“ gab, egal wer es war.

Die Schauspieler schlichen durch den Flur und hielten Ausschau nach den Geistern. Die Musik ließ die Spannung steigen. Alles im Raum war still. Sowohl Ryder als auch Tyrone waren völlig auf den Film konzentriert. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Ich machte „Buh“ und zu meiner Belustigung zucken beide leicht zusammen. Mit aller Macht versuchte ich mein Lachen zu unterdrücken und schnappte mir ein paar Schokorosinen, aber die vorwurfsvollen Blicke der beiden konnte ich trotzdem spüren.

„Das findest du wohl witzig?“, grummelte Ryder.

Zur Antwort grinste ich ihn einfach nur frech an und steckte mir die Schokoladenkugel in den Mund.

Als der Film endete, stimmten mir beide zu, dass er eine gute Wahl gewesen war und legten den nächsten ein. Irgendwas von Blutnacht mit Zombies, oder so. Das war der einzige der drei Filme, der eine Jugendbeschränkung hatte.

Schon nach den ersten zehn Minuten stellte ich zu meiner Enttäuschung fest, dass der Film völlig Niveaulos war. Jede Menge Gedärme, noch mehr Blut und die Handlung war total Banane.

Ryder beugte sich zu mir rüber, die Augen weiter auf den Fernseher gerichtet. „Guck dir mal das Hirn an“, flüsterte er. „Voll schleimig. Glaubst du, das ein richtiges Hirn so aussieht?“

Ich zuckte mit den Schultern. Woher sollte ich das wissen, ich hatte noch nie eins gesehen. Na ja, außer im Biologieunterricht. Aber das war von einer Katze gewesen und steckte in einem Glas, das vorne bei unserer Lehrerin auf dem Schreibtisch gestanden hatte.

„So was in die Hände zu nehmen, muss doch mehr als eklig sein. Das viele Blut, der Schleim und … oh mein Gott, was ist das?!“, schrie er und etwas Wabbliges, Rosiges fiel in meine Hände.

Ein Hirn!

Kreischend ließ ich es neben Ryder fallen und sprang zu Tyrone auf die Couch. Dabei trat ich ihm ausversehen am Bein, was ich aber nur am Rande wahrnahm. Meine Aufmerksamkeit galt dem rosa Ding, das jetzt statt an meiner auf der Matratze lag. Es war kein Hirn, natürlich war es das nicht – war ja irgendwo auch logisch. Es war eine Schleimkugel, die man überall kaufen konnte und auf das die Kids voll abfuhren. Als ich jünger war, hatte ich selber so eine besessen, aber meine war grün gewesen.

Ich versuchte noch mein Herz wieder in einen normalen Rhythmus zu bringen und meinem Kopf klar zu machen, dass das etwas völlig harmloses war, als mein Blick den sich vor Lachen krümmenden Ryder traf. Der Film war vergessen. Das büßte er mir.

Mit einem Kampfschrei stürzte ich mich auf ihn, nahm ihn in den Schwitzkasten, aber er wollte einfach nicht aufhören zu lachen. Ich drückte etwas fester, aber für ihn war es ein leichtes, meine Arme von seinem Hals zu lösen.

Die Rangelei begann. Beide versuchten wir die Oberhand zu bekommen. Er wollte mich auf den Rücken drücken und sich über mich setzten, aber ich entwand mich geschickt seinem Griff, stieß in auf die Matratze und warf mich auf ihn. Leider dauerte dieser Triumph nur wenige Sekunden. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie er meine Handgelenke packte, mich auf den Rücken drehte und sich über mich hocken wollte, doch da hatte er schlechte Karten. Das versuchte Diego schon seit Jahren bei mir, wenn wir rumalberten und ich war ein Meister darin geworden, diese Attacke abzuwehren. Er durfte es nur nicht schaffen, meine Beine nach unten zu drücken, dann war der Sieg mein, oder die Niederlage noch weit entfernt, je nachdem.

Ich stemmte ihn mit meinen angezogenen Knien von mir. Er versuchte sie sofort nach unten zu drücken, musste meine Hand dafür aber loslassen. Sobald sie frei war, stemmte ich sie gegen ihn, brachte ihn ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Er versuchte meine Beine zu ignorieren und meine Hand wieder zu bekommen, aber ich brachte sie immer rechtzeitig vor ihm in Sicherheit und schlug dann abwechselnd mit Beinen und Armen zu. Immer wieder. Ryder hatte so keine Chance, dafür war ich zu gut in diesem Spiel.

Ich atmete schwer und zum ersten Mal sah ich auch bei ihm eine Gewisse Anstrengung. Er lachte zwar, aber er schaffte es einfach nicht, mich unter Kontrolle zu bekommen. Dann änderte er seine Strategie. Er rutschte ein Stück von mir runter, riss mich am Arm mit und schaffte es mich auf den Bauch zu drehen. Keine Sekunde später saß er über mir und drückte mich mit seinem Gewicht in die Matratze. Meine strampelnden Beine keilte er mit seinen eigenen ein, meine Arme hielt er an den Handgelenken fest und meinen Körper drücke er mit seinem eigenen nieder.

Mist.

„Gibst du auf?“, fragte er schwer atmend direkt in mein Ohr und das schelmische Grinsen war nicht zu überhören.

Ich versuchte mich noch einmal gegen ihn zu stemmen, bockte, aber das war mehr als nur zwecklos, es war unmöglich. Das hieß für mich dann wohl Game over.

„Na?“

„Für den Moment“, gab ich mich geschlagen. Es hatte keinen Sinn, es weiter zu versuchen, er hatte gewonnen.

„So einfach?“ Seine Skepsis war nicht zu überhören. „Wo ist dein Kampfgeist geblieben?“

„Der ist irgendwo zwischen mir und der Matratze eingeklemmt“, nuschelte ich in den Stoff und wartete ungeduldig darauf, dass er von mir runter ginge, aber er blieb wo er war. Wahrscheinlich hatte er bedenken mich loszulassen und dachte, ich würde mich sofort wieder auf ihn stürzen. „Du kannst von mir runter gehen, ich bin jetzt artig“, versprach ich, aber er bewegte sich immer noch keinen Zentimeter und da wurde mir klar, dass er auf mir lag. Nur das Stück Stoff, das ich trug, trennte mich von seiner nackten Brust. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken und ein Schauer lief mir über den Rücken. Mein Puls, der sich gerade erst wieder beruhigt hatte, beschleunigte sich aufs Neue. Was war nur los mit mir? Was hatte der Kerl an sich, das seine Nähe so etwas bei mir auslöste?

„Ähm … bist du eingeschlafen?“, fragte ich, um meine eigene Unsicherheit zu überspielen, bevor ich noch auf andere Gedanken kam, aber er antwortete nicht. Sein Atem an meiner Haut war das Einzige, was ich hören konnte. Ich versuchte mich gegen ihn zu stemmen – brachte nichts. Langsam bekam ich ein ungutes Gefühl. „Hallo? Bist du noch anwesend?“

„Ryder!“, zerbrach Tyrone mit einem mahnenden Ausruf die Stille und den Bruchteil einer Sekunde später, ging ein Ruck durch seinen Bruder.

 

°°°°°

Kreative Meisterwerke

 

Er ließ meine Hände so plötzlich los, dass ich das Gefühl bekam, er hätte sich an mir verbrannt. Genauso schnell war er auch von meinem Rücken verschwunden und ließ mich endlich wieder frei durchatmen.

Etwas unsicher drehte ich mich zu ihm herum und sah noch den seltsamen Glanz in seinen Augen, bevor er sich zusammenreißen konnte und ein breites Grinsen aufsetzte. „Na, hab ich dich erschreckt?“

Wenn ich ehrlich war, ja. Zumindest für einen kurzen Augenblick. „Nein. Warum, wolltest du?“

„Ich hab dich erschreckt“, sagte er selbstgefällig und streckte sich wieder auf seiner Seite der Matratze aus.

Ich sah von ihm zu Tyrone, der einen sehr wachsamen Blick auf seinem Bruder warf. Als er jedoch bemerkte, dass ich ihn beobachtete, verschwand er sofort hinter einer neutralen Fassade und widmete sich wieder dem Film.

Mit einem Mal hatte ich ein mulmiges Gefühl. Dieser Glanz in seinen Augen, er hatte irgendwie … gierig gewirkt. Das hörte sich vielleicht komisch an, aber genau so war es. Wieder musste ich an Diegos Warnung denken und das gefiel mir nicht. Ich kannte Tyrone und Ryder zwar erst wenige Tage, aber ich mochte sie und wollte nicht, dass das Ganze eine schlechte Note bekam.

„Ich bin mal kurz auf dem Klo.“ Vielleicht würde ein wenig Wasser im Gesicht helfen.

Ryder hob nur die Hand zum Zeichen dass er verstanden hatte, schaute aber nicht zu mir rüber. „Fall nicht rein.“

Das hatte ich ganz sicher nicht vor. Ohne weiter auf die beiden zu achten, verließ ich den Raum und begab mich ins Bad. Das Klo blieb unbeachtet, mein Ziel war das Waschbecken und das kühle Wasser darin.

Ich spritzte mir ein wenig ins Gesicht, befeuchtete mir auch den Nacken, um mir ein wenig Kühlung zu verschaffen und schaute dann das schicke Veilchen in meinem Gesicht an. Welchem Umstand ich das zu verdanken hatte, wusste ich noch immer nicht. Doch das seltsame Benehmen der Leute um mich herum, löste langsam aber sicher eine Beklemmung bei mir aus. Das hing bestimmt mit den Sachen zusammen, die Diego und Lucy immer wieder vom Stapel ließen.

„Das ist doch alles Blödsinn“, murmelte ich und griff nach dem Handtuch neben dem Waschbecken. Ich sollte nichts auf blödes Gerede geben und mir meine eigene Meinung bilden. Genaugenommen tat ich das ja auch und das war es, was meinen Freunden so sauer aufstieß. Darum versuchte Diego mir Angst einzujagen und nur deswegen ging Lucy immer sofort auf Konfrontation, wenn ihr die beiden unter die Nase kamen. Sie wollte sie verscheuchen, nur wollten weder Ryder noch Tyrone sich verscheuchen lassen. Am besten hörte ich einfach auf mir ständig Gedanken darüber zu machen, es bestand schließlich kein Anlass zur Beunruhigung.

Nur war da eben dieser seltsame Blick gewesen, der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Genervt von mir selber, hängte ich das Handtuch nach Benutzung zurück und verließ das Bad. Ich war vielleicht zwei Schritte gegangen, als ich sie leise miteinander sprechen hörte.

„… verdammten Gelüste unter Kontrolle“, zische Tyrone.

Ryder murmelte etwas so leise, dass ich es nicht verstehen konnte.

Zur Antwort schnaubte der blonde Bruder. „Das ist wichtig, vielleicht sogar die einzige Chance, die wir haben.“

„Meinst du das ist mir nicht bewusst? Sie ist auch meine Schwester, aber … ich weiß nicht mehr ob es richtig ist.“

Ah, hier ging es wohl um die Besitzerin von Stoffkrokodil Crocks. Wie hatte Tyrone sie gleich noch genannt? Wenn ich so darüber nachdachte, hatte er gar keinen Namen genannt.

„Was soll das heißen? Du hast doch als erstes dafür gestimmt.“

„Das weiß ich, aber sie ist so naiv.“

Naiv? Da ging es wohl um einen Jungen. Hm, es war wohl an der Zeit mich bemerkbar zu machen und das nicht nur, weil es unhöflich war zu lauschen.

„Ja und? Was sollen wir denn sonst tun? Wir können sie doch nicht …“ Als er mich reinkommen sah, unterbrach Tyrone sich sofort.

„Also wenn ihr mich fragt, dann lasst sie doch einfach in ruhe.“ Ich setzte mich in den Schneidersitz zurück auf die Matratze. „Ich meine, jedes Mädchen muss irgendwann ihre ersten Erfahrungen sammeln.“

Ryder runzelte die Stirn, während Tyrone einen wachsamen Ausdruck annahm.

„Ja ich habe gelauscht“, gab ich auch sofort ohne eine Spur von Reue zu. „Und als Mädchen kann ich euch sagen, lasst sie einfach machen. Sie wird den Kerl schneller abschießen, als ihr bis drei Zählen könnt, einfach weil die in dem Alter noch völlig unreif sind. Es besteht für euch also kein Grund sich einzumischen.“ Als die beiden mich nur stumm anschauten, war es an mir die Stirn zu runzeln. „Ihr sprecht doch von eurer kleinen Schwester, oder habe ich da etwas falsch verstanden?“

„Nein“, sagte Tyrone langsam. „Es geht um Amber und …“

„Und ihren ersten Freund. Schon klar.“ Ich nickte verstehend. „Und als ihre großen Brüder, müsst ihr natürlich dafür sorgen, das der Kerl schnellstens das Weite sucht. Aber ich kann euch versichern, wenn ihr versucht sie auseinander zu bringen, dann wird sie sich erst recht an ihn dran hängen.“

Ryder musterte mich sehr intensiv und sagte dann mit einem Lächeln: „Gut zu wissen. Dann lassen wir sie wohl besser einfach in Ruhe.“

„Das ist eine gute Entscheidung. Glaubt mir, wenn sie eure Hilfe will, wird sie sicher zu euch kommen.“ Ich streckte mich auf der Matratze aus und grinste die beiden an. Dabei musste ich feststellen, dass Tyrone mich auf eine sehr merkwürdige Art beobachtete. „Was?“

„Nichts.“ Er richtete seinen Blick wieder zurück auf den Fernseher.

Als Ryder dann auch wieder damit begann Kartoffelchips in sich reinzuschaufeln, konzentrierte auch ich mich wieder auf die Mattscheibe. So bekam ich gerade noch mit, wie ein Zombie durch eine herabfallende Fensterscheibe in zwei Teile geteilt wurde. Gedärme und Blut flossen zu allen Seiten und veranstalteten eine riesige Sauerei.

Das ließ mich gähnen. Der Film war so langweilig und Niveaulos, dass es mir bald schwer fiel die Augen offen zu halten. Als Tyrone eine halbe Stunde später dann den dritten Film einlegte, schlief ich schon halb. Das ganze Koffein in der Cola hatte nicht geholfen. Ich war völlig fertig. Kein Wunder. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon kurz nach vier Uhr am Morgen war. Ich war beinahe schon vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut.

Da ich noch nie große Scheu vor Körperkontakt hatte, kuschelte ich mich nach einer kurzen Überlegung an Ryders Brust. Das tat ich bei Filmabenden immer, nur normalerweise waren es Diego oder Lucy, die sich als Kissen für mich zur Verfügung stellten. Aber die waren nicht hier, also musste er herhalten und da er nichts sagte, schien er sich wohl auch nicht daran zu stören.

An seiner Seite fühlte ich mich so behaglich, dass ich schon nach kurzer Zeit langsam in die Welt der Träume abdriftete. Als er dann auch noch damit begann mit den Fingern langsame Kreise aus meinem Rücken zu malen, wurden meine Augenlider immer schwerer. Darum schloss ich sie einfach. Nur fünf Minuten, dann wäre ich sofort wieder da.

Auf einmal wurden meine Ohren von einem durchdringenden Ton malträtiert. „Sei ruhig“, grummelte ich und vergrub meinen Kopf unter meinem Kissen, aber wer auch immer da diesen Lärm machte, er wollte nicht ruhig sein. Laut und durchdringend traf der Lärm mich, wie eine Sirene. Verdammt, das war eine Autoalarmanlage. Ich schlug die Augen auf und sah … nichts! Klar, mein Kopf steckte unter einem Kissen.

Noch halb im Dämmerzustand drehte ich mich auf den Rücken und blinzelte gegen die Sonne an. „Dämliches Auto“, murmelte ich noch schlaftrunken und strich meine langen Haare aus dem Gesicht. Als mein Blick sich aufklarte, sah ich mich verwundert um. Wo war ich denn hier?

Ich brauchte einen Moment, um mein Hirn zum Arbeiten zu bekommen, aber als ich ein Stück Popcorn neben der Matratze sah, kehrte der gestrige Abend in mein Gedächtnis zurück.

Ich hatte bei Tyrone und Ryder geschlafen. Lächelnd erinnerte ich mich und dann wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich hatte bei Tyrone und Ryder geschlafen! Oh. Mein. Gott! Was sollte ich denn jetzt machen? Ich hab die Nacht bei zwei im Grunde fremden Typen verbracht, aber … wo waren die Typen eigentlich?

Ein kurzer Rundumblick macht deutlich, dass ich mich alleine im Wohnzimmer befand. Den zerwühlten Decken zufolge, hatte jedoch zumindest Ryder bei mir gepennt, aber weder er noch Tyrone waren jetzt hier. Doch je weiter der Schlaf aus meinem Kopf wich, desto deutlicher wurde ich mir meiner Umgebung bewusst. Ich hörte leise Musik. Dem Klang nach musste es das Radio in der Küche sein. Ich war also nicht alleine. Okay, früher oder später musste ich mich den beiden stellen, also konnte ich das auch gleich machen.

Ich machte noch einen kurzen Atemcheck und rümpfte die Nase. Zahnpasta war jetzt wirklich angebracht. Also erst mal ab ins Bad.

Ich kroch von der Matratze und begab mich in den kleinen fensterlosen Raum. Die Musik hörte ich aus der Küche, zusammen mit ein paar klappernden Tellern.

Da ich keine eigene Zahnpaste mit mir herumschleppte, machte ich mich über den Spiegelschrank in ihrem Bad her und klaute mir ein wenig davon. Ohne Zahnbüste musste ich mir den Streifen auf den Zeigefinger schmieren und so meine Zähne schrubben. Das ganze spülte ich mit Wasser aus, kämmte noch schnell meine Haare durch und dann war ich bereit, mich den Jungs zu stellen.

Barfuß tapste ich zurück in den Flur und noch bevor ich die Küche betrat, wehte mir ein herrlicher Duft entgegen. Frische Brötchen!

Ryder – noch in Schlafsachen – hockte mit einem Brötchenkorb vor dem Ofen, das schwarze Haar offen hinter die Ohren geklemmt. Sabber. Ehrlich mal, er sollte sich dringend etwas überziehen. So konnte man doch nur auf falsche Gedanken kommen. „Morgen.“

Über die Schulter warf er mir einen kurzen Blick zu und lächelte. „Na, gut geschlafen, Prinzessin?“ Mit den Fingerspitzen zog er ein ofenfrisches Brötchen vom Rost und ließ es in den Korb fallen.

„Wie auf Wolke sieben“, lächelte ich.

„Wolke sieben?“ Er erhob sich und schloss die Ofenklappe mit dem Fuß. „Davon hast du aber nichts gesagt.“

Nichts gesagt? Oh verdammt. Hatte ich etwa schon wieder im Schlaf geredet? Hoffentlich hatte ich nichts Peinliches erzählt. „Was habe ich denn gesagt?“

Er stellte die Brötchen auf den Tisch und ließ sich dann auf einen der drei Stühle fallen. „Irgendwas von einem Geheimnis. Es hat sich angehört, als würdest du es fangen wollen.“ Er deutete mir, mich zu ihm zu setzen.

Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen. Ich wollte ein Geheimnis fangen? Das klang ja fast so, als würde mich das Verhalten meiner Freunde bereits bis in meine Träume verfolgen. „Es war sicher nur Blödsinn“, wiegelte ich ab und zog mir einen Stuhl vor. Doch erst als ich saß, bemerkte ich, dass ein Teller zu wenig auf dem Tisch stand. „Sind wir nicht drei?“

„Äh nein, zwei. Eins“ - Er deutete auf sich. - „zwei.“ - Er deutete auf mich.

„Und was ist mit Tyrone? Schläft der noch?“ Durch den Flur sah ich zu seiner verschlossenen Zimmertür, auch wenn ich die aus diesem Winkel gar nicht sehen konnte.

„Nein, der ist nicht da.“ Auffordernd hielt er mir den Brötchenkorb unter die Nase und der Geruch war so verführerisch, dass mein Margen mich knurrender Weise noch antrieb schnellstmöglich zuzugreifen.

„Und wann kommt er wieder?“ Ich schnitt mein Brötchen auf und bestrich es dick mit Marmelade ohne Magariene oder Butter. Das Zeug konnte ich nicht leiden. Marmelade dagegen liebte ich.

Frech grinste er mich über seinen Teller hinweg an. „Angst mit mir alleine zu sein?“

„Nein“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Einfach nur neugierig.“ Dann biss ich in mein Frühstück und keckerte prompt meine Hand und meinen halben Teller voll. Toll, das musste jetzt natürlich passieren.

Lächelnd beobachtete Ryder, wie ich die Marmelade von meiner Hand ableckte und den Rest dann mit einem Taschentuch beseitigte. Ich könnte natürlich auch einfach aufstehen und zur Spüle gehen, aber dazu war ich viel zu faul.

„Auf dem Mittag“, sagte er, als ich gerade dass dritte Taschentuch ausschüttelte, um auch die letzten Reste zu beseitigen.

„Was?“

„Tyrone. Er kommt gegen Mittag wieder.“

Ach so und ich dachte, ich hatte schon wieder was verplant. „Und was machen wir bis dahin?“

„Lass dich überraschen“, schmunzelte er, und ich wusste nicht recht, ob mir das aufblitzen seiner Augen gefallen sollte. So aufregend und faszinierend sie auch waren, gewöhnte ich mich langsam daran, aber richtig einschätzen konnte ich sie deswegen noch lange nicht.

Wir witzelten während des Frühstücks ein bisschen miteinander herum und ich erwischte mich wieder beim flirten. Er machte es einem aber auch so einfach. Ich wusste nicht warum, aber in seiner Gegenwart konnte ich mich ganz locker geben, völlig ungezwungen, wie es sonst nur bei Diego und Lucy der Fall war.

Das Abräumen und den Abwasch erledigten wir gemeinsam, und obwohl ich mich sonst mit Händen und Füßen gegen solche Aufgaben sträubte, machte es mit ihm zusammen richtig Spaß. Da sollte noch mal einer behaupten, die Bekanntschaft mit den beiden tat mir nicht gut.

Als alles wieder sauber war, verschwand ich erneut im Bad, für die tägliche Morgenwäsche. Ich Duschte, putzte mir noch mal die Zähne und kämmte meine nassen Haare zurück. Doch als ich zu meinen Klamotten kam, konnte ich nur stöhnen. Ich mochte es nicht dreckige Sachen anzuziehen, aber was blieb mir anderes übrig? Ich konnte schließlich nicht nackt durch die Wohnung laufen, das machte ich nicht mal zu Hause. Ich hatte gar keine Wahl, als in die verschwitzten Sachen zu schlüpfen. Unterwäsche und Socken allerdings ließ ich in meiner Tasche liegen. Die noch mal anzuziehen, widerstrebte mir zutiefst.

Genauso barfuß wie ich das Bad betreten hatte, verließ ich es nun auch wieder und folgte dann dem Klang der Musik, die jetzt aus dem Wohnzimmer kam.

Als ich Ryder erblicke, musste ich mich unweigerlich fragen, wie viel Zeit ich im Bad verbracht hatte. Unsere Abendliche Kuschelecke hatte er bereits weggeräumt. Die Couch und der Fernseher, aus dem die Musik kam, waren in die Mitte des Zimmers gerückt und unter einer Abdeckfolie begraben worden. Ryder sah jetzt auch anders aus. Das Haar war wieder im Nacken zusammengebunden und er hatte sich umgezogen.

Nun trug er eine alte, ramponierte Jeans und ein verwaschenes Shirt, das schon ein paar Löcher am Halsausschnitt hatte. Doch was mich an dem ganzen Bild beunruhigte, war sowohl der Farbeimer, vor dem er hockte, als auch die Farbrolle, die er in der Hand hielt.

Meine Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen. „Das ist die Überraschung?“ Jetzt wusste ich, dass das Aufblitzen seiner Augen nichts Gutes bedeutete.

„Was hast du den gedacht?“, lächelte er. „Ein Ausflug zum Strand?“

„Auf jeden Fall besser, als im Haus zu sitzen und Wände anzumalen“, gab ich zu bedenken.

„Ach komm schon.“ Er rührte die Farbe im Eimer mit einem alten Holzbügel um. „Das wird Spaß machen. Außerdem hast du gestern so entsetzt geguckt, als du unsere Wände gesehen hast und deswegen werden wir das jetzt ändern.“

„Aber meine Klamotten.“

„Das ist Wandfarbe, die lässt sich auswaschen.“

Ich suchte nach weiteren Gründen, die mich von der Arbeit fernhalten konnten. „Aber die Wand muss doch erst tapeziert werden und so was kann ich nicht.“

„Ich habe die Wand bereits gespachtelt, geschliffen und Grundiert. Die Tapeten sind für den Flur gedacht.“ Er kam zu mir rüber und drückte mir die Rolle in die Hand. „Also keine Ausflüchte mehr, jetzt wird gearbeitet.“

Na toll, so hatte ich mir meine Sonntag nicht vorgestellt. Und wenn ich zum Fenster raus sah, den strahlend blauen Himmel, die Sonne, die sich in den Autos spiegelte, dann fand ich die Idee mit dem Stand doch viel verlockender, als hier Wände anzumalen. „Muss ich wirklich?“

„Natürlich nicht.“ Er setzte einen flehentlichen Blick auf. „Aber ich würde mich freuen, wenn du mir helfen würdest. Sonst muss ich das ganz allein und einsam machen.“

Oh Gott, dieser Blick, dem hatte ich absolut nichts entgegenzusetzen. Das wäre, als würde man jemanden Treten, der bereits am Boden lag. Ich konnte gar nichts anderes tun, als mich meinem Schicksal zu fügen. So gab ich also nach.

Wann waren die Rollen nur vertauscht worden? Normalerweise war ich doch diejenige Welche, die mit diesem Blick immer ihren Willen bekam. Sogar bei Victoria hatte ich damit schon ein paar Mal meinen Willen durchsetzen können. Ihn aber selber Mal abzubekommen war, gelinde gesagt, echt ätzend.

Seufzend gab ich mich geschlagen. „Okay, aber du musst mir sagen, was ich tun muss. Ich hab noch nie so ein Ding in der Hand gehabt.“ Ich hielt die Farbrolle als Anschauungsmaterial in die Luft.

„Das ist ganz einfach. Die Rolle an der Farbe drehen, nicht hineinstecken, alles Überschüssige am Abrollgitter abrollen und dann die Wand Malern.“

Okay, gut. Bei Grundierung bin ich schon nicht mitgekommen, aber was bitte war ein Abrollgitter? „Äh, kann ich vielleicht einen Pinsel haben, so einen habe ich wenigstens schon mal benutzt.“

Kopfschüttelnd drückte er mir einen in die Hand. „Wo denn? Im Kunstunterricht?“

„Wo sonst?“, fragte ich lächelnd und tauchte die Spitzen der Borsten in den Farbeimer.

Während Ryder mit der Rolle an der linken Seite begann, widmete ich mich der Fensterfront. Das Abkleben sparte ich mir, weswegen ich ständig dabei war, den Fensterrahmen und die Heizung mit einem Lappen von Farbklecksen zu befreien. Zwischendurch spähte ich zu Ryder herüber um zu schauen, wie er so vorwärts kam.

Konzentriert zog er Bahn um Bahn. Ich konnte das Muskelspiel unter seiner Haut erkennen, sah ein Stück freier Haut über seiner Jeans, wenn er sich streckte, sah wie er sich bewegte, als hätte er das schon tausende von Malen getan. Vielleicht hatte er das auch. „Du machst das richtig gut.“

„Danke.“ Er steckte die Rolle auf eine Teleskopstange und tauchte sie dann wieder in den Eimer.

Neidisch sah ich zu, wie geschickt er sich dabei anstellte. „Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?“

„Nein.“ Mit breitem Griff führte er die Rolle auf der Stange ans Deckenende der Wand. „Mein Vater hat es mir beigebracht, als ich noch ganz klein war.“

„Dein Vater?“ Vorsichtig führte ich den Pinsel am Fensterrahmen entlang und malte prompt wieder über. Toll. „Was macht dein Vater eigentlich?“

„Also im Moment ist er mal wieder auf Tour.“

„Tour?“ Ich verzog die Augenbrauen. „Ist der ein Rockstar, oder was?“

Ryder unterbrach sich mitten in der Bewegung und sah mich schmunzelnd an. „Nein, Fernfahrer“, gluckste er kopfschüttelnd. „Du kommst vielleicht auf Ideen.“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Was denn, hätte doch sein können. So ungezwungen wir ihr drauf seid, kann er nicht allzu autoritär sein.“

„Papa ist schon irgendwie eher der Kumpeltyp, doch auch er kann autoritär sein.“ Er grinste über dieses Wort. „Und wenn er das ist, dann sollten sich alle schnell in Sicherheit bringen, weil es dann richtig knallt.“

„Knallt? Inwiefern.“ Man, ich machte wirklich alles, um nicht streichen zu müssen. Das war irgendwie einfach nicht mein Ding.

„Na ja.“ Er legte seine Rolle am Farbeimer ab und setzte sich zu mir auf dem Boden. „Als Tyrone und ich neun waren, haben wir in einer alten Scheune im Wald einen ziemlich verrosteten VW Käfer gefunden. Der sah aus, als würde er bei der kleinsten Berührung einfach auseinanderfallen. Aber wir waren über diese Entdeckung so begeistert gewesen, dass wir beschlossen, ihn wieder zum Laufen zu bringen. Und genau das haben wir auch getan.“

„Mit Neun?“, fragte ich zweifelnd.

Er nickte. „Ja, und wir wollten ja nicht nur dass er läuft, wir wollten auch damit fahren. Also haben wir aus Papas Wagen das Benzin angezapft und es in den Käfer getan. Dann konnte die Jungfernfahrt beginnen. Es lief auch alles wie am Schnürchen. Wir wechselten uns mit dem Fahren ab, fuhren mal schnell und mal langsam, aber das verlor schnell an Reiz, also wurden wir wagemutiger. Erst haben wir Sprünge über kleine Gräben gemacht, sind mit neunzig Sachen über die Feldwege gerast und solche Sachen. In der Schule haben wir es natürlich unseren Freunden erzählt, die dann auch damit fahren wollten. Also haben wir immer wieder den Tank von unsere Vater geleert, so oft, dass er seinen Wagen schon in die Werkstatt gebracht hat, die natürlich nichts finden konnte.“

„Weil ja nichts kaputt war“, grinste ich.

Er stimmte mir zu. „Und dann sind wir mit unseren Freunden durch die Gegend gefahren. Josh, ein Kumpel der schon älter war als wir, kam dann auf die Idee ein paar Stunts auszuprobieren.“

„Stunts?“

„Ja, Stunts. Er fing an und ließ sich von uns auf dem Autodach mitnehmen. Bald wurden Tyrone und ich auch so mutig. Wir saßen auf dem Dach, auf der Motorhaube, einmal kletterte ich bei voller Fahrt aus dem Wagen auf die Motorhaube. Das war echt ein wahnsinniges Gefühl.“

„Das glaube ich“, sagte ich leicht sarkastisch. Auf so dumme Ideen konnten doch nur Kerle kommen, selbst dann, wenn sie eigentlich noch gar keinen waren.

Er ignorierte meinen Ton. „Auf jeden Fall, um endlich zum Punkt zu kommen, eines schönen Tages setzten Tyrone und Josh sich auf die Motorhaube und ich gab Vollgas. Nichts neues, das hatten wir schon ein paar Mal gemacht, aber an diesem Tag sprang mir ein Reh vor den Wagen. Ich bremste so abrupt ab, dass Tyrone und Josh im hohen Bogen vom Kühler flogen. Das werde ich nie vergessen.“ In Erinnerung glänzten seine Augen. „Tyrone flog in einem hohen Bogen in einem Graben, der zu seinem Glück noch mit einem Rinnsal Wasser gefüllt war. Der Aufgeschwemmte Matsch, dämpfte seinen Sturz ab, sodass er außer ein paar Prellungen und Abschürfungen unbeschadet davon kam. Josh allerdings hatte nicht so viel Glück. Er kollidierte geradewegs mit einem Baum. Zwei gebrochene Rippen, Platzwunde an der Stirn, massenhaft Prellungen und eine gequetschte Niere.“

„Und so sind eure kleinen Ausflüge aufgeflogen.“

„Na ja. Wir mussten schließlich erklären, warum Tyrone aussah, als wäre er dem Moor entstiegen und warum Josh nicht mehr alleine laufen konnte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Als Paps es erfahren hat, hat er den Wagen verschrotten lassen und wir bekamen für den Rest unseres Lebens Stubenarrest, das Verbot, jemals ein eigenes motorisiertes Fahrzeug zu führen und mussten fast ein Jahr freiwillig …“ die Gänsefüßchen waren nicht zu überhören „… im Krankenhaus helfen.“

Ich kicherte bei der Vorstellung, Ryder in einem weißen Krankenhauskittel an einem Patientenbett zu sehen, um die Bettpfanne zu entleeren. „Aber mindestens zwei der Strafen haben ja nicht lange angehalten.“

Er lachte auf. „Nur leide die falschen zwei. Wenn du wüstest, wie viele Bettpfannen ich damals schrubben musste, oder der Abwasch von hunderten von Patienten, dreimal am Tag.“

„Wenn ihr nicht sowas Blödes angestellt hättet, hätte ich fast Mitleid mit euch.“

„Das Blöde war nicht, was wir getan hatten“, sagte er, stand auf und griff nach seiner Farbrolle. „Das Blöde daran war nur, dass wir uns haben erwischen lassen, oder das Reh, das mir unbedingt vor den Wagen springen musste.“

„Das kannst du auslegen, wie du willst, ihr wart selber schuld.“ Ich tauchte meinen Pinsel wieder in die Farbe und wollte das Stück am Fensterrahmen weiter machen, aber dann kam mir eine viel bessere Idee. Ich malte meine bereits besprenkelte Handfläche ganz weiß, schlich mich hinter ihn und verpasste ihn einen deutlichen Abdruck auf seinem Hintern. „Ist abwaschbar“, grinste ich unschuldig, als er zwischen meiner Hand und seiner Hose hin und her schaute.

„Du willst es echt wissen, was?“ Er riss seine Rolle an der Teleskopstange von der Wand und richtete sie auf mich. „Das kannst du gerne haben.“

Kichernd sprang er zur Seite, als er mir mit der Rolle über die Hose fahren wollte. Ich wich geschickt aus, packte die Stange und malte ihm mit dem Pinsel quer über den Arm. „Zu langsam“, grinste ich, erfreut über meinen Erfolg.

„Das wird sich noch zeigen.“ Er ließ die Stange los und tauchte seine bloßen Hände tief in den Farbeimer hinein.

„Oh nein.“ Kopfschüttelnd wich ich vor ihm zurück. Warum hatte ich das gleich noch für eine gute Idee gehalten? Mit dem Popcorn und dem Wasser hatte ich doch bereits gemerkt, dass die Brüder immer ein bisschen übertrieben.

„Oh doch“, nickte er und hielt die Hände vor sich ausgestreckt. Die Farbe tropfte auf die Folie, die den Boden schützte. Langsam kam er mir immer näher.

Ich ließ den Pinsel fallen, riss die Rolle herum und richtete sie auf ihn. „Bleib bloß weg von mir.“

Er blieb stehen. Leider nur für einen Moment. Dann zog er die Rolle einfach von der Stange und ließ sie hinter sich auf den Boden fallen. Na toll, jetzt war ich komplett unbewaffnet. Das würde kein gutes Ende nehmen. Ich brauchte dringend etwas, um mich verteidigen zu können. Kurz schielte ich nach unten zu meinem Pinsel, doch bevor ich überhaupt die Chance bekam, ihn wieder an mich zu nehmen, stand Ryder schon vor mir und zog mich in seine Arme.

„Aaaa!“, kreischte ich. „Bitte Ryder, nein.“ Ich konnte spüren, wie die nasse, weiße Farbe auf meinem Rücken durch das Shirt drang, nur leider gab er sich damit nicht zufrieden. Als sein Griff sich lockerte und ich schon dachte, es sei vorbei, klatschte er seine Hände auf meinem Hintern und hinterließ zwei perfekte Abdrücke. Dann trat er ein Stück von mir zurück und bewunderte sein Werk.

„Bist du jetzt fertig?“, grummelte ich und sah mir die Bescherung an. Meine Jeans!

„Noch nicht ganz.“ Die Farbe, die an seinen Armen heruntergelaufen war, schmierte er sich in die Handflächen und im nächsten Moment war mein Gesicht weiß. Ich versuchte noch ihn abzuwehren, doch genauso gut hätte ich mich auch selber mit Farbe beschmieren können. „So, jetzt bin ich fertig. Ein wahres Meisterwerk, wenn ich das bemerken darf. Ich bin ein Künstler.“

„Eher ein Banause.“ Ich versuchte mir die Farbe aus dem Gesicht zu wischen, zwecklos. Um das wegzukriegen, brauchte ich ein Vollbad, oder einer Intensivbehandlung in der Autowaschanlage. „Das war jetzt ein bisschen übertrieben, meinst du nicht?“

„Ganz ehrlich? Mir würde noch mehr einfallen.“ Sein freches Lächeln wurde so breit, das er wohl gleich im Kreis grinsen würde.

„Mir auch.“ Ich wollte an ihm vorbei, es ihm mit gleicher Münze zurückzahlen, aber er packte mich blitzschnell von hinten, hob mich hoch und stellte mich weiter vom Eimer entfernt auf den Boden. Toll, jetzt war ich auch noch vorne mit Farbe beschmiert. Ich hob überlegen die Nase in die Luft. „Du kannst den Eimer nicht die ganze Zeit bewachen.“

„Ich kann es zumindest versuchen.“

Das war der Startschuss. Ich versuchte erneut an ihm vorbei zu kommen, aber er erwischte meinen Arm. Zum Pech für ihn, waren seine Hände durch die Farbe glitschig und so war es ein leichtes für mich, aus seinem Griff zu winden. Ich stürzte mich auf die Rolle, tauchte sie tief in die Farbe und riss sie dann hoch. „Runde zwei“, sagte ich und dann ging ich zum Angriff über. Ich erwischte ihn an der Brust und im Gesicht, doch zu meinem Leid, klaute er sich mit der Hand neue Farbe von meiner Rolle und schlug zurück. Ich konnte nicht sagen, wer daraufhin wen öfter traf. Statt der Wand wurden wir immer weißer und die Farbe in dem Eimer nahm stetig ab.

Wir kleckerten den ganzen Boden voll, nicht mal unsere Haare blieben verschont. Einmal tat ich so, als hätte ich Farbe ins Auge bekommen, nur um ihm dann welche an den Hals zu schmieren. Lachend brachte ich mich schnell aus seiner Reichweite und dann nahm er den Eimer.

„Oh nein.“ Abwehrend hob ich meine Hände, um ihn auf Abstand zu halten. „Das geht doch ein bisschen zu weit.“

Er sah in den Eimer hinein. „Glaubst du?“

„Ja, das glaube ich. Bitte, stell den Eimer ab.“

„Wie Ihr wünscht, Prinzessin“, sagte er, aber das verschlagene Lächeln, dass er im Gesicht trug, gefiel mir gar nicht. Irgendwas hatte er noch vor, da war ich mir sicher.

Ich beobachtete ganz genau, wie er den Eimer zurück auf den Boden stellte und als hätte ich es nicht geahnt, steckte er die Hände noch mal hinein, stand so plötzlich vor mir, als wäre er gerade aus dem Boden gewachsen und nahm mein Gesicht zwischen seine Hände. Er schmierte wirklich alles voll. Die Farbe lief mir in den Ausschnitt und ich bekam eine Gänsehaut – man das war richtig kalt. Ich versuchte nach hinten auszuweichen, stand dann aber mit dem Rücken an der Wand.

„Gefangen“, lächelte er.

Äh, ja, das merkte ich. Und wie ich das merkte. Er war mir so nahe, dass sich unsere Körper beinahe berührten, er ragte vor mir auf und dieses Kribbeln, das er ständig bei mir hervorrief, tauchte wieder auf. Ich sah das lächelnde Gesicht vor mir, das völlig mit Farbe verschmiert war und einzelne Strähnen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten.

Als ich nichts sagte, ihn einfach nur mit offenem Mund anstarrte und mich mal wieder von seinem Blick gefangen nehmen ließ, veränderte sich das Lächeln in seinem Gesicht. Oh nein, nicht schon wieder. „Ähm … wir … also …“ Toll. Es wäre wirklich sinnvoller, wenn ich einen ganzen Satz zustande bringen könnte. „Jetzt brauchen wir neue Farbe.“

„Warum?“ Mit dem Finger strich er mir über die Wange und brachte mich damit völlig aus dem Konzept. Mein Denken bewegte sich plötzlich nur noch träge. „Gibst du immer noch nicht auf?“

„Doch, aber die Wände.“ Ich schaffte es meinen Arm zu heben und auf die besagten Wände zu zeigen. „Die sind noch nicht fertig und wir haben keine Farbe mehr.“

„Dann brauchen wir wohl neue Farbe“, stimmte er mir zu, wandte aber weder den Blick ab, noch ging auf Abstand.

Ich wusste was gleich passieren würde, aber das wollte ich nicht. Ein Teil in mir sträubte sich dagegen. Ich nahm seine Handgelenke und zog sie von mir weg. Er ließ es ohne Gegenwehr geschehen, blieb aber weiterhin, vor mir stehen. „Ich denke, wir sollten hier ein bisschen sauber machen.“

„Das können wir auch später noch machen.“

Verdammt, er wollte das wirklich, das konnte ich sehen, aber ich wollte das nicht. „Ryder, bitte.“ Bitte geh weg, bevor ich etwas mache, was ich vielleicht bereue, fügte ich still hinzu. Meine Worte konnten in zweifacher Richtung gedeutet werden, aber er verstand und gab mir endlich wieder Luft zum atmen. Meine Zurückweisung schien seiner Laune jedoch keinen Abbruch zu tun, er lächelte immer noch. „Und, was kommt als nächstes? Kissenschlacht?“

Lächle und antworte, befahl ich mir. Mein Herz schlug mir immer noch bis zum Hals, aber ich riss mich zusammen. „Das hatten wir gestern schon.“

„Na dann lass ich mir was einfallen.“ Er zwinkerte mir zu und verschwand dann ins Bad.

Dem Himmel sei es gedankt. Ich war heilfroh, dass er jetzt nicht anders mit mir umging, als vorher. Er war nicht steif, oder zurückhaltend, er benahm sich wie die ganze Zeit davor schon. Frech! Alles andere hätte meine Unsicherheit nur noch gesteigert. Und trotzdem fand ich es seltsam. Das war jetzt schon das zweite Mal und ich hatte ihn wieder raus in den Regen geschickt. Was war nur los mit mir? Da war ein echt süßer Kerl, der witzig war, spontan und gut küssen konnte – was ich durch meine kleine Kostprobe noch sehr genau wusste – und mich offensichtlich mochte, aber irgendwas in mir sträubte sich gegen ihn. Ich brauchte echt einen Psychiater. Jedes andere Mädchen in meiner Position, hätte diese Chance beim Schopf ergriffen, aber was tat ich? Ich sagte nein und das nun schon zum wiederholten Male.

An der Wand ließ ich mich zu Boden rutschen und sah zum ersten Mal das gesamte Chaos, das wir angerichtet hatten. Oh wow, nicht schlecht, Herr Specht. Der Boden war eine einzige weiße Pfütze. Überall waren Fußspuren. Meine konnte ich von Ryders gut unterscheiden, da er Schuhe getragen hatte. Die Wände hatten auch einige Spritzer abbekommen, aber die Möbel, waren durch die Folie gut geschützt geblieben, genauso wie der Boden.

Das wieder sauber zu machen, würde nicht so schwer werden, mich dagegen wieder sauber zu kriegen, würde richtig Arbeit bedeuten. Besonders meine Haare. Oh Gott, meine Haare! Hoffentlich ließ die Farbe sich raus waschen. Meine Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn ich sie mir abschneiden müsste. Sie liebte meine langen Haare und obwohl ich sie mir schon mehr als einmal hatte kürzen wollen, war das ein Punkt, in dem sie nicht mit sich reden ließ. Meine Haare waren so eine Art Heiligtum für sie. Ein bisschen fanatisch die Gute, aber bitte, wenn sie ihr so viel Freude machten, sollte sie die auch haben.

Als Ryder wieder zurückkam und sich neben mich setzte, wendete ich meinen Blick von dem Chaos, auf ihn. Der Großteil von Gesicht und Armen war fast sauber. Er spielte mit irgendwas in der Hand herum, doch was es war, begriff ich erst, als mich das Blitzlicht traf.

Geblendet drehte ich den Kopf weg. „Oh, Ryder!“

„Ich brauche doch eine kleine Erinnerung.“

„Aber doch nicht, wenn ich so aussehe.“

„Warum?“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite und war ehrlich neugierig. „Was ist daran so falsch?“

„Was daran falsch ist? Ich bin voller Farbe!“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich wette, es gibt ein Haufen Fotos von dir, aber auf ihnen allen bist du immer sauber, fein ordentlich gestylt und sie sind immer gestellt.“

Na ja, wenn er das so ausdrückte, stimmte das schon irgendwie. „Und selbst wenn.“

„Es ist doch gar nicht so schlecht, mal anders zu sein. Warum muss man eine Barbiepuppe sein?“

Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Du hältst mich für eine Barbiepuppe?“

„Auf den ersten Blick? Ja. Auf den Zweiten allerdings bist du das Außergewöhnlichste, was mir seit langem begegnet ist.“

Ähm … okay. Warum musste er das jetzt sagen? Hatte ich nicht eben schon klar nein gesagt?

„Und mit der Farbe im Gesicht, siehst du noch fantastischer aus.“ Er hob die Kamera und schoss ein weiteres Foto. Wieder traf das Blitzlicht direkt meine Augen.

„Wenn du damit nicht aufhörst, muss ich dir die Kamera wegnehmen“, drohte ich und versuchte die kleinen Punkte vor meinen Augen wegzublinzeln.

In einer schnellen Bewegung ließ er sie in seiner Hosentasche verschwinden. „Wie wäre es, wenn wir hier jetzt ein bisschen Ordnung machen.“

„Du meinst, bevor alles festtrocknet?“

„Das wäre gar nicht das Problem. Aber wenn Tyrone die Unordnung sieht, wird er mir den Kopf abreißen.“

Ah, dann war Tyrone also der Ordentliche, der dafür sorgte, dass diese Männerbude nicht im Chaos versank. „Na dann sollten wir aufräumen, damit das Köpfchen bleibt, wo es hingehört.“

 

°°°

 

„Hier, probier mal.“

Ich hielt mir meine Haare aus dem Gesicht und beugte mich zu dem Kochlöffel vor, den Ryder mir vor die Nase hielt. Oh wow, meine Geschmacksknospen tanzen Tango und Salsa und den Schalsten und was es da noch so gab. Das war einfach nur himmlisch. „Hmmm“, machte ich und genoss den Geschmack noch ein bisschen auf der Zunge. „Gibt es eigentlich irgendwas, in dem ihr Jungs nicht perfekt seid?“

„Perfekt?“

„Na ja.“ Ich lehnte mich an die Anrichte neben dem Herd. „Tyrone malt Bilder, wie ein junger Picasso, du renovierst die Wohnung, als wärst du mit einem Pinsel in der Hand geboren worden und jetzt kannst du auch noch kochen wie ein Gott.“ Okay, das war vielleicht ein bisschen übertrieben, aber diese Soße war einfach nur zum reinsetzten.

Übertrieben gestenreich, tippte Ryder sich ein paar Mal gegen sein Kinn, als müsste er erstmal gründlich darüber nachdenken. „Nein, ich denke nicht“, sagte er dann langgezogen. „Alles was ich tue, ist mit einer gewissen Perfektion verbunden.“

„Er kann nicht singen“, kommentierte Tyrone, als er zu uns in die Küche kam und sich an den Tisch setzte. „Wenn er das versucht, hört sich das immer an, als erleide irgendwo ein Tier einen grausamen Tod.“

„Siehst du, also bin ich doch perfekt.“ Lächelnd kippte irgendein Gewürz in den Topf, das mir unbekannt war. „Ich kann perfekt schlecht singen.“

„Das ist nichts, mit dem du hausieren gehen solltest.“ Ich setzte mich neben Tyrone und grinste ihn frech an.

Unser Blondschopf war vor knapp zehn Minuten nach Hause gekommen und hatte erst ein Blick auf unser Werk im Wohnzimmer geworfen, nachdem er unser doch sehr außergewöhnliches Styling erblickt hatte. „Wenigstens hat die Wand auch ein kleinen wenig Farbe abbekommen“, war sein einziger Kommentar gewesen, bevor er sich in sein Zimmer verzogen hatte.

Das Chaos, das Ryder und ich verursacht hatten, war bereits beseitigt worden. Nachdem wir die Folie zusammengeklappt und entsorgt hatten, war es im Wohnzimmer wieder mehr oder weniger sauber gewesen. Die Spritzer, die das Fenster abbekommen hatte, hatten wir weggewischt und die Möbel zurück an ihre Plätze geschoben. Jetzt sah der Raum wieder aus wie vorher, nur dass die kahlen Wände jetzt zur Hälfte weiß gestrichen waren und Ryder und ich, na ja, auch wir waren zur Hälfte weiß.

Ich hatte zwar versucht, mir die Farbe zumindest von Gesicht, Händen und Füßen zu waschen, aber im Großen und Ganzen war ich gescheitert.

„Hier, ich hab was für dich.“ Tyrone schob mir eine lederne Mappe über den Tisch zu.

Neugierig griff ich danach. „Was ist das?“

„Mach es auf.“

Das tat ich. In der Mappe lag ein Bild. Aber nicht irgendeines, sondern das, was er gestern gemalt hatte, das auf dem ich eine Hexe war. Er hatte es fertig bekommen und wenn ich es schon gestern toll gefunden hatte, so war das jetzt der reine Wahnsinn. Die Figuren wirkten so echt, die vielen Einzelheiten so detailliert, alles war einfach … perfekt. Da war das Wort wieder. „Das kann ich nicht annehmen.“

„Warum?“

„Weil es ihr nicht gefällt“, sagte Ryder und stellte uns nacheinander Teller vor die Nase.

„Nein“, widersprach ich sofort. „Es gefällt mir, es ist toll.“

„Dann nimm es“, bat Tyrone. „Es würde mich freuen.“

„Aber …“

„Nimm es einfach“, lächelte Ryder und stellte einen Topf mit Reis in die Mitte des Tisches. „Er hat so viel von dem Zeug, dass er damit schon die Wände tapeziert und du würdest nicht glauben, was sich noch alles in unserem alten Haus in Seidingstadt stapelt.“

„Seidingstadt?“

Ryder kehrte mir den Rücken, doch bevor er das tat, sah ich noch, wie sich ein wachsamer Ausdruck auf sein Gesicht legte. „Das Dorf, in dem wir gewohnt haben.“

„Davon hab ich noch nie gehört, wo liegt das?“ Eigentlich nicht verwunderlich, dass ich das nicht wusste. In Erdkunde hatte ich nie sonderlich gut aufgepasst, es gab eben so viele andere, viel interessantere Dinge.

„Thüringen. Ungefähr Mittig zwischen Bamberg und Erfurt. Es ist ein sehr kleines Dorf, kaum mehr als ein winziger Fleck auf der Landkarte.“

Die Pfanne mit der cremigen Fleischsoße landete neben dem Topf mit dem Reis.

Und da sollte Diego noch mal behaupten, die beiden würden ein Geheimnis um ihre Person machen. Bisher hatte ich auf jede Frage auch eine Antwort bekommen. „Hab ich noch nie was von gehört.“

„Du, und tausende andere“, sagte Tyrone,und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Und, möchtest du es jetzt behalten?“

„Bevor es in irgendeinen Papierstapel auf ewig verschwinden? Auf jeden Fall! Danke.“ Ich beugte mich über den Tisch und gab ihn einen Schmatzer auf die Wange.

„Hey, was ist mit mir?“, fragte Ryder und setzte sich auf den letzten leeren Platz. „Krieg ich für meine Arbeit keinen Kuss?“

„Nein“, sagte ich und klappte die Mappe zusammen, damit das Bild vor dem Essen geschützt war. „Du hast mich mit Farbe beschmiert.“

Darüber dachte er einen Moment nach. „Du hast angefangen.“

„Und du hast maßlos übertrieben.“

„Du hast mitgemacht.“

„Und du hast maßlos übertrieben“, wiederholte ich mich. „Punkt. Aus. Ende. Es gibt keinen Kuss für dich.“

„Das merk ich mir.“ Nun war beleidigt. Trotzig und beleidigt.

Ich musste einfach grinsen. „Das sagt meine Mutter auch immer, aber meinen tut sie es nie so.“

„Ich bin nicht deine Mutter.“

„Nein“, stimmte ich Ryder zu und musste breit grinsen, als ich mir vorstellte, wie er in den Klamotten meiner Mutter aussehen würde. „Meine Mutter würde nicht …“ Mich traf der Schlag, Mama! Verdammt, heute war ja Sonntag! „Scheiße, ich muss los.“ Ich sprang vom Stuhl auf und knallte erst mal mit dem Knie gegen den Tisch. Alles Geschirr darauf machte einen kleinen Hüpfer und fiel dann mit mir zusammen, wieder zurück. Au Mist, das tat echt weh.

Tyrone, der seinen Löffel schon halb im Mund hatte, unterbrach sich. „Warum musst du so plötzlich los?“

„Weil heute Sonntag ist. Sonntags ruft meine Mutter immer an, da muss ich zu Hause sein.“ Mit der Hand rieb ich mir die schmerzende Stelle am Bein. In Zukunft sollte ich wohl besser aufpassen. Woraus war dieser Tisch? Aus Stein?

„Warum ruft sie denn nicht einfach auf deinem Handy an?“

„Weil sie auch immer gleich mit Victoria sprechen will und sich das über die Jahre halt so bei uns eingegliedert hat.“

„Strenge Hausregeln, wie?“

Ich sah Ryder scharf an. „Sie ist meine Mutter, okay? Und sie besteht nun einmal darauf.“ Außerdem wollte ich auch mit ihr sprechen. Sie hatte immer so viel um die Ohren, dass wir nur selten zum telefonieren kamen und das war nun mal ein fester Termin, den wir beide ausgemacht hatten.

„Aber sie wird doch sicher nicht wollen, dass wir dich verhungern lassen.“ Ryder klatschte mir einen großen Löffel Reis auf den Teller und begoss das Ganze mit seiner Fleischsoße. „Du isst jetzt erst mal ganz in Ruhe, und dann bringen wir dich nach Hause.“

Aber ich wollte ihren Anruf nicht verpassen. „Wie spät ist es denn?“

„Fünf“, erklärte Tyrone mit einem Blick auf seine Armbanduhr.

Mama rief meist zwischen sechs und sieben an.

„Hey, ich hab jetzt extra gekocht und auf die halbe Stunde kommt es nun wirklich nicht mehr an.“ Ryder schaute schon beinahe flehentlich drein. „Oder?“

Eigentlich hatte er ja Recht. Und so gut wie das Essen schmeckte, wäre es geradezu in Verbrechen es einfach verkommen zu lassen. Außerdem wusste meine Mutter, dass ich nicht besonders zuverlässig war und würde sicher später noch mal anrufen, falls ich noch nicht zu Hause war. „Okay, eine halbe Stunde, aber dann muss ich wirklich los.“

„Gute Entscheidung.“ Lächelnd belud Ryder seinen eigenen Teller.

„Das wird sich noch zeigen.“ Ich nahm meinen Löffel und aß. Mann, wie brachte er es nur fertig, mich so schnell rumzukriegen? Das war mein Ding! Ich hatte das gut drauf, ich war dafür geboren worden, doch das war jetzt schon das zweite Mal, dass er das schaffte mich zu beschwatzen. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich noch zustimmen, auf in einer Bar einen Tabeldance hinzulegen.

Ich ließ mir Zeit beim Essen und sehr schnell wurde aus der halben Stunde, eine Stunde. Dann ließ ich die Mappe mit dem Bild in meiner Tasche verschwinden und drängte die Jungs zum Aufbruch. Leider hatte Ryder seine Motorradschlüssel verlegt und so vergingen weitere zwanzig Minuten mit der Suche danach.

Ich wartete zusammen mit Tyrone ungeduldig an der Wohnungstür und jedes Mal wenn Ryder von einem Zimmer ins andere huschte, um dort nach seinem vermissten Schatz zu suchen, sagte er: „Geht gleich los.“ Das machte er so oft, dass ich begann es mit aufzusagen. Und endlich fand er ihn. Er hatte in seiner Hose von gestern gesteckt und war in den Wäschehaufen gerutscht, als er sie einfach zu den dreckigen Klamotten geworfen hatte.

Nachdem wir nun endlich unsere sieben Sachen beieinander hatten, ging es im Eilschritt sieben Etagen hinunter auf die Straße zu den Motorrädern. Als ich Ryder dort seinen Ersatzhelm praktisch aus der Hand riss, merkte er an, dass ich es wohl eilig hätte.

Darauf konnte er Gift nehmen.

Um kurz nach halb sieben saß ich dann endlich hinter Ryder auf seiner Maschine und klammerte mich an ihm fest, als er übertrieben schnell Gas gab.

Der Wind wehte meinen Zopf nach hinten, als wir mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch den Abendverkehr rasten. Langsam kam mir der Verdacht, dass Ryder das nur tat, damit ich mich so an ihn klammern musste. Das nächste Mal sollte ich besser mit Tyrone fahren, bei ihm sah das ganze irgendwie sicherer aus.

Wir brauchten keine zwanzig Minuten, bis wir in die Straße einbogen, in der ich wohnte. Zum Abschluss gab Ryder noch einmal richtig Gas und bremste mit einer so halsbrecherischen Wendung direkt am Bürgersteig, dass die Fliehkraft mich wohl vom Motorrad befördert hätte, wenn mein Griff nicht so fest gewesen wäre. Ich dachte mein Herz würde stehen bleiben. Er bremste, ließ das Hinterrad herum schnellen und stand. Und ich? Ich klammerte mich an ihn, als hinge mein Leben davon ab. Nun ja, wenn ich ehrlich war, tat es das auch.

Noch bevor er den Motor abgestellt hatte, ab ich ihm einen Klaps gegen den Rücken. „Erschreck mich doch nicht immer so!“

Grinsender Weise zog er sich den Helm vom Kopf. „Was wäre das Leben ohne ein bisschen Nervenkitzel?“

„Sicherer“, gab ich trocken zurück und stieg aus dem Sattel. Meine Beine fühlten sich ein wenig steif an, was wohl daran lag, dass ich sie die ganze Zeit angespannt hatte. Dann begann wieder einmal der Kampf mit dem Helm. Irgendwie ging der immer leichter auf den Kopf, als wieder runter.

Mein erbärmlicher Versuch mich zu befreien, musste so kläglich aussehen, dass auch Tyrone abstieg und mir wieder einmal zur Hilfe eilte. Mein Kopf rutschte gerade heraus, als die Haustür aufflog und eine vor Wut schnaubende Victoria mit mit Lucy und Diego im Anhang aus dem Haus gestampft kam.

„Na super.“ Ich übergab Tyrone meinen Helm, der ihn unter seinem Sattel verschwinden ließ, während Ryder und ich dem Grauen entgegen sahen, das dort mit brachialer Gewalt auf uns zugewalzt kam. Dieses Mal machte ich mir gar nicht erst die Mühe die beiden wegzuschicken. So schnell wie Victoria am Gartentor war und es aufriss, konnte man schon fast glauben, sie hätte sich direkt dort higebeamt.

„Kannst du mir mal verraten, wo du warst, Fräulein?“, keifte sie und funkelte auch die beiden Jungs an.

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern und ließ meine Hände in die Hosentaschen gleiten. „Warum fragst du das? Diego ist doch sicher sofort heulend zu dir gerannt, nachdem er mich aus den Augen verloren hat.“ Nein, diesen kleinen Seitenhieb konnte ich mir nicht verkneifen. Und auch nicht den bösen Blick in seiner Richtung. Er sollte ruhig merken, dass ich noch immer angefressen auf ihn war.

„Cayenne Amarok!“

Darauf hatte ich jetzt echt keinen Bock. „Was?“, fragte ich genervt. „Warum regst du dich so auf? Es ist Wochenende, ich hab alles erledigt. Ich war bei den Vorbereitungen für das Wohltätigkeitsfest und wollte mich dann einfach nur ein bisschen amüsieren. Ich bin ein kleines Kind mehr, sieh das endlich ein.“

Ihre Augen waren starr auf mich gerichtet. „Dann verhalte dich auch nicht wie eins.“ Dann fixierte sie die Jungs. „Und ihr beide solltet zusehen, dass ihr wieder dahin verschwindet, woher ihr gekommen seid, wenn ihr keinen Ärger bekommen wollt. Ab jetzt werdet ihr euch von Cayenne fernhalten.“

„Victoria!“ Ich war wohl im falschen Film gelandet.

Ryder schnaubte belustigt, weswegen meine Aufseherin sich anspannte. Ein deutliches Zeichen dafür, wie sauer sie war.

„Was ist daran so lustig?“, fragte sie spitz.

„Na ja, ich will nicht respektlos erscheinen, aber sie sind nicht meine Mutter und somit sehe ich keinen Grund, mir etwas von ihnen sagen zu lassen.“

Ihre Augen verengten sich leicht. „Vielleicht nicht“, räumte sie ein. „Aber es wäre wohl besser für dich. Cayennes Mutter ist nicht sehr begeistert von eurer Anwesenheit.“

„Warum? Was haben wir denn getan?“

Ähm … warum hatte ich auf einmal das Gefühl, dass es hier um weit mehr ging, als übertriebene Fürsorge?

Der Blick von Victoria wurde so kalt, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie im nächsten Moment Eisstrahlen auf ihn abgeschossen hätte. „Ihr solltest jetzt besser gehen. Und wagt es nicht euch Cayenne auch nur noch ein einziges Mal zu nähern.“

„Verdammt, Victoria!“

„Und du junges Fräulein gehst hinein, jetzt.“

Hatte sie mich gerade wirklich wie eine unartige Dreijährige ins Haus geschickt? Ich bewegte mich kein Stück, verschränkte stur meine Arme vor der Brust. „Warum? Was habe ich falsch gemacht, dass du so übertrieben ausflippst?“

„Übertrieben?“ Meinem Babysitter fiel fast die Kinnlade herunter. „Begreifst du eigentlich gar nicht, was du getan hast? Keiner wusste, wo du warst oder konnte dich erreichen, weil dein Handy ausgeschaltet war. Du warst eine ganze Nacht verschwunden und das mit zwei wildfremden Männern.“

Und da machte es klick. Es ging hier gar nicht darum, dass ich die ganze Nacht weg war, es ging darum, dass ich die Nacht bei zwei Kerlen verbracht hatte, die meine Tugend bedrohten. „Oh nicht das schon wieder. Ich habe dir bereits gesagt, dass es dich absolut nichts angeht, ob, wann und mit wem ich ins Bett hüpfen will. Davon aber mal abgesehen, haben wir nur einen DVD Abend gemacht.“ Ich versuchte geduldig und vernünftig zu klingen, während ich ihr das erklärte. „Niemand ist mir an die Wäsche gegangen. Ich bin immer noch Jungfrau und habe auch vor, es noch ein Weilchen zu bleiben.“

„Das stimmt nicht“, mischte Diego sich ein und machte damit zum ersten Mal seinen Mund auf. „Ich meine das mit der Wäsche.“

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er damit meinte und als mich die Erkenntnis traf, hätte ich ihn am liebsten Erwürgt. „Danke Diego, das hatte ich jetzt echt noch gebraucht.“

„Du brauchst gar nicht so bissig sein“, warf sich nun auch noch Lucy ins Getümmel. „Deine Klamotten sprechen Bände. Die ganzen Handabdrücke sind sicher nicht von selbst aufgetaucht.“

Was Victoria konnte, konnte ich noch besser. Ich habe noch nie in meinem Leben an der meinen Freundschaften gezweifelt, doch nun bekam Lucy von mir einen solch eisigen Blick, dass sie einfach merken musste, dass sie gerade dabei waren eine Grenze zu überschreiten. Ja, sie hatten beide recht, Ryder hatte meine Klamotten angefasst, als ich in ihnen drin gesteckt hatte, die farblich abgesetzten Handabdrücke waren Beweis genug, aber sie hatten auch Unrecht. Es war weder etwas sexuelles, noch irgendwas Ähnliches in der Art. Ich selber hatte ihm auch einen verpasst, das war einfach nur Spaß. „Wir haben nur die Wände gestrichen.“

„Ja, mit den Händen“, schnaubte Lucy.

Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch. „Wir. Haben. Nur. Gestrichen!“, quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Nicht mehr, und nicht weniger.“

Keiner sagte etwas dazu. Da waren nur diese stummen Blicke. Diego funkelte Tyrone und Ryder zornig an, Lucy funkelte Tyrone und Ryder zornig an, Ryder fand die ganze Angelegenheit urkomisch, Tyrone enthielt sich jeden Augenkontakts – er hatte klugerweise den Helm aufgelassen, und ich? Ja ich funkelte meine beiden besten Freunde so wütend an, dass sie hätten jeden Moment tot umfallen müssten.

„Sonst noch eine Frage, oder ist das Verhör hiermit beendet?“

„Stubenarrest“, kam es auch sofort von Victoria. „Du wirst das Haus nur noch verlassen, um in die Uni zu fahren. Und zwar mit Diego“, fügte sie nachdrücklich hinzu.

„Was?“ Ich glaube ich hatte mich verhört. „Ich bin neunzehn und keine fünf. Die Zeiten in denen du mir Hausarrest verpassen konntest, sind lange vorbei.“

„Wenn du dich wie ein unreifes Kleinkind benimmst, dann werde ich dich auch wie eines behandeln.“ Sie funkelte mich warnend an. „Versuch also nicht mich herauszufordern, Cayenne.“

„Das …“ Ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich stand kurz vor einem epischen Wutanfall. Ich hatte nichts verbrochen und die taten so, als würde ich mit den Brüdern an Attentat auf die Staatsoberhäupter planen.

Bleib ruhig, forderte ich mich selber auf. Jetzt auszurasten würde gar nichts bringen. „Du kannst mich nicht einsperren, das weißt du genau.“ Ich war immer noch ein Meister im Ausbüchsen. Bisher hatte es noch nie jemand geschafft, mich zu halten, wenn ich nicht bleiben wollte. Schon im Kindergarten war ein ein paar Mal alleine losgezogen, wenn mich die Langeweile gepackt hatte.

„Treib es nicht zu weit Cayenne“, sagte sie mit genauso ruhiger Stimme. „Dieses Mal hast du eine Grenze überschritten.“

„Ich war nur mit Freunden unterwegs.“

„Nein warst du nicht“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Ihre Stimme überschlug sich dabei fast. „Sonst bist du immer mit deinen Freunden unterwegs, aber dieses Mal waren sie bei mir und haben sich große Sorgen um dich gemacht.“

Das war ja klar. Dass sie das S-Wort nicht schon früher benutzt hatte, kam eigentlich einem Wunder gleich. „Es gab keinen Grund sich Sorgen zu machen.“

„Doch, gab es“, sagte Ryder kalt und setzte sich sein Helm zurück auf den Kopf. Jede Belustigung war aus seinen Zügen verschwunden. „Du weißt doch sicher, das die Dunkelziffer von Opfern durch Popkornschlachten weit höher ist, als man im Allgemein annimmt. Und dann erst das Essen. Als ich es dir serviert habe, hab ich ganz vergessen zu erwähnen, dass meine Sahnesoße ein langsam wirkende Nervengift ist. Wenn du zu viel davon zu dir nimmst, wirst du satt und träge. Vielleicht solltest du das nächste Mal lieber mit einem pädophilen Psychopathen mitgehen, oder dich einer Sekte anschießen, die einen kollektiven Massenselbstmord plant. Da wärst du vermutlich sicherer als bei zwei so diabolischen Ganoven wie uns.“ Er ließ seinen Motor aufheulen und selbst durch das abgedunkelte Visier konnte ich erkennen, wie wütend er war. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Meine Freunde und Victoria stellten ihn und Tyrone als Ungeheuer der schlimmsten Sorte da. Da würde jeder sauer sein.

Ryder gab Gas und rauschte davon. Ich konnte nichts anderes tun, als der sprichwörtlichen Staubwolke hinterher zusehen. Er hatte sich nicht mal von mir verabschiedet und das alles nur, wegen meiner Leute.

„Ich fahr ihm wohl besser hinterher“, sagte Tyrone und legte mir die Hand auf die Schulter.

Die Geste beruhigte mich etwas. Wenigstens einer verfluchte mich an diesem Abend nicht. „Ja, tu das.“ Vielleicht war es keine gute Idee, Ryder jetzt alleine zu lassen. Ich kannte ihn noch nicht gut genug, um das einschätzen zu können, aber ich hatte ihn vorher noch nie wütend erlebt.

Zum Abschied drückte Tyrone mich unter den feindlichen Blicken meiner Freunde und stieg dann auf seine eigene Maschine.

Diego und Lucy beobachteten ihn mit Argusaugen, um sich sofort auf ihn stürzen zu können, falls er es sich doch noch einmal anders überlegte. Aber das tat er nicht. Das Letzte was wir von ihm sahen, war sein Bremslicht, kurz bevor er um die Ecke bog.

Meine sogenannten Freunde bekamen von mir noch einen wütenden Blick, dann marschierte ich einfach an ihnen vorbei ins Haus. Victoria rief mir sogar noch etwas hinterher, aber sie ignorierte ich völlig. Im Moment nenahm sie sich nicht nur schlimmer als meine Mutter, die behandelte mich auch noch wie einen unterbelichteten Hosenscheißer, den man den ganzen Tag im Auge behalten musste, damit er nicht über seine eigenen Füße stolperte. Und das machte mich echt sauer.

Fuchsteufelswild stampfte die Treppe nach oben in mein Zimmer, knallte die Tür sehr nachdrücklich hinter mir zu und verriegelte sie dann auch noch von innen. Dass sie sich so benommen hatten, würde ich ihnen niemals verzeihen. Das war nicht nur peinlich, das war demütigend und unangebracht. „Die brauchen doch alle 'ne Therapie“, grummelte ich, warf meine Tasche aufs Bett und mich gleich daneben.

Wer war ich denn? Ein unreifer Teenager, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte, wenn er einen Kerl sah? Ich hatte schon viele Dummheiten in meinem Leben angestellt, aber ich habe ihnen nie einen Grund gegeben, der ihr Verhalten rechtfertigte. Bestimmte Grenzen hatte ich nie überschritten, doch langsam wurde das echt verlockend.

Ein leises Kratzen am Fenster erregte meine Aufmerksamkeit. Dieses Geräusch war mir nur allzu bekannt. Es kam von dem Einzigen Wesen dieses Hauses, das ich zurzeit nicht zum Teufel wünschte: Elvis.

Er saß draußen auf dem Fensterbrett und verlangte durch wiederholtes Kratzen und lautstarkem Miauen sofortigen Einlass und da ich meiner Kratzbürste noch nie hatte etwas abschlagen können, rollte ich mich mich seufzend auf die Beine und trat ans Fenster. Zwei Handgriffe später hatte ich es offen und strich ihm beruhigend durch das weiche Fell – wobei ich das hauptsächlich tat, um mich selber zu beruhigen. „Na du kleiner Rumtreiber.“

„Mau.“

Ich lächelte. Egal was ich auch zu ihm sagte, er antwortete immer, als würde er es verstehen. „Katze müsste man sein“, überlegte ich laut, nahm ihn auf den Arm und setzte mich mit ihm zusammen zurück auf mein Bett.

„Mau.“

„Ja, du bist der Einzige hier, der mich versteht.“

„Mau.“ Elvis Ohren zuckten zurück und sein Schwanz peitschte einmal hin und her. Im nächsten Moment fauchte er die Tür an. Ich brauchte gar nicht lange warten, um den Grund dafür zu erfahren, denn jemand versuchte meine Tür von außen zu öffnen. Als das nicht klappte, weil ich sie vorsorglich verschlossen hatte, wurde kräftig dagegen geklopft.

„Cayenne, lass mich rein“, forderte Diego mich auf.

Ich schnaubte verächtlich. „Wovon Träumst du nachts?“

„Bitte, mach die Tür auf.“

„Verzieh dich!“, fauchte ich und machte Elvis damit beinahe Konkurrenz.

Elvis Fauchen ging hinüber in ein lang gezogenes Knurren, sodass ich ihm beruhigend das Fell kraulte. „Keine Sorge, der kommt hier nicht rein.“ Heute nicht und nie mehr wieder. Und das hatte er sich selber zuzuschreiben.

Das Klopfen blieb bestehen und Diego bat mich noch ein paar Mal, ihm doch die Tür zu öffnen, solange bis ich genervt aufstand und meine Musikanlage laut genug aufdrehte, um ihn zu übertönen. Victoria hasste es, wenn ich die Musik so laut machte, aber heute war mir das egal, heute war mir so ziemlich alles egal.

Jede meiner Bewegungen wurde Elvis aufmerksam beobachtet.

„Na, gefällt dir das Lied?“

„Mau.“

„Oder stehst du mehr auf Rock? Pop vielleicht? Oder Hip Hop? Was möchtest du hören?“

„Mau.“

Ich lächelte über seine Gesprächigkeit und drehte dann den Lautstärkeregler ein wenig leiser. Dabei fiel mein Blick auf die weißen Stellen an meinen Händen, die ich vorhin nicht abgewaschen bekommen hatte. Vielleicht sollte ich erst mal ein Bad nehmen.

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Elvis fellsträubend das Fenster anfauchte. Zu spät verstand ich den Grund. Da ich mich weigerte die Tür zu öffnen, kletterte Lucy kurzerhand das Spalier hoch. Leider wurde mir das erst bewusst, als sie schon halb auf meinem Fensterbrett saß und eilig die Beine in den Raum schwang, bevor ich noch auf die Idee kam sie einfach wieder rauszuschubsen.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Sollte sie ruhig merken, wie sauer ich war. „Was willst du hier?“

„Reden, rumhängen.“ Sie zuckte mit den Schultern und sprang in den Raum. „Das Übliche.“

„Ich habe weder auf das eine, noch auf das andere Lust. Nicht mit dir.“

Als Lucy sich aufs Bett zu bewegte, sprang Elvis fauchen auf die Beine und verschwand schnell auf seinen Lieblingsplatz hoch oben auf meinem Kleiderschrank. Zwar erstarb dort augenblicklich jedes Geräusch von ihm, aber ich wusste, dass er uns alle genau beobachtete. Das tat er immer, bei jedem, außer mir. Mir lief er immer hinterher.

„Was?“, fragte sie bissig und ließ sich auf mein Bett fallen. „Willst du mir jetzt die Freundschaft kündigen?“

„Verdient hättest du es“, giftete ich und schnappte mir meine Tasche vom Bett, um sie auszuräumen.

Mit der Fernbedienung schaltete Lucy meine Anlage aus. „Du hast gar kein Recht so zickig zu sein, du hast hier den Scheiß gebaut.“

„Ich? Ich habe scheiße gebaut?“ Ich drehte mich um und zeigte auf mein Veilchen, das irgendwo unter der weißen Farbe durchschimmerte. „Allein das gibt mir das Recht mehr als zickig mit dir zu sein. Von deinem restlichen Verhalten fange ich besser erst gar nicht an.“

Meinem Blick hielt sie stand, aber sie hatte wenigstens den Anstand, beschämt zu wirken. „Das war ein Versehen“, sagte sie kleinlaut.

„Das weiß ich.“ Ich zog meine dreckige Wäsche aus der Tasche und stopfte sie zu den andern Sachen in den Wäschekorb, da klopfte es wieder an der Tür.

Lucy war schon im Begriff, vom Bett aufzustehen, als ich herumwirbelte. „Wag es ja nicht.“

Sie zögerte. „Warum?“

„Weil er sich in den letzten Tagen mehr als nur einen unverzeihlichen Fehltritt geleistet hat.“

Ihr Blick wurde mitleidig. „Cayenne …“

„Hör auf mit deinem ewigen Cayenne. Er bleibt draußen und damit Basta!“ Verärgert zog ich die lederne Mappe aus meiner Tasche.

Lucys Blick richtete sich sofort darauf. „Was ist das?“

Ich betrachtete sie einen Moment, nicht sicher, ob ich ihr weit genug verziehen hatte, das diese Frage einer Antwort wert war, aber irgendwie brannte es in mir, es ihr zu erzählen, ihr alles zu erzählen. „Ein Geschenk.“

„Von den Brüdern?“

„Von Tyrone um genau zu sein.“ Ich setzte mich neben sie und zeigte ihr das Bild. „Er hat es für mich gemacht.“

Plötzlich und ohne jede Voranmeldung, riss sie das Papier aus der Mappe, und starrte es mit schreckgeweiteten Augen an.

„Hey, mach es nicht kaputt.“ Was war denn jetzt wieder los? Ich wollte es ihr wegnehmen, aber sie drehte sich einfach von mir weg. „Gib das wieder her!“

Sie beachtete mich gar nicht, runzelte nur die Stirn. „Warum bist du da eine Hexe?“

„Weil ich mir das ausgesucht habe“, sagte ich und griff erneut danach. Dieses Mal war ich schneller als sie und brachte es wieder an mich.

„Du hast dir das ausgesucht?“

„Ja“, funkelte ich sie an und verstaute das Bild hastig in der Mappe, bevor sie noch mal so einen Anfall bekam. „Wir haben Frage-Antwort gespielt und ich wurde nach meinem Mythos gefragt.“

„Und du wolltest eine Hexe sein?“

„Hast du ein Problem damit?“ Ich stand vom Bett auf und verstaute die Mappe sorgfältig in der obersten Schublade meines Schreibtisches.

„Und sie würden gerne ein Werwolf und ein Vampir sein?“

„Na das sie keine sind, ist ja wohl mehr als offensichtlich.“

Wieder klopfte es an der Tür. „Würde mich mal endlich einer rein lassen?“

„Nein“, rief ich, aber diese rothaarige Teufelin bewegte sich schon zur Tür. „Lucy“, warnte ich.

„Jetzt krieg dich mal langsam wieder auf die Reihe. Du benimmst dich mehr als albern.“ Sie schloss auf. Aber ich wollte Diego nicht hier drinnen haben. Auf ihn war ich noch wütender als auf Lucy. Allein schon das mit der Wäsche, hatte das Fass zum überlaufen gebracht. Also tat ich das erstbeste, was mir in den Sinn kam. Ich zog mein Shirt aus. Und da ich keine Unterwäsche trug, was ich damit halbnackt.

Die Tür war schon einen Spalt offen, als Lucy sie eilig wieder zuknallte – Diego direkt vor den Kopf. „Was bitte soll das werden?“

„Ich gehe baden.“ Ich ließ meine Hose an meinen Beinen herunter rutschen und verschwand dann in den Nebenraum. Es war mir klar, dass Lucy Diego hineinlassen würde, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, aber das war mir egal. Ich konnte mich einen ganzen Tag im Bad aufhalten, wenn ich nur wollte. Die würden da draußen versauern.

Ich ließ mir ein Schaumbad ein, in dem ich erst mal so richtig einweichte. Es tat gut, einfach nur hier zu liegen, doch wirklich entspannen konnte ich mich nicht. Meine Gedanken schweiften ein paar Mal zu Ryder ab. Er war so wütend gewesen, als er weggefahren war und ich fragte mich, ob sie ihn mit ihren Worten und Verurteilungen vergrault hatten, oder ob er mich morgen in der Uni wieder mit einem strahlenden Lächeln begrüßen würde.

Ich würde mich auf jeden Fall bei ihm entschuldigen müssen. Und wenn er sie annehmen würde, würde ich es zu verhindern wissen, dass er jemals wieder in die Nähe dieser Verrücken kam. So was hatte er nicht verdient, sie beide nicht. Sie waren völlig in Ordnung. Ich musste es wissen, ich hab schließlich die letzten vier Tage mit ihnen verbracht und sie hatten sich nicht einmal ungehobelt, oder unangemessen verhalten.

Gut, Ryder war vielleicht ein bisschen zudringlich geworden, aber er hatte nichts getan, was ich nicht wollte und mal ehrlich, warum sollte ich ihm böse sein, weil er mich küssen wollte? Er hatte eben Geschmack. Die da draußen litten einfach nur an Verfolgungswahn.

Die nächste Stunde verbrachte ich damit, mir die Farbe von der Haut zu schrubben. Große Schwierigkeiten machten mir mein Rücken, da ich nichts sehen konnte und den Spiegel zur Hilfe nehmen musste. Meine Haare musste ich zweimal waschen und danach gut durchbürsten, aber ich bezweifelte dennoch, dass ich alles rausbekommen hatte.

Als ich dann aus der Wanne stieg und mich im Spiegel betrachtete, zog ich verwundert meine Brauen zusammen und glaubte, das etwas mit meine Augen nicht stimmte. Das Veilchen, das heute Morgen noch so prunkvoll Blau vor sich hin geschillert hatte, war fast verschwunden. Ein Hauch von Gelb war noch zu erkennen, mehr aber nicht.

Ich rieb mir die Augen und sah noch mal genauer hin, aber egal wie oft ich das tat, oder aus welchem Blickwinkel ich es betrachtete, es war nicht zu bestreiten: Das Veilchen war fast verheilt.

Vorsichtig tastete ich es mit dem Finger ab. Es tat nicht weh, es war so gut wie weg! Hatte ich es mit der weißen Farbe zusammen weggewaschen? Das war doch nicht möglich.

Äußerst merkwürdig.

Ich dachte immer noch darüber nach, als ich in ein Handtuch gewickelt zurück in meine Zimmer kam. Das erste was ich sah, war Elvis, der zu meiner Verwunderung auf meinem Bett lag und bei meinem Anblick leise anfing zu schnurren. Lucy und Diego aber waren weg. Nun verstand ich gar nichts mehr.

Um sicherzugehen, dass ich nicht doch länger als vermutetet im Badezimmer gewesen war, riskierte ich einen Blick auf den Wecker auf meinem Nachtisch. Kurz nah acht. Soweit war alles in Ordnung. Und trotzdem wollte es mir nicht in den Kopf. Normalerweise hätten die beiden hier sitzen und auf mich warten müssen. Und sobald ich das Bad verlassen hatte, mich solange belabern müssen, bis ich sie sauer hinaus warf. Aber das hier … sehr ungewöhnlich.

Nun gut. Ich ging durch mein Zimmer und verschloss die Tür, gleich danach das Fenster. Ich hatte keine Lust auf weiteren Überraschungsbesuch. Weder von Lucy, noch von Diego, oder sogar von Victoria – obwohl ich bezweifelte, dass die das Spalier hochgeklettert kam, aber man konnte ja nie wissen. Heute war ich fertig mit ihnen allen.

Weil ich nicht mehr vorhatte, noch diesen Raum heute noch einmal zu verlassen, zog ich mir gleich meine Schlafsachen über und dann … war mir langweilig. Ich war noch nie ein Mensch gewesen, der sich lange in einem Raum aufhalten konnte ohne etwas zu tun zu haben. Es konnte regnen, stürmen, oder schneien, ich hielt mich eigentlich immer im Freien auf und wenn doch mal drinnen blieb, hatte ich zumindest Gesellschaft mit der ich mich beschäftigen konnte. Jetzt vermisste ich Diego und Lucy, und verfluchte sie dafür, dass sie einfach gegangen waren. Sie hätten wenigsten noch etwas bleiben können, um sich mit mir zu streiten. Man, wie man es auch drehte, sie machten es immer falsch.

Um mich von meiner Langeweile abzulenken, schnappte ich mir meine Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle, bis ich etwas fand, das mich halbwegs interessierte.

Keine Ahnung, wie lange ich bereits da lag, als Victoria an meine Tür klopfte und nachfrage ob ich hunger hätte. „Geh weg“, war alles was sie von mir bekam. Im Nachhinein war ich ganz froh, dass ich doch noch das Geschnetzelte von Ryder gegessen hatte, sonst hätte ich mir die Blöße geben müssen, nach unten zu gehen und den Kühlschrank zu räubern.

Als der Film endete und ich wieder damit begann von einem Sender zum anderen zu schalten, war es draußen bereits dunkel und ich musste feststellen, dass ich nicht mit meiner Mutter telefoniert hatte. Das versetzte meiner Laune noch einen zusätzlichen Dämpfer – besonders weil ich auch noch selber schuld war.

Seufzend strich ich dem schwarzen Wollknäuel übers Fell und wurde sofort mit einem Schnurren belohnt. „Na, bleibst du heute bei mir?“

Er schnurrte mich an und öffnete die geschossenen Augen einen Spalt. Es war offensichtlich, dass er nicht vorhatte, sich heute noch aus diesem Bett zu bewegen.

„Aber denk daran, nicht drängeln“, mahnte ich ihn.

„Mau.“

Ich stand auf und wollte das Licht ausschalten, als mein Blick auf meinen Schreibtisch fiel. Die Schublade, in der ich vorhin die lederne Mappe gepackt hatte, war nicht ganz geschlossen. Ich stutzte. Ich war mir sicher, dass ich sie richtig zugemacht hatte, aber ich konnte mich natürlich auch täuschen.

Eigentlich war es albern, aber auf einmal hatte ich das starke Verlangen noch einmal einen Blick auf das Bild zu werfen. Ein kleiner Handgriff und die Schublade war offen.

Auf den ersten Blick war alles wie es sein sollte, aber von einem unguten Gefühl getrieben, nahm ich die lederne Mappe heraus und legte sie vor mich auf meinen Tisch. Mein Gott, jetzt wurde ich auch noch paranoid. Trotzdem, ich konnte gar nicht anders. Ich schlug die Mappe auf und konnte nicht glauben was ich sah – oder besser gesagt, nicht sah. Die Mappe … sie war leer.

 

°°°°°

Eskalation

 

„Seid ihr Wixer eigentlich noch ganz dicht?!“ Ich war sauer, frustriert und komplett enttäuscht. Meine Freunde hatten mich beklaut, die Nacht über hatte ich mich nur von einer Seite auf die andere geworfen, sodass sogar Elvis irgendwann das Weite gesucht hatte und jetzt rasten diese beiden Vollpfosten auf ihren Motorrädern auch noch bei rot über die Ampel und bremsten so dich vor mir, dass ich auf den Bürgersteig zurückspringen musste, um nicht mitgerissen zu werden.

Um ihnen zu verdeutlichen, was ich von dieser scheiß Aktion hielt, trat ich dem einen mit voller Wucht gegen das Hinterrad und brachte es damit sogar einen kurzen Moment eine leichte Schräglage.

Sofort schaute der Fahrer nach hinten, um zu überprüfen ob mein Tritt einen Schaden verursacht hatte.

Auch der Fahrer mit dem schwarzen Helm versuchte einen Blick zu erhaschen. „Wie mir scheint, ist sie kein Morgenmensch.“

Als ich die gedämpfte Stimme hörte, bemerkte ich was ich in meiner blinden Wut übersehen hatte. Die beiden Vollidioten waren Ryder und Tyrone und das Motorrad das ich erwischt hatte, gehörte dem Kerl mit den tollen Augen.

Das machte es nicht unbedingt besser. Er hatte mich trotzdem fast überfahren und es damit nicht besser verdient. Also kein Grund zur Reue.

„Also gestern war sie wesentlich umgänglicher“, erwiderte Ryder und das Lächeln in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Misstrauisch verengte ich die Augen. Nachdem er gestern so wütend davon gefahren war und ich jetzt auch noch fast seine Karosserie beschädigt hatte, war er nicht sauer?

Ryder schob sein Visier hoch. Seine Augen lachten mich an. „Steigst du nun auf, oder hältst du weiter Maulgaffen?“

Darüber musste ich nicht erst lange nachdenken. Da mein Fahrrad noch immer in der Uni stand und nicht wirklich Lust hatte mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, schwang ich mich kurzerhand hinter Ryder in den Sattel.

Natürlich gab es da noch die Option Taxi, aber nachdem ich es vor ein paar Jahren geschafft hatte, das Monatseinkommen einer Kleinfamilie in ein Taxiunternehmen fließen zu lassen, hatte meine Mutter mir häufige Taxifahrten bei Strafe untersagt.

„Halt dich gut fest“, verlangte Ryder, schob sein Visier weder herunter und startete die Maschine. Mit einem Ruck, der mich dazu brachte noch fester zuzugreifen, sauste Ryder los und ignorierte das Hupen eines Kleinwagens, den er geschnitten hatte.

Da ich dieses Mal keinen Helm aufgesetzt hatte, musste ich mein Gesicht hinter Ryder halten, um dem Fahrtwind ein wenig zu entgehen. Die Aussicht auf Insekten zwischen den Zähnen war nicht sonderlich verlockend und obwohl ich so kaum etwas sah, bekam ich mit, das Tyrone an der Kreuzung zur Uni nach links abbog, anstatt nach rechts, so wie wir.

„Wo will er hin?“, schrie ich über den Lärm des Motorrads hinweg und spürte an der Vibration unter meinen Händen, dass Ryder mir antwortete, aber durch den Krach, verstand ich kein Wort. Also geduldete ich mich noch die zwei Minuten, bis Ryder auf den Uniparkplatz unter ein paar schattigen Bäumen hielt. Erst als er den Motor abschaltete, wiederholte ich meine Frage.

„Ich würde mal behaupten, er hat noch etwas zu erledigen.“ Er zog sich den Helm von dem Kopf, schüttelte die Haare aus und grinste mich über die Schulter hinweg an.

So wollte ich mich nicht abspeisen lassen. „Und was hat er zu erledigen?“ Ich rutschte vom Sitz, damit auch Ryder absteigen konnte.

„Du bist ganz schön neugierig, hat dir das schon mal jemand gesagt?“ Auch er stieg aus dem Sattel.

„Ja, hin und wieder ist dieser Satz gefallen“, räumte ich ein. „Aber du weichst der der Frage aus.“

„Es ist das Einzige, was ich dir sage, da ich selber nicht weiß, was er tut.“

Ich glaubte ihm zwar nicht, würde aber nicht weiter diskutieren. Wenn er es mir nicht sagen wollte, dann würde ich eben Tyrone selber fragen, sobald er wieder aufgetaucht war.

Seufzend griff ich mir in die Haare uns stellte zu meinem Entsetzen fest, dass Fahrtwind kein gutes Mittel war, um eine Frisur in Schwung zu bringen. Das fühlte sich an wie ein Vogelnest. Toll, das hatte mir heute noch gefehlt.

Während Ryder sich hinhockte um sein Hinterrad zu untersuchen, zauberte ich eine Haarbürste aus meiner Tasche hervor.

„Du scheinst gar nicht sauer zu sein?“, sagte ich vorsichtig.

„Du hast bloß die Ummantelung getroffen.“ Er richtete sich vor mir auf und einmal mehr sah ich in diese atemberaubenden Augen. Ich weiß nicht, am Wochenende, als ich sie immer und immer wieder gesehen hatte, dachte ich schon, dass ich mich daran gewöhnen könnte, aber wo ich sie jetzt sah, schlugen sie mich wieder voll und ganz in ihren Bann. „Alles in Ordnung, aber wenn du meinem Baby so was noch einmal antust, muss ich dich fesseln und knebeln.“ Er grinste.

„Ummantelung?“ Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er von seinem Hinterrad sprach und nicht von einem Kleidungsstück und im gleichen Moment fiel mir auch ein, dass Tyrones Lederjacke noch immer in meinem Zimmer hinter der Tür hing. Ich musste unbedingt daran denken, sie ihm einmal mitzubringen. Aber das hatte ich eigentlich gar nicht von ihm wissen wollen. „Nein, ich meinte, warum du nicht sauer auf mich bist. Wegen gestern“, fügte ich leise hinzu und begann damit meine Haar von den Spitzen nach oben durchzukämmen. Mitten auf dem Parkplatz. Direkt vor der Uni. War ja nicht so, als würde es ganz in der Nähe Toiletten geben.

Verwundert neigte er den Kopf zur Seite. „Warum sollte ich sauer auf dich sein?“

„Na wegen Victoria. Und Diego und Lucy haben dich ja auch nicht gerade mit offenen Armen empfangen.“ Ich dachte daran zurück, wie er davongebraust war. „Du warst wütend, als du weggefahren bist.“

„Klar war ich das“, gab er zu. „Aber doch nicht auf dich. Du warst die einzige, die keine angehenden Kriminellen in uns gesehen hat.“

„Na ja“, witzelte ich. „Das habe ich nie behauptet, nur dass ihr euch anständig benommen habt.“

Er lehnte sich gegen seine Maschine und beobachtete, wie ich die Bürste ungeduldig durch mein Haar riss. „Ja, da hast du recht. Wir sind wirklich böse Jungs. Mit so was wie uns solltest du dich besser nicht abgeben.“

„Das sehe ich auch so“, neckte ich ihn. „Ihr ruiniert meine Unschuld.“

Ryder lachte auf und zeigte einmal mehr einen Hauch seiner weißen Zähne. „Wärst du so unschuldig, wie du behauptest, würde es mit dir nicht halb so viel Spaß machen.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich beleidigt sein sollte, weil er mich nicht für unschuldig hielt, oder ob ich mich darüber freuen sollte, dass man mit mir Spaß haben konnte, entschied mich dann aber dafür, es einfach zu übergehen und ließ meine Haarbürste wieder in meiner Tasche verschwinden.

Schwatzend und lachend kamen eine Gruppe von Kerlen an uns vorbei und erregten so einen Moment meiner Aufmerksamkeit. Es waren ein paar Studenten, die ich bereits ein paar Mal gesehen hatte. Ich hatte nie viel mit ihnen zu tun gehabt. Eigentlich hatte ich überhaupt nie viel mit anderen zu tun. Obwohl ich nicht schüchtern war und eigentlich mit jedem gut klarkam – Elena und ihre beiden Gehirnzellen mal ausgenommen – blieb ich durch Diego und Lucy immer auf Abstand zu anderen.

Einmal hatte Julian zu mir gesagt, dass sie mich irgendwie von den anderen Abkapselten, was ich natürlich sofort bestritten hatte, aber wenn ich heute so darüber nachdachte, musste ich ihm Recht geben. Die besten Beispiele dafür waren aktuell Tyrone und Ryder.

Als ich meinen Blick wieder auf Ryder richtete, bemerkte ich, dass er mich anstarrte. „Hab ich was an der Nase?“ Vielleicht war ihm auch aufgefallen, dass mein Gesicht nicht mehr blau war. Vielleicht dachte er, dass ich das Veilchen mit Concealer abgedeckt hatte. Oder viel schlimmer, vielleicht schaute mir ja ein Popel aus der Nase.

„Ich mag deine Haare“, sagte er geradeheraus und wie er das sagte, trieb es mir die Röte ins Gesicht. Ich konnte richtig spüren, wie meine Wangen heiß wurden und auch wenn mir seine Worte gefielen, machten sie mich irgendwie verlegen. „Danke“, sagte ich und lehnte mich neben ihn an die Maschine. So konnte ich unauffällig mein Gesicht abwenden. Hoffentlich hatte er das nicht bemerkt.

Den erstickten Laut, den er dann aber von sich geben musste, verdeutlichte mir, dass er es wohl bemerkt hatte und verdunkelte die Röte in meinem Gesicht gleich noch ein wenig. Was war nur los mit mir? „Du wirst doch nicht etwa verlegen, oder?“

Nein, natürlich nicht, wie kam er nur darauf? „Mir geht es gut, danke der Nachfrage.“

Das ließ ihn leise lachen.

Ich jedoch seufzte nur.

„Was los?“

„Ach nichts weiter, ich bereite mich nur gerade auf einen Nachmittag voller Langeweile vor.“

„Also wenn mir langweilig ist, dann steige ich auf mein Baby und düse in der Gegend herum.“ Fast schon liebevoll streichelte er den Sattel seines Motorrades.

Ich schnaubte. Baby. Kerle waren doch alles Spinner. „Ich wünschte ich könnte das auch, aber nach gestern Abend wird Victoria mich vermutlich zuhause an die Wand ketten, sobald ich das Haus betrete, damit ich ihr auch nicht entkommen kann.“

„Nachdem was ich gehört habe, hält dich so etwas sonst auch nicht auf“, neckte er mich.

Zwar wusste ich nicht, wo er das gehört hatte, aber er hatte recht. Nur gab es dieses Mal einen kleinen Unterschied, zu den anderen Malen, als ich bis an mein Lebensende, auf mein Zimmer verband wurde. Klar, ich hätte gehen können, aber mit wem? Bei solchen Aktionen bin ich zwar immer die treibende Kraft, doch Lucy und Diego standen hinter mir. Gestern nicht. Noch eine Sache, die ich den beiden übel nahm.

Nachdenklich betrachtete Ryder mich. „Wie kam eure Freundschaft eigentlich zustande? Ihr kommt mir so verschieden vor.“

„Keine Ahnung“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Lucy lernte ich im Kindergarten kennen, als sie mir geholfen hat. So ein Junge hat mich geärgert, da hat sie ihn einfach eine gescheuert.“

Er lachte. „Sie lässt wohl öfters Fäuste sprechen, was?“

Ja das tat sie. Und irgendwie bewunderte ich sie für ihre Kraft, auch wenn sie manchmal ein wenig übertrieb. „Und Diego begegnete ich das erste Mal in der Oberstufe. Lucy hat ihn in ihrem Verein kennengelernt und ihn angeschleppt. Eine Zeitlang waren sie ein Paar und nachdem sie sich getrennt haben … keine Ahnung, irgendwie ist er einfach geblieben.“ Und bisher war ich damit eigentlich auch immer glücklich gewesen, aber wenn ich jetzt an mein Bild dachte … wenn ich meinen Freunden nicht vertrauen konnte, wem denn dann?

Ryder schwieg und starrte nachdenklich auf den Asphalt zwischen seinen Füßen. Seine Gedanken waren nicht zu ergründen, aber sein Gesicht verriet mir, dass sie nicht sehr amüsant sein konnten.

„Und du, was ist mit dir?“

Verwirrt sah er mich wieder an. „Was soll mit mir sein?“

„Ich weiß nicht.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Ich erzähle immer so viel von mir, aber von dir weiß ich kaum was.“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Was möchtest du denn wissen?“

Wenn ich das nur wüsste. „Keine Ahnung. Erzähl mir was. Was habt ihr in Seidenheim getrieben, abgesehen von den Stunts mit dem alten VW Käfer. Wer waren eure Freunde? Hattest du schon mal eine feste Freundin?“ Das interessierte mich irgendwie besonders. „Was habt ihr gemacht, wenn euch die Langeweile packte? So was eben.“

„Seidingstadt“, verbesserte er mich.

„Was?“

Er schmunzelte. „Das Dorf in dem wir gelebt haben heißt Seidingstadt, nicht Seidenheim.“

Ich verdrehte die Augen. „Seidingstadt, Seidenheim, ist doch alles dasselbe.“

„Nein, Seidingstadt gibt es, Seidenheim nicht – jedenfalls nicht dass ich wüsste.“

Langsam zog ich eine Augenbraue hoch. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön besserwisserisch sein kannst?“

„Ja, hin und wieder ist dieser Satz gefallen“, grinste er und wiederholte damit genau meine Worte von vorhin. „Aber um deine Fragen zu beantworten, meine Freunde waren Josh, Vico, Zora, Alice, Mariella, Suleika, Danielle, und Nelly.“

„Ganz schön viele Mädchen“, rutschte es mir raus, bevor ich darüber genauer nachdachte.

Sein Lippen verzogen sich so weit, dass mal wieder ein Hauch seiner Zähne erschien. „Ja, was aber daran lag, dass es in meiner Generation mehr Mädchen als Jungs in unserem Dorf gab. Josh und die Andren, waren zusammen mit Tyrone und mir, in einer eingespielten Clique. Wo wir auftauchten, brachten sich die anderen in Sicherheit. Und du brauchst gar nicht glauben, dass die Mädchen zimperlich waren. Bis auf Suleika und Danielle, hatten sie es alle mindestens genauso dick hinter den Ohren wie du.“

„Ach, du glaubst du kennst mich schon genug, um das zu wissen?“, neckte ich ihn.

„Ich bin gerade dabei, dich kennen zu lernen, aber ja, das glaube ich.“

Ich neigte meinen Kopf leicht zur Seite und forderte ihn auf, das weiter auszuführen, aber er lächelte mich nur schelmisch an.

„Und um auf deine nächste Frage zu kommen, nein.“

Ich dachte nach, was ich danach gesagt hatte, konnte mich aber nicht daran erinnern. Schon traurig, wenn man bedachte, dass ich die Frage vor nicht mal zwei Minuten gestellte hatte. „Was nein?“

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Himmel. „Ich hatte noch nie eine feste Freundin. Ich war in meinem Leben noch nicht einmal verliebt gewesen.“

„Noch nie?“ Das konnte ich nicht glauben. Ein Kerl wie Ryder musste doch einen Haufen Verehrerinnen haben und es war doch ziemlich unmöglich, dass nicht wenigstens eine dabei war, für die er sich näher interessiert hatte.

„Noch nie“, wiederholte er und sah mir dabei in die Augen.

Er log nicht. Trotzdem war es für mich etwas komisch – also nicht so ha ha Komisch, sondern merkwürdig komisch. „Das hätte ich ja nicht gedacht.“

„Warum?“

Er wusste ganz genau warum, wollte es aber aus meinem Mund hören. Da ich nicht noch mal vor Verlegenheit rot werden wollte, ließ ich mich kühn auf das kleine Spielchen ein. „Guck mal in den Spiegel, dann weißt du warum.“

„Und du? Wie sieht es mit deinen Verehrern aus? Hattest du vielleicht schon mal einen Freund?“

„Nein.“ Ich verlagerte mein Gewicht ein wenig, da mir in der Position langsam aber sicher der Hintern einschlief. „Einmal hatte ich mich in einen Jungen verguckt. Yannick Scherer. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Er mochte mich, das hatte er mir gesagt, aber zusammengekommen sind wir nie.“

„Warum?“ Die Frage kam ihm so ernst über die Lippen, dass ich mich mit einem Blick erst mal davon überzeugen musste, dass ich noch mit Ryder sprach.

„Er ist weggezogen, nicht mal ein halbes Jahr, nachdem er auf unsere Schule gekommen ist.“ Ich erinnerte mich noch genau, wie ich an einem Dienstag in die Schule kam und er nicht da war. Krank, dachte ich, aber als ich ihn am gleichen Nachmittag angerufen hatte, sagte mir die nette Frauenstimme in der Leitung: kein Anschluss unter dieser Nummer. Das fand ich schon ein bisschen seltsam, da ich erst ein paar Tage zuvor, über diese Nummer fast zwei Stunden mit ihm telefoniert hatte. Aber auch nach dem zweiten und dritten Versuchen, blieb die körperlose Stimme bei ihrer Aussage.

Am nächsten Tag hatte ich von einem Klassenkameraden erfahren, dass Yannick in einer Nacht und Nebelaktion weggezogen war. Die Wochen darauf ging es mir richtig mies. Nicht nur, dass er sich nicht mal bei mir verabschiedet hatte, es konnte mir auch niemand sagen, wohin er gezogen war. Es war, als hätte er niemals existiert.

Am schlimmsten an der Sache war aber, dass er der erste Junge war, den ich geküsst hatte, nur einen Tag vor seinem Verschwinden. Ich hatte mich wie auf Wolke sieben gefühlt, bis ich herausgefunden hatte, wie tief man fallen konnte, wenn man so hoch oben schwebte. „Ich habe ihn nie wieder gesehen.“

Ryder schenkte mir einen mitfühlenden Blick. „Du hast ihn sehr gemocht.“

Das musste er wohl an dem bitteren Ton in meiner Stimmer erkannt haben. „Leider“, bestätigte ich. „Aber hätte ich gewusst, dass er einfach klammheimlich verschwinden würde, hätte ich mich von ihm ferngehalten.“

Verwundert runzelte Ryder die Stirn. „Er ist einfach verschwunden?“

„Ja.“ Ich nickte. „An dem einen Tag war noch alles gut gewesen.“ Mehr als gut sogar, wenn ich an die vielen kleinen Schmetterlinge in meinen Bauch dachte, die darin getobt und getanzt hatten, als befänden sie sich auf der Loveparade. „Und am nächsten war er einfach weg. Was vielleicht gar nicht so schlecht war. Bei ihm haben Diego und Lucy ständig einen Aufstand gemacht. Sie mochten ihn nicht und versuchten immer ihn mir auszureden.“

„So wie bei mir und Tyrone.“ Das war keine Frage, sondern eine Aussage, die ich nur bestätigen konnte.

„Nicht ganz so schlimm, wie bei euch beiden, aber ja, sie waren nicht sehr angetan von ihm.“ Und da begriff ich, was ich gerade gesagt hatte. Es war wahr. Seit dem Zeitpunkt, als die beiden merkten, dass ich mich für Yannick interessierte, hatten sie nur Hetzreden gegen ihn gehalten. Das hatte erst aufgehört, als er verschwunden war und da ich nicht über ihn reden wollte, weil ich lieber meiner eigene Enttäuschung hinterher hing, war sein Name auch nie wieder gefallen.

„Scheint so, als teilen deine Freunde nicht gerne“, sagte er in meine Gedanken hinein.

„Doch“, grinste ich. „Aber nur mit mir.“

Sein Lächeln kehrte zurück. „Ich teile auch gerne mit dir.“

„Ach ja?“ Von einer plötzlichen Idee gepackt, strich ich über den Lenker seiner Maschine. „Lässt du mich dann auch mal mit deinem Motorrad fahren?“

„Niemals“, sagte er sofort. „Du darfst auf meinem Baby sitzen, das ist schon eine große Ehre, aber näher wirst du dem Lenker niemals kommen.“

Ich seufzte theatralisch. „Dann werde ich wohl mein ganzes Leben darauf angewiesen sein, dass andere Mitleid mit mir haben und mich mitnehmen.“

„Du hast doch ein Fahrrad.“ Der Schalk tanzte in seinen Augen.

Ich funkelte ihn an. „Wirklich nett von dir.“

„Sieh es doch einfach mal so: Du kannst die Bequemlichkeit eines Beifahrers genießen. Und mal ehrlich, ist es so schlimm, sich an mich zu klammern?“

Statt ihm eine Antwort zu geben, lächelte ich ihn einfach nur an. Ich brauchte keine Worte, er verstand mich auch so, aber dann kam mir etwas in den Sinn. „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir schon wieder von mir reden?“

„Ah ja, deine Fragen“, erinnerte er sich, doch bevor er auch meine letzte Frage beantworten konnte, von der ich zwar noch wusste, dass ich sie gestellte hatte, aber mich nicht mehr an deren Inhalt erinnern konnte, wurde meine Aufmerksamkeit von dem Aufheulen eines Motorrads angezogen. Ich wandte mich um und sah Tyrone auf den Parkplatz rollen.

Da die Stellplätze um uns herum bereits zugeparkt waren, musste er sich ein wenig weiter hinten hinstellen. Aber er hatte uns schon gesehen und kam sofort rüber.

Eine kurze Musterung ergab, dass er ein wenig chaotisch wirkte. Nicht der saubere, ordentliche Typ, den ich sonst gewohnt war. Seine Klamotten sahen aus, als hätte er verschlafen und sich eilig fertig gemacht, nur um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen – was ich niemals getan hätte, nur so nebenbei erwähnt – und seine Harre waren zerzaust. Nicht das gestylte Chaos, das sonst auf seinem Kopf herrschte, sondern einfach nur zerzaust. Auf seiner Hose sah ich einen Grasfleck, als wäre er gestürzt.

Irgendwas störte mich an diesem Anblick. Trotzdem lächelte ich ihm entgegen. „Da bist du ja wieder. Hab mir schon Sorgen gemacht.“

„Hat sie nicht“, widersprach Ryder mir lächelnd und verdiente sich damit einen Klaps gegen den Bauch. „Sie war viel zu sehr an meinem Liebesleben interessiert.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Hast du nicht gesagt, dass du keine Liebesleben hast?“

„Nein, ich habe nur gesagt, dass ich noch nie verliebt gewesen bin.“

Ich brauchte einen Moment, um den Unterschied zu begreifen, aber als die Erkenntnis mich traf, war das deutlich auf meinem Gesicht zu lesen.

„Ja“, bestätigte er meine Vermutung. „Nicht jeder ist mit seinen neunzehn Jahren noch so unschuldig wie du.“

Unberührt träfe es wohl besser. „Ach, vorhin hast du noch gesagt, dass ich keineswegs unschuldig bin.“

„In dieser Hinsicht schon, Prinzessin.“

Er sagte das so überlegen, dass ich einfach nur noch die Augen verdrehen konnte.

„Lass dich nicht von ihm ärgern“, sagte Tyrone mit einem strengen Blick auf seinen Bruder. „Er will nur ein wenig angeben.“

„Ach, er ärgert mich schon die ganze Zeit“, erwiderte ich achselzuckend. „Aber wenn ich mal neugierig sein darf, wo warst du?“

Er musterte mich kurz. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön neugierig bist?“

„Ja, hin und wieder ist dieser Satz gefallen“, lächelte ich breit und dann begannen Ryder und ich zu lachen.

Verwirrt sah Tyrone zwischen uns hin und her. Klar, er konnte den Insider nicht verstehen, aber wie er seinen Kopf so hin und her drehte, erregte etwas in seinen Haaren meine Aufmerksamkeit.

Ich griff nach seinem Shirt, zog ihn zu mir heran und griff in das blonde Chaos hinein. Heraus zog ich einen Grashalm und dann wusste ich Bescheid. „Ah, ein Mädchen.“

Noch verwirrter als vorher, betrachtete Tyrone den Grashalm. „Was hat das mit einem Mädchen zu tun?“

„Leugnen zwecklos“, grinste ich und wedelte mit dem Halm vor seinem Gesicht herum. „Ich hab dich durchschaut.“

Seine Haltung versteifte sich kaum merklich. Er warf Ryder einen verunsicherten Blick zu, der ebenso verwirrt wirkte, wie sein Bruder. „Durchschaut?“, fragte er vorsichtig.

„Na hör mal, ich bin doch nicht blind. Die zerwühlten Haare, die Klamotten, der Grasfleck auf deiner Hose, und jetzt noch der Halm.“ Ich grinste über meine detektivische Erkenntnis. „Du hast dich mit einem Mädchen getroffen. Und deinem Aussehen zu urteilen, mit Erfolg.“ Ich ließ den Grashalm zu Boden schweben und beobachtete Tyrone, aber seine Mine war undurchdringlich. „Du braucht das gar nicht zu bestreiten, die Beweise sprechen eindeutig gegen dich.“

„Also wirklich, Tyrone“, schimpfte Ryder mit gespieltem Ernst. „Das hättest du mir echt sagen können.“

„Ich habe mich nicht mit einem Mädchen getroffen.“

„Du hast doch gehört, leugnen zwecklos, die Beweise sprechen gegen dich.“

„Ich habe mich nicht mit einem Mädchen getroffen“, beharrte er auf seiner Aussage.

Okay, mal sehen, ob er mich überzeugen konnte. „Wenn es kein Mädchen war, was hast du dann getrieben?“

Dazu schwieg er.

„Ich wusste es!“, freute ich mich und schlug mir in die Hände. „Wer ist sie? Ist sie von der Uni? Kenne ich sie vielleicht? Ich hoffe doch mal stark, dass es sich nicht um Elena handelt.“

Noch ehe er überhaupt die Chance bekam den Mund für eine Erwiderung zu öffnen, unterbrach Ryder ihn mit gehässigem Ton unsere Unterredung. „Na schaut mal, wer da den Weg hier her gefunden hat.“

Gleichzeitig mit Tyrone wandte ich mich um, wobei ich mir fast den Kopf verdrehte, um zu sehen, was er meinte und als ich es sah, sank meine Laune im Sturzflug in den Keller. Ein mattsilberner Fiat Punto. Diesen Wagen hätte ich im Schlaf erkannt. Das war Diego.

Für einen Moment überlegte ich, ob ich einfach reingehen sollte, aber den Drang ihm den Hals umzudrehen steigerte sich zusehends, als ich ihn dabei beobachtete, wie er seinen Wagen einparkte. Außerdem wollte ich unbedingt mein Bild wiederhaben. So beschloss ich sofort etwas zu unternehmen. „Wenn ihr mich einen Augenblick entschuldigen würdet.“ Ich stieß mich Ryders Maschine ab und ging geradewegs auf ihn zu.

Diego hatte kaum den Motor abgestellt, da riss ich auch schon die Beifahrertür auf. Den Drang, ihn anzuschreien, unterdrückte ich erst mal und machte mich Wortlos über seine Tasche her. Ich kippte den gesamten Inhalt auf den Sitz, wobei zwei Bücher in den Fußraum fielen und machte mich daran, die Ordner, Blöcke und Hefte nach meinem Bild abzusuchen.

Diego beobachtete mich dabei seelenruhig und als ich wütend schon fast seine Hefter auseinander nahm, sprach er mich mit dieser ruhigen, vernünftigen Stimme an, wofür ich ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre. „Suchst du etwas Bestimmtes? Vielleicht kann ich dir ja helfen.“

Oh, wie liebenswürdig. Ich richtete meinen wütenden Blick auf ihn. „Du weißt genau, was ich suche.“

Er erwiderte nichts, was mich in meiner Vermutung nur noch bestärkte. Jetzt war ich mich sicher, er hatte das Bild aus der Ledermappe genommen.

Als ich im nächsten Ordner immer noch nichts fand, schmiss ich ihn Diego wütend an den Kopf. „Gib es mir wieder!“, forderte ich ihn auf und versuchte meine Stimme so zornig und einschüchternd klingen zu lassen, wie ich es nur konnte.

„Ich hab es nicht“, sagte er nur und ein kurzer Ausdruck von Reue huschte über sein Gesicht. Aber sie war so schnell wieder weg, dass ich es mir auch eingebildet haben konnte.

„Wo ist Lucy?“, fragte ich sofort. Wenn er es nicht hatte, konnte nur sie es haben.

„Sie hat es auch nicht“, sagte er ruhig und ich glaubte ihn, auch wenn ich es kaum fassen konnte.

„Wo ist es dann?“, knurrte ich.

„Weg.“ Mehr Erklärung bekam ich nicht. Ein kurzes Wort, das nur aus drei Buchstaben bestand.

Gleich würde ich explodieren. „Ich will es wieder haben!“

Er stöhnte. „Es ist weg, Cayenne. Es tut mir leid, aber du wirst es nicht wieder bekommen.“

„Verdammt, Diego!“ Zornig trat ich gegen seinen Wagen und hinterließ eine beeindruckende Beule, in der hinteren Tür. Mein Fuß tat von dem Tritt zwar weh, aber mir pumpte so viel Adrenalin durchs Blut, dass ich das kaum wahrnahm. „Du hast mich beklaut!“, brüllte ich ihn an und war mir bewusst, dass uns alle auf dem Parkplatz hören konnten, aber in dem Moment war es mir egal. „Ihr habt mich beklaut!“

„Das kommt nicht wieder vor.“

„Bis zum nächsten Mal wenn ein Geschenk euch nicht in dem Kram passt?“ Ich erinnerte mich nur zu gut, an den entsetzten Ausdruck in Lucys Gesicht, als ich ihr die Skizze gezeigt hatte. „Es ist meins und ich will es wiederhaben!“ Ich knallte die Tür so laut zu, dass zwei Vögel über uns in den Bäumen erschrocken das Weite suchten. Seine Schultasche konnte er selber wieder einräumen. Dieses Mal war er einfach zu weit gegangen, sie beide. Das würde ich ihnen nicht verzeihen. Das unerschütterliche Vertrauen, das ich über die Jahre zu ihnen aufgebaut hatte, war mit einem Schlag vernichtet worden.

Ich wusste nicht, was die anderen in mir sahen, aber jeder der mir begegnete, ging mir hastig aus dem Weg. War wahrscheinlich auch besser so. Im Augenblick hatte ich keine Ahnung, was ich machen würde, wenn mir einer komisch kam.

Wütend ging ich zu Ryder und Tyrone zurück. Ich nahm sie beide bei der Hand und zog sie mit mir auf das Unigelände. Es war zwar erst dreiviertel acht, aber ich hatte keine Lust, noch weiter draußen zu sitzen, wo auch Diego war.

„Was ist los?“, wollte Ryder wissen.

„Gar nichts!“, fauchte ich ihn an, auch wenn er ja nun überhaupt nichts dafür konnte.

So leicht ließ ein Ryder sich leider nicht abwimmeln. Er griff seinerseits nach mir und drehte mich zu sich herum, sodass ich ihn ansehen musste. Tyrones Hand verlor ich dabei aus meinem Griff. „Also erstens habe ich dich mit Diego streiten sehen, zweitens habe ich – und die halbe Stadt, gehört wie du ihn angeschrien hast – und drittens ist es dir mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben, dass etwas nicht stimmt. Also sag mir, was war da gerade los.“

Diese Augen, ich konnte ihnen einfach nicht widerstehen. Abermals verfiel ich ihnen. Erschöpft und müde von der ganzen Sache, strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. „Lucy und Diego …“ Ich schoss den Mund. Sollte ich meine beiden besten Freunde wirklich verraten? Ich meine, was sie getan hatten, war schon schlimm, aber es war eine Sache zwischen uns drei, die niemanden etwas anging. Es war nicht meine Art, meine schmutzige Wäsche vor anderen auszubreiten.

Ryder aber ließ nicht locker. „Was ist mit den beiden?“

Ach zum Teufel, was sollte es schon? Die beiden hatten nichts anderes verdient. „Sie haben mich beklaut. Gestern nachdem ihr weggefahren seid, war ich baden und als ich wieder raus kam, war das Bild weg.“

„Was für ein Bild?“, mischte sich Tyrone ein.

„Das was du für mich gemalt hast. Das von uns vor der Burgerbude.“

Seit ich Tyrone kannte, hatte er diesen finsteren Blick drauf. Er war praktisch schon sein Markenzeichen, aber als ich ihn jetzt ansah, verstand ich erst, was das Wort finster wirklich bedeutete.

„Woher weißt du sicher, dass sie es waren?“, lenkte Ryder meine Aufmerksamkeit zurück auf sich. „Vielleicht hast du es einfach … verlegt.“

„Nein, sie waren es. Es gibt gar keine andere Möglichkeit. Außerdem hat Diego es grade mehr oder weniger zugegeben.“ Ich biss die Zähne aufeinander. „Sie haben mich beklaut. Meine beiden besten Freunde haben mich beklaut.“ Und versuchten nicht einmal sich zu rechtfertigen.

„Ich male dir ein Neues“, bot Tyrone an.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich will kein Neues, ich will mein Bild wieder haben.“ Es ging schließlich nicht nur um das Bild, sondern auch darum, was mit ihm geschehen war.

„Ach, Prinzessin.“ Tröstend legte Ryder die Arme um mich. Einen Moment war ich einfach nur überrascht, aber dann ließ ich mich danken hineinsinken. Wenn ich ehrlich war, fand ich es sogar sehr schön. Es gab mir ein Gefühl von Trost, das ich gerade so dringend gebrauchen konnte.

„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, fragte eine nur allzu vertraute Stimme. „Sieht ja aus, als wäre ein Wischmobb unterwegs.“

Elena Czok! Na die hatte mir gerade noch gefehlt.

Es war nur ein kleines Stück, dass ich mich von Ryder trennte, aber es reichte um sie böse anzufunkeln. Das war echt der falsche Zeitpunkt, um sich mit mir anzulegen. „Wenigstens erkennt man bei mir, dass es Haare sind“, spottete ich. „Bei dir denkt man immer nur an eine Klobürste! Eine braune, alte, eklige Klobürste.“

Ihr blödes Grinsen verrutschte ein wenig, aber wie sich gleich darauf zeigte, hatte sie noch nicht ihre ganze Munition abgeschossen. „Wie viel Concealer hast du gebraucht, um das Veilchen zu überdecken?“

Gar keins, aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Sie würde an der ganzen Schule verbreiten, dass ich ein Freak sei. „Nicht so viel, wie du brauchen würdest, um die Fratze zu verdecken, die du Gesicht nennst“, erwiderte ich stattdessen.

„Was ist los mit dir, Amarok? Kleine Auseinandersetzung mit deinem Liebsten gehabt?“

Na toll. Ausgerechnet sie musste mitbekommen, dass ich mich mit Diego gestritten hatte. Ich hätte meiner Wut wohl doch besser nicht so freien Lauf lassen sollen.

Nachdenklich sah sie über die Schulmauer hinweg zu Diegos Wagen, aus dem er gerade ausstieg. Offensichtlich hatte er das Chaos in seinem Innenraum in den Griff bekommen. „Vielleicht sollte ich mich ein bisschen um ihn kümmern. Du weißt schon, ihn ein wenig trösten.“

„Lass bloß deine Pfoten von ihm!“, knurrte ich sie an. Meine beherrschte Ader war verschwunden.

„Was denn? Reichen dir die Zwei, die du da hast, nicht? Müssen es gleich drei sein? Mit so viel Männlichkeit kannst du doch gar nichts anfangen.“

„Nein, im Gegensatz zu dir, bin ich keine Matratze, die jeder einmal benutzen darf.“

„Ich lasse mich nicht benutzen“, sagte sie und der überhebliche Ausdruck in ihrem Gesicht gefiel mir überhaupt nicht. „Ich benutze.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit zurück auf Diego, der gerade seinen Wagen verschloss.

Das ging zu weit. Diego mochte bei mir zurzeit komplett unten durch sein, aber in die Fänge einer solchen Hexe ließ ich ihn deswegen noch lange nicht geraten. Und nach allem was heute schon gewesen war, brachte dieser Tropfen das sprichwörtliche Fass zum überlaufen. Diego war mein Freund und bevor ihm jemand wehtun konnte, tat ich demjenigen weh.

Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, sagte mir, dass es nur dummes Geschwätz von ihr sei, dass Diego sich nie auf jemand wie sie einlassen würde, aber er war eben auch nur ein Kerl und Elena hatte durchaus ihre Reize, denen er verfallen könnte. Soweit wollte ich es gar nicht erst kommen lassen.

Ich drehte mich aus Ryder Armen und wollte mich zornig auf sie werfen und ihr die hübsche Nase schief schlagen, aber bevor er soweit kam, packte der Blödmann mich von hinten um die Taille und hielt mich fest.

„Oh nein, du bleibst schön hier.“

Das konnte er so was von vergessen. Ich strampelte und versuchte nach seinem Fuß zu treten, um mich von ihm zu befreien, aber verdammt noch mal, besaß der Kerl eine Kraft! „Verflucht, Ryder, nimm deine Pfoten von mir!“, fauchte ich ihn an.

„Das werde ich bestimmt nicht tun.“

„Lass mich los!“ Ich wollte Elena unbedingt die Augen auskratzen. Verdient hätte sie es und das nicht nur, wegen dem was sie gerade gesagt hatte. Schon nachdem was sie damals mit Yannick versucht hatte, wäre ein Denkzettel fällig gewesen. Nur mein souveränes Verhalten hatte sie bisher vor jeglichem tätlichen Angriff bewahrt. Heute war es damit aus, jetzt würde sie bluten.

Ich rang um meine Freiheit, aber dann stellte sich auch noch Tyrone vor mich und half seinem Bruder. Er packte meine Handgelenke, damit ich nicht mehr um mich schlagen konnte. „Hör auf damit“, bat er mich ruhig.

„Warum?!“, schrie ich ihn an. „Sie hat es nicht anders verdient! Diese Miststück ist schon mehr als überfällig für eine ordentliche Abreibung!“

„Das willst du doch gar nicht“, redete er weiter auf mich ein.

„Und ob ich das will!“ Im Augenblick sogar mehr als alles andere. Ich strampelte weiter und versucht irgendeinem von ihnen meinen Ellenbogen in den Körper zu rammen, aber meine Bewegungsfreiheit war auf ein Minimum eingeschränkt. „Lasst mich los verdammte Scheiße, nehmt eure Pfoten von mir!“

Und in Moment geschah es.

Von irgendwo her erschien Diego auf der Bildfläche und stürzte sich ohne das kleinste Zögern auf Tyrone. Er riss ihn mit sich zu Boden und hätte auch mich um ein Haar mit runter gezogen. Nur Ryders Griff sorgte dafür, dass ich auf den Beinen blieb.

Im Hintergrund schrie Elena erschrocken auf. Diese miese Schauspielerin!

„Diego, nein!“ Das Miststück war vergessen. Entsetzt musste ich mit ansehen, wie Diego seine geballte Faust direkt in Tyrones Gesicht donnerte. Ich konnte es kaum glauben. Mein Gehirn brauchte ein paar Sekunden, um den Schrecken zu verarbeiten. Immer wieder holte Diego aus und schlug zu. Tyrone versuchte sich nach besten Mitteln zu verteidigen, aber Diego drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht auf den Rücken. Tyrone konnte nur versuchen, sein Gesicht mit den Armen zu schützen.

Ich schrie ihn an, aufzuhören. Ich wusste genau, dass Tyrone Diego nichts entgegenzusetzen hatte. Diego war nicht nur groß und stark, er machte schon seit seiner jüngsten Kindheit Kampfsport und er war nicht nur gut darin, er war beinahe schon ausgezeichnet. Und jetzt musste ich mit ansehen, wie er diese Fähigkeiten gegen Tyrone einsetzte.

„Du bleibst wo du bist“, ordnete Ryder mich an und wollte sich dann auch noch mit einmischen. Das konnte ich nicht zulassen, nicht noch einer. Ich hielt sein Arm fest, um ihn aufzuhalten, aber seinem Geschick hatte ich nichts entgegenzusetzen. Es war ein Leichtes für ihn, mich abzuschütteln und sich von hinten auf Diego zu werfen. Er wollte ihn von seinem Bruder runter ziehen, aber Diego griff über die Schultern hinweg nach Ryder, riss ihn nach vorne und schleuderte ihn mit einem beeindruckenden Salto über sich hinweg, auf den Rücken.

Ein paar Schaulustige, die sich sofort eingefunden hatten, um die Schlägerei aus erster Hand mitzukriegen, mussten zur Seite springen, um nicht von herumfliegenden Füßen getroffen zu werden.

Das Ächzen, das Ryder bei seinem Aufprall ausstieß, ließ mich mit ihm fühlen. Ich war wie versteinert, als er sich auf die Seite drehte, wieder auf die Beine kam und frontal auf Diego losging. Sie krachten auf die Seite und waren nur noch ein Haufen von verstrickten Gliedmaßen, die sich gegenseitig Schmerz zufügen wollten.

Tyrone blieb stöhnend auf dem Boden liegen. Ich wollte zu ihm eilen, aber im Moment streckte Diego Ryder mit einem so heftigen Fausthieb gegen den Kopf nieder, dass mein blauäugiger Prinz einfach zur Seite kippte. Auf einmal waren seine Bewegungen unkoordiniert. Er schien benommen und orientierungslos. Diego nutze diese Gelegenheit, um sich gleich wieder auf ihn zu stürzen.

Das konnte und wollte ich nicht zulassen. Ich rannte los, bereit mich zwischen die Fronten zu werfen, ohne über die Folgen nachzudenken, aber bevor ich sie erreichen konnte, packte mich jemand am Arm und riss mich zurück. Aus dem Gleichgewicht gebracht, fiel ich sogar fast noch über meine eigenen Beine. „Scheiße, was soll das?!“ Ich wirbelte herum, um zu sehen, wer da die Frechheit besaß, mich festzuhalten.

Lucy.

„Lass los“, forderte ich sie auf und zog an meinem Arm, doch auch sie besaß Kraft, der ich nichts entgegenzusetzen hatte – ich sollte dringend ein paar Gewichte stemmen.

„Warum? Du kannst doch eh nichts ausrichten“, warft sie mir unverblümt an den Kopf. „Du würdest nur im Weg stehen.“

Fassungslos starrte ich sie an. Klar, ich war nicht so stark wie sie, aber im Weg stehen? Da traf mich die Erkenntnis. Ich würde Diego im Weg stehen und dem, was er dort tat. Ich würde im Weg stehen, wenn er Tyrone und Ryder verdrosch. Das konnte doch nicht ihr ernst sein! „Du willst, dass er sie verprügelt?“

Sie schwieg, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht erzählte mehr als jedes Wort, die aus ihrem Mund hätten kommen können.

„Du wilderst mich an“, zischte ich ihr zu.

Hinter mir hörte ich ein schmerzvolles stöhnen. Ryder kauerte mit dem Gesicht zum Boden, Blut lief ihm aus dem Mundwinkel und es war sehr deutlich, dass er Schmerzen litt. Er versuchte auf die Beine zu kommen, um Tyrone zu helfen, der nun wieder mit Diego rangelte, aber er kippte benommen zur Seite. Sein Kopf, es musste ihn schlimm erwischt haben.

Ganz gleich, ob es hier zwei gegen eins galt, Diego hatte die Oberhand.

„Wir müssen was tun!“, schrie ich und drehte meine Hand genauso aus ihrem Griff, die die Brüder es mir beigebracht hatten. Den Moment ihrer Überraschung nutzte ich aus, um sie wegzustoßen, dann war ich auch schon auf dem Weg mitten hinein in die Schlägerei.

Mein Augenmerk lag bei Ryder, der immer noch am Boden lag und Tyrone, der ihm einen Augenblick später, daneben Gesellschaft leistete.

Diego zögerte keine Sekunde und stürzte wieder auf die Beiden, packte Ryder von hinten und nahm ihn in den Schwitzkasten.

„Hör auf!“, brüllte ich ihn an und versuchte ihn von Ryder runterzustoßen. „Sie liegen doch schon am Boden!“

Ich glaubte, dass er meine Anwesenheit nicht einmal wahrnahm. Und dann wurde ich getroffen. Eine Faust donnerte mir genau in den Magen. Meine Augen weiteten sich, als mir für den Moment die Luft aus den Lungen getrieben wurde und der Schmerz mich mit einer Wucht traf, dass ich fast aus den Latschen kippte. Ich wusste nicht einmal, wer mich getroffen hatte, nur das es verdammt wehtat. Dann wurde ich auch noch umgerissen.

Die Leute um uns herum, sogen scharf die Luft ein. Einige jubelten ihrem Favoriten zu und wieder andere riefen, dass man Hilfe holen sollte, aber keiner bewegte sich auch nur ein Stück von seinem Platz. Niemand wollte sich das entgehen lassen.

So das reichte. Ich sprang Diego ins Kreuz und riss ihn damit von Ryder runter. Wir krachten gegen Tyrone, der wieder mitspielen wollte und landeten zu dritt auf dem warmen Asphalt. Ich schürfte mir die Haut am Arm auf und wurde dann von hinten zurückgerissen, so dass ich auf dem Hintern landete.

Das war Ryder.

„Hab ich nicht gesagt, du sollst dich da raushalten?“, schnauzte er mich an.

„Weil ihr das so toll regelt, oder was?“, schnauzte ich zurück und kam wieder auf die Beine.

Neben mir holte Diego gerade zu einem erneuten Schlag gegen Tyrone aus und eh ich überhaupt wusste, was ich da tat, schmiss ich mich zwischen die beiden. Ich hörte Ryder noch rufen und sah die Faust schon vor meinen Augen, aber sie traf mich nicht.

Sie traf niemanden.

Sie blieb mitten in der Luft hängen. Aber nicht weil Diego es sich anders überlegte. Lucy stand hinter ihm und hatte seine Arme in einem Klammergriff genommen. Wow, ich wusste nicht mal, das sie so etwas konnte. Aber sie hielt ihn davon ab, mich oder einen anderen zu treffen und zog ihn von Tyrone weg. Ich half mit, legte meine Hand auf seine Brust und schob.

Sein Herz hämmerte unter meinen Fingern, sein Atem ging als hektisch und die Augen waren weit aufgerissen.

Ich schob solange, bis wir uns ein paar Meter von den Brüdern entfernt hatten.

Lucy redete die ganze Zeit auf ihn ein, aber ihre Stimme schien ihn nicht zu besänftigen, er war wie von Sinnen, bereit die kleinste Nachlässigkeit von uns zu nutzen, um wieder zuzuschlagen.

Die Schürfwunde an meinem Arm brannte, mein Magen schmerzte und ich hätte mich gerne einen Moment zusammengerollt, um es etwas erträglicher zu machen, aber ich wagte es nicht, meine Hände von seiner Brust zu nehmen. Ich wollte das Risiko eines neuen Angriffs nicht eingehen. Diego war so außer sich, dass ich ihn kaum wieder erkannte.

Ich musste ihn irgendwie dazu bekommen wieder Vernunft anzunehmen. „Hör auf, Diego“, sagte ich mir ruhiger Stimme, so wie Tyrone es vorhin bei mir versucht hatte – ohne jeglichen Erfolg, wie ich zugeben musste – aber ein Versuch war es wert. „Es ist vorbei.“

Sein wütender Blick rutschte von den Brüdern auf mich und wurde sofort weicher. Es hatte den Anschein, als hätte er gar nicht gewusst, was er da getan hatte und meine Stimme hätte ich wieder in zurück in die Realität gebracht. Er beruhigte sich ein wenig und sah mich dann voller Sorge an. „Cayenne, alles okay mit dir?“

„Nein.“ Wie sollte etwas okay sein? Wie konnte er das überhaupt fragen? Er hatte gerade eine Schlägerei begonnen! Jetzt war ich wieder die, die wütend war. „Du bist ein Idiot!“, spie ich ihm entgegen und gab ihm einen kleinen Stoß. Damit drehte ich mich um und ging zurück zu den Brüdern.

Ryder saß auf dem Boden, kreideweiß, mit geschlossenen Augen. Der heftige Schlag, den Diego ihm gegen den Kopf versetzt hatte, kam mir wieder in den Sinn. Das er danach überhaupt noch wieder aufstehen konnte, war mir sowieso ein Rätsel. Ein solcher Schlag hätte mich vermutlich ins Koma geschickt.

Tyrone hockte neben ihm und redete leise auf ihn ein. Er wirkte leicht beunruhigt.

„Was ist los?“ Ich kniete mich so schnell neben sie, dass ich hart aufschlug und erneuter Schmerz durch meinen Körper walte. Das hatte mir gerade noch gefehlt. „Was hat er?“

„Nichts hat er“, antwortete Ryder und versuchte sich an einem Lächeln. Es misslang aufs Übelste.

„Ich glaube er hat eine Gehirnerschütterung“, antwortete antwortet Tyrone und legte seinem Bruder vorsichtig die Hand auf die Schulter.

„Ryder, mach die Augen auf, und sie mich an“, forderte ich ihn auf. Es dauerte einen Moment bis er gehorchte. Sie waren leicht getrübt und ein paar Äderchen waren geplatzt. Er sah wirklich mit jeder Minute schlimmer aus.

Plötzlich, und ohne jede Vorwarnung, beugte er sich zur Seite und übergab sich.

Ein paar Schaulustige wichen hektisch zurück. Auch ich musste aufspringen, um nicht erwischt zu werden. Nur Zentimeter neben mir klatschte die Suppe auf den Boden.

Mir wurde auch schlecht. Ich konnte es noch nie sehen, wenn sich jemand übergab. Der Geruch und die Substanz ließen mir die Galle aufsteigen. Ich schluckte angestrengt. Das sah echt nicht gut aus. Da war jede Menge Blut in dem Erbrochenen. Meine Sorge stieg.

„Du musst ins Krankenhaus“, sagte ich und hockte mich wieder zu ihm.

„Kein Krankenhaus.“ Seine Stimme war zwar schwach, aber die Erwiderung kam wie aus der Pistole geschossen.

„Was?“, spottete ich. „Hat da etwa jemand Angst vorm bösen Onkel Doktor?“

„Keine Angst, nur eine gewisse Abneigung.“

Ich sah ihm an, dass er nicht mit sich reden lassen wollte und warf einen hilfesuchenden Blick zu Tyrone, aber auch er schüttelte den Kopf. „Da ist er nicht anders als du“, erklärte er schlicht.

Seufzend beugte ich mich weiter vor, damit ich ihm ins Gesicht sehen konnte. „Du musst ins Krankenhaus, du hast Blut gespuckt, du könntest innere Verletzungen haben.“

„Mir geht es gut.“

Das sah ich ganz anders, doch bevor ich weiter auf ihn einreden konnte, ging hinter uns ein Raunen durch die Menge und kaum eine Sekunde später hörte ich eine altvertraute Stimme. „Was in Dreiteufelsnahmen ist hier los?“, donnerte Herrn Habedank und sah zwischen uns, Diego und Lucy hin und her.

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte ich patzig. Das war echt typisch. Jetzt wo alles vorbei war, tauchte jemand auf. Wo war er vor fünf Minuten gewesen, als die Schlägerei noch in vollem Gange war?

„Es sieht aus, als sollten sie alle sich zu einem Gespräch bei Dekan Dallmann einfinden “, antwortete er bissig.

Damit meinte er nicht nur uns drei und Diego, sondern auch Lucy, die seltsamerweise eine Platzwunde an der Lippe hatte. Wo hatte sie die denn her?

„Und zwar sofort!“, fügte der Professor nachdrücklich hinzu, als sich keiner von uns bewegte.

So ein arroganter Bastard! Jetzt konnte er große Töne spuken, aber wäre er während der Prügelei dabei gewesen, hätte er wie all die anderen Idioten nur hilflos an der Seite gestanden.

Sei es wie es sei, wir hatten gar keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen.

Tyrone half seinem Bruder auf die Beine und folgte Diego und Lucy. Ich bildete das Schlusslicht und ließ Revue passieren, was bisher geschehen war. Ich hatte die Nacht kaum ein Auge zugemacht, wurde auf der Straße fast von einem Motorrad umgerissen, hatte mit Diego gestritten, Elena fast umgebracht und war zu guter Letzt an einer Schlägerei beteiligt gewesen.

Ich hätte heute morgen im Bett bleiben sollen.

 

°°°

 

„Das ist alles deine schuld!“, giftete ich Diego an, als wir zehn Minuten später im Vorraum vom Büro des Dekans auf unsere Anhörung warteten. Schon seit ich mich auf einen der vielen Wartestühlen niedergelassen hatte, musste er sich meine Vorwürfe anhören. Ich war so wütend auf ihn.

Er ließ alles schweigend über sich ergehen.

Ein jüngeres Mädchen am Schreibtisch der Sekretärin bestaunte unsere geschundenen Körper. „Glotz nicht so blöd!“, fuhr ich sie an. Ich hasste Leute, die sich nicht um ihren eigenen Kram kümmern konnten.

Erschrocken schaute sie schnell weg.

Ja, die kleinen einzuschüchtern, war immer einfach, aber je größer sie wurden, desto idiotischer führten sie sich auf. Das heute war nur ein weiteres Beispiel männlicher Ignoranz.

Ich wagte einen vorsichtigen Blick zu Ryder. Er hatte wieder etwas Farbe bekommen, sah aber immer noch nicht wirklich gut aus. „Du bist ein richtiger Vollidiot!“, bekam Diego daraufhin von mir zu hören.

„Jetzt reicht es aber“, fuhr Lucy mich an. „Spiel du dich bloß nicht so auf.“

Ich hatte nur einen abschätzenden Blick für sie übrig. „Und du brauchst dich hier gar nicht so ritterlich zu tun, schließlich bist du genauso schuld daran.“

„Ich?“ Da war sie baff. Dass ich sie beschuldigte, warf sie einen Moment völlig aus der Bahn, aber sie fing sich auch sehr schnell wieder. „Nicht ich bin schuld, sondern die gehirnamputierten Gorillas da neben dir.“

„Falsch“, sagte ich kühl. „Du und Diego tragt alleine die Verantwortung.“

„Ach, was du nicht sagst.“ Überlegen verschränkte sie die Arme vor der üppigen Brust. „Und wie soll das bitte funktionieren? Ich war nicht mal zugegen, als ihr wie unzivilisierte Neandertaler übereinander hergefallen seid.“ Sie war so von sich überzeugt, dass sie gleich sehr tief fallen würde.

„Du verstehst es wirklich nicht“, stellte ich fest und sah zufrieden, wie ihre Selbstsicherheit leicht in schwanken geriet. „Nun, dann will ich es dir erklären. Ihr – das schließt dich mit ein – habt mein Bild geklaut.“

Nun verstand sie gar nichts mehr. „Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?“

„Ich war sauer auf euch und dann kam Elena auch noch mit ihren blöden Kommentaren. Ryder und Tyrone wollten nur verhindern, dass ich mich auf sie stürze und du“ - Ich fixierte Diego mit einem wütenden Funkeln. - „hast völlig überreagiert!“

Er war bekümmert. „Du hast geschrien, dass sie dich loslassen sollen“, verteidigte er sich und sprach damit zum ersten Mal, seit wir hier unten waren. „Es sah so aus als …“

„Als was?“, fuhr ich ihm dazwischen. „Mein Gott Diego, kannst du mal deinen Verstand einschalten? Was bitte hätten sie mir hier schon antun können? Wir standen direkt vor der Uni!“

„Ich dachte nur …“

„Du dachtest gar nichts“, unterbrach ich ihn wieder. Ich wollte seine Entschuldigungen gar nicht hören. Er hatte die ganze Sache vermasselt und jetzt konnten wir nur noch Schadensbegrenzung betreiben. „Und genau da liegt das Problem.“

„Hör auf ihn so nieder zu machen“, zischte Lucy mich an.

„Gut, dann machen wir halt bei dir weiter. Wo ist mein Bild? Warum zum Teufel bist du nicht gleich eingeschritten? Warum wolltest du, dass Diego die beiden zusammenschlägt?“

Lucy drückte die vollen Lippen zusammen, solange bis nur noch ein weißer Strich davon übrig war.

„Und so was wie du nennt sich Freundin.“

„Ja, vielleicht hätte ich mich anders verhalten sollen“, räumte sie ein, „aber die beiden Affen da drüben sind auch keine Unschuldsengel. Schau dir nur meine Lippe an. Das tun diese Jungs, wenn sie sich bedroht fühlen.“

Ich hatte mich schon gefragt, was mit ihrer Lippe geschehen war, wagte es aber nicht, genauer darauf einzugehen. So genau wollte ich es dann plötzlich doch nicht mehr wissen. Das ganze ermüdete mich einfach nur noch.

Ich konnte immer noch nicht richtig fassen, was hier gerade geschehen war. Das war alles so irreal. Nur die Schmerzen in meinem Magen und das Brennen an meinem Arm erinnerten mich daran, dass das alles wirklich passiert war. Wären da keine Schmerzen, hätte ich mir einbilden können, in einem bösen Traum gefangen zu sein. Aber so? Keine Chance.

Neben mir stöhnte Ryder. Er hielt das Gesicht in den Händen verborgen, aber auch so war deutlich, wie mies es ihm ging. „Alles okay?“ Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du musst dich doch nicht wieder übergeben?“

„Nein, alles okay“, beruhigte er mich und befreite sein Gesicht von den Händen, damit er mich ansehen konnte. „Echte Kerle kennen keinen Schmerz.“

Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch und schnipste ihm leicht gegen den Kopf. Natürlich zuckte er zusammen. „Wenn echte Kerle keinen Schmerz kennen, was bist du dann?“, zog ich ihn auf.

„Ziemlich lädiert.“ Er versuchte zu lächeln und dieses Mal klappte das schon ein bisschen besser. Trotzdem sah er beschissen aus. Sein Auge war geschwollen, an er Stirn prangte eine Platzwunde und von den blauen Flecken und Schürfwunden, fing ich besser erst gar nicht an. Und das war nur sein geschundenes Äußeres. Was Diego mit seinen Schlägen innerlich angerichtet hatte … darüber wollte ich gar nicht so genau nachdenken.

Die Tür zum Büro des Dekans ging auf und ein älterer Mann mit Halbglatze und strengem Ausdruck im Gesicht ließ seinen Blick langsam über uns gleiten. „Ich wäre dann für die Herrschaften bereit.“

Sein Ton allein verriet mir, dass mit dem sicher nicht gut Kirschen essen wäre. Aber da meine Mutter wahrscheinlich ziemlich sauer werden würde, wenn man mich von der Uni schmiss, erhob ich mich von meinem Stuhl und führte unsere kleine Schlägertruppe an Dekan Dallmann vorbei ins Büro.

Vor dem großen Schreibtisch standen nur drei Stühle, also blieb ich stehen. Ryder nicht. Er schien froh zu sein, gleich wieder etwas unter dem Hintern zu haben. Der Rest schien kein Interesse zu haben, es sich auch nur ein wenig gemütlich zu machen.

Der Dekan schloss die Tür wieder und nahm dann auf dem Lederstuhl hinter dem Schreibtisch Platz. Links und rechts von ihm ragten Regale voller Bücher auf und an der Seite stand eine Reihe von Aktenschränken, die so voll waren, dass sich die Ordner schon obendrauf stapelten.

Mit einem prüfenden Blick auf uns verschränkte Herr Dallmann die Hände auf dem Tisch. „Dieses Lehrinstitut ist eines nobelsten in dieser Stadt. Nicht weil es teuer ist, sondern weil wir einen gewissen Standard haben. Unser Ruf ist dabei von einer großen Bedeutung und daher kann und werde ich es nicht dulden, wenn Meinungsverschiedenheiten auf so eskalierende Art in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden. Eine Schlägerei ist nicht zu dulden und …“

„Ich habe mich nicht geschlagen“, warf ich ein, bevor er mit seinem Geschwafel fortfahren konnte. „Ich habe versucht zu schlichten und bin dabei irgendwie hineingeraten.“

Er musterte mich eindringlich und schaute dann schweigend zu Lucy.

„Schlichter“, sagte sie knapp und gab damit ihren Standpunkt zur Schlägerei ab.

„Waren die Herren auch nur schlichter?“, fragte er ein wenig beißend.

Diego drücke die Lippen zusammen und auch die Brüder hielten es im Augenblick für besser zu schwiegen.

„Das kann ich dann wohl als Nein interpretieren.“ Er seufzte, als sei es ihm zuwider, sich mit den Belangen anderer herumzuschlagen. „Nun gut, wenn die Damen den Streit nur beenden wollten, entlasse ich sie hiermit. Sie können in ihre Kurse gehen.“

Stur wie ich war, verschränkte ich einfach die Arme vor der Brust.

„Sofort“, sagte er nachdrücklich.

Das konnte er knicken, ich wollte wissen, was noch kommen würde. „Und was ist mit den Dreien?“

„Das ist etwas, dass Sie nichts angeht.“

Da war ich anderer Meinung. „Hören Sie, dass diese ganze Schlägerei zustande gekommen ist, ist mein Verdienst.“ Den Ursprung, nämlich das Bild, behielt ich für mich. „Die Jungs trifft keine Schuld. Ich habe mich nicht unter Kontrolle gehabt, sie wollten nur helfen.“

Nachdenklich musterte er mich noch mal, so wie er es schon beim Reinkommen getan hatte. „Ich dachte sie waren nur Schlichter?“

„Schon, aber nur wegen mir haben sie sich überhaupt geprügelt.“

„Lass gut sein, Cayenne“, sagte Diego.

„Ich tu das bestimmt nicht für dich!“, fauchte ich ihn an. „Nicht nachdem, was du dir in der letzten Zeit alles geleistet hast.“ Das stimmte nicht, denn obwohl er sich nicht gerade wie ein Freund benommen hatte und ich im Moment eine schreckliche Wut auf ihn verspürte, wollte ich ihn nicht ins offene Messer laufen lassen. „Was ich damit sagen möchte, das Ganze war nichts als ein blödes Missverständnis und wird ganz sicher nicht nochmal passieren.“

„Aber es ist bereits passiert“, erwiderte der Dekan schlicht.

Okay, der würde von mir keine Karte zu Weihnachten bekommen. „Ja, aber doch nur weil …“

„Ich finde es sehr edelmütig von Ihnen, dass sie versuchen für ihre Freunde einzutreten“, unterbrach Herr Dallmann mich großspurig, bevor ich meinen Satz beenden konnte. „Sie wollen sie schützen, was ich Ihnen hoch anrechne, aber ich habe von Professor Habedank bereits genug gehört, um zu wissen, was dort draußen vor sich gegangen ist.“

„Einen Dreck haben Sie gehört!“, blaffte ich ihn an. Ich hasste es, wenn jemand versuchte so von oben herab auf mich einzureden. „Ich hätte fast Elena geschlagen. Tyrone und Ryder wollten mich davon abhalten und Diego hat die Situation einfach nur falsch interpretiert.“

Er ließ ich von meinem kleinen Ausbruch nicht aus der Ruhe bringen. „Aber Sie haben das Mädchen nicht geschlagen, oder?“

Für einen Moment warf er mich aus der Bahn. „Äh, nein. Die beiden haben das ja nicht zugelassen.“

„Und Sie haben auch nicht gesagt, das sie“ - Mit einer Handbewegung schloss er die drei Jungs ein. - „sich schlagen sollen?“

„Natürlich nicht.“ Das war ja nun mehr als absurd.

„Dann können Sie jetzt gehen.“

Hörte der Kerl mir eigentlich zu? Das gab es doch alles nicht. Ich wollte meinen Mund für eine neue Erwiderung öffnen, eine die mir sicher einen Vermerk in meiner Akte eingebracht hätte, aber Tyrone war schneller.

„Geh, Cayenne, wir kommen schon klar.“

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu. Langsam gingen mir diese Kerle wirklich auf den Sack. Was glaubten die, was sie mit ihrer Rittertour erreichen konnten? Aber wie es schien, kämpfte ich hier auf verlorenem Posten. Es interessierte hier niemanden was ich zu sagen hatte. Idioten, allesamt. „Gut, dann warte ich halt draußen.“ Missmutig stampfte ich aus dem Raum zurück in den Wartebereich und ließ mich dort neben meiner Tasche auf einen Stuhl fallen.

Lucy folgte mir und schloss leise die Tür zum Büro, die ich extra offen gelassen hatte, um zu hören, was da drinnen besprochen wurde. Dann trat sie ein wenig unentschlossen zu mir. „Unser Kurs hat bereits begonnen.“

„Und?“

„Wir sollten daran teilnehmen. Du weißt schon, um die Abschlussprüfungen und das Semester zu schaffen.“

„Wenn du dir solche Sorgen darum machst es nicht zu schaffen, dann solltest du das wirklich tun.“

„Du aber auch.“

„Ich werde schon noch gehen, sobald ich weiß was da drin los ist.“

Schweigend schaute sie mich an. Dann seufzte sie und setzte sich neben mich in den Stuhl.

Das gab mir ein kleines Gefühl der Realität zurück. Egal was geschah, Lucy ließ mich nie im Stich. Und obgleich ich in diesem Moment noch sauer auf sie war, war ich ihr auch ein wenig dankbar, dass sie mich nicht alleine ließ – aber nicht so dankbar, dass ich ihr verzeihen würde.

Schweigend warteten wir.

Um sich die Zeit zu vertreiben, zog Lucy ihr Handy heraus und tippte ein wenig darauf herum.

Ich erwog es ihr gleich zu tun, aber ich hatte nie viel für Mobiltelefone übrig gehabt.

Es dauerte beinahe eine Ewigkeit, bis die Tür zum Büro sich öffnete und Diego heraustrat. Er war ein wenig überrascht, uns beide hier sitzen zu sehen und obwohl ich eigentlich keine Lust hatte, mit ihm zu sprechen, ließ meine Neugierde gar nichts anderes zu. „Und? Was hat er gesagt?“

Das Telefon der Sekretärin klingelte kurz. Dann hatte sie es auch schon am Ohr.

„Er hat mir ein paar Wahlmöglichkeiten gegeben, um meinen Patzer wieder gut zu machen. Ich hab mich dafür entschieden bei den Vorbereitungen zum Sommerfest zu helfen.“

Also würde er da jetzt auch noch rumhängen. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. „Und was ist mit Tyrone und Ryder?“

Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das wirst du sie wohl selber fragen müssen, wenn er sie gehen lässt.“

Warum hatte ich nur wieder das Gefühl, belogen zu werden. Ich fixierte Diego mit strengem Blick, aber er kannte das von mir und hielt dem locker stand. Andere wären ihm vielleicht erlegen, aber nicht er. Mist aber auch.

„Gut“, sagte ich schließlich. „Ich kann warten.“

Genau wie Lucy schaute er unschlüssig zwischen mir und dem Ausgang hin und her, bevor er sich zu uns setzte.

Ich ignorierte ihn. Nur wegen ihm waren wir schließlich hier. Außerdem machte ich mir noch immer Sorgen um Ryder. Sobald er rauskam, würde ich solange auf ihn einreden, bis er seinen sturen Hintern ins nächste Krankenhaus bewegte. Aber die Minuten verstrichen und diese verdammte Tür wollte einfach nicht wieder aufgehen. Sie war sogar stabil genug den um den bösen Blicken zu widerstehen, mit denen ich sie malträtierte.

Als neben mir plötzlich ein Handy klingelte, war ich so angespannt, dass ich vor Schreck zusammenzuckte. Ich funkelte Lucy an, die das jedoch schlicht ignorierte und einfach den Anruf entgegen nahm.

„Ja?“, sagte sie leise um die Sekretärin am Schreibtisch nicht zu stören. „Direkt neben mir. Moment, ich gebe sie Ihnen.“ In einer sehr nachdrücklichen Geste hielt sie mir das Handy unter die Nase. „Für dich.“

Für mich? Wer rief denn bitte auf Lucys Handy an, wenn er mich erreichen wollte?

Die Antwort darauf bekam ich sobald ich es an mein Ohr hielt. „Hallo?“

„Hallo mein Schatz, wie geht es dir?“

„Mama?“ Okay, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.

„Na wen hast du denn erwartet? Deine gute Fee?“

Das wäre auf jeden Fall wahrscheinlicher gewesen, als ein Anruf meiner Mutter. Ich warf Lucy einen misstrauischen Blick zu. Das meine Mutter mich über ihr Handy anrief, konnte kein Zufall sein. „Ich dachte immer du wärst meine gute Fee.“

Dafür wurde ich mit einem kleinen Lachen belohnt. „Wenn du schon wieder Süßholz raspelst, dann muss ich mich doch fragen, was da schon wieder bei dir los ist.“

„Nicht viel“, behauptete ich, befürchtete aber, dass sie bereits über jede Kleinigkeit der letzten Tage Bescheid wusste. Victoria war immerhin das größte Klatschmaul auf dieser Seite des Äquators.

„Da habe ich aber schon ganz anderes gehört.“

Wusste ich es doch. „Hör zu Mama, ich …“

„Würden Sie bitte vor die Tür gehen, wenn Sie schon telefonieren müssen?“, unterbrach die Sekretärin mich sehr unhöflich.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu. „Warte mal einen Moment, ich muss mich umquartieren, da meine laute Stimme andere scheinbar von ihren Kreuzworträtseln abhält.“

Die Sekretärin plusterte entrüstet ihre Backen auf.

Ich beachtete sie nicht weiter, als ich mich von meinem Platz erhob und hinaus auf den Korridor ging. Leider war der Empfang dort so schlecht, dass ich sogar das Gebäude verlassen musste. „Hörst du mich jetzt?“, fragte ich, kaum dass ich durch die Tür getreten war. „Ich bin jetzt draußen.“

„Oh ja, das ist gleich viel besser.“ Sie seufzte theatralisch. „Ich war gestern ziemlich enttäuscht, als ich zuhause anrief und du nicht da warst.“

Ja super, mach mir doch ein schlechtes Gewissen. „Tut mir leid, das war war nicht meine Absicht. Aber du hättest ja auch auf meinem Handy anrufen können.“

„Ob du es glaubst oder nicht, das habe ich versucht, aber es war abgeschaltet.“

Ach ja, ich hatte es ja ausgeschaltet, um nicht weiter von Diegos Anrufen genervt zu werden. „Oh, hab ich vergessen.“ Da ich keine Lust hatte blöd in der Gegend herumzustehen, setzte ich mich auf die oberst Stufe der Freitreppe. Es war noch früher Vormittag, aber die Sonne brannte mir bereits jetzt ein Loch in den Kopf.

„Du scheinst in der letzten Zeit allgemein ein wenig neben dir zu stehen.“

Was sollte das denn jetzt wieder heißen? „Ich hatte nur mein Handy ausgeschaltet, da steckt nichts weiter dahinter.“

„Da wurde mir anderes erzählt, aber lass uns jetzt lieber über dein Studium sprechen. Kommst du gut mit?“

Immer die gleichen Fragen. Ihr fiel aber auch nie etwas Neues ein. „Ja, genau wie das letzte Mal, als du gefragt hast.“

„Du weißt, dass du Zusatzunterricht nehmen kannst, wenn du ihn brauchst?“

Ja, das brauchte ich wie einen eingewachsenen Zehennagel. „Mama, ich komme klar, ich werde das Semester schon nicht wiederholen müssen.“ Noch mehr Zeit würde ich in der Uni sicher nicht verbringen.

„Es war ja nur ein Vorschlag. Wenn du es im Leben zu etwas bringen möchtest, dann ist eine gute Ausbildung wichtig.“

„Ich weiß.“ Vom Fuße der Treppe kam eine Gruppe von einem guten Dutzend Männern auf mich zu. Naja, nicht auf mich, auf das Gebäude. Eigentlich hätte ich sie nicht weiter beachtet, da hier ständig irgendwelche Studenten herumliefen, aber die wirkten nicht wie Studenten. Ein paar von ihnen waren viel zu alt für diese Uni. Und einer hatte sogar ein richtig geiles Tribaltattoo auf dem Oberarm.

„Und Nebenaktivitäten können dir auch nicht schaden.“

Das war auch eine nette Art zu fragen, ob ich mich an unsere Abmachung hielt. „Ich habe mich bereits letzte Woche als freiwillige für das Wohltätigkeitsfest angemeldet und werde dort den Stand mit den Ringen betreuen. Es besteht also kein Grund wieder gemein zu werden.“

Ein perlendes Lachen tönte durch das Handy. „Cayenne, ich mache das doch nicht um dich zu ärgern, sondern damit du irgendwann auf eigenen Beinen stehen kannst.“

Die Männergruppe zog schweigend an mir vorbei und verschwand dann im Gebäude.

„Das weiß ich doch.“ Etwas unbehaglich tippte ich mir mit dem Finger aufs Knie. „Wann kommst du mal wieder nach Hause?“, fragte ich leise. Ja, ich beklagte mich oft über meine Mutter, besonders wenn sie wieder mal einen ihrer kreativen Einfälle hatte, wie sie mich erziehen konnte – wobei dieser Zug längst abgefahren war – aber wenn sie nicht da war … ich vermisste sie, sie war immerhin der einzige Elternteil, der mir noch geblieben war.

„Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd. „Im Moment ist ziemlich viel zu tun und …“

„Ist es das nicht immer?“ Ja ich hörte mich bitter an. Aber wenn man seine Mutter nur drei Mal im Jahr sah, dann durfte man das auch.

Eine drückende Stille schallte wie ohrenbetäubender Lärm durch das Handy. Dann seufzte meine Mutter schwer. „Es tut mir leid mein Schatz, aber du weißt doch wie das immer ist. Das Büro braucht mich.“

Aber du bist meine Mutter, hätte ich fast gesagt, hielt mich aber zurück, weil es eh nichts bringen würde. „Das heißt du weist es mal wieder nicht.“

„Ich komme Heim, sobald ich die Zeit dafür finde. Und bis es so weit ist, hast du doch Victoria, die sich um dich kümmert.“

Welch Freude. „Das ist nicht das gleiche.“

Wieder verfiel sie in Schweigen.

Manchmal wenn ich mit ihr sprach, bekam ich das Gefühl, dass sie nichts lieber tun würde, als ihren Job an den Nagel zu hängen und sofort nach Hause zu fahren. Ich verstand nur nicht, warum sie es nicht einfach tat. Wir hatten genug Geld um bis ans Ende unserer Tage in Luxus schwimmen zu können. Natürlich war mir klar, dass sie ihre Zeit nicht gelangweilt auf der Couch verbringen wollte, aber das musste sie doch auch gar nicht. Wir wohnten in der Hauptstadt, hier gab es sicher genug Arbeit für eine Frau mit ihren Referenzen. Es war nicht nötig, dass sie einen Job behielt, der sie manchmal Wochen und Monate von mir fernhielt.

Vor gut anderthalb Jahren, als sie wegen ihrer Arbeit meinen achtzehnten Geburtstag verpasst hatte, waren das genau die Dinge gewesen, die ich ihr bei unserem nächsten Zusammentreffen an den Kopf geworfen hatte. Ich war damals so sauer gewesen, dass es in einem heftigen Streit geendet hatte.

Am Ende war sie schweigend in ihr Schlafzimmer verschwunden, wo ich sie leise weinen hörte. Seit diesem Tag vermied ich es dieses Thema auf den Plan zu bringen.

Ich hörte wie meine Mutter nervös mit einem Stift auf eine Tischplatte trommelte. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. „Hör zu, Cayenne, ich möchte …“ Sie unterbrach sich, als in ihrer Nähe ein Klingeln ertönte. „Warte mal einen Moment, da ist ein Anruf auf dem anderen Telefon.“

Na toll. Da nahm sie sich schon mal einen Moment für mich Zeit und die konnten wir dann nicht mal richtig nutzen. Das war wieder Mal so typisch. „Klar, ich bleib dran“, sagte ich, aber ich war mir nicht sicher, ob sie das überhaupt mitbekam, da ich sie in der nächsten Sekunde in einiger Entfernung sprechen hörte. Ich verstand nicht, was sie sagte, doch ihr Ton klang sehr eindringlich und bestimmend.

Es dauerte nicht lange, bis sie dieses Gespräch beendete und wieder zu mir ans Telefon kam. „Bist du noch da?“

„Wo sollte ich denn sonst sein?“

Sie verkniff es sich mich darauf hinzuweisen, dass ich eigentlich in einem meiner Kurse sitzen sollte, statt auf der Freitreppe vor dem Verwaltungsgebäude. „Das ist gut. Hör zu, ich muss mich verabschieden. Ich hab vorhin etwas in Auftrag gegeben und muss mich jetzt darum kümmern. Es ist ziemlich dringen, darum … ich muss auflegen.“

Ja super. „Aha.“

Sie seufzte. „Es tut mir leid, aber das ist wirklich sehr wichtig.“

„Wenn du es sagst.“

„Bitte Cayenne, sei mir nicht böse, aber wenn ich das nicht regle, kann ich große Probleme bekommen.“

Ja toll, jetzt bekam ich auch noch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich wie ein Kleinkind verhielt. „Hört sich ernst an.“

„Das ist es auch. Aber keine Sorge, ich werde mich darum kümmern und dann ist alles wieder in Ordnung.“

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass hinter diesen Worten mehr steckte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. „Na dann, viel Spaß, oder was man in so einem Fall auch immer wünscht.“

„Danke. Wir hören uns spätestens am Sonntag.“

„Ja, so wie immer.“

„Ich hab dich lieb und … sei artig.“ Das letzte Wort betonte sie sehr nachdrücklich.

„Das bin ich doch immer.“

Dafür bekam ich wieder eines ihrer glockenhellen Lachen. „Tschüss mein Schatz.“ Es knackte in der Leitung und dann war sie weg und mir blieb nichts anderes, als eine weitere Erinnerung, an ein sinnloses und viel zu kurzes Telefonat, mit dem einzigen Elternteil, das mir noch geblieben war.

Wenn ich es mal unterm Strich betrachtete, hatte ich mit meiner Mutter in meinem ganzen Leben weniger Zeit verbracht, als mit Victoria und das obwohl unser Hausmädchen erst vor ein paar Jahren zu uns gekommen war, als ich bereits das zehnte Lebensjahr überschritten hatte. Davor war es immer Joel gewesen, der mich wie ein Wachhund gehütet hatte. Mama war praktisch aus dem Kreißsaal heraus in die Arbeitswelt eingestiegen und das hatte sich bis heute leider nicht geändert.

Da es mir noch nie etwas gebracht hatte diesen trostlosen Gedanken nachzuhängen, schob ich sie zu dem ganzen anderen Schrott in den hintersten Winkel meines Hirns und erhob mich von der Treppe.

Als ich zurück in den Warteraum des Büros vom Dekan kam, unterbrachen Lucy und Diego rasch das Gespräch, dass sie gerade führten. Wahrscheinlich tuschelten sie mal wieder über dieses blöde Geheimnis, dass sie mir nicht anvertrauen wollten und deswegen sogar unsere Freundschaft riskierten.

Mit einem „Hier“ hielt ich Lucy ihr Handy unter die Nase. Dabei bemerkte ich, dass die Tür zum Büro offen stand. Ich bekam kaum mit, wie sie es mir aus der Hand nahm, als ich einen Blick hinein warf. Es war leer, nicht mal Herr Dallmann war noch anwesend.

Verwundert schaute ich mich um, aber außer der Sekretärin und uns dreien, befand sich hier niemand. „Wo sind Tyrone und Ryder?“

„Weg.“ Seelenruhig verstaute Lucy ihr Handy in ihrer Umhängetasche. „Und wenn wir Glück haben, sehen wir sie nie wieder.“

„Was?“ Hatte ich mich gerade verhört? „Was soll das heißen, sie sind weg? Wie kann man einfach weg sein?“

„Es heißt, dass sie von der Uni geflogen sind und das Gelände sofort verlassen mussten.“

Ich stand da, starrte sie an und konnte nicht glauben, was ich da hörte. Man hatte sie der Uni verwiesen. Man hatte sie einfach raugeworfen! „Aber warum? Sie haben doch gar nichts gemach.“

„Sie haben dich gegen deinen Willen unter Zeugen festgehalten.“ Sie schaute mir viel zu ruhig entgegen. „Das nenn man Freiheitsberaubung, Cayenne, das ist eine schwere Straftat.“

Okay, jetzt war ich mir ganz sicher, dass ich mich verhört haben musste. Und auch, dass sie wohl den größten Schwachsinn redete, den die Welt je gehört hatte. Freiheitsberaubung? Ryder hatte mich vielleicht zwei Minuten festgehalten. „Du veraschst mich doch.“

„Nein.“

„Aber …“ Ich schaute zu Diego. „Er hat doch auch keinen Verweis bekommen.“

„Diego ist auch ein erstklassiger Student, der niemals Probleme gemacht hat und seinen Fehler einsehen konnte.“

Langsam kochte die Wut in mir hoch. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. „Wo sind sie jetzt?“ Das Gebäude konnten sie nicht verlassen haben, ich saß schließlich die ganze Zeit davor und hätte es durchaus bemerkt, wenn sie an mir vorbeigekommen wären.

„Woher soll ich das den wissen?“ Lucy lehnte sich zurück und schlug ihre Beine übereinander. „Vielleicht haben sie sich ja wie zwei feige Hühner durch den Hinterausgang aus dem Staub gemacht.“

„Das würden sie nicht tun.“ Das war ich mir zu hundert Prozent sicher. Sie würden nicht einfach verschwinden, ohne mit mir zu sprechen. Ich kannte sie vielleicht noch nicht lange, aber das wusste ich.

„Cayenne“, begann Diego. „Es ist doch …“

„Sprich du mich nicht an!“, fauchte ich ihn an. Mit einem Mal war ich so wütend auf ihn, dass ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen hätte. „Das ist doch allein deine Schuld!“ Erst quatsche er heimlich mit Victoria, dann zerrte er mich mit Gewalt von der Uni weg, stellt mir nach, klaute mein Eigentum und jetzt auch noch das! „Ihr habt doch beide einen Schaden und ich habe endgültig die Schnauze voll von der ganzen Scheiße!“ Ich schnappte mir meine Tasche und eilte aus dem Raum. Wenn Tyrone und Ryder wirklich vom Gelände runter waren, konnte ich sie vielleicht noch auf dem Parkplatz finden. Ich hatte ja nicht lange telefoniert und sie würden sicher warten.

Doch gerade als ich durch den Korridor auf den Ausgang zusteuerte, wurde ich am Arm gepackt und zurück gerissen. Ich krachte an Diegos Brust, stieß mich aber sofort wieder weg und riss meinen Arm so heftig aus seinem Griff, dass ich zurück stolperte. „Wage es nicht mich anzufassen, du am allerwenigstens!“

Dieser Affront krängte ihn. „Cayenne, hört mir bitte zu, ich …“

„Nein, du hörst mir jetzt mal zu! Seit Tagen benehmt ihr euch wie riesige Arschlöcher und jetzt hast du dafür gesorgt, dass zwei Menschen die ich mag verschwinden, nur weil du sie nicht magst. Ich hab genug, es steht mir bis hier und ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!“ Ich wich einen Schritt vor ihm zurück und konnte kaum glauben, was ich als nächstes sagen würde, aber war die reine Wahrheit. „Tritt mir nie wieder unter die Augen, wir sind endgültig fertig miteinander.“

 

°°°°°

Der King ist der Größte

 

„Verdammte Scheiße!“ Wütend feuerte ich mein Handy in die Ecke meines Zimmers. Ich wollte sehen wie es an die Wand knallte und in tausend Stücke zerbrach, aber stattdessen landete es völlig unbeschadet auf meinem Wäschehaufen. „Ahhh!“ Heute konnte aber auch gar nichts klappen!

Auf dem Parkplatz vor der Uni hatten keine Motorräder gestanden, Tyrone und Ryder waren ohne ein Wort verschwunden und zu allem Überfluss hatte ich feststellen müssten, dass ich in all der Zeit die wir zusammen verbracht hatten nicht einmal auf die Idee gekommen war, mit ihnen Telefonnummern auszutauschen!

Da ich mit meiner schlechten Laune und der Aussicht darauf Lucy zu begegnen zu können, nicht in meine Kurse wollte, hatte ich mir mein Fahrrad geschnappt und war nach Hause geradelt in der Hoffnung ihre Telefonnummer im Telefonbuch zu finden. Keine Chance. Nicht mal die blöde Tussi von der Telefonvermittlung hatte mir weiterhelfen können. Und das alles nur, weil meine ehemaligen Freunde, aus was-weiß-ich für Gründen, der Meinung gewesen waren, meine Sachen klauen zu müssen.

Das war so … grrr!

„Mau“, kam es vom Fensterbrett.

Ich wandte mich danach um. Elvis hatte sich am offenen Fenster niedergelassen und beobachtete mich aufmerksam. Lange konnte er da noch nicht sitzen, das wusste ich genau, weil ich vor Fünf Minuten das Telefonbuch dort hinausbefördert hatte.

Ja, ich war wirklich sauer.

Da ich nicht reagierte, sah Elvis sich gezwungen mich ein weiteres Mal anzumaunzen.

Ich seufzte schwer. „Was ist los, Kratzbürste?“

„Mau.“

„Ich hatte einfach nur einen beschissenen Tag.“ Rücklings ließ ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die weiße Decke. Ein paar Staubweben hingen daran und schaukelten gemächlich vor sich hin.

„Mau.“

„Du hast ja keine Ahnung wie beschissen.“

„Mau.“

Ich wandte mein Gesicht in sein Richtung. „Und? Wie ist es dir heute so ergangen?“

Er kniff die Augen leicht zusammen und begann zu schnurren.

„Na wenigstens einer von uns hat gute Laune.“ Niedergeschlagen rollte ich mich auf die Seite und verdrängte bis auf Elvis Schnurren jeden Gedanken aus meinem Kopf. Die kesse Locke über dem Auge wippte im Wind auf und ab und das Rascheln der Blätter an den Bäumen strich beruhigend über meinen Geist. Erst jetzt merkte ich, wie müde ich eigentlich war. Nicht nur die mehr oder weniger schlaflose Nacht, auch der bisherige Tag hatte mich einfach nur geschlaucht.

Meine Augenlider wurden schwerer. Nur einen Moment, sagte ich mir und gab meiner Erschöpfung nach. Ich würde meine Augen nur einen kurzen Moment schließen und dann weiter darüber nachdenken, was ich tun konnte.

Irgendwo klimperte ein Windspiel …

Als ich die Augen wieder aufschlug, war Elvis nicht mehr auf dem Fensterbrett. Müde drehte ich mich herum, um nachzuschauen, ob er auf meinem Schrank saß. Fehlanzeige. Also war er wohl mal wieder ausgeflogen.

Ich rieb mir über übers Gesicht, richtete mich auf und … was, es war schon nach fünf?! Verdammt, ich hatte fast sieben Stunden geschlafen! Dabei hatte ich mich doch nur mal kurz ausruhen wollen. Ich musste Erschöpfter gewesen sein, als es mir selber klar gewesen war. Und dann auch noch dieses drückende Wetter. Und … die Brüder. Wann ich sie wohl wieder sah? Plötzlich kam Yannick mir in den Sinn und ich musste mich fragen, ob ich sie überhaupt wiedersehen würde.

„Das ist doch albern“, wies ich mich selber zurecht, spürte aber gleichzeitig eine innere Unruhe aufkommen. Am Besten packte ich die ganze Angelegenheit von einer ganz anders Seite an. Ich kannte noch einen Ort, an dem ich sie suchen konnte, ihre Wohnung. Es war albern, einfach weil ich sie kaum eine Woche kannte, aber ich hatte sie gerne um mich.

Entschloss stieg ich aus dem Bett, zog mich hastig um, weil meine Klamotten vom Schlaf nicht nur zerknittert, sondern auch verschwitz waren und schnappte mir dann meine Kuriertasche. Ohne Victoria Bescheid zu sagen, verließ ich das Haus und lief geradewegs auf das Gartentor zu. Zu meiner Verwunderung war es verschlossen.

Okay, das war seltsam. Und nervtötend. Vor allen Dingen nervtötend, weil ich so erst meine Schlüsselkarte aus der Tasche kramen und zusätzlich noch den Code ins Tastenfeld eingeben musste. Aber soweit kam es gar nicht erst.

Wie ich es schon tausende von Malen getan hatte, zog ich die Schlüsselkarte durch den Schlitz des kleinen Scanners neben dem Tor und wartete darauf, dass das rote Lämpchen auf grün sprang. Das tat es aber nicht. Stattdessen, bekam ich nur ein doppeltes Piepen, was mir sagte, dass es meine Karte nicht annahm.

Okay. Ich rieb die Karte über meine Hose und versuchte es erneut. Das Ergebnis war das gleiche. Auch beim dritten Mal wollte dieses verflixte Lämpchen einfach nicht die Farbe wechseln. War jetzt auch noch die blöde Karte kaputt? Na toll, das bedeutete, dass ich doch zu Victoria musste.

Missmutig ging ich zurück ins Haus und legte mir gedanklich schon einmal fest was ich sagen würde, wenn die Frage aufkam, wohin es mich heute noch verschlug. Am besten behauptete ich einfach zu Lucy rüber zu wollen, die wohnte schließlich nur zwei Häuser weiter.

Da Victoria sich aus irgendeinem Grund in der Vorratskammer herumtrieb, musste ich zweimal in die Küche schauen, bevor ich sie fand.

„Ich glaub meine Schlüsselkarte ist kaputt“, sagte ich schon beim hereinkommen.

Ohne mich anzuschauen, trug sie ein paar Zutaten aus der kleinen Kammer und lud sie auf der Anrichte ab. „Das glaub ich nicht.“

„Doch.“ Ich stellte mich ihr gegenüber und legte die Karte auf die Arbeitsfläche. „Der Scanner erkennt sie nicht.“

„Weil ich dich aus dem System genommen habe.“

Irritiert versuchte ich den Worten einen Sinn zu geben, währen ich dabei zusah, wie sie damit begann ein paar Kochtomaten kleinzuschneiden. „Warum solltest du mich aus dem System nehmen?“

„Weil du Stubenarrest hast und ich nicht daran halten wirst, wenn du gehen kannst wohin du möchtest.“

Ich schaute sie an. Während sie seelenruhig da stand und Tomaten häckselte, stand ich einfach nur da und überlegte, ob einem irgendwann einfach der Kopf platzen könnte. „Ich glaube ich habe mich gerade verhört.“

„Nein, das hast du nicht. Ich habe dir gestern Hausarrest gegeben und werde dafür sorgen, dass du ihn auch einhältst.“

Das war doch wirklich … ich konnte es nicht fassen! „Ich bin neunzehn Jahre. Die Zeiten in denen du mich ins Haus sperren konntest, sind lange vorbei, also gib meine Karte gefälligst wieder frei und lass mich hier raus!“

„Frag mich in einer Woche noch einmal.“ Sie schaute nicht mal auf, als sie das sagte. Ihr einziges Interesse galt dem Essen.

Die Wut kochte in mir hoch. Ich holte aus und fegte mir einer Bewegung das gesamte Essen von der Kochinsel. Es klirrte und knallte. Die Packung mit den Nudeln platzte auf und verteilte ihren Inhalt über den ganzen Boden. Eine der Tomaten klatschte sogar gegen das Fenster der Garagentür und hinterließ beim Runterfallen einen schmierigen Fleck.

Victoria war zurückgewichen. Nun war sie auch sauer. „Das wirst du wieder aufräumen.“

„Das werde ich nicht und soll ich dir auch sagen warum? Weil ich mich von dir nicht mehr herumkommandieren lasse. Ich bin erwachsen und du hast schon lange nicht mehr das Recht mich einzusperren. Wenn ich getan habe, was du von mir wolltest, habe ich das nur aus Respekt vor dir gemacht, aber das hast du dir mir dieser Aktion komplett verspielt, also gib gefällig meine Schlüsselkarte wieder frei.“

„Nein.“

Ich konnte geradezu spüren, wie da ein paar Äderchen in meinem Kopf einfach platzten. „Das hast du nicht umsonst gemacht“, knurrte ich und verschwand mit zornfunkelnden Augen aus der Küche. Wenn sie glaubte mich einsperren zu können, dann hatte sie sich aber mit der falschen Person angelegt. Nichts konnte mich in diesen vier Wänden halten, wenn ich es nicht wollte. Ich hatte immer noch den Schlüssel für das Seitentor.

Aber ich war nicht so dumm direkt zur Haustür hinaus zu marschieren. Ich ging wieder nach oben in mein Zimmer, knallte meine Tür so heftig zu, dass sie im Rahmen wackelte und kletterte dort wie bereits so viele Male zuvor aus dem Fenster. Ausnahmsweise war mir sogar das Oleander meiner Mutter dabei völlig egal.

Ohne mich auch nur umzuschauen, ging ich hinters Haus zu den vier Eichen, oder besser gesagt zu der kleinen Tür daneben. Den Schlüssel hielt ich bereits in der Hand. Ich musste ihn nur noch in das Schlüsselloch stecken.

„Wohin willst du?“

Überrascht wirbelte ich herum und entdeckte niemand anderes als Diego, der mir den Händen in den Hosentaschen am Baum lehnte und mir wachsam entgegen sah.

Zum ersten Mal registrierte ich, dass auch er nicht unbeschadet aus der Schlägerei hervorgegangen war. An den Armen und im Gesicht hatte er mehrere Blutergüsse, aber er sah bei weitem nicht so schlimm aus, wie die Brüder. Nicht mal im Ansatz.

„Was machst du hier?“, fragte ich, anstatt ihm eine Antwort zu geben. „Eigentlich dachte ich, dass ich mich vorhin deutlich ausgedrückt hätte.“

„Ja, sehr deutlich sogar.“ Sein Blick wirkte traurig.

Das ließ mich völlig kalt und das ließ ich ihn deutlich durch meine Haltung spüren. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Du meine auch nicht“, witzelte er und versuchte damit die Stimmung ein bisschen anzuheben, aber da biss er bei mit auf Granit. „Und, gibst du mir jetzt auch eine Antwort?“

„Nein.“ Ich wandte mich wieder dem kleinen Tor zu und wollte es gerade aufschließen, als Diego über mich hinweg griff und mir den Schlüssel samt Anhänger aus der Hand riss. „Hey!“, protestierte ich und versuchte ihn mir zurück zuschnappen, aber er wich einfach einen Schritt vor mir zurück.

„Das kann ich nicht zulassen.“

„Was kannst du nicht zulassen? Du weißt doch gar nicht, was ich vorhabe.“

„Du willst zu den Jungs.“ Seine Hände spielten mit dem Schlüssel herum.

Stur wie ich war, gab ich es natürlich nicht zu. „Nein will ich nicht.“

Wissend schaute er mir entgegen. Ich gab es nicht gerne zu, aber er kannte mich halt doch ziemlich gut.

„Selbst wenn“, räumte ich ein, „was geht es dich an. Wir sind keine Freunde mehr, schon vergessen?“

Er seufzte gequält. Die ganze Situation nahm ihn doch ziemlich mit. „Ich wollte nicht, dass es so kommt. Können wir die ganze Sache nicht einfach vergessen? Hm?“ Hoffnungsvoll sah er mich an. „Beste Freunde, weißt du noch? Wir lassen Nichts und Niemanden zwischen uns kommen.“

Ja, das wusste ich noch. Das war ein Schwur, den wir drei abgelegt hatten, als Victoria mal wieder einen auf Hausdrachen gemacht hatte. „Niemand von außen konnte zwischen uns kommen“, sagte ich kalt. „Aber von Innen konnte unsere Freundschaft zerstört werden.“

Das letzte bisschen Hoffnung verschwand aus seinem Blick und das zu sehen, tat mir weh. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Nicht ich war es gewesen, die alles zugrunde gerichtet hatte, das hatte er alleine zu verantworten.

„Du solltest jetzt gehen. Ich will dich hier nicht mehr sehen.“

Eine endlose Minute geschah rein gar nichts. Dann presste er die Lippen zusammen und gab mir wortlos meinen Schlüssel zurück. Er sah mich nicht an, als er sich abwendete und mit hängenden Schultern zum Haus ging. Ihn so zu sehen schmerze mehr, als ich mir eingestehen wollte, aber ich würde nicht zurückrudern. Ich war im Recht und ich wollte den ganzen Mist nicht mehr.

Auch ich wandte mich ab, aber als ich meine Hand öffnete, lag darin kein Schlüssel, sondern nur der Anhänger mit der schwarzen Katze. Einen Moment schaute ich sie einfach nur an, dann ballte sie meine Hand zur Faust und schleuderte den Anhänger wütend hinaus auf die Straße.

Erst heute morgen hatte er mir versprochen, mich nie wieder zu beklauen, aber kaum tat ich etwas, dass er nicht wollte, war dieses Versprechen nicht mal mehr den Dreck unter seinen Fingernägeln wert!

Ich bebte vor Wut, als ich herumwirbelte und den Garten durchquerte. Die Mühe das Spalier hochzuklettern, ersparte ich mir und stampfte direkt ins Haus. Ich würde ihn den Kopf abreißen. Ich würde …

Als ich ihn zusammen mit Victoria in der Küche entdeckte, wo er ihr gerade dabei half die Essensreste vom Boden zu kratzen, wurde mir ein neuerlicher Verrat bewusst. Das Gelände war hermetisch abgeriegelt gewesen. Um hinein zu kommen, musste Victoria ihm die Tür geöffnet haben. Und dann hatte er am Hintertor gelauert, als wüsste er, dass ich mich auf diesem Weg aus dem Staub machen würde, sobald ich bemerkte, dass meine Schlüsselkarte nicht mehr funktionierte. Er hatte schon wieder mit ihr gemeinsame Sache gemacht.

Als er aufschaute, funkelte ich ihn mit eiskalter Wut an. „Ich hasse dich“, sagte ich gerade laut genug, dass er es hören konnte.

Dieses Mal berührte sein Kummer mich nicht. Ich wandte mich einfach ab und verschwand nach oben in mein Zimmer. Von mir aus konnte er tot umfallen. Vor mir aus konnten sie beide tot umfallen. Ich glaubte nicht in meinem Leben schon mal so wütend auf jemanden gewesen zu sein, aber dieser Verrat schmerzte so sehr, dass es dem sehr nahe kam.

Den Rest des Tages kam ich nicht mehr heraus und am nächsten Morgen auch nur, weil ich zur Uni musste. Nicht das mein Interesse heute dem Lehrinstitut galt, aber es bedeutete, das Victoria mich hinauslassen musste. Leider waren meine verdammten Aufpasser nicht so dumm wie sie aussahen, denn kaum dass ich auf die Straße trat, stand Lucy auch schon vor mir.

Ich ignorierte sie und sie versuchte auch nicht ein Gespräch mit mir zu beginnen. Erst als sie merkte, dass ich nicht zum Bus, sondern zur U-Bahn ging, fragte sie mich, wo ich denn eigentlich hinwollte. Auch das ignorierte ich. Ich würde ihr mit Sicherheit nicht unter die Nase reiben, dass ich nach Ryder und Tyrone sehen wollte.

Auf dem Bahnhof stieg ich in den ersten Zug, der einfuhr. Natürlich folgte Lucy mir. Nur Pech für sie, dass ich kein Interesse daran hatte, sie mitzunehmen. Ich stand direkt an der Tür und wartete bis das Warnsingmal für die sich schließenden Türen ertönte. Und dann im letzten Moment, als die Türen schon fast geschlossen waren, schlüpfte ich schnell wieder hinaus.

Lucy versuchte noch mir zu folgen, doch sie war einen Tick zu langsam und so fuhr der Zug an und nahm sie gegen ihren Willen einfach mit.

Da mir bewusst war, dass sie mit der nächsten Bahn sofort wieder umkehren würde, um mir den Arsch aufzureißen, sprang ich in den nächsten einfahrenden Zug, auch wenn es die falsche Richtung war. Ich fuhr auch nur ein paar Stationen mit, bevor ich in die richtige Richtung wechselte.

Mein Ziel war die Innenstadt. Ich wusste zwar nicht genau, wo die Brüder wohnten, da ich nicht auf den Straßennamen geachtet hatte, aber ich erinnerte mich an eine U-Bahnstation, die ich vom Motorrad gesehen hatte. Die war mein Ziel.

Fast eine Stunde verging, bis der Fahrplan verkündete, dass ich meine Station erreicht hatte und ich das ratternde Fahrzeug verließ. Doch leider litt ich sehr oft an Orientierungslosigkeit und lief so erst mal in die völlig verkehrte Richtung. Bis ich das bemerkte, war ich schon fast eine halbe Stunde unterwegs. Also nahm ich einen Bus und fuhr zurück an meinen Ausgangspunkt. Dieses Mal stellte ich mich schlauer an und fragte mich durch.

Meine Anhaltspunkte waren die Burgerbude und die Videothek.

Die ersten die ich fragte – eine Gruppe von Jugendlichen, die um diese Zeit eigentlich im Unterricht sitzen sollte – konnten mir nicht helfen, weil sie sich in der Gegend nicht auskannten. Die zweite Person, ein Papi, der mit seinem Baby im Kinderwagen in der Babysprache sprach, wusste genau welchen Straße ich meinte und erklärte mir den Weg.

Es war eigentlich nur um die Ecke. Hätte ich gleich gefragt, hätte ich den Rundgang durch die halbe Stadt ersparen können. Das war wieder so typisch für mich. Aber wenigsten wusste ich nun wohin ich musste.

Sobald ich in die Straße einbog, wusste ich genau wo ich war. Ich hielt zielstrebig auf das alte Hochhaus zu, doch als ich die Haustür erreichte, brach die Enttäuschung über mich zusammen. Hier wohnte niemand mit dem Nachnamen Randal. War ich auch am richtigen Haus? Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher und klapperte auch noch die Türen daneben ab, aber auf keinem Klingelschild fand ich die gesuchten Namen.

Hilflos sah ich die Straße rauf und runter, in der Hoffnung, irgendwo vielleicht zwei Motorräder zu entdecken, aber auch da Fehlanzeige.

Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich mich in der richtigen Straße befand und auch, dass die erste Tür vor der ich gestanden hatte, die war, die ich vor drei Tagen durchschritten hatte.

Ich versuchte es noch mal dort. Sie waren ja noch nicht so lange in der Stadt, vielleicht hatte man die Namensschilder noch nicht angebracht. Das war die einzige Chance, die ich noch hatte.

Mit meiner ganzen Hand betätigte ich das Klingelbrett und wartete auf das Summen. Irgendwer würde mich schon einlassen. Zwei Sekunden später drückte ich gegen die Tür. Ich rief ein lautes „Werbung“ damit mich niemand weiter beachtete und machte mich dann auf den Aufstieg in die siebente Etage.

Ich wusste nicht was es war, vielleicht das Adrenalin, oder die Erwartung, aber heute strengte mich das Treppensteigen nicht so an, wie das erste Mal. Doch kaum dass ich oben war, erwartete mich die nächste Enttäuschung. Nicht nur, dass auf dem Klingelschild an der Tür kein Name stand, es machte auch trotz vielem Klingeln und Klopfen niemand auf. Klar, die Möglichkeit bestand, dass ich mich wirklich im Haus geirrt hatte, aber das glaubte ich nicht.

Genau wie gestern musste ich plötzlich wieder an Yannick denken. An dem einen Tag war noch alles in Ordnung gewesen und am nächsten hatte er sich mit seiner ganzen Familie einfach in Luft aufgelöst.

Nein, diese Geschichte würde sich nicht wiederholen. Ich schüttelte den Kopf, um diesen albernen Gedanken aus meinem Hirn zu bekommen. Es war nicht wie vor zwei Jahren, es war eine völlig andere Geschichte.

Zwei Mal musste ich mir das sagen. Dann zog ich meinen Block und einen Stift aus meiner Tasche. Es war gut Möglich, dass sie einfach nur unterwegs waren. Wenn ich ihnen eine Nachricht hinterließ, dann würden sie sich schon bei mir melden.

Ich schrieb meine Nummer und eine kurze Nachricht auf die oberste Seite, riss sie dann aus meinem Block und schob ihnen den Zettel unter der Tür durch. Sobald sie nach Hause kamen, würden sie gezwungenermaßen darüber stolpern.

Sobald das erledigt war, machte ich mich auf an den Ort, wo ich eigentlich schon längst hätte sein sollen: Die Uni. Ja, das mit den Brüdern war mir wichtiger, aber das Semester wollte ich deswegen nicht unbedingt verkacken.

Als ich ankam, war der zweit Kurs des Tages fast beendet und dann musste ich erstmal eine Stunde vertrödeln, bis der Dritte und letzte für diesen Tag begann. Die verbrachte ich mit Julian und Gideon, aber meine Gedanken blieben bei Tyrone und Ryder, hauptsächlich bei Ryder, wie ich mir nach einer Weile eingestehen musste.

So oft es mir möglich war, kontrollierte ich mein Handy, aber als ich mich nach dem letzten Kurs auf den Weg nach Hause machte, einfach weil ich nicht wusste wohin ich sonst gehen sollte, hatte es noch immer keinen Ton von sich gegeben.

Den Nachmittag verbrachte ich allein auf meinem Zimmer und wurde mir sehr bewusst darüber, wie einsam es ohne Freunde sein konnte. Mit der Zeit entwickelte ich eine solche Langeweile, dass ich freiwillig damit anfing für die Abschlussprüfung zu lernen, nur um etwas zu tun zu haben, während ich alle zwei Minuten auf mein Handy schielte. Einmal rief ich mich sogar selber an, nur um sicher zu gehen, ob alles richtig funktionierte und nachdem alle Vitalfunktionen überprüft waren, konnte ich wieder nur warten.

Als dann jedoch die Nacht über die Stadt hereinbrach und ein zunehmender Mond am Himmel emporkletterte, gab ich auf. Sie würden nicht anrufen. Es war genau wie damals. Eben waren sie noch da und dann nicht mehr. „Das Ganze noch einmal von vorne bitte“, seufzte ich und wollte gerade mein Fenster schließen, als aus dem Baum davor, Elvis mit einem Hechtsprung darauf landete. Das machte er öfter. Die ersten Male hatte er mich damit fast zu Tode erschrocken, aber in der Zwischenzeit wusste ich, dass er das nur zu gerne tat. Manchmal glaubte ich, dass er mich von der alten Baumhausplattform aus beobachte und nur darauf wartete, dass ich das Fenster schloss, um noch im letzten Moment hineinzuschlüpfen.

Ich wartete, bis der Herr es sich bereit erklärte, seinen kleinen Hintern, vom Fensterbrett in mein Zimmer zu bequemen.

„Mau.“

„Ja, du bist ein ganz toller“, lobte ich ihn und schloss das Fenster.

Er stolzierte sofort zu dem kleinen Napf, der immer neben meiner Zimmertür gefüllt auf ihn wartete und schlug sich genüsslich den Magen voll.

Für einen Moment beobachtete ich ihn, verschwand dann aber für eine Abendwäsche im Bad. So konnte ich mir wenigstens ein wenig von dem ganzen Stress des Tages vom Körper abspülen.

Als ich wieder heraus kam, lag Elvis schon in meinem Bett und wartete ungeduldig darauf, dass ich mich endlich zu ihm bequemte, um ihm seine abendlichen Streicheleinheiten zu geben. „Nur noch einen Moment.“

„Mau.“

„Keine Angst, dauert nicht lange.“ Ich suchte mir einen frischen Schlafanzug aus dem Schrank und krabbelte dann unter meine Decke.

Als ich Elvis unter meiner Hand schnurren hörte, wanderten meine Gedanken schon ganz automatisch zu Tyrone und Ryder.

Es waren nun fast zwei Tage vergangen, seit sie verschwunden waren. Was sie wohl gerade taten? Ob sie überhaupt einen Gedanken an mich verschwendeten? Ich seufzte schwer. Ich vermisste die beiden. Ich vermisste Diego und Lucy und ich hasste es allein zu sein.

Das ganze war doch einfach nur noch scheiße.

Meinen Gedanken nachhängend, ließ ich meine Finger in Elvis' Nacken wandern und … stutzte. Da hing doch irgendwas an seinem Halsband.

Über Elvis hinweg schaltete ich meine Nachttischlampe ein und griff dann erneut nach meinem Fund. Elvis ließ sich davon nicht stören. Geduldig ließ er es zu, dass ich unter seinem langen Fell an dem Halsband hantierte. Tja, es gab fast nichts, was diesen Kater aus der Ruhe bringen konnte, na ja, zumindest nicht in meiner Gegenwart.

Irgendwo unter dem Fell, fand ich das Halsband und auch das, was dort befestigt war. Ein kleiner Zettel. Verwundert und mit ein wenig Gefummel, löste ich den Knoten in der Schnur, der den Zettel an dem Halsband hielt und rollte ihn auseinander. Ich hatte es noch nie erlebt, dass außer mir jemand nahe genug an ihn herangekommen war, um sein Halsband überhaupt berühren zu können. Doch als ich die wenigen Worte lass, musste ich meine Gedanken revidieren. Ich hatte es fast nie erlebt. Nur ein Einziges Mal, hatte der sture Kater sich außerhalb seiner Bahnen bewegt.

Ich lass die Zeilen zwei Mal. Wir sehen uns wieder, Prinzessin. Es gab gar keinen Zweifel, die Nachricht konnte nur von Ryder stammen. Nur er nannte mich Prinzessin und nur ihn würde Elvis soweit an sich heran lassen.

Einerseits enttäuscht, über die nur wenigen Worte, machte sich gleichzeitig ein Hochgefühl in mir breit. Ja, er kam nicht mehr in die Uni und ja, er war seltsamerweise einfach verschwunden, aber er hatte mit einen Brief geschickt. Wir würden uns wieder sehen.

Mit einem Lächeln im Gesicht schlief ich ein und mit einem Lächeln im Gesicht, erwachte ich auch wieder. Ich lächelte, während ich unter Victorias misstrauischen Blick mein Frühstück aß und auch, als ich mit Lucy in meinem Schatten in die Uni fuhr. Selbst als ich später wieder nach Hause fuhr und mich Abends ins Bett legte, lächelte ich noch. Doch dann verging ein weiterer Tag. Und noch einer. Und je mehr es wurden, desto kleiner wurde dieses Lächeln.

Trotzdem versuchte ich einfach weiter zu machen. Ryder hatte es schließlich versprochen, wir würden uns wiedersehen. Aber in den Alltag zurückzufinden, fiel mir auf einmal unheimlich schwer, denn ihm fehlte etwas. Nein, nicht die Brüder – obwohl ich die auch vermisste. Es waren Lucy und Diego die mir fehlten und jedes Mal wenn ich das dachte, wurde ich auf mich selber wütend. Auch um Victoria machte ich einen weiten Bogen, einfach weil ich das Bedürfnis verspürte, ihr den Hals umzudrehen, sobald sie mir unter die Nase trat.

Die meiste Zeit hing ich mit Julian und Gideon herum und ging am Donnerstagabend sogar mit ihnen aus, um meine Schulden bei Julian zu begleichen, aber es war nicht das gleiche wie mit Lucy und Diego. Oder mir den Brüdern. Ich vermisste sie fürchterlich, aber ich schaffte es einfach nicht ihnen zu verzeihen. Sie hatten mich auf eine Art betrogen, die es mir einfach unmöglich machte.

Das Wochenende kam und ging wieder vorbei. Langsam begann ich daran zu zweifel, dass die Worte an Elvis' Halsband mehr waren, als eben genau das: Nur Worte. Ich sah sie nicht, bekam keinen Anruf, ja nicht einmal eine blöde Brieftaube. Sie blieben einfach ohne jede Erklärung verschwunden. Mein Handy schwieg beständig.

Ein neuer Montag brach an. Noch knapp zwei Wochen bis zu den Abschlussprüfungen. Alle arbeiteten fieberhaft daraufhin. Danach würden die Semesterferien beginnen. Mein Enthusiasmus hielt sich in Grenzen, einfach weil es außer Elvis niemanden gab, mit dem ich sie verbringen konnte. Dabei hatten wir ursprünglich geplant gehabt, in den Ferien mit Diegos Auto eine Tour durchs Land zu machen. Tja, das hatte sich dann wohl auch erledigt.

Ich wehrte mich dagegen – sogar mit Händen und Füßen – doch mit jedem weiteren Tag vermisste ich Diego und Lucy mehr. Aber ich schaffte es einfach nicht über meinen Schatten zu springen. Das konnte ich nicht, das war zu viel verlangt.

Meine Laune sank auf einen neuen Tiefpunkt herab.

Als ich am Freitag nach der Uni nach Hause kam, suchte ich als erstes den Garten nach Elvis ab. In mir schwelte noch immer die kleine Hoffnung, vielleicht erneut einen Zettel an seinem Halsband zu finden, aber natürlich war dieser Kater mal wieder abgetaucht. Das der auch immer so eigensinnig sein musste.

Niedergeschlagen trat ich ins Haus, doch sobald ich die Tür geöffnet hatte und die Koffer im Flur bemerkte, verflogen alle düsteren Gedanken. Die Brüder waren vergessen, meine ehemals besten Freunde waren vergessen und auch die Abschlussspürfugen waren plötzlich ohne jede Bedeutung, denn ich kannte diese Koffer. Meine Mutter war zu Hause!

Ohne einen Augenblick zu zögern, eilte ich auf der Suche nach ihr durchs Haus und da war sie, meine Mutter Celine Amarok. Zusammen mit Victoria saß sie auf den Barhockern an der Kücheninsel und unterhielt sich bei einer Tasse Kaffee.

„Mama!“ Ob ich sie nun störte oder nicht, interessierte mich nicht. Ich stürmte zu ihr und noch bevor sie sich auf dem Barhocker an der Kochinsel zu mir umdrehen konnte, fiel ich ihr um den Hals.

„Hoppla“, sagte sie und hielt sich eilig an der Arbeitsfläche fest um nicht vom Barhocker zu fliegen. „Nicht so stürmisch, du reißt mich ja noch um.“

Das war mir eigentlich ziemlich egal. Ich freute mich einfach so, sie endlich wieder zu Hause zu haben. Das letzte Mal dass ich sie gesehen hatte, war jetzt auch schon wieder fast vier Wochen her. Das war nicht ungewöhnlich, aber doch ziemlich belastend. Vielleicht erschienen mir die Tage, an denen sie dann doch mal zu Hause war, deswegen so fiel heller und farbenfroher.

Mit einem fetten Grinsen im Gesicht, löste ich mir wieder von ihr und musterte sie einmal von oben bis unten. Sie hatte sich kein bisschen verändert.

Schon seit meinem Wachstumsschub in der achten Klasse war sie ein wenig kleiner als ich. Ihr karamellbraunes Haar war genauso lang wie meines – das ich eine Blondine war, verdanke ich den Genen meines Vater – und von der Figur her, konnten wir fast als Zwillinge durchgehen.

Auch sie musterte mich und schien meinen Anblick nur so in sich hineinzusaugen. „Mein Gott, jedes Mal wenn ich nach Hause komme, ist mein kleines Mädchen größer.“

„Ich wachse schon seit ein paar Jahren nicht mehr“, erinnerte ich sie und funkelte sie dann vorwurfsvoll an. „Warum hat mir keiner gesagt, dass du heute nach Hause kommst?“

„Weil es keiner wusste“, erwiderte sie schlicht. „Ich konnte mich früher frei machen und wollte euch überraschen.“

„Das ist dir definitiv gelungen.“

Sie lächelte noch einen Moment, versuchte dann aber ernst zu werden. Es gelang ihr nur mit mäßigem Erfolg. „Wir beide werden ein paar ernste Worte wechseln müssen.“

Ich schielte kurz zu Victoria. „Mein Kerkermeister hat mich wohl schon verpetzt.“

„So würde ich es nicht ausdrücken, aber ja. Sie hat mir erzählt, was du die letzten Wochen so getrieben hast.“

Nicht mal die Aussicht auf eine anstehende Moralpredigten von meiner Mutter – die wie ich zugeben musste, wesentlich wirksamer war, als die von Victoria – konnte meine Laune zum Absturz bringen. „Okay, ich bin ganz Ohr.“

„Nicht jetzt, später. Jetzt erst mal etwas anderes.“ Sie griff nach der Handtasche auf der Anrichte und zog nach kurzem Suchen ein kleines, mit schwarzem Samt bezogen, Etui heraus. Es war nicht Neues, dass sie von ihren Arbeitsreisen kleine Dinge für mich mitbrachte. Ich hatte den starken Verdacht, dass sie damit ihre lange Abwesenheit entschuldigen wollte. Das minderte die Freude darüber aber nicht, zeigte es mir doch, dass sie an mich dachte. „Ich habe es gesehen und mir gedacht, es könnte dir gefallen“, sagte sie und hielt es mir hin.

„Oh mein Gott, was ist das?“ Gespannt nahm ich das kleine Etui entgegen und klappte langsam den Deckel nach oben. Darin, gebettet auf einem kleinen Seidenkissen, glänzte ein silbernes Bettelarmband mit sieben verschieden Anhängern. Alles Katzen in verschiedenen Posen. Eine davon hatte sogar verdammte Ähnlichkeit mit Elvis.

„Ich dachte mir, das wäre das Richtige für dich“, lächelte sie. Ihr musste der Ausdruck in meinem Gesicht wohl aufgefallen sein.

„Machst du Witze? Das ist nicht das Richtige, das ist einfach nur perfekt!“

„Ich schätze, das kann ich als Lob auffassen.“

„Auf jeden Fall!“, stimmte ich ihr zu und pflückte das Bettelarmband vorsichtig von einem Kissen. Die kleinen Anhänger klimperten gegeneinander. „Kannst du mir mal helfen es umzumachen?“

Konnte sie. Danach musste ich sie einfach noch mal umarmen.

Erst als Victoria mit den Fingernägeln auf die Arbeitsfläche trommelte und verkündete, sie würde jetzt mit dem Kochen fürs Abendessen beginnen, lösten wir beide uns wieder voneinander.

Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen hatte ich so richtig gute Laune. So gute, dass ich Victoria sogar dabei half das Abendessen vorzubereiten.

Ich machte einen Salat und kramte das gute Geschirr aus der Vitrine im Esszimmer. Heute Abend würden wir feiern. Okay, nicht so richtig, aber es wurde schon mehr Aufwand betrieben, als an anderen Tagen.

Das war ein Ritual bei uns. Immer wenn meine Mutter nach einer langen Reise wieder nach Hause kam, machten wir ein besonders großes Abendessen, bei dem wir bis spät in die Nacht zusammensaßen und einfach nur quatschten. Es würde grandios werden.

Ich kippte gerade die Soße von Victoria in die Sauciere um, als es an der Tür klingelte. Verwundert hob ich den Kopf. „Wer kommt den jetzt noch?“

Victoria war gerade mit den letzten Feinabstimmungen ihres Bratens beschäftigt, als sie mir antwortete. „Deine Mutter hat noch Besuch eingeladen.“

„Besuch?“ Das war mal was Neues. Sonst blieben wie an diesen Abenden immer unter uns. Vielleicht war das ein bisschen egoistisch von mir, aber an Abenden wie diesen, wollte ich sie mit niemand teilen und erst recht nicht mit irgendwelchem Besuch.

Leicht verstimmt stellte ich den Topf ab und lugte aus der Küche in den Flur, um zu erfahren, wer so dreist war, uns ausgerechnet heute zu stören. So sah ich gerade noch einen roten Haarschopf im Esszimmer verschwinden. Damit erfuhr ich alles, was ich wissen musste. „Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein!“, knurrte ich und stand einen Moment später bereits im Türrahmen zum Esszimmer, in der Hoffnung, mich getäuscht zu haben. Leider hatte ich das nicht. Der rote Schopf gehörte Lucy. Und sie war auch nicht alleine gekommen, Diego stand direkt neben ihr und sprach mit meiner Mutter.

Damit rauschte meine Laune vom lichtdurchfluteten Penthouse wie ein abstürzender Fahrstuhl hinunter modrigen Keller. „Raus!“, donnerte ich und unterbrach damit das Gespräch. „Ihr habt hier nichts mehr verloren!“

Alle drei wandten sich zu mir um.

Lucy schaute mich auf auf diese herausfordernde Art an, wie nur sie es konnte. „Wir wurden von deiner Mutter eingeladen.“

„Mir doch egal. Und wenn der Papst persönlich euch eine Einladung vorgesungen hätte, ihr seid hier nicht mehr willkommen.“

„Wir sind hier immer willkommen, schon vergessen?“ Sie hob ihre Hand und drehte demonstrativ den kleinen goldenen Ring mit dem chinesischen Zeichen. „Wir sind Freunde.“

Wütend funkelte ich sie an. „Freunde beklauen einander nicht.“

Wenigstens hatte sie den Anstand ein wenig beschämt auszusehen, nicht so Diego. Der war nur noch ein Häufchen Elend. Das ich ihm die Freundschaft gekündigt hatte, schien ihn wirklich schwer getroffen zu haben.

„Cayenne Bitte“, ergriff meine Mutter das Wort. „Das sollte doch ein netter Abend werden.“

„Kann es auch noch. Wirf die beiden raus und wir haben den besten Abend aller Zeiten.“

„Ich möchte die beiden aber gerne dabei haben.“ Sie sah mich mir sehr eindringlich in die Augen. „Kannst du nicht über eure Streitigkeiten hinwegsehen?“

Das war nicht fair. Meine Mutter wusste genau, dass ich ihr nichts abschlagen konnte, besonders nicht, nachdem sie mal wieder so lange weg gewesen war und ich mich einfach nur freute, sie wieder hier zu haben. „Du weißt nicht was sie getan haben.“

„Doch das weiß ich. Sie haben dir etwas weggenommen, das dir sehr viel bedeutet hat, aber es tut ihnen Leid. Sie sind doch deine besten Freunde. Kannst du nicht mir zuliebe einen Abend mit ihnen verbringen?“

Sie wusste genau, dass ich das konnte und auch dass ich es tun würde, wenn sie mich so darum bat.

„Ich hoffe ihr seid zufrieden“, giftete ich meine Ex-Besten Freunde an. „Zuerst ruiniert ihr unsere Freundschaft, dann verschwinden wegen eurer Überreaktion Ryder und Tyrone und jetzt macht ihr mir auch noch meine Familie streitig. Echt, tolle Leistung, ihr könnt stolz auf euch sein!“ Ich drehte mich um und stampfte verstimmt zurück in die Küche. Nur zu gerne wäre ich stattdessen in meinem Zimmer verschwunden, aber ich wollte diesen Abend, ich brauchte ihn. Meine Mutter war so selten zu Hause, dass ich mir die wenige Zeit mit ihr nicht nehmen lassen wollte, auch wenn das bedeutete, dass ich mit Diego und Lucy an einem Tisch sitzen musste.

Es gab ja zum Glück immer noch die Möglichkeit, sie zu ignorieren und die würde ich wahrnehmen.

Ich half Victoria noch den Tisch fertig zu decken und ließ mich dann auf dem freien Platz neben meiner Mutter nieder. Leider lag der aber auch neben Diego. Und so lange ich den Blick nicht hob, würde ich Lucy nicht sehen müssen.

Victoria stellte noch eine Schale mit gebutterten Zwergkartoffeln zu den anderen Speisen und nahm dann neben Lucy platz.

Wir waren alle noch kräftig dabei, unsere Teller zu beladen, als meine Mutter auch schon wissen wollte, was ich die letzten Wochen so getrieben hatte. Und ich erzählte ihr wirklich alles.

Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, oder auch mal wieder einen ihrer erzieherischen Einfälle hatte, wünschte ich sie nicht selten zum Mond, aber ich hatte niemals Geheimnisse vor ihr. Ehrlichkeit war etwas, dass mir schon immer wichtig gewesen war und ich hasste es wie die Pest belogen zu werden. Und darum hielt ich auch nichts vor ihr zurück.

Ich erzählte ihr von den Tagen an der Uni und dem letzten Besuch im Small Break und auch von Tyrone und Ryder. Ich schilderte ihr den Tag auf der Wiese und wie sie mir ein paar Griffe der Selbstverteidigung gezeigt hatten. Auch das Wochenende bei ihnen und Victorias völlig überzogener Reaktion hielt ich nicht zurück. Genauso wenig wie die Schlägerei und den Bruch mit meinen ehemals besten Freunden. Das Lucy und Diego mich dabei hören konnten, war mir völlig egal.

Gerade als ich darauf zu sprechen kam, wie ich versucht hatte die Brüder zu erreichen, schmiss Lucy eine, nach meinem Geschmack, völlig überflüssige Bemerkung in den Raum.

„Schade dass du bei deiner ganzen Heiligsprechung vergisst zu erwähnen, dass die Typen auch Mädchen schlagen.“ Sie spießte eine Bohne auf und steckte sie sich in den Mund.

Sehr langsam drehte ich den Kopf zu ihr herum. „Ich habe keinen Schimmer, wovon du redest.“

Beim Kauen tippte sie mit dem Finger gegen ihre Lippe, wo noch ein Hauch von ihrer Platzwunde zu erkennen war. „Das passiert, wenn du ihnen in die Quere kommst.“

Das hatte sie bereits beim Dekan behauptet. „Hast du einen Beweis für diese Anschuldigung?“

„Mindestens zwei Dutzend Zeugen, die es gesehen haben.“

Ich war mir nicht sicher, ob sie log. Ich hatte nicht mitbekommen, wie die Verletzung zustande gekommen war. Aber trotzdem. „Das glaub ich dir nicht.“

„Natürlich tust du das nicht“, sagte sie bissig und häufte sich eine weitere Kelle Zwergkartoffeln auf den Teller. „Du glaubst mir zurzeit ja sowieso kein Wort. Nicht mehr seit diese Affen aufgetaucht sind.“

„Ich glaube dir nicht, weil ich keine Lügen glaube“, zischte ich sie über den Tisch hinweg an. Was sie sagte, konnte einfach nicht stimmen.

„Ich lüge nicht“, zischte sie zurück.

Langsam gingen mir die Argumente aus, aber ich würde den Teufel tun und von meiner Meinung abweichen. „Wenn du nicht lügst, hast du eine sehr verdrehte Wahrnehmung der Realität, denn keiner von den beiden würde ein Mädchen schlagen – nicht mal dich.“ Nein, den letzten Teil konnte ich mir nicht verkneifen.

Lucy schnaubte und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie verschränkte die Arme, sodass ihr nur noch eine weiße Katze fehlte, um als Gangsterboss durchzugehen. „Woher willst du das wissen? Du warst doch gerade mit dem Zopfbubi beschäftigt gewesen, als es passiert ist.“

„Sein Name ist Ryder.“ Und das wusste sie ganz genau. Das machte sie mit Absicht. Sie wollte mich zur Weißglut treiben und wenn sie damit nicht bald aufhörte, würde es hier heute noch krachen.

Bevor Lucy darauf etwas erwidern konnte, gab meine Mutter das Zeichen für eine Auszeit. „Okay, bevor ihr beide euch noch gegenseitig die Augen auskratzt, erzähl doch einfach mal, wie diese Platzwunde zustande gekommen ist.“

„Der andere, der Blondschopf hat mir ins Gesicht geschlagen.“

Das reichte, mir platze der Kragen. Diese Anschuldigungen wollte ich mir nicht länger anhören müssen. „So was würde Tyrone nicht tun!“

Lucy blieb völlig cool. „Er würde nicht nur, er hat es getan.“

„Ach ja?“, knurrte ich sie an. „Und warum bitte sollte er das tun?“

„Weil ich ihn von Diego weggezogen habe.“

„Okay Mädchen. Jetzt beruhigt euch beide erst mal wieder und dann ganz von vorne“, versuchte meine Mutter erneut zwischen uns zu schlichten. „Was genau ist denn passiert?“

Was sie dann sagte, war direkt an mich gerichtet. „Dieser Pferdeschwanztyp, dieser Ryder hat Cayenne aus der Schlägerei gezogen, währenddessen hab ich versucht, diesen Tyrone von Diego wegzuziehen, da hat er mir ins Gesicht geschlagen.“

Ich erinnerte mich nicht mehr genau an diesen Moment, nur dass es kurz vor Ende gewesen sein musste, aber an eins erinnerte ich mich nur zu gut. „An seiner Stelle hätte ich das auch getan.“

Victoria fiel die Gabel aus der Hand. „Cayenne!“ In diesem einen Wort schwang ihre ganze Empörung mit.

„Was? Ist doch klar, dass er das getan hat. Diego war ihm überlegen – ihnen beiden – und obwohl sie schon am Boden lagen, hat dieser Scheißkerl immer wieder zugeschlagen. Und Lucy fand das toll, sie wollte das sogar, das hat sie mir selber gesagt.“ Nicht mit Worten, aber sie hat es durchblicken lassen. „Was glaubt ihr, was passiert wäre, wenn sie Tyrone festgehalten hätte?“ Ich sah Diego an, zum ersten Mal seit ich mit ihm am Tisch saß und er sah immer noch wie ein Häufchen Elend aus. Die Lippen fest aufeinander gepresst, starrte er seinen Teller an, den er kaum angerührt hatte. „Du hättest die Gelegenheit genutzt und ihn zu Brei geschlagen. Das konnte er nicht zulassen. Also hat er sich von Lucy frei gemacht um sich zu verteidigen.“

„Er hat mir die Lippe blutig geschlagen und du stellst dich immer noch auf seine Seite?“ Lucys Entrüstung war geradezu mit Händen zu greifen.

„Natürlich, sonst tut es ja keiner. Ihr hackt alle nur auf ihnen herum und haltet Hetzreden gegen sie. Sie sind neu in der Stadt und suchen nur Anschluss, aber außer mir gibt ihnen keiner eine richtige Chance.“

„Oh, deswegen spielst du neuerdings den großherzigen Samariter“, höhnte sie.

„Ich bin kein großherziger Samariter, ich kenne sie einfach nur.“

Lucys Hände klatschten auf den Tisch. „Einen Dreck kennst du! Du weiß gar nicht wer sie wirklich sind, du lässt dich einfach nur von ihnen blenden.“ Wütend funkelte sie mich an, aber ich konnte genauso wütend zurückfunkeln.

„Ich lasse mich nicht …“

„Okay, das reicht jetzt“, unterbrach meine Mutter uns, mit einer Stimme, die dafür sorgte, dass uns jegliche Widerworte im Hals stecken blieben. „Ich kann eure beiden Standpunkte verstehen, aber soviel ich weiß, sind die beiden Herren weg. Warum also streitet ihr euch noch darüber? Ihr solltet das ganze unter Erfahrung verbuchen und versuchen zur Normalität zurückzukehren.“

Ich senkte meine Augen und verfiel in Schweigen. Klar dass sie das alle dachten, aber das stimmte nicht.

„Was Cayenne?“, fragte meine Mutter auch sofort. Sie war ein derart aufmerksamer Mensch, dass es teilweise schon unheimlich war.

Gut, wenn ich es ihnen sagen sollte, dann schon richtig. Ich strafte die Schultern, und lächelte Lucy frech ins Gesicht. „Sie sind nicht weg.“

Das hatte gesessen. Lucy klappte die Kinnlade herunter, Diego riss seinen Kopf so schnell zu mir herum, dass ich schon erwartete, ein lautes Knacken zu hören und Victoria fiel abermals die Gabel aus der Hand. Nur meine Mutter blieb wie immer ganz ruhig.

„Was meinst du damit?“, wollte sie wissen. „Hast du sie in den letzten Tagen gesehen?“

„Nein“, musste ich zugeben. „Aber sie haben versprochen, dass wir uns wieder sehen.“

„Sie haben es versprochen? Hast du nicht gerade noch gesagt, dass du seit deinem Besuch beim Dekan nichts mehr von ihnen gehört hast?“

„Hab ich auch nicht.“

Auf ihrer Stirn erschien eine kleine Falte. „Das musst du mir mal näher erklären.“

Oh, das tat ich liebend gerne, allein schon, um Lucys Gesichtsausdruck zu sehen. „Ryder hat eine Nachricht an Elvis Halsband festgebunden.“

„Hmpf!“, machte Lucy. „Das hat er sich ja toll ausgedacht.“

„Ja“, stimmte ich ihr zu, ohne auf den sarkastischen Ton in ihrer Stimme einzugehen. „Das finde ich auch. Da Elvis niemanden außer mir an sich heran lässt, war das sogar eine ausgezeichnete Idee.“

Es war wunderbar mit anzusehen, wie Lucys Gesicht vor Wut rot anlief. Das hatte sie nun davon, dass sie versucht hatte mich zu provozieren.

„Ich muss zugeben“, sagte meine Mutter nachdenklich, „dass der junge Mann seinen Kopf eingesetzt hat. Wenn er wieder da ist, solltest du ihn mir einmal vorstellen.“

„Wirklich?“ Voller Glückseligkeit begann mein Herz anzuschwellen.

„Natürlich. Mir scheint du magst diese Jungs sehr und ich würde nur zu gerne wissen, wer es geschafft hat, mein stures, eigensinniges und temperamentvolles Kind in so kurzer Zeit so zu beeindrucken, dass sie eine solche Partei für sie ergreift.“

Ich fiel ihr um den Hals. Meine Mutter war doch einfach die Beste. „Ich darf mich wirklich weiter mit ihnen treffen?“

„Natürlich. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass du dabei deine alten Freunde nicht vergisst.“

Das war nicht unbedingt das was ich hören wollte, aber es war mehr, als ich erwartet hatte. Der Abend war gerettet. Die Stimmung am Tisch hatte sich zwar leicht verändert, aber ich hatte wieder gute Laune und freute mich mehr denn je darüber, Mama wieder zu Hause zu haben.

Den Rest der Mahlzeit ignorierte ich Lucy, die ihren Braten vor Wut zu Hackfleisch verarbeitete und auch Diego, der nach wie vor mehr in seinem Essen herumstocherte, als es wirklich zu verspeisen. Aber ich bemerkte sehr wohl, wie Victoria meiner Mutter immer wieder irritierte Seitenblicke zuwarf.

Es wurde sehr spät. Erst kurz vor Mitternacht bestand meine Mutter darauf, dass wir für den Tag Schluss machten. Verantwortungsvoll wie sie war, brachte sie Diego und Lucy nicht nur zur Tür, sondern begleitete sie noch ein Stück. Ich war mir sicher, dass sie mit den beiden einmal allein reden wollte, wahrscheinlich um ihnen den Arsch aufzureißen, weil sie mich so schändlich behandelt hatten. Ja, meine Mami könnte zu einer richtigen Löwenmutti werden.

Ich verschwand währenddessen nach oben in mein Zimmer und machte mich für die Nacht fertig. Elvis war heute nicht da. Das gefiel mir zwar nicht besonders, da ich ihn nachts immer gerne bei mir hatte, aber er war nun mal ein alter Streuner.

Bevor ich mich in mein Bett verzog, wollte ich meiner Mutter noch eine gute Nacht wünschen, also stiefelte ich in meinem taubengrauen Seidenpyjama hinaus in den Flur und wollte gerade zu ihrem Schlafzimmer , als ich sie mit Victoria unten im Korridor diskutieren hörte. Die Stimmen klangen sehr ernst. Sie stritten nicht wirklich, aber es fehlte auch nicht mehr viel. Was war da los?

Ja, lauschen war eine wirklich schlechte Angewohnheit, aber ich war eben neugierig. Darum schlich ich zum Treppengenleder und spähte vorsichtig in ins Erdgeschoss.

Meine Mutter stand schon mit einem Fuß auf der untersten Stufe. Eine Hand hatte sie am Handlauf. Und genau diese Hand war es, die von Victoria festgehalten wurde.

„… nicht fassen, dass du das erlauben willst“, sagte meine penetrante Aufseherin gerade zu ihr.

„Ich will das nicht erlauben, aber so kann ich dafür sorgen, dass sie nicht wieder heimlich mit den beiden verschwindet. Nun wird sie zu mir kommen, wenn die jungen Männer sich bei ihr melden und ich kann es sofort unterbinden.“

Bitte?

„Und du glaubst wirklich, dass das funktioniert?“ Victoria war der Zweifel anzuhören. „Dein letzter Versuch diese Sache auf die Reihe zu bekommen, war auch nicht gerade von Erfolg gekrönt.“

„Das war nicht mein Verschulden. Vaters Leute haben sie unterschätzt, weil sie glaubten es mit dummen Kindern zu tun zu haben.“

Vater? Sprach sie von meinem Opa? Ich wusste ja, dass er noch lebte, aber dass meine Mutter Kontakt zu ihm hatte, war mir neu.

„Du hast sie unterschätzt“, fügte sie noch sehr nachdrücklich hinzu.

Victorias Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Cayenne ist nicht unbedingt ein einfaches Kind. Natürlich merkst du das nicht, weil du nie lange zu Hause bist und …“

Meine Mutter fuhr zu ihr herum und bleckte praktisch die Zähne. „Wage es nicht mir das zum Vorwurf zu machen! Ich würde nichts lieber tun, als bei meinem Kind zu bleiben, aber das ist mir ja nicht erlaubt!“

Selbst von hier oben konnte ich sehen, wie Victoria schluckte und einen vorsichtigen Schritt vor meiner Mutter zurück wich. „Hör auf damit.“

„Dann vergiss du nicht immer, wer ich einmal gewesen bin.“

Okay, langsam war ich wirklich verwirrt. Was ging hier eigentlich vor sich? Wer bitte war meine Mutter denn einmal gewesen?

„Keine Sorge, das vergesse ich schon nicht.“ Victoria rang darum ihre Fassung beizubehalten. „Genauso wenig wie ich vergesse, was du getan hast. Aber darum geht es hier im Augenblick auch gar nicht. Es geht um Cayenne und darum Befehle zu befolgen. Ich weiß, dass ist etwas, dass dir schon immer schwer gefallen ist, aber wir haben Gesetzte, die eingehalten werden müssen und mit deiner Erlaubnis, bist du mal wieder sehr nahe dran sie zu brechen.“

„Mir meiner Erlaubnis habe ich dafür gesorgt, dass sie ehrlich zu mir sein wird.“

Victoria schnaubte. „Und was wird das bringen? Cayenne ist keine Fünf mehr. Wir müssen handeln, bevor diese Nichtsnutze wieder auftauchen. Oder glaubst du, sie wir es einfach so hinnehmen, wenn die ein weiteres Mal spurlos verschwinden? Sie wird beginnen Fragen zu stellen und das ist gefährlich.“

Mama funkelte sie an. „Hör auf mir Vorwürfe zu machen. Ich habe getan was in meiner Macht stand und von dir kam bisher auch nichts wirklich Produktives. Du hast sie einfach nur in dieses Haus eingesperrt. Hättest du das mit mir versucht, hätte ich dir die Kehle herausgerissen.“

Mir fiel glatt die Kinnlade herunter. Das hatte sie doch sicher nicht wörtlich gemeint.

„Nur so konnte ich dafür sorgen, dass sie nicht im Weg ist.“

„Aber was bringt das? Sie fühlt sich instinktiv von ihnen angezogen und wird darum immer wieder versuchen zu ihnen zu gelangen. Selbst wenn sie wollte, könnte sie nichts dagegen tun – das können wir alle nicht.“

„Ein Grund mehr die jungen Männer unwiderruflich aus ihrem Leben zu tilgen.“

Mir stockte der Atem. Sprachen die etwa von Tyrone und Ryder? Wen sollten sie denn sonst meinen? Diego mit Sicherheit nicht und andere junge Männer gab es in meinem Leben nicht.

Ein dunkler Schatten huschte über Mamas Gesicht. „Dann überzeuge meinen Vater davon, dass es das Beste für alle ist, wenn ich vorerst hierbleibe. Hier kann ich etwas ausrichten und helfen.“

„Und außerdem kannst du so Zeit mit deiner Tochter verbringen.“

„Ich werde sicher nicht bestreiten, dass mir dieser Nebeneffekt gefallen würde, aber wenn du glaubst, dies sei mein Hauptanliegen, dann liegst du falsch. Für mich gibt es nichts Wichtigeres, als Cayenne von all dem fernzuhalten. Ich werde nicht zulassen, dass sie das gleiche durchmachen muss wie ich.“

Victoria musterte meine Mutter sehr eindringlich. Die Rädchen in ihrem Kopf schienen auf Hochbetrieb zu arbeiten. „In Ordnung. Wenn du wirklich glaubst mit deinem kleinen Plan etwas ausrichten zu können, werde ich mit deinem Vater sprechen.“

„Danke.“

„Ich hoffe nur, dass deine Idee auch funktionieren wird, sonst durften dir die Konsequenzen nicht gefallen.“ Damit wandte sie sich von ihr ab und verschwand im Esszimmer.

Mama stand noch einen Moment da und wirkte auf einmal sehr verloren und einsam. Ich allerdings machte mich schleunigst vom Acker, da dieses Gespräch mit Sicherheit nicht für meine Ohren bestimmt war.

Meine Gedanken waren ein heilloses Durcheinander. Von was für Konsequenzen hatte Victoria gesprochen und warum musste meine Mutter um Erlaubnis bitten, um bei mir bleiben zu dürfen? Was hatte ihr Vater damit zu tun und was war mit Befehlen und Gesetzten gemeint? Das klang ja fast so, als wären wir eine Art Mafia oder so. Aber meine Mutter war doch eine Beraterin in einem großen Unternehmen und keine Kriminelle.

So leise es mir möglich war, schlüpfte ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Dann stand ich einfach nur da und versuchte dem Ganzen einen logischen Sinn zu geben, aber egal wie ich es drehte und wendete, meine blühende Phantasie erklärte mir, dass ich ohne es zu wissen, in ein Drogenkartell hineingeboren worden war und das mein unbekannter Opa wohl ein Pate oder sowas war.

Das war völlig bescheuert, auch wenn es das große Familienvermögen erklären würde. Und auch das was Victoria gesagt hatte. Sie wollten Ryder und Tyrone aus meinem Leben tilgen, weil … ja warum eigentlich? War es wegen diesem Geheimnis, dass Lucy und Diego vor mir hatten? War das vielleicht sogar das Geheimnis, von dem Mama eben gesprochen hatte? Waren wir eine Familie von Verbrechern? Aber was hatten Diego und Lucy dann damit zu tun? Sie waren nur Freunde, oder besser gesagt, Ex-Freunde. Es war unlogisch, dass die beiden etwas mit einem Familiengeheimnis zu tun hatten. Bedeutete das, dass es nun zwei Geheimnisse gab?

Langsam begann mein Kopf zu rauchen. Das alles ergab einfach keinen Sinn. Es war …

Plötzlich bewegte sich meine Türklinke.

Erschrocken registrierte ich, dass da jemand in mein Zimmer wollte. Mit einem Affenzahn überwand ich die drei Meter bis zu meinem Bett und warf mich zwischen die Kissen, wobei ich einen Aufschrei unterdrücken musste, weil ich mir den Fuß schmerzhaft am Bettgestell stieß. Gerade als meine Mutter das Zimmer betrat, warf ich fluchend meine Decke über mich und versuchte völlig unschuldig auszusehen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und einen Moment bangte ich darum, ob sie etwas bemerkt hatte.

„Ich wollte dir noch eine gute Nacht wünschen“, erklärte sie lächelnd, als wäre alles völlig normal. Für sie war es das wahrscheinlich auch. Ich war es, die etwas erfahren hatte, was sie vor mir verbergen wollte und nun nicht mehr wusste, was sie denken sollte.

„Ähm … ja, gute Nacht.“

Ihre Augenbrauen schoben sich leicht zusammen. „Alles in Ordnung?“

Mist. „Ja, klar, ich bin nur müde.“ Um meine Aussage zu untermalen, tat ich so, als müsste ich Gähnen. „War ein langer Abend.“

„Dann solltest du jetzt schlafen.“

„Ja, wahrscheinlich, aber …“ Ich bis mir auf die Zunge. Sie auf das Gespräch mit Victoria anzusprechen, war sicher nicht zu empfehlen, aber ich konnte es doch auch nicht einfach ignorieren.

„Aber was?“

„Ähm … eigentlich wollte ich nur wissen wie es bei dir ist. Auch alles in Ordnung? Also mit deinem Job und so?“ Hoffentlich hatte ich mich damit jetzt nicht zu weit vorgewagt.

Das schien sie ein wenig zu überraschen. „Natürlich. Wenn ich Glück habe, kann ich dieses Mal sogar ein wenig länger bleiben.“

Ja, wenn das Gespräch zwischen Victoria und meinem Großvater positiv verlief, wobei ich immer noch nicht verstand, was unsere Haushälterin damit zu schaffen hatte. War sie vielleicht sowas die die rechte Hand des Paten? Oh Gott, nun höre sich mal einer meine Gedanken an. „Das klingt toll.“

„Finde ich auch. Dann hätten wir vielleicht mal die Zeit etwa miteinander zu verbringen. Shoppen gehen, oder vielleicht ins Kino?“

Noch vor einer halben Stunde wäre ich bei einem solchen Vorschlag vor Freude an die Decke gesprungen, doch jetzt konnte ich mich nur fragen, wie das Geld verdient wurde, mit dem wir solche Ausflüge bezahlten. „Ich würde mich freuen.“

„Gut, dann ist das abgemacht.“ Sie lächelte. „Aber nun werde ich dich schlafen lassen. Träum was Schönes.“

„Du auch.“ Mein Lächeln fiel nicht ganz so fröhlich aus wie ihres.

Sie warf mir noch eine Kusshand zu und ließ mich dann wieder alleine.

Plötzlich konnte ich mich nur noch fragen, wer meine Mutter war. Eigentlich war sie doch viel zu gutherzig, um in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt zu sein aber ich bekam diesen beknackten Gedanken einfach nicht mehr aus meinem Kopf. Und dann auch noch die Sache mit den Brüdern. Es hatte sich so angehört, als hätten die beiden etwas mit ihrem Verschwinden zu tun und würden auch nicht davor zurückschrecken, die Sache endgültig zu bereinigen – was auch immer das bedeutete.

Die ganze Sache stellte mich vor ein riesiges Rätsel. Irgendwas ging da vor sich und bis jetzt hatte ich es nicht einmal geahnt.

Das war kein besonders beruhigender Gedanke.

 

 

°°°

 

„Moment, gib mir noch eine Chance, ich schaffe das schon.“

Das Grinsen klebte in meinem Gesicht und als ich sah, wie Julian sich den Hula Hoop Reifen ein weiteres Mal vom Boden angelte, wurde es sogar noch breiter. Es sah einfach zu albern aus, wie dieser große Kerl den glitzernden Reifen an seiner Taille platzierte, die Hüfte ausstellte und dann mit rudernden Armen hin und her wackelte, um ihn in Bewegung zu bringen. Drei Runden schaffte er, dann wanderte der Reifen an seinen Beinen hinab und landete erneut mit einem Klappern am Boden.

„Gib's auf“, empfahl Gideon und schlug seinem Freund mitfühlend auf die Schulter. „Das Mädchen besiegst du nicht.“

Dem konnte ich nur zustimmen. Ich war noch nie besonders sportlich gewesen, aber der Hula Hopp war als kleines Mädchen mein Lieblingsspielzeug gewesen. Da konnte Julian mit seinem kläglichen Versuch einfach nicht mithalten. „Also ich gebe ihm einen Punkte für Engagement und diesen überaus eindrucksvollen Hüftschwung.“

„Nur einen?“ Mit einem ungläubigen Schnauben stellte Julian den Reifen zurück zu den anderen, die draußen am Wagen lehnten. „Da lässt man sich schon mal auf so ein Spielchen ein und dann kommt sowas dabei heraus.“

„Du wirst es überleben“, munterte ich ihn auf und stieg über die hintere Ladeklappe in den LKW, der direkt vor dem Verwaltungsgebäude stand, um mir einen weiteren Karton zu schnappen. Draußen war es ja schon warm, aber hier drinnen war es brütend heiß. Innerhalb von Sekunden hatte sich eine Schweißschicht auf meiner Schweißschicht gebildet, denn selbst der war es zu warm.

Es war mal wieder Samstag und vor einer guten Stunde war der Sozialfuzzi Eddy mit diesem Vierzigtonner aufs Gelände gefahren, der bis zum bersten mit Geräten, Spielen und Preisen gefüllt war. Keine Ahnung wo und wie er das Ding gefüllt hatte, aber unsere Aufgabe war es nun den ganzen Kram ins Gebäude zu schaffen, damit wir es nächstes Wochenende auf die große Festwiese hinter dem großen Geräteschuppen schleppen konnten.

„Vergesst bitte nicht aufzulisten, wohin ihr die Sachen stellt“, rief Eddy den Studenten zu. Er stand vor dem Wagen und versuchte ein wenig Ordnung in das Chaos zu bekommen. „Sonst finden wir nichts wieder. Gideon, die Hula Hoops sind Preise für die Kinder, also hör auf damit zu spielen und bring sie bitte rein.“

Über den Rüffel musste ich grinsen. Aber es verging mir ziemlich schnell wieder, als ich eine Kiste voller bunter Schlüsselanhänger anhob. Mann, wer hätte gedacht, das Schlüsselanhänger so schwer sein konnten?

Da ich ein wenig Faul war, schob ich die Kiste nach vorne und übergab sie dort Julian. Ich selber nahm da lieber den Sack mit den lustigen Mützen, die alle wie Tiere aussahen und brachte die ins Gebäude.

Die Luft auf den Korridoren war ein wenig kühler, dafür roch sie aber abgestanden und stickig. „Ich will nach Hause unter meine Klimaanlage“, jammerte ich neben Julian. „Eigentlich sollte es bei Strafe verboten sein, bei so einem Wetter arbeiten zu müssen.“

„Was sollen wir den sonst machen? Wochenlang in der Ecke liegen und vor uns dahinvegetieren?“

„Ist immer noch besser, als einfach dahinzuschmelzen. Ich fühle mich voll eklig.“

Er warf mir einen prüfenden Seitenblick zu. Genau wie ich und alle anderen, sah er nicht mehr so ganz frisch aus.

„Was?“, fragte ich, da ich mit diesem Blick nichts anfangen konnte.

„Naja, ich hab überlegte … also wenn du Lust hast … wir könnten später ja ins Freibad gehen, oder an den See fahren.“ Er schaute stur geradeaus, als er das fragte.

„Und zwischen fünftausend anderen Sonnenbetern liegen? Tut mir leid, da stelle ich mir lieber ein Plantschbecken in meinen Garten und lege mich da rein.“ Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, aber ich hatte eigentlich keine Lust mit ihm wegzugehen. In Julians Gegenwart musste ich immer aufpassen, was ich so von mir gab, damit er nichts falsch verstehen konnte. Auf Dauer war das doch ziemlich anstrengend.

„Schade.“

„Du kannst ja mit Gideon gehen“, schlug ich ihm vor und wollte dann in den Raum rechts, musste aber erstmal zur Seite treten, weil wir Gegenverkehr hatten.

„Hm“, machte er nur.

Mir war klar, dass er nicht mit Gideon schwimmen gehen wollte, aber ich stand leider nicht zur Verfügung, nicht so wie er es gerne hätte.

Ich brachte meinen Sack in den bereits völlig überfüllten Raum, griff mir dann die Liste neben der Tür und trug darauf ein, wo die lustigen Tiermützen abgeblieben waren. Gerade als ich sie wieder zurück an den Nagel an der Wand hängte, kamen zwei weitere Leute in den Raum, Diego und Lucy, jeder mit einem Karton.

Lucy hatte die Nase erhoben, als würde sie mich nicht bemerken. Diego allerdings schaute vorsichtig zu mir hinüber und seufzte beinahe schon deprimiert, als er nur auf eiskalten Widerstand traf. Dabei lag es heute nicht einmal daran, was die beiden angestellt hatten. Mir ging das Gespräch von Mama und Victoria einfach nicht aus dem Kopf und jedes Mal wenn ich die beiden heute sah, kam ich nicht umhin mich zu fragen, gab es jetzt zwei Geheimnisse, oder waren die beiden in die ganze Sache involviert?

Ich schüttelte den Kopf, um den Scheiß endlich aus meinem Hirn zu bekommen und trat dann wieder hinaus auf den Korridor, wo ich auf Julian wartete.

Irgendwie war es schon gemein von mir, dass ich ihn nur beachtete, weil mir kein anderer geblieben war. Aber wenn wir mal ehrlich waren, beachtete er mich auch nur, weil er etwas von mir wollte.

Er trug seine Kiste noch in die Liste ein, machte dann einen Schritt auf mich zu und stutzte. Mit leicht gerunzelter Stirn schaute er an mir vorbei.

Neugierig drehte auch ich mich herum.

Direkt auf der anderen Seite war ein weiterer Raum. Die Tür war genau wie das Fenster sperrangelweit geöffnet, aber niemand hielt sich darin auf. „Was ist denn da so interessantes?“

„Das war ein … da!“

Ich sah es auch. Ein Kopf tauchte draußen vor dem Fenster auf, schaute kurz rein und ging dann sofort wieder auf Tauchstation.

Ryder!

Einem Impuls folgend, wollte ich sofort zum Fenster laufen, aber in dem Moment kamen Lucy und Diego wieder heraus. Also schnappte ich mir kurzerhand Julian an der Hand und zog ihn in den angrenzenden Raum auf der anderen Seite.

Da Lucy von Natur aus ein misstrauischer Mensch war, folgte sie mir mit dem Blick, bis ich darin verschwunden war.

„Ähm“, machte Julian und schaute mir verwundert zu, als ich eilig die Tür hinter uns schloss.

Ich beachtete ihn nicht weiter, lief nur zum Fenster und riss es so schnell auf, dass ich es mir noch fast vor die Stirn haute. Doch als ich den Kopf dann hinaus steckte, war da niemand. Ich sah nur den LKW mit den ganzen Freiwilligen und auch Lucy und Diego, die gerade wieder aus dem Gebäude kamen. Der Bereich vor den Fenstern war leer, genau wie die große Liegewiese.

Julian trat neben mich, um auch einen Blick nach draußen zu erhaschen. „War das nicht eben dieser Kerl, der wegen der Schlägerei nach drei Tagen von der Uni geflogen ist?“

Auch wenn er damit richtig lag, bekam er dafür einen bösen Blick.

„Ich hab ja nur gefragt“, sagte er kleinlaut und zeigte dann nach rechts zur Hausecke. „Nach ihm hältst du wohl Ausschau.“

Und da war er wirklich, am anderen Ende des Gebäudes. Er zwinkerte mir zu und verschwand dann um die Hausecke.

Was sollte das denn? Das würde ich gleich herausfinden.

Ich hatte den Kopf schon wieder halb in den Raum gezogen, als ich es mir dann doch wieder anders überlegte. Wenn ich ihm jetzt durch den Haupteingang folgen würde, würden Diego und Lucy das sicher bemerken. Dann eben doch der direkte Weg.

Ich schätzte die Entfernung zwischen Fenster und Boden. Knapp zwei Meter. Das wäre kein Problem. „Rutsch mal ein Stück.“

Sobald Julian aus dem Weg war, kletterte ich aufs Fensterbrett und grinste ihn zum Abschied noch einmal an. „Bis später.“ Dann sprang ich. Der Fall war kurz, die Landung wenig elegant und hätte ich die Hände nicht rechtzeitig ausgestreckt, wäre ich wohl auf der Nase gelandet.

Davon ließ ich mich aber nicht aufhalten. Ich schaute nur noch mal schnell nach links, um sicher zu gehen, das niemand – insbesondere Lucy und Diego – mitbekommen hatte, wie ich aus dem Fenster gestiegen war, dann wandte ich mich nach rechts und lief eilig an der Hauswand entlang, bis auch ich um die Hausecke verschwand. Aber Ryder war nicht da.

Hastig schaute ich von links nach rechts und entdeckte ihn dann in einiger Entfernung, wie er ganz gechillt an der Außenwand des großen Geräteschuppens lehnte. Er hob sogar kurz die Hand, bevor er wieder um die Ecke verschwand.

Okay, langsam kam ich mir ein wenig veräppelt vor. Da bekam ich glatt das Gefühl, als wollte er mich weglocken.

Dieser Gedanke ließ mich plötzlich zögern und an die Worte zwischen Mama und Victoria denken. Es hatte sicher einen Grund, warum sie wollten, dass Ryder und Tyrone aus meinem Leben verschwanden. Aber vielleicht war das auch der Grund, warum Ryder hier mit mir dieses Versteckspiel trieb. Schließlich waren Diego und Lucy auch hier und die waren ja nun schon mehr als einmal petzen gegangen.

Natürlich, darum machte Ryder hier einen auf heimlich. Das war nur logisch. Jedenfalls logischer als so manch anderes, was ich in der letzten Zeit erlebt hatte.

Ohne auch nur noch eine weitere Sekunde zu verplempern, eilte ich zum großen Geräteschuppen und umrundete ihn auf der Suche nach Ryder. Er war nicht da. Suchend schaute ich mich nach ihm um, doch die Festwiese, genau wie die umliegenden Gebäude und Bäume schienen verlassen. Aber eben hatte ich ihn doch noch gesehen, also …

„Suchst du etwas?“

Vor Schreck machte ich fast einen Satz in die Luft. Wäre ich eine Katze, hätte sich mir jetzt wohl das Fell gesträubt. „Könnte sein“, sagte ich knapp. „Vor fast zwei Wochen sind mir zwei Dinge abhanden gekommen. Kannst du dir vorstellen, was ich meine?“

„Ich glaub ich hab da so eine kleine Ahnung.“

Ich freute mich riesig, dieses teuflisch süße Lächeln endlich wieder vor Augen zu haben, gleichzeitig machte es mich aber auch sauer. Darum gab ich meinem Impuls nach und knuffte ihn gegen die Schulter.

„Aua.“ Er machte einen Schritt von mir weg und rieb sich übertrieben gespielt über die getroffene Stelle. „Warum bekomme ich Schläge?“

„Weil ihr einfach verschwunden seid, darum!“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Und jetzt stehst du hier und grinst mich frech an.“ Ich wusste nicht einmal, warum mich das so sauer machte, besonders da ich mich über sein Auftauchen wie wahnsinnig freute, aber wie er da so selbstgefällig stand, bekam ich das Bedürfnis, ihn ein weiteres Mal zu knuffen.

Sein Lächeln verblasste ein wenig. „Soll ich wieder verschwinden?“

„Nein!“ Ich musste das Verlangen unterdrücken, ihm wirklich noch mal gegen den Arm zu schlagen. Was war nur los mit mir? „Natürlich nicht.“

Ganz langsam hoben sich seine Mundwinkel wieder. „Also hast du mich vermisst.“

Das kam viel zu Selbstgefällig herüber. „Vielleicht“, räumte ich ein. „Ich meine, ich verlasse für zehn Minuten das Gebäude und plötzlich seid ihr wie vom Erdboden verschluckt. Und das Einzige Lebenszeichen das ich bekomme, sind fünf Worte an Elvis Halsband.“

„Du hast meine Nachricht also bekommen?“

„Sieht so aus“, sagte ich und konnte nicht anders, als auch zu lächeln. „Übrigens, sehr Clever.“

„Fand ich auch.“ Er verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und musterte mich von oben bis unten.

Am liebsten hätte ich mich unter dem Blick seiner Wahnsinnsaugen gewunden, einfach weil ich völlig verschwitzt aussehen musste, aber ich zwang mich still stehen zu bleiben. „Gefällt dir die Aussicht?“, fragte ich und benutzte damit genau die Worte, mit denen er mich bei unserem ersten Treffen angesprochen hatte.

Seine Pupillen verdunkelten sich leicht, nur um sofort wieder aufzuhellen – das konnte ich mir einfach nicht einbilden. „Ich kann nicht klagen.“

Na das nannte man doch mal ein Kompliment. Um vom Thema abzulenken, schaute ich mich suchend in der Gegend um. „Wo hast du eigentlich Tyrone versteckt?“

„Ihn hast du wohl auch vermisst.“ Er zwinkerte mir zu.

„Naja, ich hab euch im Doppelpack bekommen und so würde ich euch gerne wiederhaben.“

„Ich denke, das lässt sich einrichten, aber jetzt gerade wirst du wohl mit mir allein Vorlieb nehmen müssen, denn Tyrone ist gerade anderweitig beschäftigt und ich kann auch nicht lange bleiben.“

„Was? Du willst schon gehen?“ Aber er war doch gerade erst hier aufgetaucht. Ich wollte nicht, dass er so schnell wieder verschwand und eigentlich auch nicht, dass er meine Enttäuschung bemerkte, doch so wie er daraufhin schaute, musste ich wohl dringend an meinem Pokerface arbeiten.

„Hey, ich bin doch nicht aus der Welt. So schnell wirst du mich nicht wieder los.“

„Das habe ich schon einmal geglaubt und dann seid ihr wochenlang verschwunden.“ Es klang weinerlicher, als es geplant war und zu meinem Missfallen schien er das nicht nur zu merken, sondern auch urkomisch zu finden. „Ich weiß nicht, was daran lustig sein soll“, griff ich auch direkt an.

„Daran ist gar nichts lustig. Ich stelle nur gerade fest, dass ich dich auch ziemlich vermisst habe.“

Oh, wow. Was sollte darauf erwidern? „Dann ist es wohl gut, dass du wieder hier bist.“ Naja, ich war definitiv schon mal schlagkräftiger gewesen.

„Wahrscheinlich.“ Er schaute sich kurz um, als wollte er sich versichern, dass wir auch wirklich allein waren und trat dann etwas näher. „Eigentlich bin ich hier, um dich zu einer weiteren Nacht des Grauens einzuladen.“

„Und darum schleichst du hier um die Gebäude herum und lockst mich hinter einen einsamen Schuppen?“

Er verzog ein wenig das Gesicht. „Herumschleichen hört sich so verboten an. Nennen wir es doch lieber, Aufenthalt in einem kontrollierten Umfeld.“

„Was?“

Er gab ein leises Lachen von sich. „Ich habe wegen der Schlägerei Hausverbot. Und außerdem glaube ich nicht, dass deine Freunde über mein Auftauchen besonders erfreut sein werden.“

Genauso wenig wie meine Mutter, wie ich still und heimlich hinzufügen musste.

„Also, was ist nun, hast du Lust den Schrecken einer Vollmondnacht zu erleben?“

„Heute?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Heute habe ich leider keine Zeit, aber morgen. Was sagst du dazu?“

Nur eins: „Klar.“

„Gut, ich hol dich ab.“

„Nein, ich komm zu euch.“ Es war bestimmt nicht sehr gut, wenn er bei mir auftauchen würde, nicht nachdem, was mir gestern Abend alles zu Ohren gekommen war. Erst musste ich dieses verdammte Familienrätsel lösen, das mir die ganze Nacht den Schlaf geraubt hatte. „Das ist einfacher.“

„Wie du meinst, ich freue mich schon.“ Plötzlich beugte er sich vor und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, von dem meine ganze Haut zu kribbeln begann. „Wir sehen uns dann morgen, Prinzessin.“ Er lächelte mir noch einmal verspielt zu und verschwand dann mal wieder um die nächste Hausecke.

Ich stand nur wie bedröppelt da und legte die Hand an genau die Stelle, die eben noch seine Lippen berührt hatten. Es war nur ein kurzer Kuss gewesen, kaum eine Berührung und dennoch schien mein ganzer Körper plötzlich aufzuleben. Und mein Magen erst, da geschah etwas ganz Komisches. „Ich glaub, ich hab einen Sonnenstich“, murmelte ich leise vor mich hin und drehte mich dann herum, nur um abrupt wieder stehen zu bleiben.

Nein es war nicht Ryder, der zurückgekommen war und sich leise ins Fäustchen lachte, viel schlimmer. Nicht weit entfernt stand Diego und so wie er die Lippen zusammengekniffen hatte, stand er da nicht erst seit zwei Sekunden. Mist. Das hatte ich eigentlich vermeiden wollen.

Diego schien unsicher, als wüsste er nicht, was genau er tun sollte. Zu mir kommen und mich noch ein wenig ausquetschen, oder doch besser gleich wieder zu Victoria rennen.

Ich nahm ihm die Entscheidung ab, indem ich abwandte und an ihm vorbei marschierte.

„Cayenne, warte.“

Ich schnaubte. Von wegen.

„Bitte, würdest du …“ Er trat mir eilig in den Weg. „Kann ich mal mit dir reden?“

Mit ein wenig Mühe, gelang es mir dieses Mal tatsächlich, eine Augenbraue ein Stück anzuheben, ohne gleich auszusehen wie ein Frosch auf Crack. „Du willst mit mir reden? Wirklich? Renn' doch lieber gleich wieder los und verpetze mich. Ist doch mittlerweile sowas wie dein Hobby von dir.“

In seinen Augen flackerte Schmerz. „Und wenn ich verspreche nichts zu sagen?

Oh ja, der war echt gut. Fast hätte ich gelacht. „Dann würde ich sagen, steck es dir zu dem ganzen anderen Scheiß in den Arsch, den du in letzter Zeit so von dir gegeben hast. Deine Versprechen sind nur noch ein Dreck wert, Diego. Weniger als Dreck sogar, sie sind gar nichts mehr wert. Selbst Kuhfladen besitzen eine größere Integrität als du.“

Das war für ihn wie ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich sah es ihn an. Aber es änderte nichts an dem Wahrheitsgehalt meiner Worte. Diego war zum Verräter geworden und das mehr als nur ein mal. Über sowas konnte ich nicht einfach hinwegsehen, egal wie sehr ich es eigentlich wollte.

„Du verstehst das nicht“, versuchte er sein Handeln zu verteidigen. „Ich musste das tun, ich hatte keine Wahl und …“

„Wir haben immer eine Wahl“, fuhr ich ihm dazwischen und funkelte ihn an. Das er mir jetzt so kam, war echt das Letzte. „Du hast dich aus freien Stücken dazu entschieden mein Vertrauen zu missbrauchen und ein Verräter zu sein. Niemand hat dich dazu gezwungen, das kam ganz alleine von dir, weil du mal wieder den großen Bruder raushängen lassen musstest, der immer viel besser weiß, was gut für mich ist.“ Ich starrte ihm so lange in die Augen, bis er reumütig den Blick senkte.

„Es tut mir leid.“

„Drauf geschissen.“ Mir einem Ruck wandte ich mich von ihm ab, um zu meiner eigentlichen Aufgabe zurückzukehren. Dabei köchelte ich vor unterdrückter Wut. Als wenn ich noch irgendwas auf seine Versprechen geben würde. Am liebsten würde ich …

Ein plötzlicher Knall ließ mich erschrocken herumfahren. Ähm … okay.

Die eben noch völlig intakte Holzwand der Geräteschuppens hatte nun ein gesplittertes Loch und in diesem Loch steckte Diegos Faust. Ich wusste ja das der Kerl kraft hatte, aber das er Wände durchschlagen konnte, war mir neu.

Misstrauisch beobachtete ich, wie er seine Hand herauszog. Er wirkte dabei einerseits völlig unbeteiligt, andererseits aber einfach nur verloren. Wie ein kleines Kind, das nicht wusste, wohin mit seiner Verzweiflung und seiner Wut.

Als er die Hand wieder draußen hatte, konnte ich sogar von hier aus das Blut darauf sehen. Er bewegte seine Finger vorsichtig, als wollte er überprüfen, ob das noch ging.

Eigentlich sollte ich mich umdrehen und ihn einfach stehen lassen. Wenn er der Meinung war sich selber verstümmeln zu müssen, war das absolut nicht mein Problem. Es ging mich einfach nichts mehr an, was er machte und den Vandalismus sein neuster Zeitvertreib war, sollte mir das auch am Arsch vorbei gehen.

Das Problem war nur, dass ich ihn kannte. Diego tat so etwas normalerweise nicht. Er war nicht gewalttätig oder sogar aggressiv, das waren eher Eigenschaften, die ich Lucy zuschrieb. Und doch stand er nun hier und wirkte geradezu verzweifelt.

„Verdammt“, knurrte ich leise vor mich hin und hätte mir am liebsten selber in den Hintern getreten, als ich zu ihm zurückging.

Er sagte kein Wort, als ich vorsichtig seine Hand nahm und mir die Bescherung etwas genauer anschaute. Es war blutig und begann schon leicht anzuschwellen. Außerdem entdeckte ich den einen oder anderen Splitter.

Ach Diego. „Komm mit.“ Meine Stimme war fast ein knurren. Aber nicht wegen ihm, sondern weil ich mich insgeheim selber beschimpfte. Ich sollte ihn einfach stehen lassen, schließlich hatte er sich das selber zuzuschreiben. Aber das konnte ich nicht und das machte mich sauer.

Immer noch wortlos folgte er mit zurück zum Verwaltungsgebäude, wo die anderen noch immer damit beschäftigt waren, die restlichen Sachen aus dem Wagen zu laden. Lucy war gerade dabei in den LKW zu klettern, als ich mit Diego im Schlepptau an ihr vorbei kam.

Ich ignorierte sie. Diego konnte mich später immer noch bei ihr verpetzen, jetzt würde ich mich erstmal um seine Hand kümmern. Also schleppte ich ihn zum Klo der männlichen Fraktion und war so freundlich mein Ankommen laut zu verkünden, sobald ich die Tür aufgestoßen hatte. „Achtung, Frau im Anmarsch. Wenn ihr etwas verstecken wollt, dass ich nicht sehen soll, tut es schnell, denn ich bin unglaublich neugierig.“

Nur in einen der beiden Jungs, die an den Pissoirs standen, begann eilig seine Hose zu schließen und verschwand dann schnell, als würde ich ihm sonst was weggucken. Der andere warf nur einen kurzen Blick zu mir rüber, zuckte dann mit den Schultern und widmete sich dann weiter seiner Aufgabe.

Ich währenddessen zog Diego zu einem der drei Waschbecken, drehte den Kaltwasserhahn auf und begann vorsichtig damit das Blut von der Hand zu spülen. Es war schlimmer, als ich auf den ersten Blick angenommen hatte. Drei von vier Knöcheln waren aufgeplatzt und überall entdecke ich kleine Holzsplitter.

Wie zur Hölle, hatte er das hinbekommen?

Ich versuchte einen der Splitter mit den Fingernägeln zu greifen. Klappte natürlich nicht. Also plan B. Ich begann damit in meiner Tasche zu kramen und gerade als die Tür zum Klo erneut geöffnet wurde, zog ich mein Nagelpflegeset heraus.

„Was ist passiert?“

Lucy, natürlich.

„Diego wollte schauen wer von ihnen beiden stärker ist, er oder die Wand. Da sie jetzt beide Löcher haben, ist es wohl ein Unentschieden.“

Während Lucy zu uns trat und ich damit begann mit einer Pinzette die kleinen Splitter zu greifen, beendete der andere Kerl ganz in Ruhe seine Trockenlegung und kam dann zu einem freien Waschbecken. Dabei bemerkte ich sehr wohl, wie er neugierig den Hals streckte.

Lucy schnalzte nur missbilligend mit der Zunge. „Was hat der Trainer gesagt?“

„Lass gut sein.“ Diego drehte die Hand ein wenig, damit ich besser an den Splitter heran kam.

„Dann erklär mir doch bitte mal, was dich dazu bewegt hat eine Hauswand zu boxen.“

Er ließ den Mund geschlossen.

„Na los“, forderte ich ihn auf und riss den nächsten Splitter etwas gröber hinaus. „Tu es einfach, oder traust du dich nur hinter meinem Rücken meine kleinen Geheimnisse zu verraten? Das wäre ja noch erbärmlicher, als ich bisher angenommen habe.“

„Cayenne …“

„Behalte es für dich, ich will deine Entschuldigungen nicht hören, denn sie sind genauso viel wert wie deine Versprechen.“ Den nächsten riss ich so heftig raus, dass seine Finger zuckten. Die Hand aber hielt er still.

„Geheimnis?“ Lucy schaute zwischen und hin und her. „Was für ein Geheimnis?“ Als niemand etwas sagte, wurde sie ungeduldig. „Ach kommt schon Leute, wir sagen uns doch sonst auch alles.“

Fast hätte ich gelacht. „Ja, ist schon ein scheiß Gefühl, wenn Freunde einen plötzlich ausschließen, oder? Aber keine Sorge, spätestens wenn ich euch beide alleine lasse, wird er es dir sicher voller Begeisterung unter die Nase reiben.“ Ich riss den letzten Splitter heraus und hielt Diegos Hand dann wieder unter den Wasserhahn um sicherzugehen, dass ich auch wirklich jeden erwischt hatte. Dabei musste ich das breite Lederarmband an seinem Handgelenk hochschieben. Der eingravierte Wolfskopf darin blitzte auf und zum ersten Mal bemerkte ich die kleinen Silberfäden. Einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde das Teil mich anschauen und meine ganze Haut begann zu kribbeln.

Als Lucy sich mir auf einmal entgegen beugte und dann auch noch an mir schnüffelte, bog ich mich irritiert von ihr weg.

„Wenn du mir jetzt sagst, dass ich eine Dusche brauche, dann haue ich dich.“

Überrascht schaute Lucy mich an, warf dann einen seltsamen Blick zu Diego, verkniff es sich aber irgendwas zu sagen.

Ich musterte sie und hatte auf einmal das starke Gefühl, hier zu stören. „Ich denke ich gehe jetzt besser, dann könnt ihr wieder in ruhe miteinander lästern.“

„Mit irgendwem muss ich ja lästern“, erwiderte Lucy spitz.

Das beachtete ich gar nicht. Ich sammelte nur meine Sachen wieder ein, verstaute sie in meiner Tasche und machte mich dann davon. Nicht nur, dass ich ja eigentlich noch etwas anderes zu tun hatte, bei den beiden fühlte ich mich fehl am Platz. Es tat einfach weh zu wissen, dass es da etwas gab, dass sie mir nicht sagten, einfach, weil ich es auch nicht verstand. Wenn es da wirklich eine Gefahr gab, die mit den Brüdern zusammenhing, sollte man doch meinen, dass sie keinen Moment zögern würden, sie mir mitzuteilen.

Während ich mich wieder draußen den anderen Helfern anschloss, versuchte ich das Ganze zu vergessen. Es machte keinen Sinn weiter darüber nachzugrübeln. Außerdem war der LKW noch lange nicht so leer wie ich gehofft hatte, sodass ich ein paar Stunden später völlig verschwitz zu Hause ankam und eigentlich nichts anderes wollte, als unter die Dusche zu springen. Doch kaum dass ich über die Türschwelle in unseren himmlisch klimatisierten Korridor trat, steckte meine Mutter ihren Kopf aus dem Wohnzimmer heraus.

„Hey mein Schatz, da bist du ja.“

„Hi.“

„Komm mal her, ich hab was für dich.“

Ich schaute sehnsüchtig zur Treppe, an deren Ende eine eiskalte Dusche nach mir rief, marschierte dann aber seufzend zu meiner Mutter ins Wohnzimmer.

„Komm her“, sagte sie und klopfte neben sich aufs Sofa.

Ihr Lächeln wirkte so unschuldig und trotzdem musste ich plötzlich daran denken, wie sie Victoria gedroht hatte, ihr die Kehle herauszureißen.

Das habe ich bestimmt falsch verstanden. Ohne den kleinen Zweifel zu beachten, ließ ich mich neben meiner Mutter auf die Couch sinken und seufzte zufrieden. Sitzen, Beine ausstrecken, einfach nur herrlich.

Mama schmunzelte. „Anstrengender Tag?“

„Anstrengendes Wetter“, korrigierte ich sie und seufzte zufrieden, als eine Brise aus der Klimaanlage über mich hinweg schwebte.

„Oh, mein armer kleiner Schatz. Aber vielleicht kann dich das ja ein wenig aufmuntern.“ Sie schob eine kleine silberne Schatulle zu mir herüber, die vor ihr auf dem Tisch lag.

„Schon wieder ein Geschenk?“

„Das habe ich schon vor einer Weile in Auftrag gegeben, bin aber jetzt erst dazu gekommen, es abzuholen.“

Aha, etwas das sie sogar hatte in Auftrag geben müssen. Ich war gespannt.

Unter ihren erwartungsvollem Blick griff ich das kleine Kästchen und klappte es auf. Darin, auf einem Samtbett lag eine goldene Katze, die so aussah, als würde sie sich mit den Vorderbeinen an einem Schlüsselring hochhangeln. Sie war so fein gearbeitet, dass ich lauter Einzelheiten erkennen konnte und ich musste sagen, sie hatte wirklich verflucht große Ähnlichkeit mit einem gewissen schwarzen Kater. „Wow“, sagte ich nur.

„Ich habe gedacht, er würde sich hervorragend an deiner Tasche machen.“

„An meiner Tasche?“ War der dafür nicht ein wenig teuer gewesen?

„Klar, so hast du ihn immer bei dir. Ein Schlüsselbund besitzt du ja nicht.“

Ja, wegen ihrem Sicherheitswahn.

„Gib mal her, dann zeige ich dir, was ich meine.“ Sie nahm ihn mir aus der Hand, begann dann damit an meiner Tasche herumzufummeln und dann hatte ich da einen Miniatur-Elvis zu hängen. „Sieht doch hübsch aus, oder?“

Anstatt ihr zu antworten, nahm ich sie einfach nur in die Arme. „Danke.“

„Ach mein Schatz, für dich tue ich doch alles.“

Eigentlich war das nicht mehr als eine Phrase, aber auf einmal schienen diese Worte einen bitteren Beigeschmack zu haben. Verdammt, warum nur bekam ich diese Mafiaidee nicht mehr aus meinem Kopf? Das war doch ausgemachter Blödsinn! Meine Mutter war Beraterin in einer Immobilienfirma und keine Ganoventocher, die in ihrer Freizeit gerne mal jemanden die Kehle durchschnitt. Auch wenn sie das gestern zu Victoria gesagt hatte.

„Alles okay?“ Sie löste sich ein wenig von mir. „Du wirkst auf einmal etwas angespannt.“

Toll, einfach nur toll. „Nein, alles klar. Ich bin nur völlig verschwitz und will nur unter die Dusche.“

„Dann tu das. Wollen wir anschließend zusammen kochen?“

„Ähm … klar, können wir machen.“ Ich sprang auf die Beine und vergaß dabei völlig, dass die silberne Schatulle noch auf meinen Knien lag. Die knallte natürlich runter.

„Geh duschen, ich mach das schon“, erklärte meine Mutter mir, als ich mich danach bücken wollte und ich war wirklich froh mich davon machen zu können. Es war albern und ich verstand auch nicht, warum ich plötzlich so am Rad drehte, aber … naja, ich kam von diesem bescheuerten Gedanken einfach nicht los. Dabei war es weniger das was Mama und Victoria gesagt hatten, als viel mehr wie sie es getan hatten.

In der Hoffnung mit einer Dusche nicht nur den Schweiß, sondern auch den Schwachsinn in meinem Kopf loszuwerden, verbrachte ich fast eine Stunde in meinem Bad, bevor ich erfrischt heraus kam und mich in nichts als einem Handtuch gewickelt ans offene Fenster stellte. Schließlich war da noch immer die Kleinigkeit mit dem Besuch bei den Jungs.

Eigentlich war das gar nicht meine Art, aber ich würde Mama nichts von ihrer Rückkehr erzählen. Das bedeutete, ich würde hier irgendwie unauffällig ausbrechen müssen. Zwar hatte ich meine Schlüsselkarte wieder, aber sollte ich diese benutzen, würde es das System registrieren und Victoria würde sofort mit Fragen auf der Matte stehen.

Der Hinterausgang fiel auch aus, da Diego mir ja meinen Schlüssel abgenommen hatte. Also, wie sollte ich es dann anstellen?

Nachdenklich musterte ich unseren Zaun. Er war so konstruiert, dass es äußerst schwer war, daran hochzuklettern. Außer natürlich man war eine Katze, wie ich mit einem Schmunzeln feststellte, als ich Elvis hoch oben balancieren sah.

Äußerst geschickt wanderte er über den schmalen Zaun bis hinüber zu den vier Eichen. Dort sprang er auf den ausladenden Ast, an dem meine Kinderschaukel hin und her wippte und verschwand dann auf der Plattform.

Hätte ich mich in einem Cartoon befunden, so wäre jetzt sicher eine leuchtende Glühbirne über meinem Kopf erschienen, denn mit einem Mal wusste ich ganz genau, wie ich mich heimlich davon machen konnte.

 

°°°°°

Kochendes Blut

 

Socken, Unterwäsche, Haarbürste und Zahnbürste landeten im Rucksack. Die Schlafsachen trug ich noch und Hose und Hemd lagen für einen schnellen Abflug bereit. Ich überlegte, ob ich noch etwas fehlte. Klar, meine Geldbörse. Ich schnappte sie mir von meinem Schreibtisch und steckte sie in eine Seitentasche. Das Handy würde ich hier lassen, das würde ich sowieso nicht brauchen. Gut, damit müsste ich alles haben.

Zufrieden kontrollierte ich noch ein letztes Mal alles, verschloss dann den Rucksack und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Draußen war es schon leicht dämmrig. Zeit für einen Ausbruch, den sogar die Insassen von Alcatraz neidisch machen würde.

Als erstes musste ich dafür sorgen, dass meine Mutter meinem Zimmer ein Weilchen fern blieb. Sie durfte erst merken das ich weg war, wenn ich … naja, wenn weit weg war. Sie hatte es nämlich bereits geschafft mich aufzuspüren, wenn sie mein Verschwinden zu früh bemerkt hatte.

Am liebsten wäre ich in bösartiges Gelächter ausgebrochen, um die Genialität meines Planes zu feiern. Aber ich begnügte mich mit einem Lächeln und setzte Phase eins in Gange. Ein paar Kniffe in die Wangen, damit sie ein wenig rot wurden, dann noch ein höchst leidigen Gesichtsausdruck und dann ging ich nach unten. Auf der Treppe schlürfte ich sogar ein wenig, falls meine Mutter gerade jetzt auf die Idee kam den Flur zu betreten. Doch ich sah sie erst, als ich in die Küche trat, wo Victoria den Abwasch machte und meine Mutter über irgendwelchen Unterlagen brütete.

Sobald ich den Raum betrat, blickte sie auf. „Hey mein Schatz.“

„Hey“, erwiderte ich schwach und schlürfte zu dem kleinen Medizinschrank in der der Ecke.

Natürlich merkte meine Mutter sofort auf. „Was ist los?“

„Ach nichts weiter.“ Ich winkte ab, als sei es nur eine nebensächliche Kleinigkeit. „Nur ein bisschen Kopfschmerzen. Wahrscheinlich die Hitze.“ Ich kramte ein wenig im Schrank herum, bis Victoria herbei kam, mich zur Seite schob und dann selber nach ein paar Aspirin suche, die sie mir in die Hand drückte.

„Hier.“

„Danke.“

Bevor ich es selber in die Hand nehmen konnte, drückte sie mir auch noch ein Wasserglas in die Hand und dann schluckte ich artig unter den Augen der beiden meine Medizin.

„Ich glaub ich leg mich ein wenig hin, bevor mir noch die Schädeldecke wegplatzt.“

„Das solltest du wohl tun“, stimmte Mama mir mit einem besorgten Blick hinzu. „Ich schaue nachher mal nach dir.“

„Okay.“ Mit Leidensmiene schlürfte ich wieder aus der Küche, die Treppe hinauf und zurück in mein Zimmer.

Phase zwei beendet. Einleitung Phase drei.

In Windeseile riss ich mir die Schlafklamotten vom Leib, stopfte sie zu den anderen Sachen in meinen Rucksack und warf mich dann in ein enges Top und meine Jeanslatzhose. Füße in die Schuhe, Tasche an den Mann und schon war ich dabei das Fenster zu öffnen. Nein, Moment, erstmal musste ich das Licht löschen.

Also eilte ich noch mal quer durch das Zimmer, um den Lichtschalter umzulegen und dann befand ich mich auch schon über das Spalier auf den Weg nach unten. Dabei musste ich äußerst leise sein, denn meine Mutter besaß Ohren wie ein Luchs.

Unten wartete ich nicht lange. So leise ich konnte schlich ich durch den Garten nach hinten zu den vier Eichen und machte mich daran, die alten Holzsprossen der Leiter am Baum zu erklimmen, was mir – wie ich zugeben musste – als kleines Kind erheblich leichter gefallen war. Waren die schon immer so schmal gewesen?

Mich durch die Bodenluke auf die Plattform zu schieben war auch nicht mehr ganz so einfach wie früher, aber mit einiger Anstrengung schaffte ich es.

Ich warf noch einen wachsamen Blick zum Haus hinüber und …

„Mau.“

Vor Schreck blieb mir fast das Herz stehen. Oh Gott, dieser Kater! Ich wandte den Kopf. Zwei kleine, grüne Augen, die in der Dunkelheit zu leuchten schienen, beobachteten mich aus einem kleinen Holzkasten, den ich vor ein paar Jahren für Elvis hier oben hingestellt hatte.

„Mau.“

„Pssst“, machte ich. „Sei leise.“

„Mau.“

Mit einem letzten wachsamen Blick zum Haus, nahm ich die nächste Phase in Angriff.

„Mau.“

„Keine Sorge, morgen bin ich wieder da“, flüsterte ich. „Sei schön artig.“ Auf Zehenspitzen überquerte ich die Plattform. Das Holz bog sich leicht unter meinem Gewicht, aber das hatte es schon getan, als ich noch klein war und hier oben munter herum gesprungen war, deswegen machte ich mir keine allzu großen Sorgen. Was mir allerdings Sorgen machte, war der nächste Abschnitt meines Plans, der sah nämlich vor, dass ich über den Ausladenden Ast, an dem meine Schaukel hing, hinüber zum Zaun balancierte, um an deren Ende auf die andere Seite des Zauns zu springen zu können. Und das ganze ohne runter zu fallen, mir sämtliche Knochen zu brechen und aufzufliegen. Also ganz einfach. Na dann mal los.

Ich atmete noch einmal tief ein und wollte gerade ein Bein auf den Ast stellen, als etwas kleines Schwarzes mir zuvorkam.

„Mau.“ Schwanz zuckend nahm er den Weg, der eigentlich meiner sein sollte.

„Kleiner Angeber“, flüsterte ich und machte meinen ersten Schritt. Ich klebte meinen Blick auf den Ast, nur nicht nach unten sehen, ging Schritt für Schritt weiter.

„Mau.“

Elvis saß schon am anderen Ende und beobachtete mich neugierig, als ich gerade mal die Hälfte hinter mich gebracht hatte. Zum Glück war der Ast breit, aber als er sich durch mein Gewicht leicht nach unten durchbog, kam ich ins Wanken und musste auf alle vier hinunter, um nicht fliegen zu lernen. Mein Glück war nur, dass der Ast schon so lang war, dass er am Ende auf dem Zaun auflag und somit nicht brechen konnte, Theoretisch zumindest.

„Mau.“

„Keine Sorge, mir geht es gut.“ Langsam auf allen Vieren machte ich, dass ich weiter kam. Ich musste mich beeilen, weil ich keine Lust hatte hier oben von neugierigen Nachbarn erwischt zu werden. Das wäre sicher lustig, wenn ich den erklären musste, warum ich nicht einfach das Tor nahm.

Zentimeter für Zentimeter arbeitete ich mich vor und war überglücklich, als sich meine Hände endlich um das von der Sonne noch warme Metall des Zaunes schlossen. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie schaffte Elvis es, auf der schmalen Strebe obendrauf zu stehen, ohne herunter zufallen. „Katze müsste man sein.“

„Mau.“

Ich hielt mich fest, stellte ein Bein auf den Zaun und da passierte es. Plötzlich überkam mich ein schwacher Schwindel, der mich leicht aus dem Gleichgewicht brachte. Panisch griff ich fester zu. Jetzt war ich so weit gekommen, es durfte einfach nichts mehr schief gehen. Ich weigerte mich einfach, jetzt noch herunterzufallen. Darum atmete ich ein paar Mal tief durch und wartete, bis dieses seltsame Gefühl vorbeiging.

Der Schwindel verging, aber leider setzte dann ein leichtes Wummern in meinem Kopf ein. „Das nenn man dann wohl Karma“, murrte ich und machte mich mit wenig Grazie daran, über den Zaun zu klettern. Krampfhaft hielt ich mich an den Streben fest und ließ mich langsam daran herunter gleiten. Die letzten eineinhalb Meter sprang ich einfach, kippte rückwärts und landete auf meinem Hintern.

Super.

Leise fluchend rappelte ich mich wieder hoch und klopfte mir den Dreck von der Hose. Dabei schaute ich unauffällig herum, um sicher zu gehen, dass mich niemand gesehen hatte.

„Mau.“

Naja, niemand bis auf ihn. „Ich bin morgen wieder da, versprochen.“ Noch eine Kusshand in seine Richtung, dann sah ich auch schon zu, dass ich hier schleunigst verschwand.

Damit begann die letzte Phase meines tollen Plans. Ab zur U-Bahn und dann Filme bis zum abwinken. Doch schon an der Straßenkreuzung, ging ich plötzlich fast in die Knie, als ich erneut von einem Schwindelanfall überrollt wurde. Ich musste mich an einer Laterne festhalten, um nicht einfach umzukippen. Verdammt, was sollte der Mist? Das mein Kreislauf ausgerechnet heute der Meinung sein musste zu streiken, gefiel mir überhaupt nicht.

Ich versuchte ihn abzuschütteln und gerade als ich auf die Straße trat, hatte ich plötzlich das starke Gefühl aus den dämmrigen Schatten beobachtet zu werden. Doch eine wachsame Sondierung ergab, dass ich bis auf ein paar Autos völlig allein auf der Straße war.

Super, jetzt hatte ich nicht Kreislaufprobleme, jetzt litt ich auch noch an Verfolgungswahn. Die Hitze schlug mir wirklich aufs Hirn.

Bis zum U-Bahnhof waren es knapp zehn Minuten Fußweg. Ich jedoch war nach einer viertel Stunde noch immer nicht da, weil ich ständig Pause machen musste. Doch dann sah ich endlich mein Ziel. Nur noch über die Straße, dann …

Der nächste Schwindelanfall kam so plötzlich, dass ich nun doch in die Knie ging, um mich einfach umzufallen. Einen Moment überkam mich heftige Übelkeit und ich musste krampfhaft schlucken, um mein Abendessen bei mir zu behalten.

Oh Gott, was war hier nur los? Das war doch nicht mehr normal.

Ein leises Fiepen drang an mein Ohr und brachte mich dazu den Kopf zu heben. Mein Blick wurde von zwei schwarzen Augen erwidert. Dunkler als die Nacht und tief wie zwei Brunnen. Vor Schreck kippte ich nach hinten und starrte dieses Ungetüm von einem Hund an.

Oh mein Gott, war der aus einem Versuchslabor entlaufen? Der war so groß, dass er mich überragen würde, sollte er auf die Idee kommen, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Aber er machte keine Anstalten, seine sitzende Position zu verändern. Genaugenommen tat er gar nichts weiter, als mich anzustarren und leise zu fiepsen.

„Ähm“, machte ich nicht sicher, wie ich mich verhalten sollte. Hey, ich war Katzenfan, mit Hunden hatte ich nichts am Hut. „Kusch.“

Der große braune Hund mit der schwarzen Maske und den Schwarzen Pfoten, neigte neugierig den Kopf zur Seite.

Na toll. „Los, geh zu deinem Herrchen“, ranzte ich ihn an und hoffte, dass er bei dem harschen Ton das Weite suchen würde. Fehlanzeige. Er blieb wo er war und verfolgte jede meiner Bewegungen. Wenigstens schien er trotz seiner Größe nicht gefährlich zu sein. Jedenfalls vermittelte er mir nicht diesen Eindruck. Der war eher so was wie ein großer Teddybär. Ein sehr großer Teddybär. Fast schon ein Grizzly.

„Ich hab gesagt, du sollst verschwinden.“ Langsam versuchte ich wieder auf die Beine zu kommen. Das Wummern in meinem Kopf hatte zugenommen, war aber noch lange nicht so schlimm, dass ich ernsthaft von Kopfschmerzen sprechen würde. Ich gelangte wieder in die Senkrechte, machte einen wachsamen Schritt um den Hund herum und ließ ihn nicht aus den Augen. Nicht bis ich die Straße erreicht hatte und eilig hinüber rannte.

Was war nur los mit mir? Ich hatte noch nie irgendwelche Schwächeanfälle gehabt. Vielleicht lag es ja an dem Wetter. Heute war es noch heißer gewesen als gestern und auch wenn es Abend war, die Wärme des Tages hatte sich noch lange nicht verflüchtigt. Vielleicht war es aber auch einfach die Aufregung. Egal was es war, ich würde mir diesen Abend bestimmt nicht kaputt machen lassen.

Sobald ich den Bahnhof erreichte und die Treppen nach unten lief, wurde die drückende Schwüle von einem herrlich kühlen Lüftchen abgelöst und ich fühlte mich augenblicklich besser. Also war es wirklich die Hitze, die mir heute so zu schaffen machte. Das war zwar ungewöhnlich, aber nicht sonderlich besorgniserregend.

Bis der Zug in den Bahnhof einfuhr, musste ich nicht lange warten und bis auf ein paar andere Fahrgäste, war der Wagon den ich bestieg auch weitestgehend leer.

Ich suchte mir einen Platz in der hintersten Ecke, schob eine alte Zeitung zur Seite, die dort jemand liegengelassen hatte und machte es mir bequem. Da die Brüder nicht gerade um die Ecke wohnten, würde ich mir hier ein ganzes Weilchen den Hintern platt sitzen müssen. Zum Glück konnte ich ohne Umsteigen bis an mein Ziel durchfahren.

Der Alarm ertönte und warnte alle Insassen davor, dass die Türen sich nun schließen würden. Sie waren auch schon fast zu, als im letzten Moment ein weiterer Fahrgast eilig in den Wagon sprang. Aber es war kein Mensch, sondern der große, braune Hund, der sich bei seinem Manöver auch noch fast die Rute in der Tür einklemmte.

Er funkelte die Tür böse an und ließ seinen Blick durch den ganzen Wagon schweifen. Kaum das er mich in der hintersten Ecke erblickte, kam er auch schon auf mich zugetrottet. Seine Muskeln umspielten seinen Körper und das Fell glänzte bei jeder Bewegung seidig auf. Ich musste zugeben, dass das wirklich ein beeindruckendes Exemplar war. Trotzdem, mit dem stimmte etwas nicht und dass er direkt auf mich zu kam, machte mich dann doch leicht nervös.

Als er sich dann auch noch direkt vor meine Füße legte und es sich dort mit dem Kopf auf den Pfoten bequem machte, als würde er sich dort für einen längeren Aufenthalt einrichten, kniff ich misstrauisch die Augen zusammen.

„Sag mal, verfolgst du mich?“

Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, schaute er zu mir nach oben.

„Nur damit du es weißt, ich bin nicht dein Frauchen. Ich habe einen Kater und die mag keine Hunde.“

Als würde ihm das Wort Kater etwas sagen, grummelte er leise vor sich hin.

„Du brauchst gar nicht grummeln.“ Was trieb ich hier eigentlich gerade? Nicht nur, dass ich mich gerne mit Elvis unterhielt – manchmal sogar mit ihm stritt – jetzt redete ich auch noch mit einem Hund. Vielleicht sollte ich mal einen Arzt aufsuchen, der mir kräftig das Hirn durchblies. Leider bezweifelte ich, dass das etwas bringen würde.

Ich beschloss, den Flohkati zu meinen Füßen einfach zu ignorieren, lehnte mich zurück und wartete ungeduldig darauf, mein Ziel zu erreichen.

Das Wummern in meinem Kopf blieb, schwächte sich aber zunehmend ab – eine echte Erleichterung – und die ganze Fahrt über blieb mir jeder weiterer Schwindel fern.

An jedem Bahnhof stiegen Fremde ein und aus, darunter sehr viele Jugendliche, die den Sonntagabend noch nutzen wollten, bevor es am nächsten Tag wieder in die Schule ging.

Eine Gruppe von vier Kerlen betrat lautstark den Wagon. In den Händen trugen sie Bierflaschen und ihrem Benehmen zu urteilen, waren das nicht ihre ersten heute Abend. Solche Leute hasste ich, einfach weil sie meist übers Ziel hinausschossen und niemals ihre Grenzen kannten.

Ich versuchte sie zu ignorieren, indem ich die Werbung, über Zahnhygiene, Sprachkurse und Fallschirmspringen lass, die überall in den Fenstern klebten. Doch leider war mir das Glück ihrer Ignoranz nicht gegeben. Eine Station, bevor ich aussteigen musste, wurde der Typ mit dem kurzrasiertem Haar und einer Hose, die ihren Schritt irgendwo auf Kniehöhe hatte, auf mich aufmerksam. Er setzte seine Flasche noch einmal an den Mund, als müsste er sich Mut antrinken, rutschte dann an die forderte Kante seines Sitzes und grinse zu mir herüber. „Na wen haben wir denn da?“

Ich beachtete ihn nur kurz mit einem abschätzenden Blick, bevor ich mich wieder auf die Werbung für einen schwedischen Möbelhersteller konzentrierte.

„Wohl zu fein, um mit ein paar netten Kerlen zu reden.“ Etwas schwankend kam er auf die Beine und torkelte unter dem Ansporn seiner Kumpane zu mir herüber. Dem Hund sei Dank, wagte er sich aber nicht sich neben mich zu pflanzen. „Wir gehen feiern. Lust uns zu begleiten?“

„Danke, aber ich bin bereits verabredet“, sagte ich kühl und hoffte, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl verstand.

„Ach nun komm schon. Sei mal ein bisschen spontan. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.“ Er grinste mich breit an und selbst aus dieser Entfernung konnte ich seine Bierfahne riechen. Widerlich.

„Ich hab nein gesagt.“

„Hey Sascha, lass die Kleine“, rief sein Kumpel mit den Basecap. „Die kann mit richtigen Kerlen halt nichts anfangen.“

Der Hund zu meinen Füßen knurrte warnend, als Mister Bierfahne ein Stück näher rücken wollte. „Hey, pfeif deine Töle zurück.“

„Das ist nicht mein Hund.“ Ich erhob mich von meinem Platz, als die U-Bahn langsamer wurde, wollte zur Tür, aber der Kerl versperrte mir den Weg. „Darf ich mal bitte?“

„Klar, nur zu“, sagte er, bewegte sich aber kein Stück.

Seine Kumpels lachten und ich bekam langsam voll die Krise. Mann, warum mussten diese Idioten ausgerechnet mit bei mir im Wagon sitzen? Sie hätten doch auch einen weiter nehmen können. „Ich muss hier raus.“

„Dann geh doch.“

Okay, er wollte es nicht anders. In dem Moment, als die Bahn zum Stehen kam, stieß ich ihn mit aller Kraft zur Seite. Seine Flasche fiel ihm aus der Hand und nur weil Basecap noch einigermaßen Reaktionsschnell war, knallte er nicht auf den Boden.

Ich kehrte ihnen widerwillig den Rücken zu, um die Tür zu öffnen, schaute aber sofort wieder über die Schulter, als plötzlich ein durchdringendes Knurren an mein Ohr drang.

Mister Bierfahne hatte nach mir greifen wollen, riss seine Hand aber blitzschnell zurück, als der Hund plötzlich aufsprang und nach ihm schnappte.

Damit wollte ich nichts zu tun haben, also öffnete ich die Tür und wollte gerade aussteigen, als ich sah wie Basecap mit dem Bein ausholte. Er trat nicht nur nach dem Hund, er erwischte ich auch noch an der Seite.

„Hey, lasst ihn!“, fuhr ich die Kerle an. Klar, ich war nicht unbedingt der Hundetyp, aber treten durfte man sie deswegen noch lange nicht.

Der Hund wollte nach dem Bein von dem Kerl schnappen, als eine durchdringende und wohlvertraute Stimme an meine Ohren drang. „Was ist denn hier los?“

Überrascht fuhr ich herum, stolperte und fiel in Ryders Arme. Wortwörtlich.

„Ich freue mich auch dich zu sehen“, scherzte er grinsend, als ich schon dabei war, wieder in die Senkrechte zu gelangen. „Aber vielleicht sollten wir uns das für später aufheben.“

„Ha ha, sehr witzig.“ Ich machte mich von ihm los und schaute zu dem Hund, der gerade aus dem Wagon sprang und leise knurrend hinter mich schlich.

Mister Bierfahne musterte Ryder kritisch. „Wegen dem willst du die Party des Jahres verpassen?“, reimte sich unter Anstrengung seiner drei funktionierenden Gehirnzellen zusammen.

„Wegen dem“, sagte Ryder mit einem warnenden Unterton, „haut dir gleich eins in die Fresse, wenn du sie nicht in Ruhe lässt.“

„Was du nicht sagst!“ Selbstgefällig, mit seinen Kumpels im Rücken, stieg der Kerl aus dem Wagon und baute sich vor uns auf.

Dem Hund sträubte sich das Fell und sein durchdringendes Knurren erfüllte den ganzen Bahnhof.

Bierfahne verschränkte die Arme vor der Brust. „So, und was willst du jetzt machen?“

„Euch stehen lassen und gehen.“ Damit nahm Ryder meine Hand, drehte ihnen den Rücken zu – was mir doch ziemlich dumm vorkam – und marschierte mit mir Richtung Ausgang.

Es war wohl der veränderte Ton im Knurren des Hundes, der uns vorwarnte. Noch bevor Mister Bierfahne sich auf Ryder stürzen konnte, ließ der mich los, wirbelte herum und packte den Arm von dem Typen. In einer schnellen Bewegung, verdrehte er ihn ihm auf den Rücken und schob ihn solange nach oben, bis der Kerl vor Schmerz ganz rot angelaufen war.

Die Anderen drei wagten es nicht, ihrem Kumpel zu helfen, da der Hund sich vor ihnen aufgebaut hatte und wow, der sah wirklich so aus, als wollte er gleich jemanden fressen.

„Versucht du das noch mal“, zischte Ryder den Schwachkopf ins Ohr, „kommst du nicht so glimpflich davon.“ Er stieß den Trottel von sich, sodass er stolpernd zu Boden stürzte und kehrte ihnen abermals den Rücken. „Lass uns hier verschwinden“, sagte er zu mir, legte einen Arm um meine Taille und führte mich von den Typen weg.

Der Hund knurrte ein letztes Mal warnend und schloss sich uns dann an. Zurück blieben ein paar Hirnis mit angeknackstem Stolz.

Ryder musterte ihn. „Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast.“

„Hab ich auch nicht.“ Auch ich schaute zu dem vierbeinigen Ungetüm. Er erinnerte mich ein wenig an einen Deutschen Schäferhund. Naja, zumindest von der Statur her. „Der läuft mir irgendwie schon die ganze Zeit hinterher.“

„Vielleicht steht er ja auf dich. Du weißt schon, wie so ein richtiger Romeo.“

Der Hund schnaubte und ich konnte ihm nur zustimmen. Das war wohl der dümmste Spruch, den Ryder je vom Stapel gelassen hatte. „Ich glaube eher, er hofft auf ein wenig Futter.“

„Meinst du?“ Ryder ließ mich los, hockte sich dann auf den Boden und begann mit der Zunge zu schnalzen, als wollte er das Riesenvieh noch ein wenig näher locken.

Der Hund verengte die Augen leicht, drehte sich dann um und trottete in die andere Richtung davon.

Okay.

„War wohl doch nicht so hungrig“, überlegte Ryder und kam wieder auf die Beine. „Na dann komm, die Horrornacht wartet bereits auf dich.“

„Na das hoffe ich doch, nur deswegen bin ich hier.“

„Nur deswegen?“ Er griff nach meiner Hand und zog mich zu den Rolltreppen – Gott, wie konnte sich einfaches Händchenhalten so gut anfühlen? „Ich dachte deine Sehnsucht nach mir hätte dich in diese bescheidene Gegend getrieben.“

Ähm … ja, das ließ ich dann wohl mal besser unkommentiert. „Was machst du eigentlich hier?“, wollte ich wissen und stellte mich auf die unterste Stufe.

„Dich abholen, was sonst.“

Das war ja nett, aber …. „Woher wusstest du wann ich kommen würde? Wir hatten gar keine Zeit ausgemacht.“

„Instinkt.“ Er tippte sich grinsend an den Kopf. „Ich saß völlig gechillt zu hause herum und dachte mir nichts böses, da schlug auf einmal mein Spinnensinn Alarm und ich wusste, dass ich hier gebraucht wurde. Also bin ich wie der Blitz hier her gekommen.“

Ah ja. „Ich werde dir mal einfach glauben.“ Auch wenn das völliger Schwachsinn war.

„Aber das muss unter uns bleiben“, schäkerte er. „Ich hab nämlich keine Lust darauf, von Paparazzis umschwärmt zu werden.“

„Du redest eine Menge Quatsch für eine einzelne Person, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

„Na hör mal, das sage ich mir selber jeden Morgen.“

Jetzt wusste ich wieder ganz genau, warum ich die beiden so vermisst hatte. Es machte einfach Spaß mit ihnen zusammen zu sein. Besonders mit Ryder. Wenn ich ehrlich war, dann störte es mich im Augenblick auch gar nicht, dass Tyrone nicht bei ihm war. Ich würde es ihm zwar nicht verraten, aber ich hatte ihn gerne für mich allein.

Als wir aus dem U-Bahnhof hinaus in den milde Abend traten, wurde mir für einen Moment so schwarz vor Augen, dass ich mich an Ryder klammern musste, um nicht einfach aus den Latschen zu kippen. Verdammt, das war ja schlimmer als auf der Achterbahn.

„Alles okay mit dir?“ Besorgt musterte er mich.

„Ja, alles okay.“ Zumindest wäre es das, sobald die schwarzen Flecken vor meinen Augen endlich die Flucht ergriffen. „Das Liegt nur an der Hitze, die schlägt mir heute irgendwie aufs Hirn.“

„Ja, mir hat sie die letzten Tage auch ganz schön zu schaffen gemacht.“

Um nicht wie ein Schwerinvalide rüberzukommen, ließ ich ihn los, als ich glaube nicht mehr umkippen zu müssen. Dabei ignorierte ich das stärker werdende Wummern in meinem Kopf. „Wo wir schon mal beim Thema sind, was habt ihr den die letzten Tagen eigentlich getrieben? Ich meine, eben noch habt ihr beim Dekan gesessen und plötzlich ward ihr unauffindbar.“

„Haben deine Freunde es dir den nicht erzählt?“, fragte er verwundert, schüttelte dann aber auch gleich den Kopf, als wollte er seine eigene Frage beantworten. „Natürlich haben sie das nicht.“

„Was haben sie nicht erzählt?“

„Naja.“ Er wiegte den Kopf hin und her, als wollte er nicht recht mit der Sprache herausrücken. „Ich möchte den Abend eigentlich genießen und ihn nicht durch irgendwelche Anekdoten ruinieren.“

Misstrauisch verengte ich die Augen. „Was haben Lucy und Diego getan?“

Er zuckte mit den Schultern. „Im Grunde das gleiche wie immer und da Tyrone und ich schon ein wenig angeschlagen waren, hielten wir es für besser, zum Hinterausgang hinaus zu verschwinden. Ich hatte nämlich wirklich keine Lust noch eine aufs Maul zu bekommen.“

Sie hatten ihnen weitere Schläge angedroht? Oh, diese miesen kleinen … grrr! „Ich werde ihnen den Hals umdrehen“, knurrte ich.

Ryder winkte ab. „Lass mal, ist doch schon Schnee von gestern. Wichtig ist nur, dass du jetzt hier bist.“ Das Lächeln auf seinen Lippen war so sanft, dass mein Magen anfing zu kribbeln.

Die Plötzliche Erkenntnis, die mich dabei überfiel, brachte mich fast ins Stolpern. Das war nicht das erste Mal, dass ich dieses Kribbeln spürte. Auch Yannick hatte es hervorlocken können. Oh mein Gott, ich war doch nicht etwa gerade dabei mich in Ryder zu vergucken, oder? Und das schon nach so kurzer Zeit.

„Was ist los?“, fragte er mich, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Ähm … gar nichts“, wiegelte ich schnell ab. Ich musste schnellstens das Thema wechseln. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo ihr die letzten beiden Wochen gewesen seid.“ Ja, gut gerettet.

Ryder schien von dem Themenwechsel nicht gerade begeistert, spielte aber mit. „In Seidingstadt.“

„Eurem alten Dorf?“ Wir passierten die Kreuzung bei Rot, da kein Wagen auf der Straße zu sehen war. Und auch keine kleinen Kinder, die unser schlechtes Verhalten hätten mitbekommen können.

Er nickte. „Nach dem Rauswurf dachten wir, dass uns ein paar Tage im Schoß der Familie ganz gut tun würden.“

„Und, hat es geholfen?“

„Ich verspüre auf jeden Fall nicht mehr das Bedürfnis, jemanden den Hals umzudrehen.“ Er zwinkerte mir zu. „Naja, nicht allzu sehr jedenfalls.“

Ich kicherte. Wirklich, ich kicherte wie so eine völlig verblödete Tussi und ich kam mir dabei nicht einmal dämlich vor. Ich hatte doch echt einen Schaden. Da fiel mir plötzlich etwas ein. „Warte mal kurz.“ Ich öffnete meine Tasche, um nach meinem Handy zu suchen, nur um mich daran zu erinnern, dass ich es ja extra zu Hause gelassen hatte.

Na gut, dann eben anders.

Neugierig schaute Ryder mir dabei zu, wie ich die ganze Tasche nach einem Stift und einem Zettel absuchte und ihm dann beides vor die Nase hielt. „Wärst du so freundlich und mir deine und Tyrones Telefonnummer aufschreiben?“ Tyrones war mir eigentlich nicht so wichtig, aber ich wollte hier ja keine komischen Ideen aufkommen lassen. „Ich hab voll die Krise bekommen, weil ich euch nicht erreichen konnte.“

Lächelnd nahm er Stift und Zettel und drückte das Papier an die nächste Wand, um einen festen Untergrund zu haben. „Das erklärt dann wohl die Nachricht, die irgendwer unter unser Tür durchgeschoben hat. Wie war das noch gleich? Ruft an!“

Ob er bei dem schummrigen Licht sehen konnte, wie ich rot anlief? „Hey, ich bin extra zu euch gefahren und ihr hattet es nicht mal für nötig gehalten, anwesend zu sein.“

Grinsend reichte Ryder Stift und Zettel an mich zurück. „Hätte ich gewusst, dass du extra nach uns sehen würdest, wären wir wohl noch zwei Tage länger geblieben.“

„Gut zu wissen.“ Ich nahm meine Sachen wieder an mich und schaute zufrieden auf die beiden Zahlenreihen, bevor ich den Zettel in meinem Portemonnaie verschwinden ließ.

„Und, was ist mit dir?“, fragte er, während ich auch noch den Stift verschwinden ließ und wir uns wieder in Bewegung setzten. „Was hast du so getrieben? Immer noch Krach mit Diego und Lucy?“

„Ja.“ Das war nicht wirklich ein Thema, über das ich mich jetzt unterhalten wollte.

„Schon verstanden, Rote Zone.“

So könnte man es auch ausdrücken.

„Und sonst? Nichts zu erzählen?“

Ich überlegte einen Augenblick. Da gab es tatsächlich etwas, dass ich erzählen konnte. Ich beobachtete ich ganz genau, als ich den Mund öffnete, damit mir seine Reaktion nicht entging. „Meine Mutter ist wieder zu Hause.“ Wenn es stimmte was ich gehört hatte, müssten diese wenigen Worte irgendein Effekt auf Ryder haben. Zu meiner Enttäuschung blieb er völlig gelassen, so als wenn ich ihn erzählt hätte, dass morgen wieder die Sonne scheinen würde.

„Und, freust du dich?“

„Ja, tu ich.“ Mein Blick blieb weiter auf ihm kleben. Verdammt. Bei Mama hatte es sich so angehört, als wäre sie Ryder bereits begegnet. Das musste doch irgendeine Reaktion hervorrufen, aber da war rein gar nichts! „Vorgestern, als ich aus der Uni kam, war sie …“ Ein heftiger Schwindel erfasste mich, stärker noch als der am U-Bahnhof. Ich schaffte es nicht mehr rechtzeitig mich irgendwo festzuhalten und sackte einfach in mich zusammen.

„Cayenne!“

Das Wummern in meinem Hirn verstärkte sich. Wumm wumm wumm. Wie ein nicht enden wollender Rhythmus. In meinem Kopf drehte sich alles und mir war leicht übel. Vor meinen Augen tanzten kleine Flecken, an denen vorbei ich Ryder erkennen konnte.

Sein Mund bewegte sich, aber meine Ohren waren alleine mit dem Klang in meinem Kopf beschäftigt. Wumm wumm wumm. Immer wieder und wieder. Ich schloss sie Augen und schüttelte den Kopf, verbarg mein Gesicht hinter dem Vorhang meiner langen Haare.

Auf einmal spürte ich das leichte Kribbeln auf meiner Wange, ein Kribbeln, das nicht zum ersten Mal über meine Haut kroch. Er hatte seine Hand an meine Wange gelegt.

„…mich hören? Cayenne, hörst du mich?“

„Ja natürlich höre ich dich. Ich bin ja nicht taub.“ Oh Mist, war das etwa meine Stimme? Nicht sicher, ob meine Beine mich wieder tragen würden, versuchte ich aufzustehen. Dass ich dabei Ryder als Stütze benutzte, bemerkte ich erst, als er nach meinem Arm griff und mich vorsichtig hochzog.

„Und warum antwortest du mir dann erst jetzt?“

„Weil dumme Fragen meist keine Antwort wert sind.“ Sobald ich sicher war nicht einfach umzufallen, machte ich mich von seinem Griff frei. Nicht weil ich die Hilfe nicht gebrauchen konnte, sondern weil ich nicht wollte, dass er sich Sorgen machte.

„Wenn ich mir nicht sicher wäre, dass du mich magst, wäre ich jetzt glatt beeidigt.“

Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Die schwarzen Ränder zogen sich langsam zurück. „Ach, ich mag dich?“ Verflixt noch mal, was war heute nur mit mir los? So was hatte ich ja noch nie erlebt. Ich war mein Leben lang einer der gesündesten Menschen gewesen, die ich kannte und dass mich ausgerechnet heute mein Körper so aus der Bahn warf, ärgerte mich einfach nur.

„Natürlich.“ Vorsichtig, als sei er sich nicht sicher, dass ich das auch erlaubte, griff er nach einer losen Haarsträhne und begann damit sie zwischen den Fingern hin und her zu drehen. „Ich bin sogar so dreist zu behaupten, dass du mich in der kurzen Zeit die wir uns kennen, bereits liebgewonnen hast.“

Oh-kay. Ich wusste nicht so recht, was ich von dem plötzlichen Stimmungswechsel halten sollte. Und dann erst dieser Blick seiner Augen. So tolle Augen …

Bring deine Hormone mal wieder unter Kontrolle!

„Da ist aber jemand ziemlich von sich überzeugt.“ Wumm wumm wumm. Es wurde wieder stärker. Nur leicht, aber ich konnte es deutlich spüren. Mist aber auch.

„Nein, eigentlich nicht, nur hoffnungsvoll.“ Er zwinkerte mir verspielt zu. „Mir geht es so auf jeden Fall.“

Nein, ich wusste absolut nicht, was ich darauf erwidern sollte. Zum Glück gingen wir bereits an der Videothek vorbei, was bedeutete, dass es nicht mehr weit bis zu seiner Wohnung war.

„Warum plötzlich so still?“

Naja, weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. „Ich muss doch nicht immer Quatschen, oder? Ein Augenblick der Stille ist doch auch mal ganz nett.“

Er öffnete den Mund für eine Erwiderung, schloss ihn aber sofort wieder, als sich auf der nächtlichen Straße ein wirklich greller Wagen nährte. Auf dem ersten Blick wirkte er wir ein Hippiebus aus den späten Siebzigern, doch statt Blumen und Peacezeichen, war er voll mit dämonischen Fratzen. Dabei war er aber nicht unheimlich, oder gar grausig gestaltet, die Fratzen lachten und sangen in kunterbunten Farben. Ein paar spielten Fangen und der auf der Beifahrertür, hüpfte sogar mit seinem Springseil durch die Gegend.

Warum ich das alles so genau sah? Weil er direkt neben uns am Straßenrand hielt.

Stirnrunzelnd verlangsamte Ryder seinen Schritt, bis er ganz anhielt. Als der Wagen dann auch noch seinen Motor abstellte, drückte er unwillig die Lippen zusammen.

„Was ist los?“ fragte ich.

Ryder schaute nur dabei zu, wie die Fahrertür geöffnet wurde und dann eine junge Frau, mit leicht abstehenden Ohren, lächelnd um die Motorhaube kam. Sie konnte nur wenig älter sein als wir. Und er wirkte absolut nicht begeistert, sie hier zu sehen.

Ich schaute zwischen den beiden hin und her. „Kennst du sie?“

„Ja“, sagte Ryder, schien aber nicht sehr erfreut über diese Tatsache. „Tu mir den Gefallen und warte kurz hier, ich bin gleich wieder bei dir.“

„Okay“, sagte ich noch, aber da trat er bereits auf den Wagen zu und fing das blasse Mädel mit dem schwarzen Pferdeschwanz an der Motorhaube ab, bevor sie auf den Gehweg treten konnte.

Ryders Schultern wirkten leicht angespannt und die Worte, die er mit der jungen Frau wechselte waren so leise dass ich sie wohl nur verstanden würde, wenn ich direkt neben ihnen gestanden hätte.

Als die Frau sich neugierig zur Seite beugte, um einen Blick auf mich zu erhaschen, stellte Ryder sich sofort wieder in ihr Sichtfeld, als wollte er mich vor ihr verbergen. Er gestikulierte ein wenig mit den Händen, nickte dann ein paar Mal und hörte dann nur noch zu, was das Mädel in dem langen Rock zu sagen hatte.

Ich währenddessen schaute zum Himmel, schaute zu den Häusern, schaute zu den Autos und landete am Ende dann doch wieder bei den beiden. Nur deswegen sah ich wohl, wie Ryder eindringlich auf die Frau einredetet und am Ende geschlagen die Schultern hängen ließ.

Ich wollte bereits fragen was los war, da wandten die beiden sich auch schon zu mir um und kamen direkt auf mich zu.

Ryder wirkte äußerst unzufrieden, das Mädchen jedoch begegnete mir mit erhobenen Mundwinkeln und ausgestreckter Hand. „Hey, nenn mich Future.“

„Future? Wirklich?“ Was war das denn für ein Name? Ich kam nicht dazu diese Frage zu stellen, denn ein Blick in ihre Augen und mein Denken geriet einen Moment ins stocken. Okay … wow, damit hatte ich nun nicht gerechnet. Sie waren Violett. Und als wäre das nicht außergewöhnlich genug, musste ich feststellen, das Ryders Augen doch nicht so einmalig waren, wie ich bisher immer angenommen hatte. Futures waren genauso blass, irgendwie wie Glas.

„Ist nur ein Spitzname“, erklärte sie lächelnd.

„Was?“

„Der Name.“ Lächelnd hob sie die Hand ein wenig hör. „Ich weiß das verwirrt die Leute manchmal ein wenig. Wer nennt sich schließlich Future? Aber da gab es früher diese echt tolle Kinderserie, Captain Future, schon mal gehört?“

„Ähm … ja?“

„Cool. Jedenfalls, ich hab die als kleines Kind unheimlich gerne geschaut und so oft, dass meine Freunde irgendwann anfingen mich nur noch Future zu nennen und das ist dann irgendwie hängengeblieben.“

„Aha.“ Als ich ihre Hand nahm und dabei immer wieder irritiert von einem zum anderen schaute, musste ich sie ein Fisch auf dem Trockenen wirken. Aber es war nun mal irgendwie verwirrend. „Sagt mal, seid ihr irgendwie miteinander verwandt?“ Bis auf die Augen und die Haarfarbe sahen sie sich zwar absolut nicht ähnlich, aber wie sollte man dieses Phänomen denn sonst erklären?

„Ich hoffe doch mal nicht.“ Sie beugte sich mir ein wenig zu vertrauensvoll entgegen. „Ich hab nämlich schon echt schmutzige Gedanken über diesen hübschen Kerl gehabt“, vertraute sie mir an. „Und das wäre doch irgendwie pervers, wenn wir miteinander verwandt wären, oder?“

„Ähm.“ Ja, was sollte ich dazu noch sagen?

„Oh, bin ich mal wieder zu offen?“ Sie ließ meine Hand los und trat dann schwungvoll einen Schritt zurück, wobei ihr langer Rock ihr um die Beine schlug. „Tut mir leid, das ist so ein Tick von mir, den ich einfach nicht abstellen kann.“

„Musst du nicht noch irgendwo hin?“, unterbrach Ryder uns ungeduldig und schob sie ziemlich nachdrücklich in Richtung ihres Wagens.

Das Violett in den Augen verdunkelte sich leicht. „Ich hab das Gefühl, ich bin hier unerwünscht.“

„Du wolltest Hallo sagen, dass hast du jetzt, also verzieh dich, Future.“

„Immer gleich so unhöflich, dabei bin ich doch nur neugierig. Ich habe dich schließlich noch nie in … Gesellschaft gesehen.“

Ryder machte ein genervtes Geräusch. „Geh endlich weg.“

„Ist ja schon gut.“ Sie grinste noch einmal zu mir herüber. „Falls du mal Lust hast wegzugehen, gib mir Bescheid, ich bin für alle Schandtaten zu haben.“

Gut zu wissen. „Ich merke es mir.“

„Okay, verschwinde jetzt endlich“, drängte Ryder.

Mit einem Winken stieg sie in ihren Wagen ein und hupte uns zum Abschied sogar noch an.

Ryder wartete nicht erst darauf, dass sie losfuhr, er nahm mich direkt wieder an die Hand und zog mich vom Wagen weg. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich bei mir. „Future ist immer ein kleinen wenig … aufdringlich.“

Naja, so schlimm war sie auch nicht gewesen. „Also ich fand sie ganz nett.“

„Ja, weil du sie nur zwei Minuten ertragen musstest. Nach einer halben Stunde hättest du ihr wahrscheinlich eine Kugel in den Kopf gejagt, einfach nur, damit sie aufhört Schwachsinn von sich zu geben.“

„Scheint so, als sprichst du aus Erfahrung.“

Sein Mundwinkel zuckte zwar, aber er enthielt sich jeden Kommentars.

In meinem Kopf wurde es auf einmal wieder ganz trieselig, sodass ich tief durchatmen musste und nur hoffen konnte, dass Ryder es nicht bemerkte. „Sag mal“, begann ich um mich von meinem Zustand abzulenken. „Was hat es mit den Augen auf sich?“

Ryder warf mir einen Seitenblick zu. „Wessen Augen?“

„Futures Augen.“

„Was soll mit denen sein?“

„Na ja, sie sehen aus wie deine.“ Ich warf schnell einen Blick zu beiden Seiten, bevor wir die Straße überquerten. Direkt auf der anderen Seite lag bereits die Wohnung der Brüder.

„Sie hat auch blaue Augen?“ Ryder neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Nein“, dementierte ich. „Die Augenfarbe meine ich nicht, sondern die … hm … Art?“ Wie sollte ich das sonst beschreiben?

„Was für eine Art Augen hab ich den?“

So neugierig und unwissend, wie er mich anschaute, war ich mir nicht ganz sicher, ob er nur so tat, oder ob er es wirklich nicht bemerkt hatte. Vielleicht bildete ich mir das ja doch nur ein. Kein Anderer hatte es bemerkt. Ich wollte nicht wie die letzte Idiotin dastehen, deswegen antwortete ich ihm. „Die gleichen wie Future.“

Er ließ eine Augenbraue nach oben wandern. „Soll ich das als Kompliment nehmen?“

„Wenn du möchtest.“

Wieder wurden seine Pupillen eine Spur dunkler. Nein, das konnte ich mich nicht nur einbilden, das geschah wirklich. Ich wusste nicht was es war, aber es war real. Und wie es schien, war ich die einzige die es sehen konnte.

Ryder schnaubte. „Also, an deinen Komplimenten musst du definitiv noch arbeiten, ich bin nämlich viel hübscher als Future.“ Er trat an die Haustür, holte seinen Schlüssel heraus und öffnete mir die Tür.

„Was schweben dir denn so für Komplimente vor?“

„Naja, du könntest mich als heißer Hecht bezeichnen, oder auch als umwerfend, unwiderstehlich, einzigartig, furios.“

„Blasiert.“

„He!“

Lachend trat ich in den Hausflur und sofort ging es mir wieder besser. Sogar die Stufen in die siebente Etage schaffte ich, ohne mich ein einziges Mal zu beschweren, auch wenn meine Lunge irgendwo auf der Hälfte des Weges schlapp machte. Das war echt kaum zu glauben. Einen ganzen Marathon konnte ich laufen, ohne auch nur eine Pause zu machen, aber wenn es in die Höhe ging, spielte meine Lunge einfach nicht mit.

Ryder ließ mich in die Wohnung und sofort sprang mir die Veränderung ins Auge, die seit meinem letzten Besuch stattgefunden hatte. Der Flur war jetzt tapeziert und eine Garderobe hatte seinen Platz an der Wand gefunden. Genau wie eine Kommode, auf der einige von Tyrones Zeichnungen verteilt lagen. Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer zeigte mir, dass auch hier jemand unser angefangenes Werk vollendet hatte. Zu der spärlichen Einrichtung hatten sich ein Tisch, ein Sideboard und mehrere, überfüllt Regalbretter gesellt. Hinter der Tür stand eine kleine Kommode und unter dem Tisch lag ein flauschiger Teppich.

„Ihr wart fleißig, wie ich sehe.“

„Irgendwie muss man sich ja die Zeit vertrödeln“, lächelte Ryder und hängte seine Jacke an die Garderobe.

Ein Runzeln schlich sich auf meine Stirn. „Ich dachte ihr ward die ganze Zeit in eurem Heimatdorf.“

„Nicht die ganze, wir sind vor drei Tagen wieder hier aufgeschlagen.“

Und warm hatten sie sich dann nicht gemeldet? Ich hatte ihnen doch extra meine Handynummer unter der Tür durchgeschoben.

„Bis heute Nachmittag haben wir dann erstmal die Bude wohnlich gemacht“, erklärte er weiter und drückte mir eine kleine Karte in die Hand. „Schieb' das mal bei Tyrone unter der Tür durch.“

Ich drehte die dünne Pappe in meiner Hand. Eine alte Kinokarte und mit alt, meinte ich wirklich alt. Den Film, zu der Karte kannte ich nicht, aber sie war schon vor sechs Jahren abgelaufen. „Warum soll ich ihm die unter der Tür durchschieben? So was gehört in den Mülleimer.“

„Keine Phantasie das Mädchen.“ Beinahe bedauernd schüttelte er den Kopf und drehte mich dann zu Tyrones Tür herum. „Die musst du drunter durchschieben, damit er weiß, dass er rauskommen soll.“

„Hä?“ Ich verstand nur Bahnhof.

„Was sagt dir eine Kinokarte?“

„Das wir ins Kino gehen?“

Er seufzte leicht übertrieben. „Und warum geht man ins Kino?“

„Um sich einen Film anzusehen.“ Und da machte es bei mir klick. Das war das gleiche wie mit der Popcorntüte. Mann, ich war doch sonst nicht so schwer von Begriff. Musste am Wetter liegen. „Okay, verstanden.“

„Na dann, mach dich mal an die Arbeit.“

Während Ryder in der Küche verschwand, schob ich die Karte unter Tyrones Tür durch. Kerle können manchmal ganz schön albern sein. Jeder andere würde einfach anklopfen, aber das wäre ja viel zu unkompliziert.

Als ich mich wieder erhob, wurde mir auf einmal schwarz vor Augen. Ich musste mich am Türrahmen abstützen, um nicht gleich wieder umzufallen. Zum Glück war Ryder gerade in die Küche verschwunden. Wenn er das sehen würde, würde er sich bestimmt gleich wieder sorgen machen.

Leider wollte der Schwindel dieses Mal nicht verschwinden. Ich blinzelte ein paar Mal. Das Wummern in meinem Kopf wuchs zu einem Dröhnen heran, das mir die Sicht raubte und mir die Ohren klingeln ließ. Auf einmal begann die Welt zu kippen. Meine Hand rutschte vom Türrahmen ab und meine Beine verloren die Verbindung zum Boden. Irgendwo am Rande registrierte ich noch dass ich fiel, aber dann war da nichts mehr.

 

°°°

 

Der Nebel lichtete sich, schickte meinen Geist zurück in die Wirklichkeit und es war kein schönes Gefühl. Etwas lag auf meinem Kopf, etwas Nasses. Ich tastete danach, wollte es wegziehen …

„Oh nein, Prinzessin, der bleibt schön da wo er ist“, hörte ich Ryder und eine Hand entfernte meine aus dem Umkreis meines Gesichts.

Ich blinzelte und versuchte mich zu orientieren. Ich lag auf einer Couch, den Kopf in Ryders Schoß gebettet. Tyrone saß neben mir. Der Fernseher lief leise im Hintergrund, das Fenster war weit geöffnet, ließ frische Luft in den Raum und in der Ecke spendete eine große Standleuchte etwas Licht.

Blinzelnd richtete ich meinen Blick wieder nach oben.

„Na Dornröschen, wieder wach?“ Ryder lächelte, aber in seinem Gesicht war mehr als deutlich zu erkennen, dass er sich Sorgen machte.

Wie war ich nur auf die Couch gekommen? Eben hatte ich doch noch um Flur gestanden und die Karte unter Tyrones Tür durchgeschoben. Und dann … ach ja, dann war ich einfach umgekippt. Super. „Was heißt hier Dornröschen?“, grummelte ich und erkannte meine eigene Stimme kaum wieder. Wow, ich glaubte nicht, dass die schon jemals so rau geklungen hätte. „Ich hab nur eine kleine Siesta gehalten.“ Ich tastete erneut nach meinem Kopf. Das Wummern hatte etwas nachgelassen, war aber noch lange nicht ganz abgeklungen.

„Eine Siesta hält man im Bett“, erklärte Tyrone, als sei ich eine unterbelichtete Dreijährige. „Nicht vor meiner Zimmertür.“

„Da war es aber so gemütlich.“

Beide Jungs sahen mich scharf an.

Unter der Wucht dieser Blicke gab ich meinen Sarkasmus schwer seufzend auf. „Was wollt ihr denn bitte hören?“

„Zuerst einmal, wie du dich fühlst“, sagte Ryder.

Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, ein bisschen matt vielleicht, nichts Ernsthaftes.“

Tyrone lachte auf, aber er wirkte keineswegs belustigt. „Nichts Ernsthaftes? Du bist weiß wie ein Laken und glühst wie ein Grill.“ Er musterte mich auffallend. „Hast du Schmerzen? Tut dir was weh?“

„Nein, mir geht es gut.“ Ich richtete mich auf, um meine Worte zu bestätigen, doch Ryder zog mich sofort wieder in die Horizontale. „Hey!“

„Du bleibst liegen“, bestimmte er. „Ich will nicht, dass du noch mal umkippst.“

„Danke, aber ich hab schon eine Mami.“

„Ich meine es ernst, Prinzessin.“ Jeglicher Spott war aus seiner Stimme verschwunden und auch sein Gesicht zeigte, dass er in diesem Punkt nicht mit sich reden lassen würde. Schöne Scheiße. So gab ich mich stöhnend geschlagen. Sonst blieb mir ja keine andere Wahl. Wenn Ryder wollte, könnte er mich mit Gewalt auf der Couch halten und das würde ich ihm glatt zutrauen.

„Toll“, meckerte ich. „Und was wird jetzt aus unserem Horrorabend?“

Tyrone gab eine Mischung aus Lachen und Unglauben von sich. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“

„Und ob das mein Ernst ist. Deswegen bin ich hier, schon vergessen?“

„Du verlierst aus heiterem Himmel das Bewusstsein und jetzt denkst du an den Filmabend?“

„Ja und?“

Fassungslos schüttelte Tyrone den Kopf. „Das glaub ich jetzt nicht.“

„Kannst du aber.“ Ich hatte mich schon den ganzen Tag auf diesen Abend hingefiebert und wollte ihn mir nicht von irgendwelchen Schwächeanfällen kaputt machen lassen. Deswegen war ich abgehauen und durch die halbe Stadt gefahren. Nicht um hier rumzuliegen und einen auf Patient zu machen. Ich wollte mit den Jungs einen schönen Abend verbringen. „Kommt schon“, bettete ich. „Ich hab mich so darauf gefreut.“

Tyrone schwieg dazu, doch Ryders Mundwinkel zuckten leicht nach oben. „Okay“, sagte er. „Warum eigentlich nicht?“

„War das eine ernsthafte Frage?“, grummelte Tyrone.

„Sie hat doch Recht“, stand er mir zur Seite. „Deswegen haben wir sie eingeladen.“

„Genau“, stimmte ich zu und streckte Tyrone die Zunge raus. Kindisch, keine Frage, aber manchmal sooo befriedigend.

„Du schmeißt den Film rein“, sagte Ryder, „holst das Popcorn und sie bleibt genau dort wo sie ist. Zum Fernsehen muss sie nicht aufstehen.“

So war das eigentlich nicht geplant. „Ich glaub, ich bin alt genug, um selber zu wissen …“

„Wir machen es so wie ich gesagt habe“, schmetterte Ryder meinen Protest sofort ab, „oder der ganze Abend ist gestorben. Du hast die Wahl.“

Tolle Wahl. „Das nennt man Erpressung.“

„Du vielleicht, ich nenn das auf Nummer sicher gehen.“

Meine Mundwinkel zogen sich missmutig nach unten. „Nenn es wie du willst, es bleibt trotzdem Erpressung.“

„Das heißt, wir sollen den Film nicht einschalten?“

Darauf musste ich gar nicht erst antworten, er wusste auch so, dass er gewonnen hatte. Also holte Tyrone das Popcorn aus der Küche, das, wie Ryder deutlich mitteilte, heute zum essen und nicht zum werfen gedacht war, und legte eine neuerliche Beute aus der Videothek in den DVD-Player.

Ich drehte den Kopf in Ryders Schoss, sodass ich den Fernseher sehen konnte und musste bereits nach kurzer Zeit einsehen, dass Ryder wohl recht gehabt hatte, Aufstehen war im Moment keine Option. Das Wummern in meinem Kopf hatte sich zu einem deutlichen Schmerz entwickelt, der mir von allen Seiten in die Hirnrinde stach. Und wenn es nicht der Schmerz war, der mich malträtierte, begann sich das Karussell in meinem Kopf zu drehen. Mir war kalt und heiß zugleich und ich wusste, dass es wohl das Klügste wäre, den Abend zu verschieben und einfach schlafen zu gehen, doch das wollte ich nicht.

So sehr ich mich an diesen Abend klammerte, von dem Film selber bekam ich kaum etwas mit. Ständig hatte ich mit weiteren Wehwehchen zu kämpfen. Auch wenn ich so taff getan hatte, mir ging es dreckig und es wurde mit jeder Minute schlimmer.

Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und griff hin und wieder sogar in die Popcornschale, um den Schein zu wahren. Doch das Popcorn schmeckte wie Pappe und jedes Mal wenn ein weiteres Schäumchen seinen Weg in meinem Magen fand, versuchte dieser es sofort auf sehr unkonventionellen wieder loszuwerden, sodass ich die nächsten zwei Minuten damit beschäftige war, immer wieder angestrengt zu schlucken.

Das war wohl auch der Grund, warum Ryder nach dem Dritten Popcorn die Schüssel aus meiner Reichweite entfernte.

„Willst du was trinken?“, fragte Tyrone und musterte mich wieder mit diesem prüfenden Blick.

Ich schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich will nichts. Und jetzt hört auf so zu tun, als wenn ich jeden Moment aus dem Leben …“ Plötzlich rollte eine so heftige Hitzewelle über mich hinweg, dass ich nur noch die Augen aufreißen konnte und Schnappatmung bekam. Scheiße, was war das denn?!

„Cayenne?“ Besorgt beugte sich Ryder über mich.

Oh Gott, das brannte. Mein Brustkorb zog sich zusammen. Ich hustete, zog meine Beine fest an den Körper und versuchte wieder zu Atem zu kommen.

Dieses Mal konnte ich den Jungs nichts vormachen. Tyrone war sofort mit einem Glas Wasser zur Stelle und Ryder strich mir beruhigend über den Kopf, aber das half nicht. Ganz im Gegenteil, es wurde immer schlimmer.

Meine Lunge krampfte sich zusammen. „Krieg … keine Luft.“ An den Rändern meiner Sicht taten sich schwarze Flecken auf. In meiner Panik rollte ich zur Seite und landete halb auf dem Boden, während ich versuchte meine Lungen mit Luft zu füllen, aber da kam nichts. Meine Kehle war zugeschnürt und verweigerte mir den Dienst.

Ryder griff sofort nach mir, um mich wieder hochzuziehen, überlegte es sich dann aber anders und ließ mich wo ich war.

„Ruhig“, versuchte Tyrone mich zu beruhigen. „Ganz ruhig, das geht gleich vorbei.“

Mein Brustkorb schmerzte, mein Herz raste und plötzlich zuckte ein Schmerz durch meine Wirbelsäule, als sei ein Pfeil hindurch geschossen worden. Ich schrie auf, krümmte mich zusammen. Endlich füllten meine Lungen sich mit dem ersehnten Sauerstoff, doch dafür brannten meine Knochen, als würde man mich über offenem Feuer grillen. Meine Haut kribbelte am ganzen Körper unangenehm, Tränen traten in meine Augen. „Oh Gott, es tut weh.“

„Das ist gleich vorbei“, versprach Tyrone, strich mir über den Rücken, machte es aber dadurch nur noch schlimmer. Seine Berührung brannte, sodass ich anfing zu wimmern.

Meine Hände krallten sich in das Polster. Halb auf dem Boden, halb auf der Couch wartete ich darauf, dass der Schmerz nachlassen würde, aber es wurde immer schlimmer. Ich hatte das Gefühl meine Haut würde reißen. Etwas Vergleichbares hatte ich nie gespürt. Ich wollte dass es aufhörte, aber es ging einfach nicht vorbei.

Ryder ließ mich keinen Moment aus den Augen. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengedrückt und seine Finger zuckten immer wieder, als versuchte er sich selber daran zu hindern nach mir zu greifen.

Nadeln stachen in meinen ganzen Körper, Hitze versenkte meine Haut. Sie schien sich über meinem Körper bis zur Zerreißgrenze zu spannen. Mein Atem war hektisch, Adrenalin jagte mir durch die Adern, in meinem Kopf baute sich ein schmerzhafter Druck auf. Ich zitterte unter der Anstrengung, den Schmerz zu ertragen, krallte meine Hände tiefer ins Polster, wimmerte …

„Da stimmt was nicht“, sagte Ryder plötzlich. „Das dauert zu lange.“

„Das sehe ich selber!“, ranzte Tyrone ihn an und hockte sich dann neben mich. „Cayenne, hörst du mich?“

Ich schluchzte, nickte leicht, da meine Stimme sich nicht regen wollte.

„Sag mir, hörst du die Melodie?“

Es brannte, mein ganzer Körper stand in Flammen. Mein Kopf drohte zu explodieren. Meine Haut wollte sich von mir lösen. Mir war schwindelig und mein Herz würde gleich aus der Brust springen.

„Cayenne“, sagte Tyrone eindringlich. „Du musst mir antworten. Kannst du das Lied hören?“

Ich konnte nicht sprechen, selbst wenn ich gewollte hätte. Meine Kehle war zugeschnürt, stellte seine Arbeit einfach ein. Dann raste erneut dieser Pfeil durch mich hindurch. Ich biss in die Couch, verkrallte mich förmlich darin und versuchte meinen Schrei zu ersticken. Der Schmerz, er wollte mich richten und mich ins Jenseits befördern, tat es aber einfach nicht. Ich blieb wo ich war. Nicht mal eine Ohnmacht war mir vergönnt. Dann schmeckte ich Blut und hatte keine Ahnung, wo her es kam.

„Verdammt, sie hat sich gebissen“, fluchte Ryder. „Mach das scheiß Fenster zu!“

„Wenn ich es zumache …“

„Tu es einfach!“

Tyrone zögerte, knurrte dann unwillig und sprang über mich hinweg zum Fenster.

Zwei sanfte Hände versuchten mich vom Sofa zu lösen, doch die Berührung war wie ein Blitz, der tief in meine Knochen stach.

Ich schrie auf, stieß mich von Sofa weg und landete auf dem Rücken. Sterne explodierten vor meinen Augen und meine Umgebung verschwamm. Ich konnte hören, wie das Fenster geschlossen wurde, wie Ryder neben mich sprang und eindringlich auf mich einredete, ich solle die Augen öffnen. Er befahl mir, dass ich sie aufmachte, doch ich konnte nicht, mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Seine Worte waren fast flehend, aber der Schmerz hielt mich gefangen.

Meine Beine, ich glaubte, dass meine Beine brechen wollten, dass meine Finger in die falsche Richtung zeigten und dass mein Brustkorb zerquetscht wurde. Der Schmerz, der wie ein Orkan durch meinen Körper tobte, raubte mir den Atem. Ich verkrampfte mich, schnappte wie ein Fisch auf dem Trocknenden nach Luft, aber da kam nichts. Panisch riss ich die Augen auf und starrte in die von Ryder.

„Lass die Augen offen“, befahl er mir. „Sieh mich an.“ Das zarte Eisblau vertiefte sich, wurde intensiver und nahm meinen Geist gefangen. Als würde die Farbe aus den Tiefen aufsteigen, wurden seine Pupillen dunkler. „Der Schmerz ist nicht real, hörst du? Er existiert nur in deinem Kopf.“

Ein Nebel umhüllte meinen Geist, verdrängte alles, nur seine Worte blieben. Mein Herzschlag beruhigte sich ein wenig und mein Atem wurde ein wenig langsamer.

„So ist gut.“ Er behielt den Blickkontakt zu mir. „Atme tief ein und aus und dann sag mir, ob dir noch was wehtut.“

„Ich …“ Ich wusste es nicht. Mein Körper protestierte noch immer, als wenn die Schmerzen der Hölle ihn heimsuchen würden, ich zitterte unter Qualen, aber ich konnte nichts mehr spüren, mein ganzer Körper war einfach nur taub. Was für ein Segen.

Ich versuchte die Finger zu bewegen. Es funktionierte, aber ich konnte es nicht spüren. Angst packte mich und ein Strom von Tränen lief mir über die Wangen.

„Nicht weinen.“ Ryders Stimme war so samtweich, als würde ein Hauch über mich streichen. „Alles wird gut. Wir passen auf.“

„Meine Beine“, schluchzte ich. „Ich fühle meine Beine nicht. Ich fühle …nichts mehr.“

„Das geht vorbei“, versprach er und strich mir über den Kopf, aber das nahm ich nur als entferntes Echo wahr. „Aber du musst mir jetzt sagen, ob du noch Schmerzen hast.“

Ich wollte den Kopf schütteln, aber es war mir nicht möglich, meinen Blick von seinem zu trennen. Es war, als würde er mich festhalten.

„Du musst mir antworten, Prinzessin.“

„Nein“, schluchzte ich. „Keine Schmerzen.“ Nur dieser Nebel, der alles von mir fern hielt. Klare Gedanken, Gefühle, meine Sinne fühlten sich dumpf an.

„Gut.“ Er blinzelte einmal und seine Augen waren wieder so, wie ich sie kannte. Hell, blass, mit diesem kristallenen Funkeln. Aber sie wirkten noch immer beunruhigt, als er mir vorsichtig ein Strähne aus dem Gesicht schob. „Wir müssen ihre Temperatur runter bekommen, sie glüht wie ein Backofen.“

„Eiswürfel?“ Tyrone kniete sich auf meine andere Seite.

„Besser Dusche“, erklärte Ryder und schob ganz vorsichtig er seine Arme unter mich. Dann verlor ich den Kontakt zum Boden.

Ich stand so neben mir, dass ich nicht mal versuchte mich an ihm festzuhalten. Widerstandslos ließ ich mich aus dem Wohnzimmer hinüber ins kleine Bad tragen, wo Ryder mich auf der Toilette absetzte, während Tyrone uns wachsam folgte.

Als Ryder dann aber einen der Verschlüsse meiner Latzhose aushakte, wurde mir auf einmal klar, was er vorhatte. Was dann geschah, war nichts weiter als ein Reflex. Sobald er versuchte auch den zweiten Verschluss meiner Träger zu öffnen, klatschte ich ihm eine. Ich wusste nicht mal wie ich das fertig brachte, aber durch meinen Tränenschleier sah ich, wie meine Hand auf seiner Wange landete und sein Gesicht zur Seite schlug.

Tyrone schaute erschrocken zu uns rüber, Ryder aber sah einfach nur erstaunt aus.

„Okay, damit habe ich ehrlich nicht gerechnet.“ Er bewegte seinen Kiefer, als müsste er ihn auf seine Funktion überprüfen und nahm dann vorsichtig mein Gesicht zwischen die Hände. „Hör zu Prinzessin, ich will die Situation nicht ausnutzen, aber wir müssen dich runterkühlen, sonst kippst du einfach um, verstehst du?“

Ich schaute von ihm zur Dusche. Dabei schwappte mein Hirn hin und her, als würde es in einem Sturm auf hoher See dahintreiben.

Als ich nichts sagte, griff Ryder erneut nach dem Verschluss. Dieses Mal jedoch achtete er auf meine Hände.

„Ich fühl mich nicht gut“, erklärte ich, während er die Träger über meine Schultern warf und sich dann an den seitlichen Knöpfen zuschaffen machte.

Meine Tränen wollten einfach nicht aufhören. Irgendwo hinter dem Nebel lauerte etwas und es machte mir eine scheiß Angst. Ich verstand nicht, was los war. „Ryder“, jammerte ich.

„Keine Angst, ich bin hier.“ Vorsichtig löste er auch die Knöpfe an der anderen Seite und zog mich dann hoch, sodass die Hose einfach an meinen Beinen hinabglitt.

Die Reibung erzeugte ein dumpfes Gefühl, dass mich wimmern ließ.

„Tyrone, hilf mir mal, das Shirt muss noch aus.“

Gemeinsam schafften die Brüder es mir auch noch mein Top auszuziehen, doch als Ryder dann nach der Stulpe an meinem Oberschenkel greifen wollte, begann ich mich zu wehren.

„Nicht“, nuschelte ich und krallte meine Finger darin fest. „Anlassen.“

Ryder wechselte einen Blick mit seinem Bruder. „Aber dann wird sie nass.“

„Anlassen“, wiederholte ich nur. Selbst in meinem Zustand war das etwas, dass niemand sehen durfte.

„Okay“, gab er dann nach und schob mir wieder den Arm unter die Beine. Dann setzte er mich vorsichtig in der Duschwanne ab, zog sich selber das T-Shirt aus und griff eilig nach dem Duschkopf. „Gleicht wird es besser“, versprach er und drehte das Kaltwasser an.

Tyrone verschwand zur Tür raus, während sein Bruder den weichen Strahl auf meine Brust richtete und das Wasser über meinen Körper laufen ließ.

Ich konnte es nicht richtig spüren und das verunsicherte mich. Das war schlimmer, als hier in nichts als Unterwäsche zu sitzen. „Was passiert … mit mir?“

„Nichts Prinzessin, alles ist gut.“ Er hockte sich vor mich und begann damit auch meine Schultern und Arme abzuduschen. In der Wanne sammelte sich kaltes Wasser, bis es den Überlaufschutz erreichte.

Ryder ging sehr gründlich vor. Systematisch ließ er das eiskalte Wasser über meinen Körper laufen und schien dabei kaum zu registrieren, dass ich praktisch nackt vor ihm saß. Sein Blick war vor Sorge getrübt, während ich nichts anderes tun konnte als dazusitzen und alles über mich ergehen zu lassen.

Als Tyrone wieder auftauchte, hatte er einen Stapel Handtücher bei sich, die er auf der Toilette ablegte. „Ich glaube wir haben noch Ibuprofen da. Glaubst du das bringt was?“

„Keine Ahnung, aber schaden tut es sicher nicht.“

„Dann schau ich mal, wo wir es hingelegt haben.“

„Medizin gehört in die Küche“, murmelte ich durch den Schleier in meinem Kopf.

„Bleib ruhig“, forderte Ryder mich sanft auf. „Es ist nicht gut, wenn du dich zu sehr anstrengst.“

Gute Idee. Ich schloss die Augen und ließ meinen Kopf zur Seite rollen. Es war kaum möglich ihn aufrecht zu halten.

Ich wusste nicht wie lange ich in dieser Dusche saß. Das Prasseln des Wassers hörte ich eher, als dass ich es spürte. Es mischte sich mit meinen Tränen und spülte sie einfach hinfort.

Ryder griff immer mal wieder nach vorne und legte mir prüfend eine Hand an die Stirn, nur um dann unzufrieden die Lippen aufeinander zu drücken und mit seiner Aufgabe fortzufahren.

„Wir müssen sie langsam rausholen“, erklärte Tyrone irgendwann – wann war er denn wieder ins Bad gekommen? „Ihre Lippern werden schon blau.“

„Sie glüht aber noch immer wie ein Brennofen“, widersprach Ryder sofort.

„Dann bringt es aber auch nichts, wenn wir sie noch weiter darin sitzen lassen.“

„Verdammt“, fluchte Ryder und nahm dann unwillig den Duschkopf weg, um das Wasser abzudrehen. „Das hätte nicht passieren dürfen. Roger hat gesagt, es wäre ganz einfach.“

Kaum dass er die Brause weggelegt hatte, nahm Tyrone ein großes Handtuch zur Hand und hielt es ausgebreitet hoch. „Auch er kann sich irren.“

„Danke für diese Weisheit.“ Ryder beugte sich über mich und zog mich vorsichtig auf die wackligen Beine. Dann hob er mich aus der Duschwanne und stellte mich auf den Fliesenboden.

Sofort wickelte Tyrone von hinten das große Handtuch um mich. „Das Ibuprofen habe ich neben dein Bett gestellt und die Vorhänge zugezogen.“

„Gut.“ Nun schon zum dritten Mal schob Ryder einen Arm unter meine Beine und hob mich hoch, als wöge ich kaum mehr als eine Feder. „Kannst du noch ein paar Eiswürfel in ein Handtuch wickeln?“

„Klar.“

„Beeil dich.“ Ryder trug mich aus dem Bad hinaus in das einzige Zimmer, dass ich bisher noch nicht betreten hatte, sein Zimmer. Außer dass das Bett genau in der Raummitte stand, konnte ich nicht viel erkennen, denn er schaltete das Licht nicht an. Trotzdem brachte er mich sanft und ohne Zusammenstöße zu seinem Bett und legte mich ganz vorsichtig darin ab. Er kam gar nicht erst auf die Idee mich zuzudecken. Ganz im Gegenteil, er klappte sogar wieder das Handtuch auseinander, um möglichst viel Luft an meine Haut zu lassen und dann … dann lag ich einfach nur da.

„Ryder“, wimmerte ich, als er einen Moment aus meinem Sichtfeld verschwand.

„Ich bin hier“, sagte er sofort und setzte sich im nächsten Moment auch schon neben mich auf die Bettkante. In seiner Hand hielt er ein Glas mit Wasser. „Mach mal den Mund auf. Ich hab hier ein paar Tabletten, die du schlucken musst.“

Unter enormer Anstrengung und viel Hilfe seinerseits schaffte ich es die Tabletten herunterzuwürgen. Er war es auch, der mich zurück in die Kissen bettete, weil ich ansonsten einfach umgefallen wäre, doch als er dann aufstehen wollte, um das Glas wegzustellen, tastete ich nach seiner Hand. „Bleib“, sagte ich sehr leise.

Er zögerte kurz, stellte das Glas dann neben das Bett und umfing auch meine Hand. „Keine Angst, ich lass dich nicht allein.“

Als auf einmal in der Ecke eine kleine Nachttischlampe eingeschaltet wurde, bemerkte ich, dass Tyrone den Raum betreten hatten. In seiner Hand hielt er ein zusammengebundenen Handtuch, das er gleich darauf vorsichtig auf meiner Stirn platzierte.

Irgendwie fand ich das tröstlich. „Was ist nur … los?“

Ryder drückte meine Hand. „Es ist bald vorbei.“

Ich glaubte ihm und wünschte mir, dass es bereits so weit war, aber der Nebel blieb, trieb mich benommen durch die Zeit. Ich fiel in einen leichten Wachschlaf. Irgendwie bekam ich alles um mich herum mit und doch war es kaum mehr als ein Traum, in dem alles verzerrt und unecht wirkte.

Wumm wumm wumm.

Am Rande des Nebels erwachte das Wummern, zog mich wieder in die Realität und ich spürte das Brennen. Es war nicht so stark wie beim ersten Mal, nicht mal annähernd, aber es war da. Ich konnte Ryders Hand in meiner spüren, er war noch bei mir. „Es brennt.“

Sofort unterbrach er sein leises Gespräch mit Tyrone und drehte sich besorgt zu mir herum. „Wo brennt es?“

Ich stöhnte, versuchte mich anders hinzulegen, aber es wollte nicht besser werden. „Meine Knochen, sie brennen.“ Der Nebel lichtete sich langsam, die Schmerzen drängten mit aller mach hindurch. „Oh Gott, es wird wieder schlimmer.“ Ich zog die Beine an den Körper, schlang meine Arme um sie. „Es tut so weh.“

„Das lass ich nicht zu, vertrau mir einfach.“ Seine Hände legten sanft sich um mein Gesicht und zwangen mich, ihn anzusehen. Die Berührung tat weh. Ich wollte ihn abwehren, aber er ließ nicht los. Er sah so gequält aus, so besorgt und die Angst, die ich in seinen Augen sah, machte mir Angst. Stand es wirklich so schlecht um mich?

Seine Augen veränderten sich wieder und schlugen mich in ihrem Bann. „Der Schmerz ist nicht real, hörst du?“

Langsam, ohne meine Augen von seinen zu trennen, nickte ich.

„Es geht vorbei.“

Der Schmerz wurde von dem Nebel zurück in den Hintergrund gedrängt. Ich legte meine Hand auf seine, spürte ihre Wärme, nur schwach, aber ich konnte sie fühlen. Mein Körper war nicht mehr so taub, wie noch vor ein paar Stunden. „Wann?“

„Wenn die Sonne aufgeht.“ Zärtlich strich er mir ein paar verschwitzte Strähnen aus dem Gesicht. „Ich wünschte nur, ich könnte mehr für dich tun.“

„Bleib einfach bei mir“, sagte ich sehr leise und drehte mich auf die Seite, um ihm näher zu kommen. Allein seine Gegenwart schien mir schon zu helfen

„Keine Sorge, ich werde nicht einfach Verschwinden.“

„Versprochen?“

„Ja, das verspreche ich dir.“ Beruhigend wanderten seine Finger über meine Haut, über die Schulter den Arm hinunter. Er setzte sich ein wenig anders hin, sodass er an meinen Rücken herankam und dort sanft über die Haut streichen konnte. „Nicht mehr lange, dann hast du es geschafft.“

„Ich will nicht mehr“, flüsterte ich schon wieder halb im Delirium.

Er murmelte etwas, doch es war so leise, dass ich es nicht verstand. Tyrone aber scheinbar schon, denn er erhob sich daraufhin seufzend und verließ das Zimmer.

Ryder schaute ihm einen Moment hinterher, dann legte er sich zu mir ins Bett und griff meine Hand. Dabei war er so nahe, dass ich sein Atem im Gesicht spüren konnte. So wachte er über mich.

Wenn das Brennen drohte an die Oberfläche durchzustoßen, drängte der Nebel es fort. Es war ein hin und her zwischen Schmerz und Taubheit. Immer wieder fielen mir die Augen zu, aber nie lange. Jede Minute des Schlafs wurde von den Schmerzen ausgenutzt, um mir wieder weh zu tun.

Tyrone brachte noch ein weites Mal Ibuprofen und zwang mich es zu nehmen. Zu schwach, um zu protestieren, tat ich was er von mir verlangte.

Die Brüder redeten kaum ein Wort. Wenn Ryder sprach, dann redete er meist mit mir. Sanfte, beruhigende Worte. Immer wieder versprach er mir, dass es vorbei geht. Seine Hand war immer bei mir, sorgte dafür, dass ich nicht alleine war und irgendwann glitt ich wieder in den Wachschlaf. Doch dieses Mal wurde ich nicht von den aufkommenden Schmerzen geweckt, sondern von Geräuschen auf dem Flur. Ich öffnete die Augen und schaute direkt in die von Ryder.

Leise Schritte, Flüstern. War jemand gekommen, während ich geschlafen hatte? „Wer ist das?“, fragte ich und erkannte meine Stimme nicht wieder. Sie war so rau und schwach.

Ryder zog die Augenbrauen zusammen. „Du kannst sie hören?“

Ich wunderte mich über diese Frage, nickte aber.

Tyrone, der im Schatten auf einem Stuhl saß, stand auf und schloss beim Verlassen des Zimmers die Tür hinter sich.

Wumm wumm wumm. Nein nicht jetzt, nicht schon wieder.

Ein leises Klopfen, ein Türschloss klickte und dann wurde es richtig laut. Die Geräusche waren nicht aus dem Flur gekommen, wie ich mir mit einem Mal klar wurde, sondern aus dem Hauskorridor, aber jetzt waren sie dort draußen vor Ryders Zimmertür. Wie war es möglich, dass ich sie gehört hatte und davon sogar wachgeworden war?

Es wurde lauter. Tyrone knurrte etwas, eine heftige Diskussion, dazwischen eine keifende Frauenstimme. Etwas knallte, ein Stöhnen. Ryder wirkte sehr angespannt.

Wumm wumm wumm. Ich wollte mich aufrichten und nachsehen was das zu bedeuten hatte, wurde aber von der Schwerkraft sofort wieder in die Kissen gezogen. Mich aus eigener Kraft zu bewegen war ein Ding der Unmöglichkeit. Meine Glieder waren schwer wie Blei.

„Bleib liegen“, ordnete Ryder an. „Es ist alles in Ordnung.“

Wumm wumm wumm. Das Wummern drängte mit aller Kraft nach vorne. Vor meinen Augen tanzten kleine Flecken. Der Nebel blieb, hielt den Schmerz fern, aber der Schwindel kehrte mit aller Macht zurück.

Irgendjemand im Flur rief, dass er ihn festhalten soll. „Was ist da los?“

„Gar nichts, bleib einfach liegen.“ Ryder legte seine Hand auf meine und auch wenn er das Ganze als nichts abtat, waren seine Augen die ganze Zeit auf seine Tür gerichtet, jederzeit zum Aufspringen bereit.

„Ryder …“

„Bleib ganz ruhig.“ Er drückte meine Hand. „Alles ist gut.“

Meine Sicht verschwamm, in dem gleichen Moment, in dem die Tür mit einem lauten Knall geöffnet wurde. Vor Schreck zuckte ich zusammen und krallte mich an Ryder, der sich aufrichtete. Er blieb neben mir und strich mir beruhigend über die Seite. „Raus hier“, knurrte er jemanden an, von dem ich nur die Silhouette wahrnahm.

Im Geräusche im Flur waren zu einem Ächzen und Stöhnen abgeklungen.

„Was zur Hölle …“

Die Stimme kannte ich. Lucy, das war Lucy.

Sie stand in Ryders Zimmer und starrte völlig entsetzt auf das Bild das sich ihr bot. Ich, fast nackt und halb im Delirium neben Ryder, der auch nur noch seine Jeans trug.

Im Flur stritt sich Tyrone mit irgendwem, warf ihm Ausdrücke an den Kopf, die sogar mir fremd waren und das sollte schon was heißen.

Wumm wumm wumm. Mein Kopf pochte und der Druck in meinem Körper deutete auf das drohende Brennen hin. „Ryder“, stöhnte ich. „Es fängt wieder an.“

„Schhh“, machte er, ließ Lucy aber nicht aus den Augen. „Gleich.“ Seine Hand strich mir über mein Arm und versicherte mir damit, dass ich nicht alleine war.

Ich vergrub meinen Kopf hinter ihm und biss die Zähne zusammen. Gleich würde er mir helfen, gleich. Ich musste nur noch einen Moment warten. Ich wusste, ich musste ihm nur in die Augen sehen und der Nebel würde zurückkehren, aber bevor es soweit kam, wurde das Entsetzen in Lucys Gesicht von ihrer grenzenlosen Wut ausgelöscht.

„Du widerlicher Schmarotzer!“ Sie stürzte auf ihn zu und weil ich seine Hand festhielt, schaffte er es nicht ihr rechtzeitig auszuweichen. Sie packte ihn am Arm, zerrte ihn von mir weg und im nächsten Moment krachte er mit den Rücken an die Wand. Hätte ich nicht so neben mir gestanden, hätte ich ich wohl über Lucys Kraft gewundert, so jedoch sah ich nur, wie meine einzige Hilfe fortgerissen wurde.

„Nein!“, kam mein panischer Schrei. Ich erkannte meine eigene Stimme kaum wieder.

Ryder stöhnte und war noch nicht wieder ganz auf den Beinen, als Lucy sich schon wieder auf ihn stürzte. Ihrer Kehle entrang sich dabei ein unmenschlicher Laut.

Ich streckte meine Hand nach ihm aus, wollte ihm helfen, aber ich war so schwach, dass ich schon Schwierigkeiten damit hatte, mich aufzusetzen. Sie durften ihn mir nicht nehmen, ich brauchte ihn. Was war hier nur los? „Ryder.“ Der Schmerz nahm mit jeder Sekunde weiter zu. Ich zog die Beine fest an den Körper, krallte meine Hände ins Laken und versuchte es zu ertragen. „Es tut so weh.“

„Ahhh!“, machte Ryder, als Lucy ihm den Arm auf den Rücken verdrehte und ihm mit dem Gesicht voran gegen die Wand knallte.

Er wehrte sich und versuchte sich wegzudrücken, da trat sie ihm mit so viel Wucht in die Kniekehle, dass er wegknickte.

„Verflucht noch mal, Lucy, lass mich los!“

„Es brennt“, jammerte ich. Tränen traten in meine Augen und der Schmerz kroch durch den Nebel. Ich wollte nur, dass es wieder aufhörte.

„Ich werde dir deinen verdammten Hals umdrehen!“, fauchte Lucy und trat noch einmal zu.

Das Feuer in mir wallte wieder auf, drückte mir die Luft aus den Lungen.

„Oh mein Gott.“

Noch eine Stimme. Ich kannte sie.

„Diego, schaff sie hier raus!“

Schritte, die Matratze senkte sich leicht herab.

„Hey, alles wird gut“, hörte ich Diego sanft murmeln. „Ich bringe dich hier raus, dann wird alles wieder gut.“ Vorsichtig schob er seine Hand in meinen Nacken, doch selbst diese sanfte Berührung war brannte so stark, dass ich seine Hand sofort wegschlug und mich wegrollte. Durch die plötzliche Bewegung, explodierte der Schmerz in meinem Kopf. Um ihn zu ersticken, biss ich ins Kissen, versuchte meinen Schrei darin zu betäuben. „Ryder“, weinte ich.

Ryder kämpfte darum, sich von Lucy zu befreien, aber sie hatte ihn zu fest im Griff. „Lasst mich los, ich kann ihr helfen!“

„Du hast für einen Tag genug geholfen!“, keifte sie ihn an.

Sengende Energie wallte durch meinen Körper. „Es tut weh.“

Diego versuchte erneut nach mir zu greifen, doch es schmerzte so sehr, dass ich einen Schrei ausstieß.

„Fass sie nicht an!“, fauchte Ryder. „Jede Berührung ihrer Haut tut ihr weh, die Reibung von Stoff tut ihr weh, ja sogar die verdammte Luft!“

Hilflos schaute Diego von mir zu Lucy.

„Lucy!“, fuhr Ryder sie an. „Wenn du willst, dass es ihr besser geht, lass mich los!“

Meine Brust schmerzte. Es wurde immer schlimmer. Meine Lunge schnürte sich zu. „Keine … Luft.“

„Lucy!“

Sie war unentschlossen. Sie glaubte, dass Ryder für meinen Zustand verantwortlich war, dabei wollte er mir doch nur helfen.

„Bitte … Lucy“, flehte ich. „Ryder.“ Meine Lungen protestierten unter dem Druck, dem sie ausgesetzt waren und das Feuer wurde mit jeder Sekunde heißer.

„Verdammt“, fluchte sie, ließ ihn dann aber endlich los.

Keine Sekunde später stürzte Ryder zu mir ins Bett. Er setzte sich rittlings über mich und nahm mein Gesicht zwischen seine Hände, zwang mich, ihn anzusehen. Ich schrie auf, wehrte mich. Die Berührung verursachte Höllenschmerzen.

„Was machst du da? Du tust ihr weh!“ Lucy wollte ihn von mir runter ziehen, aber er stieß sie mit dem Ellenbogen einfach weg. „Geh von ihr runter!“

Ryder ignorierte sie. „Sie mich an, mach die Augen auf.“

„Brennt … tut weh“, wimmerte ich.

„Ich weiß“, sagte er ruhig. „Mach die Augen auf, dann ist es gleich vorbei.“

Meine Lunge war zugeschnürt, ich bekam keinen Atem mehr. Ich wurde panisch, schnappte nach Luft und sobald Ryder die Gelegenheit bekam, nahm sein Blick meinen Geist gefangen.

„Ruhig“, befahl er. „Langsam ein und ausatmen. Vergiss den Schmerz, er existiert nicht.“

Der Nebel kehrte in mich zurück, verdrängte jeden grausamen Schmerz, ließ mich atmen.

„So ist gut, ganz ruhig.“ Er lockerte seinen Griff um mein Gesicht, strich sanft daran entlang. „Ich bin da, das hab ich doch versprochen.“ Er gab meine Augen wieder frei und sah zornfunkelnd Lucy an. „Bist du eigentlich noch ganz dicht? Ist es das was ihr wollt?“

„Wieso wir?“, wütete sie. „Ihr seid doch daran schuld!“

„Wir?“ Der Unglauben in Ryders Stimme war so greifbar, dass man ihn schmecken konnte. „Es ist eure Schuld, ihr habt sie doch isoliert!“

„Ryder, nicht“, bat ich ihn und kuschelte mein Gesicht in seine Hand. „Nicht streiten.“

Er biss sich auf die Zunge, doch um seine Schuldzuweisung zu äußern, brauchte er keine Worte. Allein seine Blicke verkörperten alle Vorwürfe, die ihm auf der Zunge lagen. Doch er schluckte sie herunter und wandte sich wieder mir zu. „Bleib liegen, ich muss kurz nach Tyrone schauen.“ Vorsichtig legte er den Beutel mit dem halb geschmolzenen Eis zurück auf meine Stirn.

„Ryder …“

„Schhh, ganz ruhig, du bist ja nicht allein und ich bin gleich wieder da.“ Er schaute zu Lucy und Diego hinüber, als hätte er es mit zwei gehirnamputierten Idioten zu tun. „Bleibt bei ihr, aber fasst sie nicht mehr als unbedingt nötig an.“

„Sag mir nicht was ich zu tun habe!“, fauchte Lucy.

Diego dagegen setzte sich still neben mich und griff sehr zögernd nach meiner nach meiner Hand. Der Ring an seinem Finger blitzte im schwachen Licht der Nachttischlampe.

„Okay, ruh dich aus“, verlange Ryder von mir und stieg dann aus dem Bett. Lucy bekam noch einem mörderischen Blick von ihm, bevor er aus den Zimmer verschwand.

Lucy funkelte ihm hinterher, kam dann aber auch zum Bett. „Hey Süße, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nichts ohne uns anstellen?“

Keine Ahnung wie, aber mit diesem schlichten Satz schaffte sie es mich zum Lächeln zu kriegen. „Zu oft“, flüsterte ich.

„Und dennoch hörst du einfach nicht auf mich.“

Vom Flur kam ein Ächzen, das eindeutig zu Tyrone gehörte. Dann wurden ein paar leise Worte gewechselt.

Diego rückte vorsichtig den Beutel auf meinem Kopf zurecht und strich eine verschwitzte Strähne zur Seite. „Sie glüht richtig.“ Vorsichtig drückte er mir den Handrücken an die Schläfe.

„Ich glaube nicht, dass wir sie im Moment hier wegbewegen können.“ Unzufrieden drückte Lucy die Lippen aufeinander.

„Ist bald vorbei“, sagte ich schwach und ließ meine Augenlider herabsinken. Es war einfach zu anstrengend sie offen zu alten. „Ryder passt auf.“

Sie schnaubte. „Der tut sicher was, aber ich glaube nicht, dass er aufpasst.“ Vorsichtig griff sie nach der Binde an meinem Bein und begann sie zurecht zu zupfen. „Die ist ja nass.“

„Ihre Unterwäsche ist auch feucht“, erklärte Diego. „Und die Haare.“

„Das kommt daher, weil wir sie unter die Dusche gesetzt haben“, erklärte Ryder, der in dem Moment in sein Zimmer kam. „Wir haben versucht ihre Körpertemperatur runterzukühlen. Hat leider nicht geklappt.“ Als er bemerkte, wo Lucy ihre Hand hatte, runzelte er die Stirn. „Was hat sie da?“

„Glaubst du wirklich, ich würde dir das sagen, wenn sie es nicht getan hat?“ Lucy schnaubte mit all der Verachtung, die sie aufbringen konnte. „Wovon träumst du Nachts?“

„Sicher nicht von einer Zicke wie dir.“ Vorsichtig ließ er sich wieder neben mit im Bett nieder und wollte nach meinem Gesicht greifen, doch auf halbem Wege fing Diego seine Hand ab.

„Fass sie nicht an.“

„Warum? Glaubst du ich will sie in diesem Zustand befummeln? Wir krank bist du denn bitte?“

Mein Teddybär drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Diego“, flüsterte ich. „Nicht. Alles ist gut.“ Ich griff seine Hand ein wenig fester und rollte mich herum, sodass ich meine Stirn gegen sein Arm drücken konnte.

Sofort griff Ryder über mich hinweg nach dem runtergerutschten Eisbeutel und platzierte ihn wieder auf meinem Kopf. Dabei fuhr er mit mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Haut.

Es war mehr als offensichtlich, dass das Lucy und Diego missfiel, aber sie sagten nichts und dafür war ich dankbar. Streit konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Mit finsterer Miene kam Tyrone ins Zimmer und drängelte sich mit einem Bösen Blick auf Diego ans Bett vor. In seiner Hand hielt er ein Wasserglas.

„Nein.“ Ich vergrub das Gesicht in den Kissen, ich wollte keine Tabletten mehr nehmen, das Schlucken schmerzte.

„Es muss aber sein“, sagte er sanft und zog mich leicht am Arm, damit ich mich aufsetzte.

„Dann trink es doch selber“, murmelte ich ins Kopfkissen.

Sein Mundwinkel zuckte nach oben. „Selbst in diesem Zustand noch so stur.“

Diesen Kommentar würdigte ich mit keiner Erwiderung.

„Was ist das?“, wollte Diego wissen und starrte misstrauisch auf die Tabletten in seiner Hand.

„Ibuprofen“, antwortete Tyrone und zog solange an meinem Arm, bis ich nachgab und mich mit Ryders Hilfe aufsetzte.

„Ich will das nicht.“

„Nun stell dich nicht so an und mach den Mund auf.“ Er gab mir die Tabletten und führte das Wasserglas an meine Lippen.

Meine Kehle began von den Schluckversuchen zu krampfen und ich spuckte die Tabletten mehrmals aus, bevor ich es endlich schaffte sie hinunter zu würgen.

Diego beobachtete das misstrauisch. „Hilft es?“

„Wir wissen es nicht, aber es kann nicht schaden.“

Kaum dass das Glas weg war, sank ich zurück in die Kissen. Nur diese kleine Handlung hatte mich schon wieder so ausgelaugt, dass ich es kaum noch schaffte einen klaren Gedanken zu fassen. Meine Augen wurden schwer und der Nebel dichter. Ich nahm es dankbar an.

„Wie viel habt ihr ihr davon schon gegeben?“

„Alle zwei Stunden drei Stück.“ Ryder zupfte das Handtuch unter mit zurecht, damit es so wenig Hautkontakt wir möglich hatte.

„Das ist zu viel“, sagte Diego sofort. „Sie konnte eine Überdosis …“

„Soll sie lieber wieder vor Schmerzen schreien?“, fuhr Ryder ihn verärgert an. „Genau das hat sie nämlich getan, als es angefangen hat!“

„Es hat nur wegen euch angefangen!“, keifte Lucy zurück.

Wütendes Funkeln über mich hinweg, aber ich war zu schwach, um einzugreifen.

„Schuldzuweisungen bringen doch nichts“, griff Diego ein. „Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass diese angespannte Stimmung für Cayenne gut ist, also hört auf.“

Lucy setzte zu einer Erwiderung an.

„Du auch“, fuhr er ihr über den Mund. „Es reicht.“

Sie klappte die Futterluke wieder zu und schaute ihn böse an.

Ryder begann erneut damit, das Handtuch um mich herum zurecht zu zupfen und murmelte dabei etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart.

Als hätte Lucy genau verstanden, was er da von sich gegeben hatte, funkelte sie ihn an. „Parasit.“

„Kläffer.“

„Schluss jetzt“, schritt nun auch Tyrone ein. „Ihr benehmt euch ja wie kleine, unreife Kinder.“

Nun funkelten die beiden den blonden Bruder an.

Diego strich mir behutsam über die Wange. „Versuch ein wenig zu schlafen“, sagte er sehr leise.

„Geh nicht weg“, murmelte ich und zog seine Hand näher zu mir.

Langsam glitt ich wieder in einen unruhigen Wachschlaf. Der Nebel war noch vorhanden, aber der Schmerz lauerte direkt unter der Oberfläche. Noch schaffte er es nicht hindurchzustoßen, doch ich wusste, dass es wieder passieren würde.

Mein Geist dämmerte weg, schwand aber nicht ganz. Ich schlief und tat es doch nicht, lauschte, hörte aber nichts, spürte die Nacht und war doch taub für alles um mich herum.

Ich öffnete die Augen. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Der Schmerz stand schon wieder an der Grenze des Nebels, aber noch spürte ich nichts, also konnte es nicht mehr als eine halbe Stunde gewesen sein.

Ryder lag hinter mir, ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Gleichmäßig, ruhig. Er musste eingeschlafen sein. Diego lehnte an der Wand, aber von Tyrone sah ich keine Spur. Er musste das Zimmer verlassen haben.

Lucy saß neben mir im Bett, hielt meine Hand fest und lächelte leicht, als sie bemerkte, dass ich wieder wach war. „Na, alles okay?“

„Der Nebel ist noch da.“

Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen. „Der Nebel?“

Ich schloss die Augen, nur um sie gleich wieder zu öffnen. „Mir ist heiß.“

„Das liegt vielleicht an dem Idioten, der dir den Rücken wärmt.“

Gerne hätte ich ihr etwas Passendes geantwortet, aber mein Gehirn arbeitete so langsam, dass mir nichts einfallen wollte. Und dann auch noch diese Hitze. Ich hatte das Gefühl zu kochen. „Es ist so heiß.“

„Das geht vorbei“, beruhigte sie mich.

„Oh Gott, es ist so heiß“, stöhnte ich.

Lucy legte mir eine Hand auf die Stirn und erstarrte. Mir aufgerissenen Augen sah sie mich an. „Diego, frag unseren Gastgeber doch mal nach ein paar nassen Handtüchern.“

Sofort stieß Diego sich von der Wand ab und verschwand aus dem Zimmer.

Ich wälzte meinen Kopf hin und her, ich dachte ich muss verglühen.

„Ich mach dir das Fenster auf.“ Sie strich mir die verschwitzten Strähnen aus der Stirn und stand auf. „Gleich wird es etwas kühler.“

Noch während sie sich am Fenster zu schaffen machte, erwachte Ryder durch mein unruhiges Verhalten. Er blinzelte ein paar Mal, sah erst, ob es mir gut ging und bemerkte dann Lucy, die gerade das Fenster aufzog. „Nein!“

Zu spät.

Das Fenster war offen und die Lava überrollte mich. Ich schrie. Mein ganzer Körper begann unkontrollierbar zu zittern. Alle Sinneszellen feuerten gleichzeitig, mein Bauch zog sich zusammen, die Schmerzen waren unerträglich. Ich wollte sterben. Ich verkrampfte mich, trieb mir die Fingernägel ins eigene Fleisch, drückte die Hacken in die Matratze, aber es wurde nicht besser.

Ryder sprang über mich hinweg, stieß Lucy unsanft zur Seite und knallte das Fenster wieder zu.

Dann sah ich nichts mehr, hörte nichts mehr. Alles was ich noch wahrnahm, war dieser unerträgliche Schmerz, der mich auslöschen wollte. Mein Atem ging nur noch stockend, mein Herz setzte aus und schlug dann viel zu schnell weiter. Plötzlich brannte mein Gesicht, als wäre es ins Höllenfeuer gesteckt worden. Ich schrie was die Lunge hergab und dann … Blau.

Wie aus den Tiefen des Meeres tauchten zwei blaue Ovale vor meinen Augen auf, die mich unsanft aus dieser schmerzenden Hölle rissen. Ich hörte die Stimme. Komm zu mir, komm zu mir. Erst nur ein leiser Hauch, dann ein Flüstern. Ich hielt mich mit aller Macht an dieser Stimme fest und ließ mich zurück in die Realität reißen. Jemand schrie aus Leibeskräften. Meine Sicht klarte auf, blieb aber verschwommen. Tränen, ich weinte. Das war ich, von mir kamen die Schreie, aber diese Stimme übertönte alles. Vergiss den Schmerz, er ist nicht real.

Dunst drängte in meine Seele, ließ meinen Körper taub werden und umwölkte meinen Geist.

Das war Ryder. Er saß über mir. Tyrone war auch da. Und Diego. Sie hielten mich an Armen und Beinen fest, mein Gesicht lag zwischen Ryders Händen.

„Beruhige dich, es ist fast vorbei.“

Die Krämpfe schwächten sich ab, mein Muskeln erschlafften nach und nach. Ich zitterte am ganzen Körper und konnte vor lauter Tränen kaum etwas sehen.

„So ist es gut.“ Der Druck an meinem Gesicht wurde sanfter. „Ihr könnt sie loslassen.“

Sofort ließen Tyrone und Diego von mir ab.

Ich griff nach Ryder und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Das Echo des Schmerzes hing noch in meinen Knochen. Ich wollte, dass es endlich endete. Warum nur geschah das mit mir? Was hatte ich denn bitte so Schlimmes getan, um das zu verdienen?

„Schhh“, machte Ryder und strich mir vorsichtig über den verschwitzten Rücken. „Alles ist okay, du machst das gut.“

Im Grunde tat ich gar nichts, als rumzuliegen und mich in Schmerzen zu winden, wenn ich nicht gerade völlig weggetreten war. Aber es war trotzdem nett, dass er es sagte. „Ich will nicht mehr“, flüsterte ich mit rauer Stimme. „Ich kann nicht mehr.“

Seufzend barg Ryder mich an seiner Brust, bis selbst das Echo hinter dem Nebelschleier verschwand. Doch es war die Berührung von Diego, die mich dazu brachte den Kopf zu drehen. Nur ein vorsichtiges Streicheln an meiner Schulter, als fürchtete er, es sonst noch schlimmer zu machen.

Er sagte nicht, musterte mich nur voller Sorge.

Ich wollte lächeln und ihn damit aufziehen, dass er mal wieder übertrieb, aber ich schaffte es nicht mal meinen Mundwinkel zu heben. Meine Kräfte waren aufgezehrt und nährten sich nun von meinen Reserven. Doch selbst die würden nicht mehr lange halten.

Langsam senkte ich die Augenlider und erst da bemerkte ich Lucy, die kreidebleich an der Wand stand. Ihre Augen waren riesig und … war das eine Tränenspur auf ihrer Wange? „Lucy.“

„Es tut mir leid“, hauchte sie. „Ich wusste nicht … ich … das wollte ich nicht.“

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

„Es ist ja vorbei“, grummelte Ryder und bettete mich mit Diegos Hilfe zurück ins Bett. „Fass hier nur einfach nichts mehr an.“

Ich wartete darauf, dass Lucy ihn für diesen Spruch anfauchen würde, doch es kam nicht. Sie stand einfach nur da und schaute mich völlig verstört an, während eine weitere Träne über ihre Wange rollte.

„Was hast … du?“

Ein langsames Kopfschütteln war alles was ich zur Antwort bekam.

Ich verstand es nicht, verstand nicht, warum da noch eine Träne aus ihren Augen quoll. Meine starke Lucy, die nicht mal geweint hatte, als sie sich in der dritten Klasse im Werkunterricht mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen hatte. An diesem Tag hatte ich für sie geweint – das hatte aber auch schmerzhaft ausgesehen.

Meine Augenlider waren schwer und ich hatte kaum die Kraft mich zu bewegen. Trotzdem streckte ich die Hand nach ihr aus. „Lucy“, sagte ich leise und konnte fühlen, wie die Schwerkraft an mir zog.

Einen Moment sah sie so aus, als wollte sie lieber die Flucht ergreifen, als zu mir zu kommen. Aber dann setzte sie sich langsam in Bewegung. Bis sie es jedoch zum Bett geschafft hatte, lag mein Arm schon wieder auf der Matratze.

Sehr vorsichtig setzte sie sich zu mir auf die Bettkante. „Es tut mir leid.“ Die Worte waren kaum mehr als ein Hauch und als sie für einen kurzen Moment gequält die Augen schloss, rollten ihr weitere Tränen über die Wangen. „Es tut mir so leid.“

Unter Aufwendung all meiner Kraft, schob ich meine Hand über die Matratze, bis ich ihre zu fassen kam. Mein Griff war nur schwach, aber mehr hatte ich im Moment eben nicht zu bieten. „Schhh“, machte ich. „Nicht weinen.“

Keine Ahnung, was an diesen Worten so falsch war, aber plötzlich begann sie richtig zu weinen. Sie griff meine Hand und hielt sie, als hätte sie Angst mich zu verlieren, während immer mehr Tränen aus ihren Augen quollen.

Hilflos sah ich dabei zu, wie Diego sich vor sie hockte und sie tröstend in die Arme zog. Selbst Tyrone näherte sich ihr, um ihr eine Packung Taschentücher zu reichen. Nur Ryder hielt sich im Hintergrund.

Es dauerte nicht lange, bis Lucy sich wieder beruhigte. Sie war einfach nicht der Typ Frau, der sich stundenlang in etwas hineinsteigerte und ohne Ende heulte. Doch auch als sie die letzten Tränen wegwischte, erkannte ich noch den Kummer in ihren Augen.

„Alles wird gut“, versuchte ich sie zu beruhigen, aber ich glaubte nicht, dass sie mein Gemurmel verstand. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt laut gesagt hatte. Meine Augenlider waren auf einmal unheimlich schwer und ich schaffte es nicht sie länger offen zu halten.

Leises Murmeln plätscherte wie ein kleiner Bach über mich hinweg. Ich taumelte einmal mehr zwischen Realität und Traum und konnte nicht sagen, was wahr und was Illusion war. Doch irgendwann konnte ich spüren, wie Ryder mit seinen Fingern vorsichtig über meinen Nacken strich. Am Anfang war es noch trügerisch fern, doch der Dunst begann sich langsam zu lichten und meine tauben Sinne streckten ihre Häupter. Der Schmerz jedoch fand keinen Weg zu mir zurück.

Irgendwo klingelte ein Handy. Halb benommen registrierte ich, wie Lucy das Zimmer verließ und draußen leise mit jemanden sprach.

Diego warf immer wieder Blicke auf die Uhr an der Wand und die Brüder schien immer angespannter zu werden.

Irgendwo am Rande meines Bewusstseins registrierte ich, wie Diego sich erhob und zu den Fenstern ging. Als er die Vorhänge einen Spalt öffnete, drang ein matter Sonnenstrahl in den Raum. Mit einem äußerst wachsamen Blick auf mich, machte er sich am Fenster zu schaffen und zog es dann langsam auf.

Ich seufzte, als ein kühler Windhauch über meine erhitzte Haut streifte und alle im Raum schienen erleichtert aufzuatmen.

Als Diego stumm ans Bett trat, zog Ryder sich ein wenig zurück. Niemand sprach ein Wort, als er mich vorsichtig in das große Handtuch wickelte und mich dann sanft auf die Arme hob.

Mein Kopf rollte gegen seine Brust. Ich schlief nicht aber wach war ich auch nicht. Ich fand es komisch, dass die Brüder kein Ton von sich gaben, als Diego mich hinaus auf den Korridor trug.

Lucy telefonierte noch immer. Dabei stöberte sie neugierig in den Sachen auf der Kommode. Ein paar kleine Notizzettel, Kamm, die Zeichenmappe von Tyrone. Sie blätterte gerade darin herum, als Diego ihr mitteilte, es sei Zeit zu gehen. Doch anstatt ihm die Tür zu öffnen, starrte sie das oberste Bild an, ein Bild von sich selber.

„Lucy“, rief Diego erneut.

„Ja, ja wir machen uns jetzt auf dem Weg“, sagte sie zu dem Teilnehmer in der Leitung und ließ die Zeichnungen links liegen, um Diego die Tür zu öffnen. „Ich schätzte das wir in einer halben Stunde da sein werden.“

Der Hausflur war kühl. Diego trug mich sicher nach unten, während Lucy ihr Telefonat beendete und ihm dann die Tür aufhielt.

Meine Gedanken waren wie zähflüssiger Honig. Irgendwie bekam ich mit was um mich herum geschah, aber irgendwie war nichts davon real. Genau wie Ryder gesagt hatte. Es existierte nicht. Nur ein Traum.

Direkt vor dem Haus stand eine große Gruppe von Männern, die ihr leises Gespräch unterbrachen, als wir hinaustraten. Einer von ihnen hatte ein auffälliges Tribaltattoo auf dem Oberarm. Es kam mir bekannt vor.

„Nennt ihr das etwa unauffällig?“, fauchte Lucy die Kerle an. „Da könntet ihr euch auch gleich Schlägertrupp auf die Stirn tätowieren!“

Diego trug mich einfach an ihnen vorbei zu einem Wagen an den Straßenrand. Stimmen, jemand öffnete die Tür und sofort wurde ich auf den Beifahrersitz geschnallt. Diego. Das war Diego.

Mein Kopf rollte zur Seite, als Lucy verärgert an den Wagen trat. „Schläft sie?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Vorsichtig zog Diego das Handtuch um mich zurecht.

„Okay.“ Sie strich über die Stirn. „Celine wartet schon. Ich komme bald nach, aber zuerst werde ich den beiden Mistkerlen noch ein kleines Abschiedsgeschenk bringen.“

„Unterschätze sie nicht.“

„Keine Sorge, ich bin nicht so gehirnamputiert wie diese Schwachköpfe da drüben.“

Dazu sagte Diego nichts. Er Schlug nur die Wagentür zu und umrundete dann die Nase des Autos.

Ich sah noch wie Lucy zu der Männergruppe ging und mit ihnen zusammen das Haus betrat, dann forderte die Erschöpfung ihren Tribut.

 

°°°°°

Strenge Auflagen

 

Das Erste was mein gemartertes Hirn wahrnahm, als ich das Dämmerlicht meines Traumes verließ, war das gleichmäßige und beruhigende Schnurren von Elvis. Das zweite, das Gewicht, das mir auf den Brustkorb drückte und das Atmen erschwerte.

Ich blinzelte gegen das Licht des Tages, das durch meine Fenster fiel, drehte den Kopf und bereute es sofort. Boom! Kopfschmerzen und zwar von der aller besten Sorte. Oh Gott, das fühlte sich an, als hatte ich drei Flaschen Wodka alleine gekillt. Und das, wo ich doch gar keinen Wodka mochte.

Ich wollte mir mit der Hand gegen den Nasenrücken drücken, in der Hoffnung, etwas Erleichterung zu erfahren, bekam sie aber nicht von meinem Brustkorb. Irgendwas hielt sie dort gefangen. Langsam, um den Schmerz nicht zu provozieren, hob ich den Kopf.

Elvis hatte es sich mitten auf meiner Brust bequem gemacht. Kein Wunder, dass ich das Gefühl hatte, etwas würde mir die Lunge quetschen. Einen acht Kilo Kater auf einem liegen zu haben, konnte echt eine Belastung sein. Zwar war er nicht dick, dafür aber riesig und dieses Riesending von Kater, schien zu glauben, dass es im ganzen Bett nur einen einzigen Platz gab, auf dem er es sich bequem machen konnte. Ganz toll. „Du quetschst mir die Luft ab“, grummelte ich und wunderte mich darüber, dass meine Kehle so trocken und kratzig war. Da fiel mir erst auf, dass ich in meinem Bett lag. Aber wie … was … „Hä?“ Sollte ich nicht eigentlich woanders sein? Irgendwas stimmte hier nicht.

„Mau.“ völlig entspannt blinzelte meine Kratzbürste mich an. Doch auf einmal erstarb nicht nur das Schnurren in seiner Brust, er spannte sich auch an und fixierte meine Zimmertür, als wollte er sie fressen.

Im gleichen Augenblick wurde der Türknauf gedreht und Diego trat mit besorgter Miene zu mir ins Zimmer. Und er war nicht allein. In seinem Windschatten folgte ihm ein schlanker Mann mit Arztkoffer und auffälligen Kratzern auf dem linken Unterarm.

Elvis grollte leise.

„He!“, beschwerte ich mich und zog meine Decke hör. Mit Diego hatte ich weniger Probleme, wenn er mich direkt nach dem Aufstehen sah, aber ein fremder Kerl, noch dazu so ein alter Bock, hatte nichts bei mit im Zimmer zu suchen. „Ist heute Tag der offenen Tür?“

Beide blieben stehen und schienen überrascht, mich wach zu sehen.

„Falls sie den Wink nicht verstanden haben, kommt hier noch mal eine etwas deutlichere Version: Raus hier, das ist mein Zimmer.“

Diegos Mundwinkel zuckten leicht nach oben. „Dir scheint es ja wieder gut zu gehen.“

„Wieso wieder? Ging es mir den schlecht?“ Ich stemmte mich auf die Arme, Elvis rutschte dabei in meinen Schoß. Böser Fehler. „Oh man, warum hab ich solche Kopfschmerzen?“ Ich funkelte Diego an. „Und was machst du eigentlich hier? Hatte ich dir nicht ausdrücklich gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will? Und das du an Gedächtnisschwund leidest, wäre mir neu.“

Die offene Zurückweisung kränkte ihn. Das hatte ich nicht beabsichtigt, aber verdient hatte er sie allemal.

„Sie hat wohl ihre Erinnerung verdrängt“, sagte der Mann und stellte seine Tasche auf dem Boden ab. Dabei kam er nach Elvis Auffassung wohl zu nahe ans Bett. Der Tiger im Schafspelz fauchte und plusterte sein Fell, bis er aufs Doppelte angeschwollen war.

Ich streichelte ihm beruhigend den Pelz, ließ die beiden aber nicht aus den Augen. „Elvis hat ganz Recht: Sie haben hier nichts zu suchen.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte ihn abschätzig. „Wer sind sie überhaupt?“

„Doktor Malcolm Ambrosius.“ Er ging ein Stück zurück, brachte Sicherheitsabstand zwischen sich und der wildgewordenen Bestie auf meinem Schoss. „Ich bin ihr Arzt.“

„Mein Arzt?“ Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Wozu brauchte ich denn einen Arzt? Oh Mann, und das alles noch vor dem Aufstehen.

„Ja, und ich würde sie gerne untersuchen, aber ihr kleiner Bewacher lässt mich nicht an sie heran.“

Ich sah auf Elvis, dann wieder zum Doc und dann auf die frischen Kratzer. Unwillkürlich musste ich lächeln. Das musste Elvis gewesen sein. „Er mag es halt nicht, wenn jemand an mir herumdoktern will. Und ich auch nicht, also nehmen sie ihren Koffer uns sehen sie zu, das sie Land gewinnen.“ Ich wedelte mit den Händen, um ihm deutlich zu machen, dass ich es Ernst meinte. „Kusch, kusch“, machte ich, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Dann kam auch noch meine Mutter ins Zimmer und sie schien nicht unbedingt bester Laune zu sein.

O-kay. Normalerweise schaute sie nur so, wenn ich etwas angestellt hatte, aber ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was es sei könnte.

Meine Mutter, pragmatisch wie sie war, erfasste er die Situation sofort. „Cayenne, schick Elvis raus und lass Doktor Ambrosius seine Arbeit machen.“

Das sah ich gar nicht ein. Zuallererst wollte ich eine Erklärung haben. „Warum?“

„Weil ich es sage.“ Diese Stimme ließ keine Widerworte zu.

Tolle Erklärung. Ich seufzte. „Okay Kratzbürste, sieh zu das du wegkommst.“ Ich schubste ihn leicht. Er begann von neuem zu schnurren. Katzen! Ich schubste stärker und erst als er merkte, dass es mir ernst war, erhob er sich mit einem bösen Blick und sprang mit einem einzigen Satz auf meinen Schrank, von wo aus er alles genaustens im Auge behielt. „Okay, er ist weg. Kann ich jetzt wissen, warum ich einen Arzt brauche?“

Diego verengte die Augen leicht. „Erinnerst du dich an gar nichts mehr?“

„Woran soll ich mich denn erinnern?“

Dr. Ambrosius kam zu meinem Bett und stellte seine Arzttasche auf meinen Nachttisch. Gleich darauf zauberte er ein Blutdruckmessgerät aus dem Innersten hervor und machte sich daran, mir die Manschette anzulegen.

Widerwillig und auch nur weil meine Mutter mich genaustens im Auge behielt, ließ ich es über mich ergehen.

„An den Besuch bei deinen neuen Freunden“, antwortete Mama mit einem Knurren in der Stimme. „Du weißt schon, die Freunde die du mir eigentlich vorstellen wolltest, wenn sie wieder auftauchen. Stattdessen hast du doch aber lieber heimlich aus dem Staub gemacht und uns alle in Sorge versetzt.“

Oh Mist, wie hatte ich das nur vergessen können? Ich war ausgerissen, hatte mich heimlich zu Ryder und Tyrone geschlichen, und dann … ja, was war dann gewesen?

„Hast du dazu gar nichts zu sagen?“

Oh, wenn sie so anfing, dann hatte ich definitiv etwas dazu zu sagen. „Ich bin volljährig Mama. Es wird mir ja wohl erlaubt sein Freunde zu besuchen, ohne dass ihr gleich in eine Massenhysterie ausbrecht.“

„Und doch hast du es für nötig gehalten, dich heimlich davonzustehlen. Möchtest du mir das erklären?“

Nein, das wollte ich nicht, besonders nicht, wenn ich an das Gespräch zurückdachte, dass ich belauscht hatte. Darum hielt ich es für angebracht einfach zu schweigen, denn wie hieß es so schön? Schweigen war Gold.

Der Doc steckte sich sein Stethoskop in die Ohren, hörte mich ab, machte sich ein paar Notizen, auf einem Klemmbrett, das er aus seiner Tasche hervorkramte, schaute mit in die Augen, in die Ohren, in die Nase … wie ich es hasste, wenn mich jemand so durchleuchtete.

„Wollen sie auch noch in meine anderen Öffnung schauen?“, fragte ich bissig.

„Cayenne“, warnte mich meine Mutter.

„Würden Sie bitte ihre Decke wegziehen“, bat mich der Doc, ohne auf meine Stichelei einzugehen. „Ich möchte ihre Reflexe überprüfen.“

Grummelnd tat ich was er wollte und … na toll, ich trug keine Hose. Aber wenigstens die Binde an meinem Bein war genau dort wo sie hingehörte.

Den Arzt schien sich für meinen Aufzug nur wenig zu interessieren. „Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?“

„Ich weiß nicht.“ Ich grub in meiner Hirn herum. „Ich bin zu den Brüdern gefahren. Mir war andauernd schwindelig und leicht übel. Ryder hat mich auf dem Bahnhof abgeholt.“ Von dem Hund erzählte ich lieber nichts, das war zu seltsam gewesen. „Danach … keine Ahnung. Da war … ach ja, die Kinokarte. Ich hab sie Tyrone unter der Tür durchgeschoben und dann wurde mir wieder schwindelig.“ Ich runzelte die Stirn. Was war danach geschehen? Angestrengt durchforstete ich die nebligen Erinnerungen, aber ich konnte mich nicht recht entsinnen. „Ich glaub wir haben ein Film geguckt und dann … ich weiß nicht, es ist alles irgendwie … weg.“ Ich drücke mir den Handballen auf den Nasenrücken. Mein Kopf dröhnte und dieses Nachdenken, war meiner Heilung nicht gerade förderlich. Wir haben den Film geguckt … ja und weiter?

Dr. Ambrosius haute mit seinem Hämmerchen auf meine Knie. Wie erwartet, sprang mein Bein von alleine in die Luft.

„Es ist alles so verschwommen. Ich glaub ich lag auf der Couch und … ja, Ryder hatte mir verboten aufzustehen …“

„Das war eine gute Entscheidung“, warf der Doc ein und klopfte auf mein anderes Knie.

„Wollen Sie das nun hören, oder quatschen sie mir lieber dazwischen?“

Doc zog leicht die Augenbrauen hoch, blieb aber still.

„Danke.“

„Was war dann?“, wollte meine Mutter weiter wissen.

Ich zog die Stirn kraus. Die Bilder in meinem Kopf waren so verschwommen, durcheinander, aber plötzlich stach eins ganz deutlich hervor. „Schmerz“, sagte ich. „Und dann … ich weiß nicht.“ Alles war wie ein Traum gewesen, ein böser Traum. Mein Geist verdrängte die Erinnerung daran. „Wasser und … Ich lag in einem Bett. Ryder war da und …“ Vor meinem inneren Auge blitze das Bild einer rothaarigen Amazone auf. Verwirrt schaute ich zu Diego. „Lucy?“

Er nickte.

Etwas kristallisierte sich aus meinem Kopf heraus. „Blaue Augen und … du warst auch da.“ Ich sah es ganz deutlich vor mir. „Ich hab deine Hand gehalten und Lucy …“ Meine Augen wurden eine Spur größer. „Lucy hat geweint.“ Das war für mich unfassbarer, als der Glaube an kleine grüne Marsmännchen. Lucy weinte niemals. „Aber … warum?“

„Weil es dir nicht gut ging“, sagte Diego leise.

Ja, das hatte ich in der Zwischenzeit auch schon kapiert, nur warum? Ich versuchte das Bild in meinem Kopf schärfer zu stellen, aber es wollte mir nicht gelingen. Stattdessen drängte sich mir plötzlich eine andere Frage auf. „Wieso ward ihr eigentlich da?“ Obwohl mich eigentlich mehr interessierte, woher sie gewusst hatten, wo sie mich finden konnten.

Diego stieß einen kleinen Seufzer aus. „Wir sind deine Freunde, Cayenne, wo hätten wir sonst sein sollen?“

Es war nicht das was er sagte, sondern wie er es sagte, was einmal mehr die Sehnsucht nach dieser Freundschaft in mir weckte. „Ihr habt mein Vertrauen ausgenutzt und mich beklaut.“

Beschämt drückte er die Lippen aufeinander.

„Aber ihr ward da.“ In der Stunde der Qualen hatten sie mir beigestanden, obwohl ich sie zum Teufel gewünscht hatte.

„Wir werden immer für dich da sein.“

Ja, weil Freunde das nun einmal taten, selbst wenn zwischen ihnen Fetzten flogen. „Um euch loszuwerden, muss ich mir wohl ein Stemmeisen besorgen.“

Ein Hauch Erheiterung huschte über sein Gesicht. „Nicht mal damit wirst du uns los.“

„Wahrscheinlich nicht“, seufzte ich und musterte ihn. „Dann muss ich mich wohl einfach damit abfinden, hm?“

Erleichterung flackerte in seinen Augen auf. „Es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben.“

Der Gedanke gefiel mir, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihnen wieder vertrauen konnte. Ja, ich vermisste sie und ja, als es darauf angekommen war, waren sie bei mir gewesen, aber leider konnte das die Schandflecken, die sie hinterlassen hatten, nicht einfach auslöschen.

Doktor Ambrosius machte noch ein paar Tests mit mir. Ich musste durch meine Zimmer laufen, zeigen dass ich alle meine Bewegungen kontrollieren konnte, mit ausgestrecktem Arm gegen die Nase tippen, mit den Augen seinem Finger folgen und auf einem Bein auf der Stelle hüpfen. Wunderte mich nur, dass er nicht auch noch einen Kopfstand von mir verlangte.

Nachdem alle Vitalfunktionen geklärt und für annehmbar befunden waren, gab mir der Doc noch ein paar Tabletten gegen meine Kopfschmerzen, die ich sofort einwarf und verließ dann mit meiner Mutter das Zimmer. Egal was der Arzt noch zu sagen hatte, offensichtlich sollte ich es nicht hören. Aber das war nicht weiter wichtig, denn Diego blieb bei mir und den würde ich jetzt wie eine überreife Orange bis auf den letzten Tropfen ausquetschen.

Die Tür war kaum ins Schloss gefallen, da fiel ich auch schon über ihn her. „Also los, was ist mit mir passiert? Und wehe dir, wenn du mit irgendwelchen dummen Ausflüchten kommst.“ Ich verengte die Augen leicht um deutlich zu machen, wie ernst es mir war.

Leider hatte Diego sich von mir noch nie einschüchtern lassen. „Ich kann es dir nicht sagen.“

Mit einem scharfen Blick fixierte ich ihn. „Du kannst nicht, oder du willst nicht?“

„Ich weiß nicht was mit dir los war.“ Er hob die Hand und strich sich damit durchs dunkelbraune Haar. „Schau mich nicht so an, ich weiß es wirklich nicht“, beteuerte er noch.

„Und das soll ich dir glauben?“

„Warum sollte ich lügen?“

Vielleicht um wieder Geheimnis vor mir zu haben? Andererseits war Diego kein Arzt, also konnte es durchaus der Wahrheit entsprechen, dass er keinen Schimmer hatte.

Seufzend setzte ich mich auf mein Bett. Das mit dem Vertrauen war schlimmer, als ich mir das vorgestellt hatte. Wenn selbst so kleine Aussagen mein Misstrauen weckten und mich an seinen Worten zweifeln ließen, wie sollte das in Zukunft dann funktionieren?

Mit einem Plumpsen landete Elvis neben mir auf dem Bett und setzte sich schnurrend neben mich. Aber nicht weil er mir Gesellschaft leisten wollte. Diesen auffordernden Blick konnte nur zwei Bedeutungen haben. Entweder er wollte etwas zu fressen, oder die Gegend unsicher machen. Und da sein Futternapf bis an den Rand gefühlt war, kam nur die zweite Möglichkeit in Frage. „Kannst du mal das Fenster öffnen?“, bat ich Diego.

Elvis Augen blitzten mich an, weil ich nicht selber aufstand um dem Herren seine Wünsche zu erfüllen, aber sobald sich Diego vom Fenster entfernt hatte, nutzte die schwarze Bedrohung seine Chance, hüpfte auf das Fensterbrett und verschwand nach draußen.

Eine Hitzewelle wurde mit der Luft ins Zimmer getragen und strich mir sanft über die Haut. Es war immer noch warm. Dieser Sommer wollte sich wohl einfach nicht abkühlen. „Also“, ich sah vom Fenster zu Diego, der sich an meinem Schreibtisch gelehnt hatte. „Wie habt ihr mich gefunden?“

Diegos Mundwinkel zuckte hoch, bis es sich zu einem schiefen Lächeln verschoben hatte. „Du warst weder bei mir, noch bei Lucy, also wo sollst du sonst gewesen sein?“

War schon logisch, aber das war es nicht, was ich hatte wissen wollen. „Woher wusstet ihr, wo die beiden Wohnen? Ich hatte euch nie davon erzählt.“

„Es war auch nicht ganz einfach gewesen, es herauszufinden.“

Ich wartete.

„Einer der Studenten in meinem Kurs hilft hin und wieder im Büro des Dekans aus und er war mir noch etwas schuldig, also habe ich ihn gebeten mir die Adresse zu besorgen.“

„Auf einem Sonntagabend?“ Das klang nicht sehr glaubhaft.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Adresse habe ich mir bereits besorgt, als du das letzte mal verschwunden warst.“

Klang nach meinem Ermessen ein wenig nach Stalker. Blieb nur die Frage, hatte er versucht mir oder den Brüdern nachzuspionieren? „Du weißt schon, dass dein Beschützerinstinkt langsam krankhafte Züge annimmt, oder? Ich meine, wenn wir in der Uni sind …“ Ein plötzlicher Gedankenblitz schlug in mein Hirn ein. „Scheiße, ich muss los!“ Noch während ich das sagte, sprang ich auf die Beine und drehte mich auf der Suche nach meiner Hose einmal um mich selbst. Keine Hose da.

Verwundert beobachtete Diego, wie ich eilig zum Schrank hastete und die erstbeste Hose aus dem Stapel riss. Ein Dutzend weiterer landete auf dem Boden. „Wo musst du denn so dringend hin?“

„Schon vergessen? Heute beginnen die Abschlussprüfungen“, sagte ich und hüpfte auf einem Bein, das andere schon halb in der Hose. „Da solltest du dich jetzt eigentlich auch befinden.“

„Gestern.“

„Nein nicht gestern, heute.“ Ich schlüpfte mit meinem zweiten Bein in die Hose und merkte erst da, dass ich sie verkehrt herum angezogen hatte. „Verdammt!“

„Nein, was ich damit meinte, die Abschlussprüfungen haben gestern stattgefunden. Wir haben Dienstag.“

Mitten in der Bewegung, die Hose halb angezogen, hielt ich an. „Dienstag?“

Er nickte. „Du wart fast anderthalb Tage weggetreten. Guck auf deinen Wecker, es ist gleich siebzehn Uhr.“

Ich riss meinen Kopf so schnell zur Uhr hin um, dass mein Hirn schmerzhaft protestierte. Aber er hatte Recht. Auch mein Digitalwecker verkündete, dass es bereits Dienstag Nachmittag war. Das bedeutete ich hatte nicht nur einen, sondern gleich zwei Prüfungstage verpasst. „Oh mein Gott“, hauchte ich, als mir die ganze Tragweite dessen bewusst wurde. Nicht nur dass ich anderthalb Tage verloren hatte, jetzt musste ich auch noch auf einen Nachtermin hoffen, damit nicht das ganze Semester fürn Arsch war.

„Ja. Wir haben uns große …“ Diego unterbrach sich und wandte den Kopf zur Tür, als meine Mutter zurück ins Zimmer kam.

Sie wirkte nicht sehr wohlgesonnen. Da nahte wohl eine Standpauke der Skala zehn. Doch bevor sie loslegen konnte, bemerkte sie meine halb angezogene Hose. „Wo bitte willst du hin, wenn ich fragen darf.“

„Zur Prüfung“, sagte ich sofort. Gut, das hatte sich jetzt erledigt, aber dafür war die Hose schließlich gedacht gewesen.

Verwirrt zog sie die Stirn kraus.

„Sie dachte es ist Montagmorgen“, klärte Diego sie auf.

Ich ließ die Hose an meinen Beinen hinunter rutschen. So wie meine Mutter mich fixierte, würde ich wahrscheinlich nie wieder eine Hose brauchen, einfach weil sie mich an die nächste Wand ketten würde, damit ich nicht mehr einfach verschwinden konnte. „Ich weiß schon, was du jetzt sagen willst.“

„Ach ja?“ Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. „Dann lass mal hören.“

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Jetzt durfte ich mir meine eigene Strafpredigt halten. „Zuallererst, es war falsch, dass ich dir etwas vorgespielt habe, um mich heimlich aus dem Haus zu stehlen. Es war kindisch und verantwortungslos und hat euch allen nichts als Sorge bereitet.“ Ich hoffte dass das reichte.

Sie wartete.

Reichte also nicht. „Mir hätte etwas passieren können und niemand wusste wo ich war.“

Sie wartete noch ein wenig und als ich nichts mehr sagte, fragte sie: „Und?“

Das würde wohl so schnell kein Ende nehmen. „Und weil ich mal wieder mein Handy zu hause gelassen hatte, war es auch unmöglich mich zu erreichen.“ Ich zuckte mit den Schultern. Mehr fiel mir im Augenblick nicht ein. „Das Übliche halt.“

Mama seufzte. „Es ist traurig, dass du das so formulierst, weil mir das nämlich zeigt, dass wir dieses Gespräch schon zu oft geführt haben.“

Ich hielt den Mund. Jedes falsche Wort konnte mich nur weiter in die Scheiße hineinreiten. Abwarten und die Füße still halten war im Augenblick das Beste was ich tun konnte.

„Na gut“, sagte meine Mutter schließlich. „Ich werde dir das jetzt nur einmal sagen, hast du verstanden?“

Ich nickte. „Schieß los.“

Ihre Augen verengten sich leicht. „Du wirst die beiden jungen Männer nicht wiedersehen.“

Bitte? „Du kannst mir nicht vorschreiben, mit wem ich mich treffen darf.“

„Ich kann es nicht nur, ich tue es sogar“, widersprach sie sofort. „Du wirst dich ab jetzt von ihnen fernhalten. Kein Telefonieren, kein Chatten, keine E-Mails, keine Textnachrichten, keine Briefe, ja nicht mal Rauchzeichen.“

„Du hast Morsezeichen vergessen.“

Uh, wenn Blicke töten könnten. „Ich meine es ernst Cayenne. Diese beiden Männer sind ab sofort für dich gestorben. Und sollte ich mitbekommen, dass du …“

„Was? Deine völlig bescheuerten Wünsche missachtest? Und jetzt komm mir nicht wieder damit, dass du mir meine Kreditierten wegnimmst. Ich bin volljährig und das nicht erst seit gestern. Warum nur kapiert ihr das alle nicht? Du hast gar nicht mehr das Recht mir mein Leben vorzuschreiben.“

„Ich bin deine Mutter, dass allein gibt mir das recht.“

„Nein, tut es nicht“, widersprach ich sofort und versuchte ruhig zu bleiben. Sie jetzt anzuschreien würde rein gar nichts bringen. „Dass du meine Mutter bist, gibt dir nur das Recht an meinem Leben teilzuhaben und nicht mich ohne jeglichen Grund zu erpressen. Wenn ich mich mit den beiden treffen will, dann werde ich das auch tun und da kannst du dich Kopfstellen.“

Auf einmal schien von meiner Mutter eine seltsame Macht auszugehen, vor der ich mich instinktiv ducken wollte. Aber ich weigerte mich auch nur einen Schritt vor ihr zurückzuweichen – ganz im Gegenteil zu Diego.

„Ist dir eigentlich bewusst, bei welchem Alter die gesetzliche Volljährigkeit für junge Leute in Amerika liegt?“

Ähm … okay, Themenwechsel. „Bei Einundzwanzig. Aber wir sind hier nicht in Amerika, wir sind hier in Deutschland.“

„Nicht mehr lange, wenn du so weiter machst.“

Mit dieser Drohung schaffte sie es wirklich mich einen Moment mundtot zu machen. Das war … unglaublich. Allein das sie daran dachte war unfassbar. „Das kannst du nicht tun.“

„Stell mich nicht auf die Probe, Cayenne.“

Und wieder musste ich an das Gespräch zwischen ihr und Victoria denken. „Warum, lässt du mich sonst auch verschwinden? Nein, warte, wie hattet ihr das formuliert? Dein letzter Versuch diese Sache auf die Reihe zu bekommen, war auch nicht gerade von Erfolg gekrönt.“

Meine Mutter wurde eine Spur blasser und ihr Gesicht völlig ausdruckslos. „Ich weiß nicht wovon du sprichst.“

Da blieb mir doch glatt die Spuke weg. „Ich bin keine fünf mehr, also müsst ihr Handeln, bevor die Brüder wieder auftauchen.“ Diese Worte hatten sich in meine Erinnerung gebrannt. „Oder wie wäre es damit, hat mir auch sehr gut gefallen: Die jungen Männer unwiderruflich aus meinem Leben tilgen.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um sie nicht für etwas anderes einzusetzen. „Du verlangst von mir ehrlich und aufrichtig zu sein und stehst selber vor mir und lügst mir mitten ins Gesicht.“

Meine Mutter blieb still, doch ich konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Sie wusste genau, dass ich etwas mitbekommen hatte, was nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war und suchte jetzt wahrscheinlich fieberhaft nach einer plausiblen Ausrede, die mich auch weiterhin ruhig stellen würde.

Aber da würde ich nicht länger mitspielen. Jetzt wusste sie ja sowieso schon, dass ich nicht mehr in seliger Ungewissheit lebte. „Was ist es, das du vor mir verbirgst“, fragte ich darum ganz direkt. „Wer bist du einmal gewesen und was hat das mit mir zu tun? Oder auch mit deinem Vater, zu dem du angeblich seit deiner Jungend kein Kontakt mehr hast?“

Kein Muskel regte sich im Gesicht meiner Mutter. Es war beinahe unheimlich wie still sie dort stand und mich fixierte. Ehrlich gesagt, machte es mich sogar ein wenig nervös.

„Warum antwortest du nicht?“, fragte ich, um mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. „Sind wir so eine Art Mafiaclan? Drogenkartell? Waffenhändler?“

Meine Mutter richtete sich ein wenig gerader auf. „Ich weiß nicht was du glaubst gehört zu haben, aber was du da von dir gibst, ist einfach nur bizarr. Ich verberge nichts vor dir und mit dem Verschwinden dieser Brüder habe ich nichts zu tun.“

Das war doch wirklich nicht zu fassen. Sie stand direkt vor mir und versuchte mir weiszumachen, dass dies alles nur meiner Phantasie entsprang! Dabei wussten wir beide ganz genau, wovon ich sprach. „Und?“, fragte ich bissig, einfach weil mir diese ganzen Lügen und Heimlichtuereien langsam zu Hals raushingen. „Was bekommst du jetzt für eine Strafe fürs Lügen?“

„Achte auf dein Mundwerk, Fräulein.“

„Warum?“, fuhr ich auf. Jetzt war meine Selbstbeherrschung völlig dahin. „Es ist doch wahr. Du wolltest so tun, als ob es dir recht ist, dass ich mich mit ihnen treffe, nur um sofort zu erfahren, wenn sie wieder da sind, damit du sie wieder verschwinden lassen kannst. Aber hast du gemerkt, es hat nicht funktioniert, sie sind wieder da und sie werden bleiben. Und jetzt versuchst du mich mich mit völlig absurden Drohungen unter Kontrolle zu bekommen, ohne auch nur ein verdammtes Wörtchen über den Grund zu verlieren. Warum, fragte ich dich. Warum darf ich sie nicht sehen? Warum willst du …“

„Das reicht jetzt!“, donnerte sie. „Du wirst mit den Jungs nicht mehr weggehen und das ist mein letztes Wort. Und erfahre ich noch mal, dass du meine Gespräche belauschst, wirst du mich einmal von einer anderen Seite kennenlernen.“

„Nur mit Lauschen erfährt man in diesem Haushalt etwas!“, fauchte ich sie an. „Und du kannst mich nicht ewig von den beiden fern halten!“

„Doch das kann ich und das werde ich!“, fauchte sie zurück, wirbelte dann herum und rauschte mit knallender Tür aus meinem Zimmer hinaus. Durch die Vibration, fiel sogar das gerahmte Foto von Elvis von der Wand.

„Das kannst du nicht machen!“, schrie ich ihr hinterher, schnappte die Hose von meinem Boden, weil ich gerade nichts anderes in Griffweite hatte und warf sie ihr hinterher. „Das ist nicht fair!“ Wütend trat ich gegen meinen Schrank und fluchte, als ich mir dann auch noch den Zeh verletzte. „Scheiße!“ Einen kurzen Moment war ich versucht noch mal gegen den Schrank zu treten, einfach weil ich glaubte platzen zu müssen, wenn ich meiner Wut kein Ventil gab. Aber ich würde mir nur wieder selber wehtun, also humpelte ich köchelnd zu meinem Bett und ließ mich dort auf die Kante fallen.

Mein Kopf brummte, mein Zeh pochte und mein Herz raste vor Wut. Dann bemerkte ich auch noch, wie Diego mich still und heimlich beobachte. „Guck nicht so mitfühlend, du bist doch auch ihrer Meinung!“, fuhr ich ihn an. Vielleicht etwas zu hart, aber im Moment war ich sauer auf Gott und die Welt. Umso mehr erstaunte mich das nächste was er sagte.

„Nein.“ Er stieß sich von Schreibtisch ab und hockte sich vor mich. Vorsichtig nahm er meinen Fuß in die Hand, um sich meinen Zeh anzusehen.

„Nein?“ Ich wurde misstrauisch. Das passte so gar nicht zu dem, was in letzter Zeit alles passiert war.

„Nein“, wiederholte er sich. „Ich bin nicht ihrer Meinung.“

Da stimmte etwas nicht. „Wieso der plötzliche Sinneswandel?“

Er stellte meinen Fuß auf den Boden und sah zu mir nach oben. Offensichtlich hatte ich keine ernsthafte Schäden davon getragen. „Weil ich gesehen habe, wie sie sich um dich gekümmert haben.“

Na sicher. „Das kaufe ich dir nicht ab. Dafür kenne ich dich schon zu lange. Du änderst deine Meinung nicht von heute auf morgen.“

Er lachte auf. „Nein, meine Meinung über die beiden hat sich nicht geändert. Ich glaube immer noch, dass du ohne sie besser dran wärst und auch, dass sie etwas von dir wollen und sich deswegen mit dir abgeben.“

„Oh vielen Dank auch“, grummelte ich. „Das hört sich an, als wäre es eine Qual, mit mir rumzuhängen.“

„Sei nicht albern.“

„Das bin ich nicht.“ Ich wackelte leicht mit dem Zeh, er tat nicht mehr ganz so weh. „Wenn also alles beim alten geblieben ist“, sagte ich schließlich, „was hat deine Meinung dann geändert? Oder auch nicht.“

„Ich glaube nicht mehr, dass sie dir schaden wollen.“

„Du dachtest, sie wollen mir schaden?“

Aus rehbraunen Augen sah er mich an. Ein Blick, der mir mittlerweile genauso vertraut war wie er selber.

„Ach Diego“, sagte ich vorwurfsvoll. „Das hab ich doch die ganze Zeit gesagt. Die beiden sind in Ordnung.“

Mit einem gewaltigen Hechtsprung landete Elvis auf meinem Fensterbrett.

„Darüber lässt sich streiten“, erwiderte Diego schlicht.

„Mau.“ Leichtfüßig lief Elvis durch mein Zimmer auf mich zu, machte dabei einen großen Bogen um Diego und sprang zu mir aufs Bett.

„Nein tut es nicht.“ Ich sah aus dem Fenster, hinaus in den blauen Himmel. Keine Wolke dort draußen. „Ihr solltet Euch mal kennen lernen, ihr würdet euch bestimmt verstehen.“

Das ließ ihn schnauben.

„Das meine ich ernst.“

Schnurrend schmiegte sich Elvis an mich und forderte ein paar Streicheleinheiten.

„Das glaube ich dir.“ Er stand vom Boden auf und setzte sich neben mich. „Aber das hat sich jetzt ja sowieso erledigt.“

Traurig senkte ich meine Augenlider auf das haarige Ding, das versuchte es sich auf meinem Schoss bequem zu machen, ohne Diego dabei zu nahe zu kommen. „Das ist nicht fair.“

„Das ist es meistens nicht.“

Für mich schon. Für mich lief eigentlich immer alles so, wie ich es wollte. Nur dieses eine Mal, wo ich es mir wirklich wünschte, einfach weil ich die beiden gerne hatte, wollte das verdammte Schicksal mit einen Strich durch die Rechnung machen.

So wie meine Mutter sich verhalten hatte, ihre Worte und Drohungen … ich war mir nicht mehr sicher was ich denken sollte. Das war doch nicht mehr normal. Fehlte eigentlich nur noch, dass sie mich entmündigte, um die komplette Kontrolle über mich zu bekommen. Und genau das war es, was einfach nicht in meinen Kopf wollte.

Warum?

Elvis Schnurren wurde intensiver, als ich in an seiner Lieblingsstelle hinter dem Ohr kraule. Dort wurde er fromm wie ein Lamm.

„Hey, nun sein nicht traurig.“ Diego stieß leicht mit seiner Schulter gegen meine. „Lucy und ich bleiben dir doch noch erhalten.“

Ich stöhnte. „Ich will aber auch die beiden behalten.“

Er presste die Lippen kurz aufeinander. „Leider bekommen wir nur selten das was wir uns wünschen.“

Meine Finger berührten das Halsband unter dem Fell und mit einem Mal konnte ich wieder lächeln. „Und vielleicht ist gerade einer dieser seltenen Momente.“ Ich zog einen kleinen, zusammengerollten Zettel an Elvis Halsband ab und rollte ihn auf. Ryders Schrift erkannte ich sofort.

„Oh nein“, sagte Diego.

„Oh doch!“, sagte ich triumphierend und grinste noch breiter.

Diego wollte sich zu mir rüber beugen, um meine Nachricht zu lesen, aber Elvis gab ihm sofort zu verstehen, dass er das zu unterlassen hatte. „Ist ja gut“, grummelte er den Kater an. „Was schreibt er denn?“, fragte er dann mich.

„Alles okay bei dir?“ Jetzt ja, sagte ich insgeheim. Dann überlegte ich, wann Ryder den befestigt haben könnte. „Wie lange war Elvis schon bei mir? Ich meine, als ich geschlafen hab.“

„Er war schon in deinem Zimmer, als wir dich hergebracht haben und ist dir seitdem nicht mehr von der Seite gewichen – sehr zum Ärger von Doktor. Ambrosius.“

Guter Kater. So kannte ich meine Kratzbürste. Ich sah von meinem Zettel zum Fenster. „War das offen?“

Diego schüttelte den Kopf.

Mein lächeln wurde breiter. Kurzerhand nahm ich Elvis auf den Arm und trat mit ihm ans Fenster. Mein Ziel auf der fast menschenleeren Straße auszumachen, war nicht weiter schwer. Er stand direkt hinter unserem Zaun und beobachtete mein Fenster.

Ryder.

Das Lächeln stand ihm genauso gut wie die Bluejeans und das Muskelshirt. Ja, er sah einfach nur umwerfend aus.

Diego kam neben mich, unterdes Elvis in meines Armen weiterschnurrte.

„Dein Freund lebt wohl gerne gefährlich“, kommentierte Diego.

Ich gab Ryder einen Daumen nach oben, um ihm damit die Frage auf seinem Zettel zu beantworten, von Zeichensprache hatte meine Mutter schließlich nichts gesagte, also übertrat ich damit auch nicht ihre bescheuerte Anweisung.

Sein Lächeln wurde breiter und er deutete mir raus zukommen, aber ich schüttelte bedauernd den Kopf.

Natürlich wollte ich dieser Aufforderung sofort folgen – denn mal ehrlich, dass was meine Mutter von mir verlangte, war einfach nur hirnrissig – aber sie war so sauer gewesen, dass ich besser erstmal einen Tag Gras über die Sache wachsen lassen sollte, bevor ich ihr klarmachte, dass ich bereits alt genug war um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Sie war schließlich noch immer meine Mutter.

Da ich nichts weiter tat als ihn zu beobachten, hob Ryder die Tasche zu seinen Füßen hoch, um sie mir zu zeigen. Meine Tasche.

„Der lässt sich wohl nicht so leicht abschütteln.“

„Nein“, lächelte ich. „Da ist er genauso wie du.“

Diego schnaubte.

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Nun tu mal nicht so. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie du uns mit deinem Wagen gejagt hast, als würden wir uns in einem Actionfilm befinden.“

„Nun übertreib mal nicht. Das war keine Verfolgungsjagd, dafür ward ihr viel zu schnell weg.“

Ryder deutete mir erneut, zu ihm zu kommen.

„Tust du mir einen Gefallen?“, fragte ich.

„Der hat wohl nicht zufällig etwas damit zu tun, dass ich zu dem Typ da rausgehen soll?“

„Bist du unter die Gedankenleser gegangen?“

„Nein, ich kenne dich einfach nur gut.“

Ich setzte meinen schönsten und flehenden Blick auf, der dem er noch nie hatte widerstehen können. „Sag ihm einfach, das es mir gut geht, okay?“

„Und wenn ich deiner Mutter begegne?“

„Dann willst du nur meine Tasche holen. Außerdem kann sie dir den Umgang mit ihm ja nicht verbieten.“

„Dafür aber den mit dir.“

„Bitte Diego, für mich.“

Er verdrehte nur die Augen und wandte sich schweigend ab. Jedes weitere Wort wäre sowieso nur Zeitverschwendung gewesen. Fünf Sekunden später hatte er mein Zimmer verlassen.

Da Elvis langsam ein wenig schwer wurde, setzte ich ihn auf dem Fensterbrett ab und beobachtete Ryder. Wie die Sonne sein Haar zum glänzen brachte, oder die Augen, die mit dem Geheimnis eines Diamanten funkelten. Das Schattenspiel seiner Alabasterhaut … das war einfach ein Anblick, den ich nur genießen konnte.

Ein kräftiger Windstoß zog eine Strähne aus seinem Zopf. Es war wirklich grausam, dass er da draußen war und ich nicht zu ihm konnte, weil meine Mutter plötzlich übertrieben mütterlich werden musste.

„Mau.“

„Du hast es echt gut“, seufzte ich. „Keine Eltern, keine Regeln, keine Verpflichtungen. Ich sag es ja immer wieder, Katze müsste man sein.“

„Mau.“

Sein Fell fühlte sich unter meine Hand wollig an. Ich würde ihn mal wieder kämmen müssen. Das war nichts, was mir Spaß machte, denn Elvis ließ sich nicht sehr gerne kämmen. Aber entweder das oder ich müsste ihm das Fell abrasieren, was bestimmt witzig aussehen würde.

Diego kam aus dem Haus, lief schnurstracks durch das Gartentor und winkte Ryder zu sich heran. Ryder sah kurz zu mir hoch, ging dann aber äußerst misstrauisch zu ihm.

Die beiden unterhielten sich einen Moment. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, aber Ryders Haltung wirkte irgendwie angespannt. Mein Rucksack wanderte von einer Person zur andren und dann kehrte Diego ihm auch schon den Rücken.

Das blauäugige Wunder schaute wieder zu mir hoch, das Lächeln war verschwunden. Wahrscheinlich hatte Diego ihm über das Verbot aufgeklärt und den Folgen, die ich über mich ergehen lassen müsste, sollte ich mich nicht daran halten. Ihm schien das nicht viel besser zu gefallen, als mir.

Ryder ging nicht sofort. Ein paar Minuten stand er nachdenklich an unserem Zaun, den Blick auf das Haus gerichtet und dann machte er etwas sehr kindisches: er zeigte meinem Haus den Stinkefinger. Nein, nicht dem Haus, meiner Mutter, die mit wütenden Schritten aus dem Haus kam und ihm quer über den Rasen zurief, dass er verschwinden sollte.

Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu lachen. Das war genau das, was ich gerade empfand. Wäre die Frau dort unten nicht meine Mutter, dann würde ich wahrscheinlich genauso handeln – oder noch schlimmer.

Ryder ließ sich von ihr nicht einschüchtern. Als sie fast den Zaun erreicht hatte, sagte er etwas zu ihr, was sie mitten in der Bewegung erstarren ließ. Dann setzte er sich seelenruhig auf sein Motorrad, platzierte den Helm auf seinem Kopf und rauschte dann mit aufheulendem Motor davon.

Ich sah ihm noch hinterher, als Diego zurück in mein Zimmer kam. Ohne mich umzudrehen fragte ich: „Was hat er gesagt?“

„Eigentlich nicht viel.“ Er warf meine Tasche neben mein Bett. „Er wollte wissen, ob mit dir wieder alles in Ordnung ist und hat dem Ausdruck verliehen, was er von deiner Mutter hält.“

„Das hab ich gesehen.“

Diego trat wieder neben mich. „Gesehen?“

Die Straße lag nun leer vor uns, aber ich wollte noch nicht vom Fenster weggehen. „Er hat meiner Mutter gerade den Mittelfinger gezeigt.“

„So wird er sich hier wohl keine Freunde machen.“

„Das nicht“, lächelte ich. „Aber witzig fand ich es trotzdem.“

 

°°°

 

Am nächsten Tag befand sich meine Laune auf einem neuen Tiefpunkt. Morgens beim Frühstück hatte ich versucht mit meiner Mutter zu sprechen, weil die ganze Sache ein riesiger Misthaufen war, der einfach nur zum Himmel stank. Am Ende dieses Gesprächs hatte sie mir ein One-Way-Ticket nach Amerika schenken wollen. Es war also super gelaufen.

Als krönenden Abschluss des Morgens, musste ich auch noch feststellen, dass der Himmel mit dicken Wolken verhangen war und ein drohendes Unwetter ankündigte. Nicht dass ich etwas gegen ein bisschen Regen hatte, aber es war leider nur schwül und drückend. Paste ja prima zu meinem Gemütszustand.

Jetzt saß ich in Diegos verdammten Wagen, nachdem ich in der verdammten Uni gewesen war, wo mir die verdammte Sekretärin mitgeteilt hatte, dass ich die verdammten Prüfungen erst nach den verdammten Semesterferien wiederholen konnte.

Als sie dann im Radio auch noch einen Song spielten, den ich nicht leiden konnte und das blöde Ding auf meinen Senderwechsel nicht reagieren wollte, brachte dass das Fass zum überlaufen. Wütend schlug ich mit der flachen Hand dagegen, schaltete es letztendlich ab und lehnte mich schmollend zurück.

„Fühlst du dich jetzt besser?“, fragte Lucy vom Rücksitz.

Die konnte mich mal, aber um die Frage zu beantworten, nein das tat ich nicht. Jetzt tat mir auch noch mein Finger weh.

„So das reicht jetzt“, sagte Diego streng und versicherte sich mit einem kurzen Blick auf seine Anlage, dass ich auch nichts kaputt gemacht hatte.

„Was?“, grummelte ich. „Wirfst du mich aus deinem Wagen?“

Dicke Tropfen fielen vom Himmel und prasselten auf das Wagendach. Passte doch irgendwie. Wenn ich schon laufen musste, dann konnte ich wenigstens noch richtig nass werden. Ich war begeistert.

„Verdient hättest du es zwar, aber nein“, sagte er und wendete den Wagen in die entgegengesetzte Richtung. „Wir gehen jetzt ein Eis essen.“

Verwirrt warf ich ihm einen Seitenblick zu. Mir war schon immer bewusst gewesen, dass einer von uns dreien irgendwann den Verstand verlieren würde, nur hätte ich dabei niemals auf Diego getippt. Lucy oder ich okay, aber Diego? Nee, das passte nicht.

„Lucy, gibst du mir mal meine Tasche?“, bat er unseren Rotschopf auf dem Rücksitz. Er legte meine Hand ans Lenkrad, während er sein Handy rauskramte und eilends eine SMS schrieb. Dann übernahm er wieder das Steuer. Ja, schon klar, sowas machte man nicht.

Wir fuhren zurück, vorbei an unserer Uni, hinein in die Innenstadt.

„Meine Mutter wird voll in die Luft gehen, das weißt du hoffentlich?“ Obwohl mir eigentlich herzlich egal war, was meine Mutter machen würde.

„Wird sie nicht.“ Diego hielt Ausschau nach einem Parkplatz, in der Nähe von einem Café mit Namen Lassiedas, in dem ich noch nie gewesen war. „Ich hab ihr gerade geschrieben, dass wir noch ein Eis essen gehen, um deine Laune wieder ein bisschen hoch zu bekommen.“

Lucy schnaubte belustigt.

Ich war ganz ihrer Meinung. „Und du glaubst, dass da ein Eis reicht?“

„Dieses wird reichen.“ Vor ihm parkte ein Turan, mit drei lautstarken Kindern auf dem Rücksitz, aus einer Parklücke aus. Diego wartete einen Moment, um sich dann selber dort breit zu machen. „Denn hier gibt es eine Überraschung dazu.“

Toll. War ich ein Kleinkind, dem man mit einer kleinen Überraschung den Tag versüßen konnte? „Ich bin keine drei mehr.“

Diego schaltete den Motor ab und zog den Zündschlüssel aus dem Schloss. „Leider, mit drei warst du sicher leichter zufriedenzustellen.“

Blödmann.

„Und jetzt los, raus mit euch.“

Ich hatte keine Lust in das Café zu gehen. Weder auf das Eis, noch auf die Atmosphäre, oder die vielen Leute, die sich da herumtrieben, aber ich tat ihm trotzdem den Gefallen. Warum auch nicht, ich konnte genauso gut hier schlechte Laune schieben.

Das Lokal begrüßte uns mit einem hellen und freundlichen Ambiente. Weiß und beige Töne dominierten an den Wänden, und der Einrichtung. Und es war viel los. Fast jeder Stuhl war besetzt. Kellner eilten zwischen den Gästen hin und her, servierten warme und kalte Speisen, Getränke, nahmen Bestellungen auf, oder räumten Tische ab.

Obwohl es so voll war, wirkte es nicht überfüllt und auch der Geräuschpegel hielt sich in Grenzen.

Diego suchte uns einen Tisch am Fenster, wo er in der Ecke Platz nahm und mich neben sich auf die kleine Bank zog. Lucy nahm den Platz gegenüber und griff sofort nach der Speisekarte, in der sie sich das größte Eis aussuchte, dass dieser Laden zu bieten hatte.

Sie reichte die Karte gerade an Diego weiter, als eine gestresste Kellnerin zu uns an den Tisch geeilt kam und es sogar schaffte sich ein freundliches Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Willkommen im Lassiedas, haben Sie schon gewählt?“

„Ich hätte gerne einen Big Mug mit Extra viel Sahne und ein paar Erdbeeren, wenn möglich“, sagte Lucy und zögerte dann kurz. „Ach was soll's, packen sie auch noch schön viele Streusel mit rauf. Aber Schokolade, nicht dieses bunte Kinderzeug.“

Die Kellnerin schrieb artig die Bestellung mit und wandte sich dann Diego zu, der wesentlich mehr Zurückhaltung bewies und sich ein Eis bestellte, dass nur halb so groß war wie das von Lucy. Ich grummelte nur, dass mir ein Saft genügen würde. Mir war nicht nach Eis. Im Grunde wusste ich gar nicht so genau, wonach mir gerade der Sinn stand, nur dass gerade alles scheiße war.

So schnell wie die Kellnerin aufgetaucht war, wuselte sie auch schon wieder davon.

Diego schaute ihr einen Moment hinterher und begann dann mit Lucy über ein Turnier zu sprechen, an dem er in zwei Wochen teilnehmen wollte. Nichts Großes, aber eine Möglichkeit einen weiteren Pokal abzuräumen.

Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen Pokal gewonnen. Was wahrscheinlich daher rührte, dass ich nie in einem Verein, oder so etwas angehört hatte. Es interessierte mich auch nicht wirklich. Ich fand die Dinger doof. Sie nahmen Platz weg, waren Staubfänger und ihr einziger Nutzen bestand darin, vor anderen mit ihnen anzugeben.

Lustlos schaute ich durchs Fenster zum wolkenverhangenen Himmel, während Diego und Lucy ein paar Kampfstrategien durchkauten. Ein paar dicke Tropfen klatschten an die Scheibe, aber es waren so wenige, dass sie praktisch sofort wieder wegtrockneten und nur hässliche Flecken hinterließen.

Bis die Kellnerin mit unserer Bestellung auftauchte, verging eine kleine Ewigkeit. Sie hatte hektische Flecken im Gesicht und einen Fleck auf der Schürze, der vorher noch nicht da gewesen war. Und trotzdem blieb sie weiterhin freundlich, als sie die Sachen vor uns abstellte. Sie wünschte noch einen guten Appetit und eilte dann auch schon an den nächsten Tisch.

Wenn ich mir nur vorstellte, dass ich so einen Job machen müsste … hm, um ehrlich zu sein, konnte ich mir das gar nicht vorstellen. Vielleicht hatte Victoria ja recht und ich war wirklich ein kleines, verwöhntes Mädchen.

Missgelaunt drehte ich mein Glas zwischen den Fingern hin und her, während Lucy sich auf ihren Rieseneisbecher stürzte. Sie wollte gerade den Löffel, mit einer gehäuften Portion Sahne, in den Mund stecken, als sie mitten in der Bewegung anhielt. Ihr Gesicht verdüsterte sich und ich konnte Wut in ihren Augen aufloderte sehen.

„Das gibt es doch wohl nicht“, knurrte sie.

Mäßig interessiert, wenn sie da so fixierte, folgte ich ihrem Blick und entdeckte Tyrone und Ryder, die im Eingang standen und sich suchend umschauten. Und mit einem Mal konnte ich wieder lächeln.

Als die beiden uns entdeckten, kamen sie wachsam zu uns hinüber. Sie wirkten vorsichtig, beinahe schon misstrauisch.

„Ihr könnt gleich wieder verschwinden“, zickte Lucy, noch bevor die beiden an unserem Tisch standen. „Ihr seid hier unerwünscht.“

Ein Lächeln kletterte auf Ryders Lippen. „Wir wurden eingeladen“, erklärte er und schaute zwischen uns hin und her. „Da du es offensichtlich nicht warst und auch nicht Cayenne, bleibst nur du.“ Er schaute Diego an.

Lucy schnaubte abfällig. „Das habt ihr wohl geträumt und jetzt verzieht euch.“

Schmunzelnd hob Ryder eine Augenbraue. „Da hat wohl jemand unseren Auftritt als Überraschung geplant.“

Diego erwiderte das Lächeln nicht. Wie immer war sein Gesicht eine einzige Festung. „Ich wollte das Schimpfen bis zum lenzten Moment herauszögern.“

„Du hast sie eingeladen?!“ Lucys Stimme überschlug sich fast vor Entsetzen.

Diego nickte nur und wich ihrem mordlüsternen Blick aus.

„Das glaub ich jetzt nicht. Hast du eine Ahnung, was das für Ärger mit sich bringt?“ Ihre Stimme war nicht laut, dafür aber wütend und eindringlich. „Du weißt genau, was Cayennes Mutter gesagt hat, und trotzdem …“

„Hier ist doch niemand, den wir kennen, Lucy“, versuchte er sie zu besänftigen – mit wenig Erfolg.

„Ja jetzt nicht, aber es könnte jederzeit jemand reinkommen. Das hier ist ein öffentlicher Ort, den jeder besuchen kann, jeder! Und ich rede hier bestimmt nicht von den Idioten von der Uni.“

Was regte sie sich denn so auf? Es war schließlich mein Kopf, der hier auf dem Spiel stand, nicht ihrer.

Diego seufzte, ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen wandte er sich direkt an die Brüder. „Setzt euch.“

„Bitte?!“ Lucy sah aus, als würde sie gleich der Schlag treffen.

Niemand beachtete sie – wobei es wirklich schwer war so jemanden zu ignorieren.

Weder Tyrone noch Ryder rührten sich von der Stelle. Jedoch öffnete der blonde Bruder den Mund. „Bekommen wir dieses Mal auch wieder so ein schönes Abschiedsgeschenk?“

In aller Ruhe löffelte Diego sich ein Stück Eis in den Mund. „Niemand weiß dass wir hier sind.“

„Diego!“, protestierte Lucy und ich wusste nicht mal warum.

„Niemand?“, versicherte Ryder sich argwöhnisch.

„Niemand“, bestätigte Diego und nahm sich noch einen Löffel.

„Ähm“, machte ich nicht sonderlich gescheit. „Verrät mir einer, worum es geht? Was für ein Abschiedsgeschenk?“

Ryders Mundwinkel zuckte. „Dank Lucy hat unsere Wohnungstür nun … eine kleine Delle.“

„Du hast gegen seine Tür getreten?“, fragte ich und versuchte eine Augenbraue hochzuziehen. Es fehlte nicht viel um zu gelingen.

Ihr wortloser Blick war mir Antwort genug.

Tsss, das war doch wirklich nicht zu fassen. „Lucy!“

Trotzig steckte sie ihren Löffel in ihr Eis. „Das wird nicht gut gehen“, prophezeite sie. „Wir werden erwischt und Cayenne in den nächsten Flieger nach Amerika landen. Florida soll um diese Jahreszeit ja sehr schön sein. Vielleicht gibt dir deine Mutter sogar noch Zeit einen Bikini zu kaufen, damit du …“

„Was regst du dich eigentlich so auf, Cherie“, unterbrach Tyrone ihren Redeschwall.

Lucy schaute ihn an, als wäre er ein lästiges und besonders widerwärtiges Insekt, das man schnellstens entfernen sollte. „Lass mal stecken, Casanova, an so was wie …“

„Falsch“, mischte Ryder sich ein und schnappte sich einen Stuhl vom Nachbartisch, den er bei uns ans Kopfende stellte. „Der Casanova hier bin ich.“ Geschmeidig glitt er auf den Stuhl.

Das brachte sie für einen Moment zum Schweigen. Leider nur einen Moment, denn sobald sie das verdaut hatte, fuhr sie auf ihrem Standpunkt fort. „Wie. Auch. Immer“, setzte sie an. „Ihr seid hier nicht erwünscht.“

Sehr zu ihrem missfallen, ließ sich nun auch noch Tyrone am Tisch nieder – direkt neben ihr. „Ganz schön großer Becher, für so eine kleine Person.“

Oje.

Entgegen meiner Erwartungen, begann Lucy nicht wieder Drohungen und Platzverweisungen auszusprechen. Sie schaute ihn nur einen Moment an und legte dann einen Arm um den Becher, als fürchtete sie, er könnte ihn ihr sonst streitig machen.

Ein Funkeln tat in Tyrones Augen.

„Tja ich glaube nicht, dass sie mit dir teilen wird, Bruder.“ Lächelnd klopfte Ryder ihm auf die Schulter und winkte dann unsere Kellnerin zu uns an den Tisch.

„Es kann sogar gut sein, dass sie sich noch einen zweiten Eisbecher bestellt“, fügte ich lächelnd hinzu und beachtete ihren bösen Blick gar nicht. „Beim Essen ist Lucy wie ein schwarzes Loch. Sie saugt alles in sich hinein, aber niemand weiß wo genau es landet.“

„Ha ha“, machte sie nicht sehr belustigt und stopfte sich dann missmutig ihr Eis in den Mund.

Ryder dagegen schmunzelte immer noch, doch als er sich dann Diego zuwandte, wurde er ein wenig ernster. „Woher hast du eigentlich meine Handynummer?“

„Handynummer?“, fragte ich neugierig.

„Diego hat mir eine Kurzmitteilung aufs Handy geschickt. Eine Sehr kurze“, erklärte er und griff nach der Speisekarte. „Ich war mir erst nicht ganz sicher, aber dann dachte ich bei mir, was kann es schon schaden, mal vorbeizufahren.“

„Was hat er den geschrieben?“

„Lassiedas Cafe. Jetzt.“

Das war wirklich sehr kurz. Selbst für Diego. „Warum?“

„Weil ich seit heute morgen deine zunehmend schlechte Laune ertragen musste, und nach deiner Attacke auf meinen Wagen, wusste ich, dass ich dich nur auf eine Art glücklich machen kann.“

Ryders Augen begangen vergnügt zu funkeln. „Sie hat deinen Wagen attackiert?“

„Mein Radio, um genau zu sein“, sagte Diego und nahm einen Löffel von seinem Eis. „Und nach der Delle im meiner Karosserie vor zwei Wochen, wollte ich keine weiteren Gefahren für mein Auto riskieren.“

„Siehst du, genau das ist der Grund, warum die die Finger von meinen Baby zulassen hast. Ich glaube ich müsste dich umbringen, wenn du darauf einschlägst.“

Lucy zog die Augenbrauen zusammen. „Dein Baby?“

„Er redet von seiner Maschine.“ Eine Berührung am Bein machte mir plötzlich klar, wie nahe ich Ryder mal wieder war. Nein, er versuchte nicht mich zu betatschen, es war sein Knie, das gegen meines stieß und dann auch dort blieb. „Ich hatte ihn mal gefragt, ob er mich mal fahren lässt.“

Diego hielt mitten beim Kauen inne und musterte mich kritisch.

„Keinen Grund zur Sorge“, beruhigte ich ihn sofort. „Er wollte mich nicht fahren lassen und hat noch so was erwähnt, von wegen, ich kann froh sein, das ich als Beifahrer darauf sitzen darf.“

„So hab ich das nicht gesagt.“ Ryder drehte sich ein wenig. „Ich hab gesagt, dass es eine Ehre für dich ist, auf meinem Baby zu sitzen und dass ich dich fesseln und knebeln werde, wenn du noch einmal dagegen trittst.“

In die Erinnerung an diesen Morgen, musste ich lächeln. „Daran warst du selber schuld, du hast mich fast umgefahren.“

„Habe ich nicht, ich hatte alles fest im Griff und außerdem, dir würde nie ein Schaden zufügen.“ Den letzten Teil sagte er so ernst, dass selbst Lucy einen Moment damit aufhörte, ihr Eis zu inhalieren. Und dann lächelte er wieder mit diesem Hauch von Zähnen.

Mir wurde ganz anders. Es kribbelte geradezu unter meiner Haut. „Du bist heute aber mal wieder ein echter Süßholzraspler.“

„Nur wenn du …“ Ryder unterbrach sich, als die Kellnerin an den Tisch kam. Er bestellte für sich und seinen Bruder je einen Burger mit einer großen Portion Pommes und bekam sie sogar so weit, dass sie ihm versprach noch eine extra Portion Ketchup auf den Teller zu legen.

„Gutes Aussehen hilft wohl weiter“, schmunzelte ich, als sie bereits wieder davon eilte.

„Ich weiß nicht“, erwiderte Ryder. „Sag du es mir, Prinzessin.“

O-kay, das war doch jetzt ein ganz offener Flirtversuch gewesen, oder?

Diego kniff die Augen leicht zusammen. „Wie hast du sie genannt?“

„Prinzessin. Ist nur so ein kleiner Spitzname von mir. Stört dich doch nicht, oder?“ Klang das nur in meinen Ohren nach einer Herausforderung, oder versuchte Ryder wirklich gerade, Diego zu provozieren? Ich wusste es nicht, und die beiden ließen sich auch nichts anmerken, aber zwischen ihnen entstand eine beunruhigende Stille.

So regungslos wie die beiden sich anstarrten, war es wohl an der Zeit etwas zu sagen, bevor Diego seinen tollen Einfall noch bereuen konnte. „Du hast uns immer noch nicht erklärt, woher du Ryders Nummer hast.“

Nur sehr langsam glitt Diegos Blick zu mir und dann weiter zu seinem Eis. „Ich habe sie mir besorgt, als wir am Sonntag bei ihm waren. Direkt aus seinem Handy.“

Oh ha. „Du warst an seinem Handy?“

„Es lag da einfach so rum.“ Völlig unschuldig zuckte er mit den Schultern und begann damit die Reste aus seinem Becher zu kratzen. „Hat sich eben angeboten.“

Da taten sich ja Abgründe auf … ich wusste gar nicht was ich sagen sollte. Obwohl, eigentlich wusste ich es doch. „Du kannst doch nicht einfach an die Handys von anderen Leuten gehen.“

Er murmelte etwas, dass ich nicht verstand und ließ dann den Rest seines Eises in seinem Mund verschwinden.

„Wenigstens weiß ich jetzt Bescheid“, schmunzelte Ryder, auch wenn ich absolut keine Ahnung hatte, was daran witzig sein sollte. Besonders nicht, wenn ich daran dachte, was er in der letzten Zeit alles getan hatte. Es gefiel mir einfach nicht, in welche Richtung Diego sich im Moment entwickelte und dabei war es egal, dass es nur um mich ging. Obwohl, eigentlich machte es das sogar noch schlimmer.

„Hast eigentlich schon eine Lösung für unser kleines Problem gefunden?“, fragte Ryder unvermittelt und lenkte ein Teil meiner Aufmerksamkeit damit auf sich. „Ich meine wegen dem Verbot deiner Mutter?“

„Nein, noch nicht, aber ich arbeite daran.“

„Ich hab vielleicht eine Idee“, sagte er und bekam damit auch noch den Rest meiner Aufmerksamkeit.

„Na dann schieß mal los“, forderte ich ihn auf und nahm einen Schluck aus meinem Glas.

Auf einmal wirkte er ein wenig schüchtern, ganz ungewohnt für ihn, doch ich war mir sicher, dass er diese Schüchternheit nur spielte. Seine Augen verrieten ihn. „Na ja, wir könnten durchbrennen und Heiraten. Dann hätte sie keine Chance mehr, uns voneinander fernzuhalten.“

Ich verschluckte mich an meinem Saft, hustete, spuckte was ich im Mund hatte, zurück ins Glas.

Diego riss erschrocken seine Augen auf.

Mitfühlend klopfte Ryder mir auf den Rücken, während ich um Luft rang. „Eigentlich hatte ich mit einer anderen Reaktion gerechnet, wenn ich mal einem Mädchen einen Heiratsantrag mache. Eher so etwas, wie, das du mir küssend um den Hals fällst, oder etwas in der Richtung.“

„Heiratsantrag?“, quietschte ich. Ich meine, ich mochte ihn und so, und er war auch echt süß, aber ein Heiratsantrag?

Sogar Lucy unterbrach sich einen Moment beim essen.

„Ja natürlich“, lächelte Ryder. „Hier ich hab sogar schon einen Ring.“ Er kramte in der Tasche und ich war kurz davor, zu Hyperventilieren. Der meinte das ernst!

Ich dachte schon, dass ich schräge Einfälle gehabt hätte, aber das hier war nun wirklich der Überflieger schlecht hin. „Du machst Witze“, lachte ich und versuchte das Ganze in Lächerliche zu ziehen. Meine Stimme war zu hoch, zu kicksig und in meinem Kopf drehte sich alles.

„Nein, das meine ich völlig ernst.“ Nichts in seinem Gesicht, in seiner Haltung, oder in seiner Stimmte widersprach seinen Worten. Und dann öffnete er die Hand. Darin lag ein Ring. Ein pinkfarbener Plastikring mit einem aufgedruckten blauen Stern!

Ungläubig sah ich von dem Ring in Ryders Gesicht, das voller Freude und Hohn strahlte.

„Du hast mich gelingt!“, zischte ich ihn böse an und war heilfroh, dass es doch nur ein Scherz war. „Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, ist dir das eigentlich klar?“ Ich sah schon die Schlagzeile von Morgen: Tatwaffe Heiratsantrag.

„Ist das ein Ja, oder ein Nein?“

Diego entspannte sich wieder und Tyrone, der völlig unbeeindruckt von meinem kleinen Anfall war, schüttelte nur den Kopf. „Ich hab dir ja gesagt, dass sie so reagieren würde.“

„Na und? Einen Versuch war es trotzdem wert“, lächelte Ryder und auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob das jetzt doch als Scherz gemeint war.

Ich musterte ihn. Scherz, oder Wahrheit. Warum nur fiel es mir schwer ihn zu durchschauen? Dabei hatte ich immer geglaubt, eine gute Menschenkenntnis zu haben.

Natürlich könnte ich ihn auch einfach fragen, aber ich wollte mir nicht die Blöße geben und ihm zeigen, wie unsicher mich sein kleines Spielchen gemacht hatte. Darum entschied ich, dass es sich nur um einen Scherz gehandelt haben konnte. Ein blöder Witz auf meine Kosten. „Tu da ja nie wieder“, mahnte ich ihn. „Außer du willst, dass ich einen Schock erleide.“

„Dann ist das also ein Nein?“

„Hallo?“ Ich klopfte mit den Knöcheln gegen seine Stirn, als wollte ich prüfen, ob da oben jemand zu Hause war. „Bevor ich einen Kerl heirate, muss ich ihn wenigstens geküsst haben.“

„Aber das haben wir doch schon“, erinnerte er mich mit einem Lächeln.

Lucy funkelte Ryder böse an. In ihrem Kopf waren die gleichen Bilder, wie in meinem. Ich wusste, auf welche Situation er anspielte. „Das war kein Kuss. Das war eine Zurschaustellung meiner Überlegenheit gegenüber Elena.“

„Bist du dir sicher?“

Ich warf einen besorgten Blick zu Ryder. Wusste er etwa, wie ich mich in diesem Moment gefühlt hatte? Das mein Atem in stocken geraten war und dass mich seit diesem Moment, wann immer er mich berührte, ein heißes Kribbeln durch meine Adern lief? „Absolut sicher.“ Nein war ich nicht, aber das würde ich ihm ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. Der Kuss hatte einen Moment zu lange gedauert und ich hatte mich sehr wohl dabei gefühlt.

„Okay, wenn du meinst.“ Ryder nahm meine rechte Hand und steckte den Ring auf den Ringfinger. „Trotz dass du meinen Antrag nicht angenommen hast, möchte ich dass du ihn trägst.“ Und dann hob er meine Hand doch tatsächlich an den Mund und hauchte mir einen Kuss auf die Knöchel.

Es war ein seltsames Gefühl. Meine ganze Haut begann wieder zu kribbeln. Nicht nur wegen seiner Lippen und dem warmen Atem, der einen Moment darüber strich, es war vor allen Dingen der Blick in seinen Augen, mit dem er mich dabei bedachte. Der Ton seiner Augen, der sich leicht verdunkelte. Und diese Wimpern … ich hatte noch nie einen Jungen mit so langen Wimpern gesehen.

Plötzlich war ich mir seiner Nähe mal wieder allzu bewusst. Ich spürte wie sein Bein an meinem lehnte, fühlte die Wärme die er abstrahlte und hatte einen verrücken Moment das Bedürfnis, mich mit einem Kuss für den Ring zu bedanken.

„Seid ihr beide bald mal fertig?“, fragte Lucy genervt.

Und da war der verrückte Moment auch schon vorbei. Ich wollte meine Hand aus Ryders ziehen, einfach weil es mir unangenehm war, wie Diego und Lucy uns anstarrten. Da bekam ich glatt das Gefühl, als würden sie gleich ein Hackebeil ziehen, um uns auf diese Art auseinander zu bekommen.

„Perfekt“, erklärte Ryder mit einem zufriedenen Blick auf den Ring. Dann schaute er mich wieder an und auf einmal war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob er den Plastikschmuck meinte, oder doch etwas anderes. „Da du den Ring nun schon hast, müssen wir den Kuss bei Gelegenheit nachholen.“

Ähm … ja. „Ich denke nicht.“ Wohl oder übel war es nun an der Zeit, meine Hand aus seinem Griff zu ziehen und musste dann feststellen, dass es mir besser gefallen hatte, als er sie noch festgehalten hatte.

„Wir werden sehen“, sagte er leise und rutschte dann ein wenig, weil die Kellnerin endlich ihr Essen brachte.

Was sollte der Spruch jetzt wieder bedeuten? Ich meine, dass er nicht abgeneigt war, hatte ich ja bereits bei mehr als einer Gelegenheit festgestellt, aber das hatte sich jetzt angehört, als würde er es darauf anlegen.

Während Ryder und Tyrone sich bei der Kellnerin bedanken und dann das Essen untereinander aufteilten, begann Lucy damit die Reste ihres Eisbechers zu vertilgen.

Eine Berührung am Arm, machte mich auf Diego aufmerksam. Er sagte nichts, aber er wirkte irgendwie beunruhigt.

Ich lächelte, um ihm zu versichern, dass alles in Ordnung war, auch wenn ich selber davon nicht ganz überzeugt war.

Ein Löffel klapperte auf Glas. Lucy schob ihren nun leeren Becher weg und schielte zur Speisekarte, als überlegte sie, sich direkt den nächsten zu holen.

Ich beobachtete währenddessen wie Ryder herzhaft in seinen Burger biss. „War das eigentlich dein einziger Einfall gewesen, oder hast du dir auch etwas Ernsthaftes überlegt? Ich habe nämlich kein Interesse nach Amerika auszuwandern.“ Und die Brüder wollte ich trotzdem in meinem Leben behalten, was irgendwie schon seltsam war, da wir uns ja eigentlich noch gar nicht lange kannten. Aber wenn sie da waren, hatte ich einfach das Gefühl, dass sie zu mir gehörten.

„Dass du unsere Liebe so einfach abtun kannst“, seufzte Ryder theatralisch.

Nein, das ließ ich unkommentiert. „Vorschlag?“, bohrte ich nach und wollte einen Schluck von meinem Saft nehmen. Aber dann fiel mir ein, dass ich zuvor hineingespuckt hatte, um an dem Zeug nicht zu ersticken. Und jetzt war da Sabber drin. Na igitt. Angewidert schob ich es von mir weg. Vielleicht auch besser so. Wenn er noch so etwas wie eben raus hauen würde, würde ich dieses Mal wohl an dem Zeug ertrinken.

Er schnaubte belustigt. „Nein, das war nicht mein einziger Einfall. Für den Fall, dass du meinen Antrag ablehnen würdest, habe ich mir noch etwas anderes überlegt.“

„Ich hoffe das hat nichts mit einem weißen Kleid, und einer dreistöckigen Torte zu tun.“

„Nicht dass ich wüsste.“ Wieder verschwand ein Stück Burger in seinem Mund.

Ich wartete ungeduldig, während er ganz in ruhe kaute und hätte ihm fast gegen sein Schienbein getreten, weil er es so spannend machte. Das tat er mit purer Absicht, da war ich mir sicher.

Als er es dann endlich schaffte seinen Bissen hinunterzuschlucken, sagte er leichthin: „Sprich mit deiner Mutter.“

Ich wartete darauf, dass da noch mehr kam, aber dann steckte er sich einfach eine Fritte in den Mund. „Das ist alles? Das ist deine Idee?“

„Du musst natürlich dein hübsches Köpfchen dazu benutzen.“

Ich seufzte resigniert. Die Idee war nicht so erschreckend, wie seiner erste, aber mindestens genauso bescheuert. Ganz davon abgesehen, dass ich das bereits heute morgen probiert hatte. „Ob nun Köpfchen, oder nicht, so wie sie gerade drauf ist, wird sie sich nicht so einfach umstimmen lassen. Und ich habe wirklich keine Lust am Ende in einem Heim für schwer erziehbare Kinder irgendwo in Amerika zu landen.“ Auch wenn ich mir noch immer nicht sicher war, ob sie das überhaupt tun konnte. Ich meine, ich war ja schon volljährig, wie sollte das also gehen? Sie konnte mich ja nicht einfach zurückstufen.

Plötzlich sah er mich sehr ernst an. Er ließ seinen Burger zurück auf den Teller sinken und fixierte mich förmlich, mit seinen Augen, die mir in der Zwischenzeit auf so seltsame Weise vertraut waren. „Ich schwöre dir Prinzessin, wenn deine Mutter dich ins Ausland verschifft, dann komme ich und hol dich da raus.“

„Ja sicher.“

„Nein, das ist mein vollster Ernst.“ Er versuchte seinen Worten Nachdruck zu verleihen, damit bei mir keine Zweifel aufkommen konnten. „Ich werde dich finden und ich werde dich holen, wenn du das willst.“

Ein kleines Lächeln schlich auf mein Gesicht. „Das ist voll süß, aber dazu wird es nicht kommen.“

„Aber wenn doch, dann weißt du Bescheid. Nur ein Wort und ich werde da sein.“

„Na dann, scheiß auf meine Mutter!“

Der ernste Ausdruck verschwand und wurde wieder zu einem Lächeln.

Im gleichen Moment fragte ich mich, was wohl passieren würde, wenn ich wirklich das Verbot meiner Mutter übertrat und Ryder mich aus einem fremden Land entführen würde. Zutrauen würde ich es ihm. Eine Welt ohne Regeln, allein mit Ryder, das war sehr verlockend. Irgendwie romantisch, diese Vorstellung. Keiner könnte mir mehr etwas. Ich wäre frei.

Diego zu meiner Linken seufzte, als lege die Last der Welt auf seinen Schultern. „Musst du ihr solche Flausen in den Kopf setzten?“, fragte er Ryder. „Ich hab schon genug damit zu tun, ihr die Alten auszutreiben.“

„Ach komm schon, Diego.“ Ich lehnte meinen Kopf zur Seite, bis er an seiner Schulter lag und lächelte ihn an. „Wir machen doch nur Spaß.“

Er erwiderte meinen Blick skeptisch. „Wenn das nur Spaß ist, warum glaube ich dann, dass du kurz nach deiner Ankunft in Amerika auf einer Höllenmaschine in die Nacht verschwinden wirst und wir dich nie wieder zu Gesicht bekommen würden?“

„Weil du immer das Schlimmste von mir annimmst“, schäkerte ich.

„Weil du dich auch immer für das Schlimmste entscheidest.“

„Ich bin Jung“, sagte ich entschuldigend, aber kein Hauch von Reue. „Das muss ich auskosteten, solange es geht.“

Diego schenkte mir wieder diesen tadelnden Großer-Bruder-Blick.

Ich kicherte.

„Naja“, ließ Ryder dann verlauten. „Noch ist sie hier und um aufs eigentliche Thema zurückzukommen, geh nachher zu deiner Mutter und sprich mit ihr. Ich denke, du könntest sie überzeugen.“

„Das habe ich bereits versucht. Mit wenig Erfolg, wie ich betonen möchte.“

„Dann versuch eben etwas anderes. Mach einen Deal, biete ihr etwas im Gegenzug. Hintergehe sie nicht, sondern hol dir ihre Einwilligung.“

„Hörst du mir nicht zu? Ich habe doch gerade erklärt, dass ich das bereits versucht habe. Keine Ahnung warum, aber sobald das Thema auf euch beide kommt, schaltet sie auf stur. Sie will nicht, dass ich Kontakt mit euch habe.“

Tyrone, warf einen Blick zu Lucy, die noch immer recht unentschieden auf die Speisekarte schaute und erhob sich dann von seinem Platz. „Bin gleich wieder da.“

Ryder beachtete seinen Bruder nicht weiter. „Dann sorge dafür, dass sie es will.“

„Ja, aber wie?“

„Pass auf, deine Mutter möchte, dass du dich von uns fernhältst, weil sie befürchtet, dass wir schlimme Burschen sind.“

Ach wirklich? Gut zu wissen.

„Sie denkt wahrscheinlich, dass wir ihrem kleinen Schatz nur Dummheiten in den Kopf setzten …“

„Was ihr auch tut“, warf Diego ein und bekam dafür von mir einen leichten Hieb mit dem Ellenbogen.

Ryder sprach unbeirrt weiter. „… und einen schlechten Einfluss auf dich haben.“ Er unterbrach sich kurz, um sich eine der Fritten in den Mund zu stecken.

Bisher konnte ich ihm folgen und hatte keinen Einspruch zu erheben.

„Jetzt musst du das, was du weißt, für deine Zwecke nutzen, schlag sie mit ihren eigenen Waffen.“

„Und wie soll das gehen? Soll ich ihr mit Amerika drohen, wenn sie mir nicht gehorcht?“

„Könntest du auch versuchen“, überlegte er, „aber eigentlich meinte ich etwas anderes. Sie will nicht, dass du abhaust und dich mit uns heimlich triffst, darum geht hier doch im Kernpunkt.“

Langsam dämmerte mir, was er mir sagen wollte und ich wusste nicht, ob mir das so gefiel. „Du redest von einem Treffen.“

Er nickte.

Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch. „Du willst in die Höhle des Löwen?“

„Wenn ich damit die Chance habe, dich weiterhin zu sehen? Klar.“ Er verschlang das letzte Stück seines Burgers und klaute sich dann eine Fritte von seinem Bruder.

Ich war von der Idee nicht besonders überzeugt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich darauf einlassen wird.“

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, erwiderte er schlicht.

Da musste ich ihn schon irgendwie recht geben. Aber ob ein Treffen unter ihrer Aufsicht, oder eben einfach nur um die beiden kennenzulernen und sich zu versichern, dass sie keine üblen Gesellen waren, ausreichen würde? Wobei ich sie auch erstmal dazu bekommen musste.

Und dann war da noch immer das, was sie mit Victoria besprochen hatte und von dem ich noch immer keine Ahnung hatte, was es bedeutete. „Das wird sicher ein lustiges Gespräch.“

„Du schaffst das schon“, sagte Ryder zuversichtlich und tätschelte mir die Hand.

Genau in dem Moment kam Tyrone zurück an den Tisch. In seiner Hand hielt er einen riesigen Eisbecher, den er direkt vor Lucy abstellte, bevor er sich wieder vor seinen eigenen Teller platzierte.

Leicht irritiert schaute sie von dem Becher zu ihm und kniff dann die Augen leicht zusammen. „Was soll das sein? Ein Bestechungsversuch?“

„Ein Eisbecher. Mehr nicht.“

„Das ändert gar nichts“, erklärte sie ihm.

„Ich weiß.“

Sie griff nach dem Becher und zog ihn zu sich heran. „Und ich werde mich auch sicher nicht bedanken.“

„Habe ich auch nicht erwartet.“

Einen Moment fixierte sie ihn noch, dann häufte sie sich etwas Sahne auf den Löffel. „Du bist wohl doch kein ganz so großer Idiot, wie ich bisher angenommen habe.“

Tyrones Mundwinkel zuckte, aber er verkniff es sich etwas darauf zu erwidern. Schlaues Kerlchen.

 

°°°°°

Ganz knapp

 

Klitschnass stolperte ich zur Haustür hinein und gab erstmal einen derben Fluch von mir. Der Weg von Diegos Auto bis zum Haus betrug vielleicht eine Minuten und ich war trotzdem bist auf die Haut durchweicht.

Noch vor unserem Aufbruch aus dem Lassiedas, hatten sich die Schleusen des Himmel geöffnet, als wollten sie die Welt überfluten. Sehr zu meinem Leidwesen, wie ich nun feststellen musste. Ein Glück für mich, dass ich nicht aus Zucker war.

Eigentlich wäre es nun das Vernünftigste, erstmal nach oben zu verschwinden und mich trocken zu legen, aber stattdessen verlegte ich mich darauf, mir ein Handtuch hier unten aus dem Badezimmer zu holen und mich dann auf die Suche nach meiner Mutter zu machen.

Es war bereits kurz nach acht, aber durch das Unwetter dort draußen so dunkel, das überall im Haus Licht brannte. Was für eine Stromverschwendung.

Noch während ich versuchte meine Haare zu trocknen, schaute ich wo meine Mutter abgeblieben war, doch die einzige die ich fand, war Victoria, die gerade im Esszimmer saß und das silberne Besteck polierte. Manchmal fragte ich mich, ob sie keine anderen Hobbys hatte.

Als sie mich bemerkte, schmunzelte sie. „Da ist wohl jemand ein wenig nass geworden.“

„Sehr witzig“, grummelte ich. „Sei lieber nett zu mir, sonst schubs ich dich auch gleich in den Regen.“

Sie tauschte eine silberne Gabel, gegen eine andere silberne Gabel. „Bei diesen Temperaturen könnte ich mir weitaus schlimmeres vorstellen.“

Da musste ich ihr wohl recht geben. Mich störte es auch weniger, dass ich nass war, als dass mir deswegen die Klamotten am Körper klebten. „Wo ist Mama?“

„Ich glaube in ihrem Arbeitszimmer.“ Sie musterte mich einen Moment kritisch. „Was ist los?“

„Wie kommst du darauf, dass etwas los ist?“

„Naja, du siehst aus wie eine Frau auf einer wichtigen Mission.“

Ich schnaubte, auch wenn sie damit gar nicht so falsch lag. „Du hast 'nen Knall, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

„Heute noch nicht.“

Kopfschüttelnd wandte ich mich von ihr ab. „Ich geh mal Mama suchen.“

„Tu das.“

Das Arbeitszimmer meiner Mutter lag in der ersten Etage, gleich neben ihrem Schlafzimmer. Selbst wenn meine Mutter nach langer Abwesenheit mal wieder zu Hause war, war sie oft darin zu finden. Nicht mal in diesen kurzen Ruhepausen ließ die Arbeit sie los. Da konnte man nur hoffen, dass die Firma wusste, was sie an ihr hatte. Wobei ich mir nicht mehr so sicher war, was ich in ihrem Fall unter Firma verstehen sollte. Und auch nicht, ob ich das noch so genau wissen wollte.

Bevor ich anklopfte, atmete ich noch einmal tief durch, aber dann sagte ich mir, dass es wohl nicht schlimmer als heute morgen werden konnte. Und wenn alles scheiterte, würde ich eben einfach streiken und nie wieder ein Wort mit ihr wechseln. Guter Plan.

Leider brachte einem der beste Plan nichts, wenn einem nach dem Anklopfen nur Stille antwortete. Auch als ich erneut meine Knöchel gegen das Holz schlug, blieb alles ruhig, also öffnete ich einfach die Tür und steckte den Kopf hinein. „Hallo?“

Der Raum war verwaist.

Hohe Regale säumten alle Wände, an denen keine Türen oder Fenster waren. Genau in der Mitte protzte ein richtiges Ungetüm von einem Mahagonischreibtisch, der mit Akten und Unterlagen nur so überfüllt war. Der lederne Stuhl dahinter war leer. Keine Mutter anwesend. Toll.

Ich war schon beim Rückzug, als mir Gedanke kam. Niemand war hier, was bedeutete, ich war ganz alleine in einem Raum voller Unterlagen, die sich um Mamas Arbeit drehten.

Einen Moment zögerte ich. Ich hatte noch nie in den Sachen meiner Mutter herumgeschnüffelt, nicht mal als kleines Kind, einfach weil man das nicht machte. Aber jetzt lagen die Dinge ein wenig anders. In diesem Haus gab es ein Geheimnis und niemand wollte es mir verraten. Vielleicht war es an der Zeit, dass ich mir selber Antworten besorgte.

Mit einem kurzen Blick über die Schulter versicherte ich mich, dass Victoria noch unten war und meine Mutter weiterhin verschwunden, dann schlüpfte ich schnell in den Raum und drückte die Tür leise zurück ins Schloss.

Okay, wo würde ich hier etwas verstecken, dass ich vor neugierigen Augen verborgen halten wollte. Wenn ich mich hier so umsah, konnte das praktisch überall sein. Ein versteckter Safe, eine verschlossene Schublade, ein verborgenes Zimmer hinter einem der Regale …

Okay, nun übertrieb ich vielleicht doch ein wenig. Am Besten begann ich einfach mal mit dem Zeug auf dem Schreibtisch.

Entschloss bewegte ich mich von der Tür weg und starrte auf das heillose Durcheinander aus Akten, Ordnern und losen Papieren. Da ich keine Anhaltspunkte hatte, begann ich einfach wild in den ganzen Unterlagen zu wühlen. Ich musste nur darauf achten, dass ich alles wieder genauso hinterließ, wie ich es vorgefunden hatte.

Zahlen, Tabellen, Tabellen mit Zahlen. Diagramme, ein paar Geschäftsbriefe in denen es um irgendwelche Immobilien ging.

Sie alle waren mit dem gleichen Emblem verstehen, einer fünfzackigen Krone, in deren Mittelteil sich die Silhouette eines Wolfskopfes befand.

Auf einem Stapel fand ich ein paar leere Formulare, in denen es um irgendwelche Geldbeträge ging. Nichts verdächtiges, einfach nur staubtrockene Bürokratie. Und damit musste meine Mutter sich den ganzen Tag herumschlagen? Schon ein wenig enttäuschend.

Gerade als ich einen Stapel wieder zusammenschob und mich dem nächsten widmen wollte, fiel mein Blick auf den überfüllten Mülleimer. Mir kam eine Idee.

Ich hatte einmal einen alten Detektivfilm gesehen und da hatte der Hauptdarsteller den entscheidenden Hinweis in einem Papierkorb gefunden. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Leider war das erste das ich darin fand ein benutztes Taschentuch.

„Igitt.“ Sowas zeigten sie in Filmen natürlich nie. War ja widerlich.

Um nicht noch mal so einen Griff ins Klo zu landen, schnappte ich mir einen Stift und wühlte damit vorsichtig zischen dem Papiermüll herum. Dabei erregte ein gelber Zettel meine Aufmerksamkeit. Doch als ich ihn herauszog, um ihn näher zu untersuchen, entpuppte er sich als Flyer für eine Kunstausstellung. Auf einem anderen fand ich nur das handgeschriebene Gekritzel meiner Mutter. Fincher-Bericht, Quartalszahlen. Wörter, Buchstaben und Zahlen, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen zu sein schien. Ein paar Blümchen, die meine Mutter auf den Rand gemalt hatte. Nichts wichtiges.

Entmutigt warf ich das ganze Zeug zurück in den Eimer und war gerade am überlegen, ob ich mal im Computer herumschnüffeln sollte, als ich draußen auf dem Flur Schritte hörte.

Mist.

Eilig warf ich mich in ihren Lederstuhl und bemerkte gerade als der Türknauf gedreht wurde, dass ich den Stift auf dem Boden hatte liegen lassen. Ich kickte ihn einfach unter den Schreibtisch und versuchte mich völlig entspannt zu geben, als meine Mutter die Tür öffnete und überrascht stehen blieb. Hoffentlich konnte sie nicht hören, wie sehr mein Herz klopfte.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht und schaute zu dem Regal links neben der Tür.

„Ich glaube wir sollten uns mal unterhalten.“

Eine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. „Warum nur habe ich plötzlich das Gefühl einen hochdekorierten und völlig überteuerten Anwalt zu benötigen?“

Wahrscheinlich hatte mein Ton ihr das verraten. „Keine Ahnung, weil du von Natur aus ein vorsichtiger Mensch bist?“

„Muss ich denn vorsichtig sein?“ Sie trat in den Raum zum linken Regal und zog eine Art verborgene Jalousie aus der oberen Verkleidung, mit der sie das Regal verschloss.

Toll, da waren also die verdächtigen Papiere. Ich hatte also an völlig falscher Stelle gesucht. Blödes Fernsehen, blöder Detektivfilm. „Nein“, sagte ich im neutralen Ton, ermahnte mich aber gleichermaßen, dass ich vorsichtig sein sollte, damit das hier nicht wieder in einem Desaster endete. „Ich habe etwas mit dir zu besprechen.“

„Aha.“ Sie wirkte interessiert. „Hat das zufällig etwas mit unserem letzten Gespräch zu tun?“

„Ja, hat es“, sagte ich geradeheraus. Lange um den heißen Brei herumzureden hatte keinen Sinn. Entweder es klappte, oder nicht, und wenn es klappen sollte, musste ich meine Worte sorgfältig wählen. „Ich habe ein wenig nachgedacht.“ Ich sah ihr geradewegs in die Augen. Nur keine Schwäche zeigen. Das hatte ich in Dokumentarfilmen über Tiere gelernt. Wer zuerst wegschaute, war der Schwächere und ich hatte schon mehr als einmal bemerkt, dass diese Taktik auch sehr gut bei Menschen funktionierte. „Und ich denke … nein, ich weiß, dass du Recht hattest. Es war falsch von mir, dass ich einfach so verschwunden bin und ich kann verstehen, dass du so reagiert hast.“ Nur nicht zu dick auftragen.

„Freut mich zu hören.“ Meine Mutter blieb auf der Hut. Sie wusste genau, dass ich etwas im Schilde führte. Sie war ja nicht dumm.

„Aber dennoch finde ich, dass wir dieses Problem auch anders angehen können.“

„So?“ Sie verschloss noch ein weiteres Regal und ließ sich dann auf einem der beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch nieder. „Und wenn ich vermute, dass du da auch schon eine Idee hast …“

„Dann liegst du damit richtig.“ Meine nächsten Worte wählte ich mit äußerster bedacht und griff auf das zurück, was Ryder am Nachmittag gesagt hatte. „Ich möchte über den Kernpunkt deines Verbots sprechen, darüber, warum du es für nötig hältst mir den Umgang mit ihnen zu verbieten.“ Was ich nur so nebenbei bemerkt noch immer lächerlich fand.

„Weil diese beiden Jungen einen schlechten Einfluss auf dich ausüben.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, im Kernpunkt geht es darum, dass ich sie nicht mehr sehen darf, weil du befürchtest, dass ich wieder ausreiße und mich heimlich und ohne das Wissen Dritter mit ihnen treffe.“

Meine Mutter zog die Augenbrauen leicht zusammen. „Was du da sagst, ist nicht ganz richtig.“

„Das ist gut möglich, denn bisher hast du mir keinen eindeutigen Grund genannt, warum ich mich von den beiden fernhalten soll.“

Darüber dachte sie einen Moment nach, musste sich aber eingestehen, dass ich Recht hatte. „Nein, einen Grund hatte ich dir nicht genannt, da muss ich dir zustimmen.“

Wow, ich sollte Anwältin werden. Okay, weiter, jetzt hatte ich sie da, wo ich ihn haben wollte. „Der Grund dafür, dass du so sauer warst, waren nicht die Jungs, sondern der, dass ich einfach verschwunden bin.“

„Das ist nicht ganz richtig.“ Meine Mutter senkte seine Augen und spielte mit einem ihrer Papiere herum.

Da, ich hatte gewonnen! Sie hatte den Blick zuerst abgewendet, also war ich hier das Alphatier. Ich war ja so gut!

Nur nicht übermütig werden.

„Natürlich war ich sauer, dass du einfach verschwunden bist. Ich bin deine Mutter, ich habe mir Sorgen gemacht, aber der Grund warum das getan hast, waren die Jungs und daher möchte ich auch nicht, dass du dich noch einmal mit ihnen triffst.“

„Der Grund warum ich verschwunden bin, waren nicht die Jungs, es war weil ich mittlerweile alt genug bin um meine eigenen Entscheidungen zu treffen und du das nicht akzeptieren willst oder kannst. Für dich bin ich noch immer dein kleines Mädchen, aber in der Zwischenzeit bin ich erwachsen geworden, dass musst du langsam mal einsehen.“

„Jemand der erwachsen ist, muss das nicht extra betonen“, hielt sie sofort dagegen. „Und mein Schatz, wenn du einmal ehrlich zu dir selber bist, hast du dich auch besonders erwachsen verhalten.“

„Nein das habe ich nicht, aus dem einfachen Grund, weil ich Angst vor deiner Reaktion hatte.“ Oder besser gesagt, keine Lust auf den Stress. „Eigentlich ist das auch ganz egal. Im Grunde reagierst du doch nur so, weil du die beiden nicht kennst. Deswegen habe ich überlegt, dass wir sie mal zu uns nach Hause einladen könnten. Dann kannst du sie nicht nur kennenlernen, sondern sich auch versichern, dass sie völlig in Ordnung sind.“

„Du willst sie hier her bringen? In dieses Haus?“

Warum bitte klang sie dabei so ungläubig? „Ja. Vielleicht zum Abendessen. Dann könnt ihr euch in ruhe unterhalten.“

Einen Moment schien sie wirklich darüber nachzudenken, doch dann schüttelte sie zu meiner Enttäuschung den Kopf. „Nein.“

Okay, ruhig Blut, das würde ich hinbekommen. „Warum?“

„Weil ich es sage und damit ist diese Unterhaltung auch beendet“, erklärte sie grob.

Bitte? „Du kannst doch nicht mittendrin eine Unterhaltung beenden.“

„Doch, dass kann ich, da ich das Ende dieser Unterhaltung bereits kenne. Du möchtest diese Kerle weiterhin sehen, ich möchte das nicht und von diesem Standpunkt werde ich auch nicht abweichen, egal ob du sie mir persönlich vorstellst, oder nicht.“

Jetzt war es vorbei mit der Ruhe. „Aber … das kannst du doch nicht einfach machen! Ich schreibe dir doch auch nicht vor, mit wem du dich treffen darfst und mit wem nicht.“

„Ja, weil ich hier die Mutter bin.“

„Ein Scheiß bist du!“, fuhr ich sie an. „Du warst nur ein Bruchteil meines Lebens anwesend, weil du doch lieber in der Weltgeschichte herumgetrieben hast und jetzt stehst du plötzlich hier und willst mir Vorschriften machen? Zu spät! Genaugenommen sogar Jahre zu spät!“

Das hatte gesessen, ich sah es in ihren Augen und bereute meine Worte augenblicklich. Aber ich wollte auch nicht zurückrudern.

„Ich bin noch immer die Frau, die dich zur Welt gebracht hat“, sagte sie sehr leise. „Egal ob ich nun einen Tag oder hundert bei dir bin, ich werde immer die Frau sein, die dich geboren hat und damit auch deine Mutter.“

Mir lagen so viele Dinge auf der Zunge, aber ich weigerte mich diese Richtung einzuschlagen. „Ja“, erwiderte ich genauso leise. „Du bist meine Mutter, aber weder du noch jemand anderes hat das Recht mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin hier hergekommen, um in Ruhe mit dir zu sprechen, aber ohne vernünftigen Grund bist du in deiner Meinung so festgefahren, dass es absolut keinen Sinn macht, noch ein weiteres Wort an dich zu verschwenden.“

Genau wie bereits gestern, wurde meine Mutter unnatürlich ruhig. „Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich Schluss mache.“ Ohne lange darüber nachzudenken, holte ich meine mein Portemonnaie aus meiner Tasche. Zwei Handgriffe später landeten all meine Kreditkarten vor ihr auf dem Tisch. „Schluss mit erpressen, Schluss mit unsinnigen Drohungen. Du glaubst du bekommst mich nach Amerika, um mich weiter kontrollieren zu können? Nur zu, ich wünsch dir bei dem Versuch viel Glück.“

„Cayenne.“ Ihre Stimme war beinahe ein knurren.

Ich erhob mich einfach aus dem Lederstuhl und marschierte an ihr vorbei. Aus dem Raum schaffte ich es aber nicht, den plötzlich packte sie mich am Arm und hielt mich fest.

Das ging zu weit. Ich wirbelte zu ihr herum und wollte sie anfahren, doch die Worte schafften es nicht aus meinem Mund. Was ich in ihren Augen sah … es war Furcht.

„Bitte“, sagte sie. „Tu das nicht.“

„Warum?“

Sie drückte die Lippen aufeinander, als wollte sie sich selber vom Sprechen abhalten.

Verdammt noch mal. „Sag mir warum, nenn mir nur einen vernünftigen Grund, einen einzigen, damit diese ganze verdammte Scheiße um mich herum endlich einen Sinn ergibt.“

In ihrem Kopf arbeitete es. Aber nicht um sich die Entscheidung abzuringen, endlich mit der Sprache rauszurücken, ich hatte viel mehr das Gefühl, dass sie fieberhaft nach einer glaubhaften Lüge suchte, die mich zurück unter ihre Fuchtel brachte.

Aber sie fand keine. Sie hielt mich einfach nur schweigend fest und schaute mich an, als würde ich ihr verloren gehen, sobald sie die Finger von mir nahm. „Bitte Cayenne, halte dich von den beiden fern. Es ist gefährlich.“

„Es? Was ist es?“

„Bitte, ich will dich nur beschützen, vertrau mir doch einfach.“

Da war es wieder, dieses Wort. Alle wollten, dass ich ihnen vertraute, aber niemand kam auf die Idee, das einmal andersherum auszuprobieren. „Vertrauen ist nicht nur etwas, dass man sich verdienen muss, es ist auch etwas, das auf Gegenseitigkeit beruht.“ Ich riss meinen Arm aus ihrem Griff. „Und im Moment gibt es hier nur zwei Personen, die mir vertrauen und dass sind ausgerechnet die beiden, von denen ihr mich alle fernhalten wollt.“ Ich wandte mich von ihr ab.

„Cayenne …“

„Nein, wir sind hier fertig!“ Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließ ich das Büro und knallte die Tür so laut hinter mir zu, dass mir die Ohren davon klingelten. Ich war wütend, ja, aber gleichzeitig auch verletzt und enttäuscht, was mich gleich noch wütender machte. Nicht nur dass dieses Gespräch völlig sinnlos gewesen war, auf einmal fühlte ich mich erniedrigt, so als sei ich es nicht wert, dass man mir etwas anvertraute, weil ich es ja sofort in die Welt hinausposaunen würde.

Diese ganzen Lügen und Halbwahrheiten hingen mir einfach nur noch zum Halse raus. „Sollen sie doch alle dran ersticken.“ Murrend verschwand ich in meinem Zimmer und knallte auch diese Tür hinter mir zu. Allerdings nicht mehr mit ganz so viel Schwung. Der war mir irgendwie auf dem Weg zwischen hier und ihrem Büro verloren gegangen.

Niedergeschlagen lehnte ich an der Tür und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Am Besten erstmal aus den nassen Klamotten raus, denn langsam wurden die wirklich unangenehm auf der Haut. Aber obwohl ich mir viel Zeit ließ, saß ich nach zwanzig Minuten trotzdem fertig auf meiner Bettkante und fühlte mich einfach nur … einsam.

Es war seltsam das zu denken, denn eigentlich war ich nie alleine. Aber jetzt gerade war dieses Gefühl einfach nur erdrückend.

Einen kurzen Moment überlegte ich Lucy anzurufen, einfach weil sie bei solchen Sachen immer meine erste Anlaufstelle war, doch als ich das Handy dann in der Hand hielt, war es eine ganz andere Stimme, die ich hören wollte. Ryders Stimme.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor Neun. Da würde er doch sicher noch nicht schlafen.

Kurzentschlossen kramte ich seine Nummer aus meinem Portemonnaie und tippte sie in mein Handy ein. Es klingelte drei Mal, vier. Ich überlegte, ob ich nicht vielleicht doch lieber wieder auflegen sollte, da wurde endlich am anderen Ende abgenommen.

„Wer stört?“

„Ich“, sagte ich leise, schob den Zettel mit der Nummer zurück in mein Portemonnaie und ließ mich dann neben Elvis ins Bett fallen.

Im Hintergrund war Musik zu hören und ein Lachen. „Deiner Stimme nach zu urteilen, hast du gerade mit deiner Mutter gesprochen“, vermutete er ganz richtig.

„Eigentlich war es eher so, als wäre ich in einer Einbahnstraße gelandet.“

„Dann war sie von deiner Idee also nicht so angetan?“

Ich drehte mich mit meinem Handy am Ohr auf die Seite und streichelte Elvis übers Fell. Sofort begann er knatternd zu schnurren. Zusammen mit dem Regen, der leise gegen mein Fenster prasselte und der Stimme an meinem Ohr, gab mir das etwas Beruhigendes. „Nein“, seufzte ich. „Keine Ahnung warum, aber sie will absolut nicht, dass ich mich mit euch treffe.“ Wenn man es genau nahm, hatte sie mich sogar beinahe angefleht und das war auch ein Punkt, der mir zu schaffen machte. „Ich verstehe es einfach nicht und das raubt mir mittlerweile einfach nur noch den Verstand.“

Irgendwo im Hintergrund rief jemand Ryders Namen.

„Nerv nicht“, war seine einzige Antwort. „Sorry, wir sind gerade bei einem Kumpel und er hat seine Manieren bereits mit den Kinderschuhen verloren.“

Wieder ein Lachen.

„Störe ich?“, fragte ich leise. Ich wollte mit ihm reden, ja, aber ich wollte auch nicht aufdringlich sein.

„Auf keinen Fall.“ Er schwieg kurz. „Soll ich vorbeikommen?“

Netter Gedanke. „Ich glaube nicht, dass ich dich ins Haus lassen darf.“

Er lachte leise. „Wer hat denn vom Vordereingang gesprochen? Ich bin hervorragend im Klettern und habe schon in meiner Jugend keine Tür mehr gebraucht, um in ein Haus hinein zu kommen.“ In seiner Stimme schwang ein Lächeln mit. „Außerdem gibt es vor deinem Fenster ein Spalier, wenn ich mich recht erinnere.“

„Trotzdem denke ich nicht, dass es eine gute Idee wäre.“ Obwohl es mich doch interessierte, ob er es schaffen würde. Ryder in meinem Zimmer. Alleine die Vorstellung reichte, um meine Hormone in Aufruhr zu versetzen.

„Das habe ich nicht gefragt.“

Ich musste lächeln. Der Kerl konnte echt hartnäckig sein. „Nein, das nicht, aber …“

„Moment“, unterbrach Ryder mich. Die Geräusche am Handy wurden leiser, als würde er eine Hand aufs Mikrophone legen. Als seine Stimme dann wieder durch die Leitung kam, war fast eine Minute vergangen. „Du, ich muss jetzt auflegen.“

So plötzlich? Aber ich wollte doch noch reden. „Ist was passiert?“

„Nein, aber ich muss noch wohin. Wir sehen uns.“ Und ohne auf eine Erwiderung zu warten, beendete er einfach das Gespräch. Keine Abschiedsworte, einfach nur weg und nichts als das Tuten in der Leitung.

Als ich langsam den Hörer von meinem Ohr sinken ließ, fühlte ich mich wie vor den Kopf gestoßen. Er hatte nicht nur das Gespräch beendet, er hatte mich geradezu abgewürgt. „Mistkerl“, schimpfte ich. Nicht weil ich wütend war, nein, eigentlich weil … keine Ahnung. Die nächste Enttäuschung einstecken musste? Mir dumm vorkam, weil ich ihn überhaupt angerufen hatte? Irgendwas in der Richtung würde es schon sein.

„Mau.“

Ich schaue zu Elvis. „Du bist wohl der einzige in meinem Leben, der kein kompletten Dachschaden hat.“

Für diese Worte wurde ich nicht nur mit seinem Schnurren belohnt. Seine Majestät erhob sich sogar und rieb seinen Kopf an meinem Gesicht. Zwar landeten so ein paar lange schwarze Fusseln in meinem Mund, aber die konnte ich mir ja von der Zunge pulen.

„Ja, ich hab dich auch lieb mein Süßer. Und solange du mir erhalten bleibst, können die anderen uns den Buckel runter rutschen. Oder was meinst du?“

Da er etwas lauter schnurrte, nahm ich das mal als Zustimmung.

„Dann würde ich sagen, dass wir es uns mal ein wenig bequemer machen.“ Da ich mich bereits fürs Bett umgezogen hatte und auch dem Bad schon ein Besuch abgestattet hatte, um mich nach dem Schauer trocken zu legen, brauchte ich nur noch mal kurz aufstehen, um das Licht auszuschalten. Dann kuschelte ich mich auch schon mit meiner Kratzbürste unter die Decke, schaltete den Fernseher an und zappte durch die Kanäle, bis ich etwas fand, dass mich halbwegs interessierte.

Leider fiel es mir sehr schwer mich auf den Film zu konzentrieren. Normalerweise hatte Regen ja eine beruhigende Wirkung auf mich. Ja ich liebte es geradezu, wenn die Tropfen gegen das Fenster prasselten und es dazu noch donnerte und blitzte. Nicht mal als Kind hatten Stürme mir Angst gemacht. Ich fand diese rohe Kraft der Natur einfach nur faszinierend. Aber jetzt gerade konnte ich nur an die Dinge denken, die heute schiefgelaufen waren – was bis auf den Besuch im Lassidas so ziemlich alles mit einschloss.

Dabei ging es nicht mal wirklich um die Tatsache, dass Ryder ich einfach so abgewürgt hatte, es war dieser Blick meiner Mutter, der sich in mein Hirn gebrannt hatte. Sie hatte wirklich beunruhigt gewirkt und das nicht nur, weil ich so grob zu ihr gewesen war.

Da war etwas gewesen, wie ein Schatten, der über ihr gelauert hatte. Also nicht wirklich, sondern metaphorisch gesprochen. Aber es wollte mir einfach nicht in den Kopf, warum sie nicht mit mir darüber sprach. Ich war doch kein kleines dummes Kind mehr. Wenn sie Sorgen hatte, dann konnte sie die doch mit mir teilen, damit wir gemeinsam eine Lösung fanden.

Ja mir war klar, dass ich oftmals egoistisch war und ungern Sachen tat, die nicht von Vorteil für mich waren, aber hier ging es um Familie. Das war etwas ganz anderes.

Vielleicht sollte ich mal versuchen mit Victoria darüber zu sprechen. Sie schien definitiv mehr zu wissen als ich. Sie schien sogar Kontakt zu meinem Großvater zu haben – was auch immer das bedeutete. Aber … wollte ich denn wirklich wissen, was da für Geheimnisse im Dunkeln lauerten?

Mama hatte gesagt, sie wollte mich nur beschützen, doch … wovor? Es war die gleiche Frage, die ich mir bereits bei Lucy und Diego gestellt hatte. Alle wollten mich beschützen, aber niemand konnte eine klare Aussage treffen.

Seufzend versuchte ich meine Gedanken zu verdrängen und mich auf den Film zu konzentrieren, einfach weil ich hier in diesem Bett sowieso keine Antworten finden würde.

Elvis regte sich ein wenig und begann damit auf meinem Bauch seinen Milchtritt zu machen. Das Prasseln des Regens wurde heftiger. Nur das Flackern des Fernsehers spendete ein wenig Licht. Ich kam mir vor, als sei ich komplett von der Welt abgeschnitten. Ganz allein. Ruhig. Friedlich. Meine Augen wurden ein wenig schläfrig und ich war ernsthaft am überlegen, ob ich sie nicht einfach zufallen lassen solle. Heute würde ja …

Ein plötzliches Klopfen an meinem Fenster ließ nicht nur mich vor Schreck zusammenzucken – auch Elvis machte einen Satz und sträubte sein Fell so sehr, dass er seinem Spitznamen alle Ehre machte.

Mit wild schlagendem Herzen wirbelte ich genau in dem Moment herum, als draußen ein Blitz die Welt erhellte. Direkt vor meinem Fenster kauerte eine Gestalt und starrte zu mir ins Zimmer.

Ich riss den Mund auf, um zu schreien, aber dann sah ich die Augen. Blassblau. Verdammt, das war Ryder!

Als das Licht des Blitzes erlosch, sprang ich aus meinem Bett. Doch nicht um zum Fenster zu laufen, sondern in die entgegengesetzte Richtung zur Tür. Ich schlug auf den Lichtschalter, drehte dann eilig den Schlüssel im Schloss herum und erst dann eilte ich zum Fenster, um es hastig hochzuschieben.

Direkt davor hing Ryder klitschnass am Spalier und lächelte mich an, während von oben ein ganzer Sturzbach auf ihn niederprasselte. „Hey.“

„Hey? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!“

„Du hast leider keine Klingel am Fenster.“ Mit einer Hand strich er sich übers Gesicht. „Lässt du mich jetzt rein, oder muss ich hier draußen ersaufen?“

Er wollte hier rein? Ich trug nichts weiter als ein dünnen Spagettihemdchen und dazu eine Schlafhose, die schon seit Ewigkeiten ein Loch im Schritt hatte. Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Hast du nicht am Telefon gesagt, dass du noch wohin musst?“

„Ja, zu dir. Du hast ein wenig unentschlossen gewirkt, also dachte ich mir, ich nehme dir die Entscheidung einfach mal ab.“

„Indem du nachts durch mein Fenster steigst?“

„Bisher hänge ich ja nur vor deinem Fenster, obwohl ich sagen muss, dass ich das gerne ändern würde. Ist nämlich ganz schön nass hier draußen.“

Was sollte ich da noch anderes tun, als kopfschüttelnd zur Seite zu treten und dabei zuzuschauen, wie er ohne große Mühe in mein Zimmer kletterte, während draußen der Donner grollte?

Ich konnte lachen und genau das tat ich auch, als er vor mir stand. Sein Zopf hatte sich gelöst und die Kleidung klebte nicht nur an ihm, sie schien geradezu mit ihm verwachsen. Überall tropfte Regenwasser von ihm hinunter und seine Wangen waren echt süß gerötet.

„Deine Gastfreundschaft lässt echt zu wünschen übrig“, murmelte er. „Ich würde dir zumindest ein Handtuch anbieten.“

Ja, wäre wahrscheinlich sinnvoll, bevor er mir noch den Boden ruinierte. „Komm“, sagte ich grinsend. „Ich zeig dir wo das Bad ist.“

Er folgte mir quer durch den Raum. Jeder seiner Schritte machte ein quietschendes Geräusch und als ich das Licht im Bad einschaltete, musste ich feststellen, das meine nassen Sachen noch auf dem Boden lagen – inklusive Unterwäsche.

Ich sah zu, dass alles im Wäschekorb landete, bevor er es sehen konnte und zeigte dann auf den kleinen Schrank in der Ecke. „Da sind Handtücher drinnen.“

Ryder ging nicht direkt dorthin, vorher ließ er seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen. „Nett.“

Nein, ich würde mich nicht dafür schämen, ein Bad zu haben, dass seines um Längen schlug. „Am Besten du ziehst auch gleich deine Klamotten aus.“

Dafür bekam ich erst einen überraschten Blick und dann ein sehr dreckiges Grinsen. „Da geht aber jemand direkt in die Vollen.“

„Träum weiter, Genosse, ich werde dir eine Hose von Diego geben.“ Damit verließ ich das Bad und begann damit meinen Kleiderschrank zu durchforsten. Ich wusste genau, dass dort ein paar Klamotten von Diego drinnen waren – genau wie von Lucy – da er hin und wieder hier schlief, aber um die zu finden, musste ich wirklich sehr tief graben. Ich sollte dringend einmal meinen Kleiderschrank ein wenig ausmisten.

Es dauerte einen Moment, bis ich eine graue Jogginghosen aus den tiefen hervorzauberte und mit dieser dann zurück zum Bad marschierte, wo Ryder bereits sein Hemd ausgezogen hatte und nun versuchte sich mit einem Handtuch die Haare ein wenig trocken zu rubbel.

Einen Moment stand ich einfach nur da und bewunderte das Muskelspiel unter seiner Haut. Er war nicht besonders breit gebaut, aber durchtrainiert. Und dann erst dieser Hintern in der nassen Jeans. Da blieb wirklich nichts der Phantasie überlassen.

„Warum habe ich plötzlich das Gefühl, nichts weiter als ein Objekt zu sein?“

Ertappt schaute ich auf und lief natürlich sofort hochrot an. Das er dann auch noch leise lachte, machte es auch nicht unbedingt besser. „Hier“, sagte ich verlegen und reichte ihm die Hose.

Immer noch grinsend nahm er sie. „Da ich nicht davon ausgehe, dass du mich nackt sehen möchtest, würde ich nun um ein wenig Privatsphäre bitten.“

Ich war so schnell aus dem Raum verschwunden, dass es schon peinlich war. Selbst Elvis schien zu schmunzeln, als ich hastig zu ihm ins Bett sprang, um auch ja nicht auf komische Ideen zu kommen. Obwohl, zu spät, die Idee war bereits da. Aber ich würde sie nicht in die Tat umsetzen. Ich war ein anständiges Mädchen – meistens.

Als ich dann das Klatschen von nassen Sachen auf Fliesen hörte, wurde mir bewusst, dass ich die Tür nicht geschlossen hatte und auch Ryder das offensichtlich nicht für nötig hielt. Dann entstanden vor meinem inneren Auge auch noch passende Bilder zu den Geräuschen und ich war versucht dringend etwas zu sagen, aber irgendwie war mein Hirn gerade nicht sehr leistungsfähig.

„Hast du einen guten Film da?“

Ähm … „Du solltest vielleicht ein wenig leiser sein, ich bin nicht die einzige die hier wohnt.“ Wieder klatschte etwas auf den Boden und ich war wirklich schwer versucht nachzuschauen, ob er nun nackt in meinem Bad stand.

Bring mal deine Hormone unter Kontrolle! Am Besten ich konzentrierte mich auf den Fernseher. Klappte nicht, also schaltete ich ihn ein wenig lauter. Jetzt fing der Blödmann auch noch an zu summen. „Am besten drücke ich mir ein Kissen aufs Ohr.“

„Hast du was gesagt?“

Mist. „Ich hab nur mit Elvis gesprochen.“

Als der Kater seinen Namen hörte, hob er den Kopf und maunzte mich an, als wollte er sich beklagen, weil ich ihn als Alibi benutzte.

„'tschuldigung.“

„Weißt du was man über Leute sagt, die mit ihren Tieren sprechen?“

Ich schaute auf und sah Ryder lächelnd im Türrahmen stehen. Sein Haar war offen und hinter die Ohren gesteckt. Und er trug nichts weiter als Diegos Hose. „Nein, was denn?“

„Keinen Schimmer, aber bestimmt nichts Nettes.“

Sehr witzig. „Bist du nur zum Stänkern hergekommen?“

„Nein.“ Sein Lächeln schwand eine Spur. „Ich bin hergekommen, weil du dich nicht besonders glücklich angehört hast.“

„Oh.“ War das so deutlich gewesen?

„Ich dachte mir, gegen ein wenig Gesellschaft hast du sicher nichts einzuwenden.“ Ryder stieß sich vom Türrahmen ab und setzte sich mit einem Bein unterm Hintern zu mir ins Bett. Sofort sprang Elvis auf, schnüffelte misstrauisch an ihm und rümpfte die Nase, bevor er sich demonstrativ zwischen uns legte. Na wenigstens versuchte er nicht ihn zu kratzen, um ihn aus dem Bett zu bekommen. „Und er wohl auch nicht.“

„Naja, seine Position ist schon ziemlich eindeutig.“

„Ach, der Kleine liebt mich.“ Um seine Worte unter Beweis zu stellen, begann er auch sofort damit, Elvis den Nacken zu kraulen und wurde dafür mit leisem Schnurren belohnt. „Siehst du?“

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Es ist schon sehr ungewöhnlich. Bis du aufgetaucht bist, hat er sich nur von mir anfassen lassen.“

„Ich habe eben ein Händchen für Tiere.“ Um es sich bequemer zu machen, streckte Ryder die Beine aus und seufzte dann zufrieden. „Und, was ist nun, Film?“

„Was willst du denn schauen?“

„Du kannst ja mal durchschalten und schauen, was so läuft.“

„Aber ich werde kein Popcorn machen.“ Ich griff mir die Fernbedienung und begann etwas halbwegs gescheites zu finden. Nach einigen Fehlschlägen, landete ich bei The Green Mile. „Der ist gut.“

„Jup, den mag ich auch.“

Damit war es entschieden. Ich legte die Fernbedienung zur Seite und freute mich insgeheim, wieder mal eine Gemeinsamkeit zwischen uns gefunden zu haben. Doch wie vorhin schon, schaffte ich es wieder nicht mich auf die Mattscheibe zu konzentrieren. Ryders Anwesenheit war einfach zu gegenwärtig.

„Du bist so still.“

Überrascht schaute ich zu ihm rüber. „Ich dachte du willst den Film schauen.“

„Ja und nein.“ Er drehte den Kopf auf dem Kissen, um mich besser anschauen zu können. „Ich habe das Gefühl, irgendwas bedrückt dich.“

Das war nun wirklich nicht weiter schwer zu erraten gewesen. „Ach, es ist nur das mit meiner Mutter.“

„Das geht dir ziemlich nahe, oder?“

„Ich verabscheue es belogen zu werden. Ich meine, wenn mir jemand etwas nicht sagen möchte, finde ich das auch nicht unbedingt toll, aber Lügen sind wirklich das Letzte, einfach weil sie unnötig sind.“

Ein Moment des Schweigens folgte.

„Manchmal sind Lügen unumgänglich“, erwiderte Ryder schließlich. „Aus der Not heraus, oder weil man jemanden nicht verletzten möchte. Nimm zum Beispiel ein kleines Kind, dass dir voller stolz seine Strichmännchen zeigt. Könntest du ihm wirklich ins Gesicht sagen, dass das Bild scheiße aussieht?“

„Das ist etwas anderes.“ Ich klopfte mir mein Kissen zurecht und drehte mich dann auf die Seite, um ihn ansehen zu können, ohne davon eine Nackenstarre zu bekommen. „Ich rede von wichtigen Sachen.“

„Aber manchmal muss man auch bei wichtigen Sachen Lügen, einfach weil die Umstände es in diesem Moment nicht anders zulassen.“

„Nein“, widersprach ich sofort. „Es ist immer besser die Wahrheit zu sagen.“

Er stimmte mir nicht zu. Ich hatte sogar das Gefühl, als würde er gerne meinem Blick ausweichen.

Ein unangenehmer Gedanke materialisierte sich in meinem Kopf. „Hast du mich schon belogen?“, fragte ich leise.

„Mit Sicherheit.“ Er sagte das mit einem solch breiten Grinsen, dass auch ich unwillkürlich lächeln musste.

„Du bist blöd.“

„Und trotzdem liebenswert.“

Ich schnaubte. Da besaß aber jemand mal wieder ein sehr großes Ego.

„Was? Etwa nicht?“

Anstatt ihm zu antworten, schaute ich ihn einfach nur an. Seine feingemeißelten Gesichtszüge, die helle Haut, die dunklen Wimpern. Aber vor allen Dingen diese Augen, diese wunderschönen und faszinierenden Augen. Immer wenn ich in sie hineinschaute, schienen sie mich in ihren Bann ziehen zu wollen und ich war einfach nicht fähig mich dagegen zu wehren.

„Was ist?“, fragte er leise.

Meine Finger zuckten. Auf einmal hatte ich das starke Bedürfnis ihn zu berühren, gleichzeitig war da aber auch ein kleiner Teil in mir, dem sich allein bei dem Gedanken bereits die Haare sträubten. „Ich mag deine Augen“, sagte ich genauso leise und hoffte, dass ich dabei nicht allzu blöd klang.

Sein Lächeln wurde sanfter. „Wirklich? Ich dachte immer, mein Hintern sei viel ansehnlicher.“

Ich konnte mir ein kleines Lachen nicht verkneifen. „Wie passt du morgens nur mit deinem Ego durch die Tür?“

„Seitlich gehen, dann klappt das.“

Einen plötzlichen Impuls folgend, schob ich Elvis zur Seite, der seine Empörung durch ein heftiges Schwanzzucken und ein protestierendes Maunzen auch sofort kund tat. Aber er lag nun mal im Weg, als ich zu Ryder heranrutschte und mich an seine nackte Brust kuschelte. Als er dann auch noch fast automatisch seinen Arm um mich legte, strich ich ihm vorsichtig mit den Fingerspitzen über den den Bauch und lächelte, als er unter diese Berührung zuckte.

„Nicht kitzeln“, sagte er und legte seine Hand auf meine drauf.

„Du bist kitzlig?“

„Natürlich nicht“, sagte er sofort im Brunftton der Überzeugung.

Ich zog meine Hand hervor und ließ die Finger langsam über seine Seite wandern.

„Hey!“ Sofort schnappte er sie sich wieder und hielt sie dieses Mal richtig fest.

„Also doch kitzlig.“ Grinsend schaute ich zu ihm hoch.

„Vielleicht ein bisschen“, räumte er ein und mit einem Mal schien sich die Stimmung zwischen uns zu verschieben. Das sanfte Lächeln wurde schwächer und der Ton in seinen Augen dunkler. „Was machst du nur mit mir?“, fragte er leise.

Ich zog meine Hand ein weiteres Mal aus seinem Griff und legte sie ihm an die Wange. Die kleinen Bartstoppel reizten meine Fingerspitzen und sein Blick wurde mit einem Mal so intensiv, dass ich ganz genau wusste, würde ich mich nun vorbeugen, er würde mich nicht abweisen. Und ich wollte mich vorbeugen.

Ich lag da, an ihn gekuschelt, den Blick mit seinem verhakt und konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken, als an diese Lippen und wie weich sie sich bei unserem Kuss in der Uni angefühlt hatten. Aber das hier würde anders sein. Nicht nur weil wir allein waren, wir waren auch keine Fremden mehr.

Doch etwas hinderte mich daran. Vielleicht die Ungewissheit, oder die Angst vor dem was dann folgen würde. Vielleicht war ich auch einfach nur ein gebranntes Kind, dass sowas wie das mit Yannick nicht noch einmal erleben wollte. Das hatte damals wirklich verdammt wehgetan, weswegen ich mich danach nie wieder auf etwas Ernsthaftes eingelassen hatte.

Doch das hier hatte das Potential etwas Ernsthaftes zu werden und deswegen musste ich feststellen, dass ich ein kleiner Feigling war, denn als Ryders Gesicht plötzlich näher kam, nahm ich nicht nur meine Hand weg, ich schaute auch hastig wieder zur Mattscheibe, wo die Maus gerade die kleine Garnrolle durch die Gegend kullerte.

Als ich dann sein fast schon enttäuschtes Seufzen hörte, krampfte sich meine Hand auf seinem Bauch ein wenig zusammen.

„Schon gut“, murmelte er leise und legte seine Hand wieder auf meine. Sein Atem strich dabei über mein Haar. „Lass uns einfach den Film schauen.“

Das war wahrscheinlich eine sehr gute Idee, doch irgendwie konnte ich mich auf nichts anderes konzentrieren, als auf seine Nähe. Ich konnte ihn riechen, ein Geruch von Regen und dem, was ihm allein zu eigen war. Es durftet so gut.

Verdammt, ich musste mich ablenken, bevor hier noch etwas Unwiderrufliches geschah. „Ich mag die Maus, die ist irgendwie cool.“

„Du kannst dir ja eine besorgen, Elvis würde sich sicher freuen.“

Der Kater, der es sich in der Zwischenzeit an meinen Kniekehlen bequem gemacht hatte, begann zu schnurren, als er seinen Namen hörte.

„Elvis kann sich seine Mäuse alleine besorgen“, schmunzelte ich. „Das weiß ich so genau, weil er mir hin und wieder eine mitbringt.“

Mein angewiderter Ton ließ ihn leise lachen. „Das tun Katzen, wenn sie ihre Menschen für unfähig halten.“

„Na vielen Dank auch.“

„Hey, ich hab dir keine Mäuse gebracht, das war er.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. „Du hast mir einen Ring gebracht.“ Der sogar noch an meinem Finger steckte.

„Der vergammelt wenigstens nicht.“

Na Gott sei dank. Ich hatte nämlich vor ihn zu behalten, denn auch wenn es bloß ein Witz gewesen war, er hatte ihn mir geschenkt. Das bedeutete, er hatte an mich gedacht, als ich nicht bei ihm gewesen war. Dieser Gedanke gefiel mir nicht nur. Er zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen, das mir auch erhalten blieb, als ich mit seinem Herzschlag am Ohr und dem prasselnden Regen im Hintergrund langsam an ihm gekuschelt wegdämmerte.

 

°°°

 

Dieser verdammte Wecker riss mich so plötzlich aus meinen wohlverdienten Träumen, dass ich ihn mit einem Kissen vom Nachttisch fegte. Leider blieb dabei der Stecker in der Steckdose und so baumelte er an meinem Nachttisch und malträtierte meine Ohren weiter mit diesem schrecklichen Geräusch.

Meine Fresse, was hatte der liebe Gott nur gegen mich? Genervt tastete ich nach dem Kabel und zog daran, sobald ich es zwischen die Finger bekam, aber wie immer wollte es sich nicht so leicht von der Steckdose trennen. Also richtete ich mich auf, zerrte dass Teil so heftig von der Wand, dass die Schutzkappe der Steckdose mit abflog und feuerte dann das ganze Gerät quer durch das Zimmer. Leider zersprang er bei diesem Manöver nicht in seine Einzelteile. Das verdammte Ding hielt mehr aus als das Pentagon.

„Also, bei dir möchte ich ja kein Wecker sein.“

Überrascht drehte ich mich herum und entdeckte Ryder neben mir im Bett, der mich müde blinzelnd anlächelte.

„Guten Morgen, Prinzessin.“

„Morgen“, murmelte ich ein wenig irritiert, konnte aber nicht behaupten, das mich der Anblick störte. Er war sogar ganz niedlich, mit diesen zerwühlten Haaren und den Knitterfalten vom Schlaf. Irgendwie süß und …

Ein Klopfen an der Tür schreckte mich auf.

„Cayenne?“

Victoria.

Sie versuchte die Tür zu öffnen, aber die hatte ich gestern vorsorglich abgeschlossen. Zum Glück. Ich wollte gar nicht wissen, was hier los wäre, wenn man Ryder in meinem Bett fand.

Als sie bemerkte, dass sie so nicht in mein Zimmer gelangte, verlegte sie sich wieder aufs Klopfen. „Cayenne? Bist du wach?“

„Nein, ich schlafe noch und jetzt geh weg!“

Neben mir lachte Ryder leise, wofür ich ihn einen Klaps auf den Arm gab.

„Steh auf, das Frühstück ist gleich fertig.“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Ist mir egal. Mach dich fertig und komm runter, sonst werde ich einen Schlosser kommen lassen und deine Tür aushängen.“

Hallo? Hatte die schon mal was von Privatsphäre gehört? Manchmal war Victoria einfach nur grauenhaft nervtötend – genau wie mein Wecker – und so neugierig. Deswegen wartete ich angespannt, bis sich ihre Schritte entfernten. Erst dann ließ ich mich erleichtert zurück in mein Kissen sinken.

„Ein Morgen bei dir ist ein ganz zauberhaftes Erlebnis.“

„Ach halt die Klappe.“

Als er dann auch noch anfing sich leise ins Fäustchen zu lachen, bekam er von mir ein Kissen an den Kopf. „Ich werde mal duschen gehen“, sagte ich und schwang die Beine aus dem Bett.

„Ich werde auf dich warten.“

Jup, das klang ziemlich anzüglich, weswegen ich es einfach ignorierte und eilig in meinem Badezimmer verschwand. Leider bemerkte ich erst nach dem Duschen, als ich eingewickelt in einem Handtuch mitten im Raum stand, dass ich in meiner Eile vergessen hatte, saubere Klamotten mitzunehmen.

Fantastisch, einfach nur fantastisch. Das musste ja passieren.

Unentschlossen schaute ich zur Tür. Das Handtuch reichte mir bis zu den Knien, aber ich war trotzdem nicht besonders scharf darauf, so in mein Zimmer zu gehen. Da konnte ich eigentlich nur noch eines tun. Ich ging zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt, gerade genug, damit er mich manierlich verstehen konnte. „Könntest du mal die Augen schließen?“

Decken raschelten. „Warum?“

„Ähm … ich muss mal an meinem Schrank. Ich hab vergessen mir frische Sachen mit ins Bad zu nehmen.“

Ein leises Lachen. „Nur zu, ich guck dir schon nichts weg.“

„Heißt das, du hast die Augen zu?“

Stille.

„Ryder?“

„In Ordnung, ich hab die Augen zu.“

„Und nicht schummeln.“

„Du benimmst dich ein wenig albern, ist dir das eigentlich bewusst?“

Das wurde schlichtweg ignoriert. „Versprich es.“

„In Ordnung. Ich hab die Augen zu und ich verspreche, sie nicht zu öffnen.“

Da konnte ich wohl nur noch hoffen, dass er auch Wort hielt.

Vorsichtig zog ich die Tür ein wenig weiter auf und schaute um die Ecke zum Bett. Ryder hatte es sich mit Elvis auf der Brust bequem gemacht und kraulte ihm mit geschlossenen Augen hinter den Ohren. Ein ziemlich niedlicher Anblick.

„Wenn du dich nicht bald in Bewegung setzt, dann mache ich die Augen wieder auf.“

„Hey, keine Drohungen.“ Blitzschnell fegte ich zu meinem Schrank, riss die erstbesten Klamotten raus, die ich zu greifen bekam und flitzte dann schnell wieder zurück. Als ich die Tür zum Bad schloss, hörte ich ihn wieder leise lachen. Wenigstens konnte er sich ein wenig amüsieren.

In Windeseile sprang ich in meine Kleider und versuchte dann meine Haare mit meinem Föhn halbwegs trocken zu bekommen. Anschließend verpasste ich mir selber einen Flechtezopf, damit sie nicht den ganzen Tag im Weg waren und befand mich dann für fertig.

Als ich dieses Mal aus dem Bad kam, lag Ryder nicht mehr in meinem Bett, er stand vor meinem Regal mit den Horrorfilmen und studierte die einzelnen Titel.

„Die Hälfte von denen kenne ich gar nicht.“

„Tja, sind halt nicht alles Kinofilme und Blockbuster. Aber glaub mir, in dieses Regal schaffen es nur wirklich gute Filme.“

Er zog eine Hülle aus dem Regal, auf deren Cover eine echt verstörende Puppe zu sehen war. „Zombiebarbie?“

„Sehr witzig.“ Ich nahm ihm den Film wieder ab und stellte ihn zurück. „Chucky ist Kult du Banause.“

„Wenn du es sagst.“

Ich musterte ihn kritisch. „Was schaust du den bitte am liebsten? Action? Science Fiction? So durchschaubar.“

„Nö, eigentlich stehe ich eher auf Pornos.“ Keine Ahnung wie ich ihn anschaute, aber es veranlasste ihn dazu zu lachen. „Das war ein Scherz. Pornos schauen ist langweilig, da drehe ich lieber meinen eigenen.“

Nein, dieser Witz war nicht besser. „Und da soll noch mal jemand behauptet, ein Mann denk nicht immer nur an das eine.“

„Jeder Mann der das sagt, lügt.“ Urplötzlich beugte er sich vor und drückte mir einen kleinen Kuss auf de Wange. „Ich geh mich mal schnell anziehen.“

Als die Tür zum Bad ins Schloss fiel, stand ich noch immer dort wie bestellt und nicht abgeholt. Nicht wegen dem was er gesagt hatte, sondern wegen dem kleinen, elektrischen Schlag, der bei der Berührung seiner Lippen in mich hineingefahren war. „Das ist nicht gut“, murmelte ich, auch wenn es sich einfach nur toll angefühlt hatte. Genaugenommen lag dort das Problem. „Das ist ganz und gar nicht gut.“

„Mau.“

Ich drehte mich zu Elvis herum, der mich sehr genau beobachtete. „Keine Kommentare von den billigen Plätzchen.“

„Mau.“

„Du musst auch immer das letzte Wort haben, oder?“

„Mau.“ Er erhob sich aus den Decken und sprang leichtfüßig hinüber zum Fenster. Als ich nicht sofort reagierte, kratzte er er mit der Pfote nachdrücklich an der Scheibe.

„Dir ist bewusst, dass es die ganze Nacht in Strömen geregnet hat?“ Ich durchquerte den Raum und während ich die Scheibe hochschob, musterte ich die grauen Wolken. Es regnete gerade nicht, aber es sah aus, als würde noch einiges runter kommen. „Du wirst dir nasse Pfoten holen.“

Er schnaubte nur und kletterte dann das Spalier hinunter.

„Ich habe dich gewarnt“, rief ich ihm hinterher.

„Sehr besorgniserregend“, hörte ich Ryder direkt an meinem Ohr schmunzeln.

Überrascht wirbelte ich herum und schaute direkt in sein Gesicht. „Wie …“ Mein Blick ging zur offenen Badezimmertür. Ich hatte weder gehört, wie er sie geöffnet hatte, noch wie er durch den Raum gegangen war.

„Wenn ich möchte, bewege ich mich äußerst leise.“

„Offensichtlich.“

Er lächelte mit diesem Hauch von Zähnen. Jetzt trug er wieder sein Shirt von gestern, genau wie die Schuhe. Den Rest seiner Klamotten hielt er in der Hand. Es wirkte alles noch recht feucht. „Sehen wir uns später?“

Verdammt, warum war er mir nur so nahe? „Ich muss gleich in die Uni.“

Seine Augen lachten mich an. „Aber da wirst du ja nicht den Rest deines Lebens verbringen, oder?“

„Nein.“ Ich konnte ihn wieder riechen. Er roch so verdammt gut.

„Dann werde ich mich nachher bei dir melden.“

„Okay.“ Verdammt, wo war meine schlagkräftige Ader? Wahrscheinlich mit meinem Wortschatz durchgebrannt.

„Okay.“ Er bewegte sich nicht, stand einfach nur vor mir und schaute mich an. „Da deine Mutter wohl der Schlag treffen wird, wenn ich durch die Haustür verschwinde, muss ich das Fenster nehmen.“

„Ich weiß.“

„Du stehst vor dem Fenster.“

„Oh.“ Eilig trat ich zur Seite und weigerte mich rot zu werden, auch wenn ich spürte, wie meine Wangen sich erwärmten.

Ryder stieg schmunzelnd aufs Fensterbrett. Allerdings stellte er sich mit den Klamotten in der Hand ein wenig dumm an. So ließ er sie kurzerhand einfach aus dem Fenster fallen und bestieg dann das Spalier. „Bis später. Prinzessin.“

„Bye.“ Ich schaute ihm hinterher, als er nach unten stieg und seine Kleidung wieder aufsammelte.

Von unten Lächelte er mich noch einmal an, dann lief er direkt auf unseren Zaun zu. Ich begann mich schon zu fragen, wie er darüber wollte – oder wie er überhaupt aufs Gelände gekommen war – da steuerte er die kleine Hintertür an und machte sich dort am Schloss zu schaffen. Er würde doch nicht …

Als es plötzlich wieder an meine Zimmertür donnerte, stieß ich mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen. „Au!“ Verdammt.

„Cayenne? Komm endlich runter!“

„Ich komm ja gleich!“, fauchte ich und schaute schnell wieder zurück. Ryder war verschwunden, das Tor geschlossen. Aber … vor fünf Sekunden hatte er doch noch da gestanden. Jetzt aber war er weg, die Straße verwaist und irgendwo außerhalb meines Sichtfeldes konnte ich ein Motorrad aufheulen hören.

Er war also nicht nur verdammt leise, sondern auch verdammt schnell.

„Cayenne!“

„Ja verdammt!“ Mann, die Frau sollte sich dringend ein erfüllendes Hobby zulegen.

Da Victoria keine Ruhe geben würde, bis sie ihren Willen bekam, schnappte ich mir meine Tasche und verließ das Zimmer. Wenn sie allerdings glaubte, dass ich mich zu ihr und Mama an den Frühstückstisch setzten würde, hatte sie sich nicht nur geschnitten, sondern gleich den ganzen Finger abgehackt. Ich würdigte meine Mutter nicht mal eines Blickes, als ich mit erhobenen Nase zur Haustür stolzierte und sie mit einem lauten Bums hinter mir zuknallte.

Diego wartete bereits mit seinem Wagen in unserer Einfahrt und spielte gerade an seinem Radio herum, als ich mich auf den Beifahrersitz pflanzte. Während ich mich anschalte, musterte er mich kritisch. „Du scheinst gute Laune zu haben.“

„Warum auch nicht?“

Zweifelnd verzog er das Gesicht. „Du hast die Haustür zugeknallt, als wolltest du das ganze Haus abreißen.“

„Das war nur eine Mitteilinnung an meine Mutter.“

„Dann ist das Gespräch mit ihr vermutlich nicht nach deinen Wünschen verlaufen?“

Hm, wenn er mich schon so fragte. „Ich habe ihr meine Kreditkarten vor die Nase geknallt und ihr erklärt, wohin sie sich die stecken kann.“ Okay, das hatte ich nicht, aber das war die Botschaft dahinter gewesen.

Der einzige Kommentar den ich dafür bekam, war ein Seufzen, das ich nicht weiter beachtete. Ich hatte gute Laune und die wollte ich mir nicht kaputt machen lassen.

Als Diego seinen Wagen aus unserer Ausfahrt lenkte, sah ich meine Mutter am Fenster stehen. In ihrem Gesicht konnte ich nicht lesen, dafür war es zu kurz, aber sie wirkte nicht glücklich.

Ihr Problem, nicht meines. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen, denn ich hatte versucht mit ihr zu sprechen. Sie war es die sich in Schweigen hüllte und Lügen erzählte. Wenn sich hier jemand falsch verhielt, dann war sie es, nicht ich.

Bevor es in die Uni ging, sammelten wir noch Lucy ein, die bereits vor ihrem Haus auf uns wartete. Dann brachte Diego uns sicher durch den Morgenverkehr.

Den ganzen Tag hingen dunkle Wolken tief unter dem Himmel, aber es fiel nicht ein Tropfen Regen, was es recht Schwül machte und nicht nur mich zu Stöhnen brachte. Die Kurse zu besuchen war nicht nur eine Qual, sondern völlig unnötig, da ich die Prüfungen nach den Semesterferien wiederholen durfte. Verdammter Kreislaufzusammenbruch.

Während der Vorlesung und auch in den Pausen dazwischen, warf ich immer mal wieder einen Blick auf mein Handy. Ryder hatte gesagt, dass er sich bei mir melden würde, aber irgendwie schien er es damit nicht sehr eilig zu haben. Wenn man es genau nahm, hatte er auch nicht gesagt, dass er sich heute melden würde, sondern nur, dass er es tun würde.

Das half nicht unbedingt dabei meine Laune oben zu halten.

Als der letzte Kurs endlich beendet war, war ich völlig genervt. Nicht nur wegen dem Wetter, sondern auch wegen Elena und ihren beiden Lästerschwestern, die mir aus irgendeinem Grund immer wieder Blicke zuwarfen und dann anfingen zu kichern.

„Ignoriere sie einfach“, empfahl Lucy und drängte mich zum Ausgang.

„Und so ein Vorschlag kommt ausgerechnet von dir?“

„Sehr witzig.“ Die Eingangstür ließ sie direkt vor meiner Nase zufallen. Das war dann wohl ihre Art ihr Missfallen auszudrücken.

„Vielen Dank auch“, murrte ich und trat hinter ihr ins Freie. Das war als wenn man gegen eine Wand laufen würde. Gott, entweder sollten sich diese Wolken verziehen, oder wenigstens Wasser lassen. Bei dieser hohen Luftfeuchte, würde ich sonst einfach irgendwann ertrinken.

An Lucys Seite schlenderte ich zum Haupttor der Uni. Dort würden wir uns wie immer mit Diego treffen, um uns von ihm nach Hause kutschieren zu lassen. Irgendwie lästig, immer auf jemand anderen angewiesen zu sein. Vielleicht sollte ich das mit dem Führerschein in den Ferien ja doch noch einmal in Angriff nehmen. Obwohl ich doch eigentlich verreisen wollte. Allerdings könnte sich das so ganz ohne Geld ein wenig schwer gestalten.

Seufzend checkte ich ein weiteres Mal mein Handy. Keine eingegangenen Anrufe, keine Nachrichten, ja nicht mal verfluchter Spam.

„Na sie mal einer an“, murmelte Lucy. „Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Ich schaute auf und wusste sofort was sie meinte. Direkt vor dem Haupttor standen zwei Motorräder. Tyrone thronte in seinem Sattel, Ryder stand vor seiner Maschine und grinste mir entgegen. In der Zwischenzeit hatte er trockene Klamotten gefunden. Shorts und ein enges weißes Shirt.

Okay, dann brauchte ich mein Handy wohl nicht mehr. „Als du meintest, du meldest dich, habe ich mit einem Anruf gerechnet“, rief ich ihm entgegen.

„Immer diese netten Begrüßungen.“

„Wie hättest du es denn gerne? Dass ich dir freudekreischend um den Hals falle.“

„Ein Kuss würde es auch tun.“

Aber klar doch.

„Und?“, fragte er dann und nahm den Ersatzhelm von seinem Sattel. „Lust auf ein Abenteuer?“

„Cayenne“, mahnte Lucy, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte. „Denk an Amerika.“

Das war wohl das Falscheste, was sie überhaupt hätte sagen können. Trotzig griff ich mir den Helm und setzte ihn mir demonstrativ auf den Kopf. Dabei funkelte ich sie herausfordernd an.

„Na super“, seufzte sie genervt, ging dann zu Tyrone und schwang sich einfach hinter ihn auf den Sattel. Sie machte es sich bequem und griff dann wie selbstverständlich nach seinen Hüften – irgendwo musste sie sich ja schließlich festhalten. „Was?“, fragte sie, als sich drei paar Augen verdutzt auf sie richteten. „Wenn ihr glaubt, dass ich sie einfach mit euch beiden Unruhestiftern verschwinden lasse, dann seid ihr dümmer, als ihr ausseht.“

Okay. Damit hatte ich zwar nicht gerechnet, aber ich würde nichts sagen. Auch Tyrone schien sich nicht wirklich daran zu stören, nur Ryder schien nicht allzu begeistert.

Als er sich auf sein Motorrad setzte, wirkte er ein wenig verstimmt. Aber Lucy gehörte nun mal zu meinen Freunden, also würde er damit klarkommen müssen.

„Wo soll es den hingehen?“, fragte ich, sobald er den Ständer hochgeklappt hatte und mich mit einer Geste aufforderte, hinter ihm aufzusteigen.

„Weiß nicht. Ich würde sagen, wir schauen mal, was sich so ergibt.“

„Na das nenne ich doch ml einen Plan. Da können …“

„Was bitte ist denn hier los?“

Alle vier wandten wir uns zum Haupttor, wo Diego stand und mit finsterer Mine von einem zum anderen schaute. Besonders lange verweilte sein Blick dabei auf Lucy.

„Wir machen einen Ausflug“, erklärte ich und schämte mich, weil ich doch tatsächlich meinen besten Freund vergessen hatte.

„Schau mich nicht so an“, sagte Lucy, als er seinen Blick wieder auf sie richtete. „Ich spiele hier nur den Aufpasser.“

Bitte? „Dir ist bewusst, dass ich keinen Aufpasser brauche?“

Sie schenkte mir ihr schönstes Lächeln. „Und dir ist hoffentlich bewusst, dass mir das scheiß egal ist.“

Okay, jetzt verstand ich Ryders Begeisterungssturm. „Wenn du nur Stress machen willst, solltest du besser wieder absteigen.“

„Kein Stress“, beteuerte sie. „Nur einen netten Nachmittag mit ein paar netten Jungs.“ Keine Ahnung, was sie da mit den Händen machte, aber auf einmal zuckte Tyrone und warf ihr dann einen empörten Blick über die Schulter zu, den sie mit einem unschuldigen Lächeln erwiderte.

Ryder steckte seinen Schlüssel ins Zündschloss. „Ich will diese eloquente Diskussion ja nicht stören, aber ich würde gerne losfahren.“

„Na dann.“ Ich schob mein Visier herunter, rutschte ganz nahe an ihn heran und stellte die Beine hoch. „Auf geht’s!“

„Halt dich fest.“ Ryder startete mit so viel Gas, dass ich durch den Schwung fast hinten runtergefallen wäre.

Lucy gab Diego noch durch ein Handzeichen zu verstehen, dass sie ihn anrufen würde, dann rasten wir vier auch schon die Straße hinunter.

Der Fahrtwind war angenehm, er blies die Schwüle um uns herum einfach davon und ließ mich zum ersten Mal an diesem Tag frei durchatmen. Hätte ich gekonnt, dann hätte ich meinen Helm abgenommen und meinen Kopf auf Ryders Schulter gelegt. So begnügte ich mich damit, mich an ihm festzuhalten und seine Körperwärme unter meiner Hand zu spüren.

Das gefiel mir. Ich konnte nicht widerstehen und ließ meine Finger über seinen Bauch wandern. Das war irgendwie lustig, weil er sich während der Fahrt nicht dagegen wehren konnte und ich so ungehinderten Zugang hatte.

Als er dann jedoch anfing zu lachen und einen kurzen Blick über die Schulter warf, hielt ich meine Hände sofort wieder still. Gott, was machte ich da eigentlich? Ich befummelte einen wehrlosen Mann. Mir sollte mal dringend jemand das Hirn durchblasen, vielleicht brachte da ja etwas.

Um nicht mehr an den warmen Körper vor mir denken zu müssen, verlegte ich mich darauf, die vorbeirasende Umgebung in Augenschein zu nehmen und stellte mit Erstaunen fest, dass wir schon ein ganzes Stück gefahren waren. Wow, Ryders Gegenwart lenkte mich mehr ab, als ich geglaubt hatte.

Wir fuhren noch eine ganze Weile, bis mir etwas ins Auge fiel. Keine Ahnung, wo genau wir hier waren, aber das her würde sicher Spaß machen.

Ich tippte meinem Fahrer ein paar Mal aus Bein, um ihn dann auf den großen Markt zu unserer linken aufmerksam zu machen, der trotz des Wetters gut besucht zu sein schien.

Bei der nächsten Gelegenheit bog Ryder auf die Gegenfahrbahn ein. Tyrone und Lucy bretterten einfach weiter die Straße hinunter, was bei Lucy einen entrüsteten Ausruf auslöste, denn ich sogar über den Motorenlärm verstehen konnte.

Noch ein wenig Gekurve, dann ließ Ryder seine Maschine auf einen Parkplatz rollen, wo er sie dann endgültig zum Stehen brachte und sich interessiert umschaute. „Ein Flohmarkt?“

„Klar, warum nicht?“ Ich rutschte hinten vom Sattel und zog mir den Helm vom Kopf. „Da kann man allerlei interessante Dinge finden.“

„Du meinst wohl alten Ramsch, den niemand mehr gebrauchen kann.“

Irgendwie fand ich das beleidigend. „Du musst ja nicht mitgehen, wenn du nicht willst.“

„Und mir dann einen wunderbaren Nachmittag mit dir entgehen lassen?“ Auch er löste den Helm von seinem Kopf und grinste mich dann an. „Nie im Leben.“

„Casanova.“

„Ich mag es, wie du das sagst“, schnurrte er.

Eine Erwiderung blieb mir erspart, da in diesem Moment Tyrone auf den Parkplatz rollte. Ein Blick auf ihn und Lucy und ich brach in schallendes Gelächter aus.

„Lach nicht!“, fauchte Lucy mich an und versuchte das Krähennest auf ihrem Kopf wieder in eine Frisur zu verwandeln. Tja, offene Haare und Fahrtwind vertrugen sich eben nicht so gut. Besonders nicht, wenn man bereits von Natur aus gewelltes Haar besaß.

Ich versuchte mich zusammenzureißen. „Schon mal was von Zopfgummis gehört?“

„Du bist ja so lustig.“ Sie rutschte vom Sattel und kam zu mir, um dann völlig ungeniert in meiner Tasche herumzukramen, bis sie meine Haarbürste zwischen die Finger bekam.

Als ich dann sah, wie grob sie die durch ihre Haare riss, verzog ich das Gesicht. Das musste wehtun.

Ryder beugte sich zu mir herüber. „Gleich hat sie eine Glatze“, flüsterte er mir zu.

Ich drehte mich hastig herum, damit sie mich nicht lächeln sah. Das könnte sie mir übel nehmen.

Als Tyrone von seinem Motorrad stieg, folgte auch Ryder seinem Beispiel und verstaute die Helme unter dem Sitz. Dann mussten wir nur noch warten, bis Lucy damit fertig war ihr rotes Haar zu malträtieren und die Haarbürste zurück in meine Tasche gesteckt hatte.

„Na dann mal los, stürzen wir uns ins Getümmel.“ Ich griff Ryder bei der Hand und zog ihn zu den ersten Ständen, an denen sich ein Haufen Leute tummelten und die gebrauchten Waren unter die Lupe nahmen. Gläser, Teller, eine Münzsammlung. Ein paar silberne Stiefel mit riesigen Plateausohlen erregten meine Aufmerksamkeit. „Also ich würde es schaffen auf denen zu laufen.“

„Meinst du?“ Lucy warf einen Blick auf die Treter. „Ich denke, du würdest dir bei dem Versuch die Beine brechen.“

„Du sprichst wohl von dir selber. Los, lasst uns mal dort drüben schauen.“ Und so zerrte ich Ryder bereits zum nächsten Stand. Keine Ahnung warum, aber Flohmärkte hatten auf mich schon als Kind eine gewisse Faszination ausgeübt. In den alten Besitztümern anderer Leute herumzuschnüffeln, hatte etwas von einer Schatzsuche. Man wusste vorher nie, was man entdecken würde. Natürlich hatte Ryder recht, viele von den Dingen, die hier zum Verkauf angeboten wurden, war nichts weiter als Ramsch, aber dazwischen fand man immer wieder kleine Kostbarkeiten, man musste nur die Augen offen halten. So entdeckte ich zum Beispiel ein echt niedliches Top, dass ich für zwei kleine Taler an mich bringen konnte – meine Kreditkarten waren zwar dahin, aber ein wenig Bargeld besaß ich noch.

Lucy ließ es sich nicht nehmen Tyrone mit einem echt lächerlichen Hut und einer pinkfarbenen Sonnenbrille auszustaffieren und diesen Anblick dann auf ihrem Handy zu verewigen, bevor er es sich wieder vom Kopf reißen konnte und zurück auf den Tisch legte.

Eine halbe Stunde streiften wir von Tisch zu Tisch, um die Besitztümer der Leute unter die Lupe zu nehmen.

Gerade als wir uns an einem Stand befanden, der Hauptsächlich gebrauchte Bücher anbot, wehte mir ein herrlicher Duft um die Nase, der meinen Magen sofort ein bärenmäßiges Knurren entlockte. Wir folgtem dem verführerischen Geruch und landeten bei einem kleinen Händler, der Hot Dogs und Softeis verkaufte. Lucy stürzte sich natürlich sofort auf das Eis. Wir anderen bestellten uns alle ein Würstchen im Brot und begaben uns damit zu einem der Stehtische.

Ich war gerade dabei, den ersten Bissen zu genießen, als Ryder einen Blick auf mein Essen warf.

„Wow, ist da unter den Gurken irgendwo noch ein Hot Dog?“

Ha ha, sehr witzig. „Ich mag saure Gurken eben“, sagte ich, sobald ich heruntergeschluckt hatte. „Die sind lecker.“

„Ich stehe ja eher auf süße Dinge.“ Er zwinkerte mir vielsagend zu und ich konnte geradezu spüren, wie meine Wangen sich röten. Mist.

Als mein Handy klingelte, zog ich es dankbar aus der Tasche und hielt es mir ans Ohr, ohne nachschauen, wer das meine Aufmerksamkeit verlange. Es war auf jeden Fall besser, als als mich unter Ryders Blick zu winden. „Ich hier.“

„Cayenne?“

Okay, vielleicht war es doch nicht besser. „Hallo Mama.“

„Hallo mein Schatz. Ich wollte nur wissen wo du bist. Wir warten mit dem Essen auf dich.“

Na das war doch mal eine neue Strategie. „Ach ja? Ich denke du willst einfach nur wissen wo und vor allen Dingen, mit wem ich mich herumtreibe.“

Dazu sagte sie nichts, was mir genug Bestätigung war.

„Ich bin auf einem Flohmarkt, zusammen mit Lucy. Ihr braucht mit dem Essen nicht auf mich zu warten. Tschüß.“ Ich gab ihr gar nicht erst die Gelegenheit etwas dazu zu sagen. Kaum dass das letzte Wort gesprochen war, beendete ich nicht nur das Telefonat, sondern schaltete gleich das ganze Telefon ab. Ich war immer noch fürchterlich enttäuscht von ihr und wollte im Moment absolut nicht mit ihr sprechen.

Als ich wieder nach meinem Hot Dog griff, bemerkte ich drei neugierige Augenpaare. „Was?“ fragte ich. „Das war keine Lüge. Ich bin auf einem Flohmarkt und Lucy ist bei mir.“ Dass die Brüder auch dabei waren, war mir einfach entfallen.

Ryder grinste nur und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann klingelte Lucys Handy.

Ich schaute misstrauisch zu ihr rüber, als sie den Anruf entgegen nahm und so entging mir natürlich auch nicht der kurze Blick, denn sie mir während des Gesprächs zuwarf. Darum fragte ich sie, nachdem sie aufgelegt hatte, auch ganz direkt. „Das war nicht zufällig meine Mutter, die kontrollieren wollte, ob ich auch die Wahrheit gesagt habe?“

Sie zögerte, sagte dann aber: „Sie macht sich nur Sorgen, Cayenne.“

„Du meinst wohl, sie sorgt sich darum, ob ich sie mich noch unter Kontrolle hat.“

Das brauchte sie gar nicht erst zu kommentieren.

Einen Moment war ich versucht meinem Frust Luft zu machen, aber Lucy jetzt anzufahren, würde keinen Sinn machen. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass meine Mutter sich in einen kontrollsüchtigen Freak verwandelte. Darum verlegte ich mich einfach darauf, meinen Hot Dog in Rekordzeit zu vertilgen und mich dann wieder auf die Socken zu machen. Das die anderen noch nicht aufgegessen hatten, war mir dabei völlig egal.

Das meine Mutter mir jetzt auch noch nachzuspionierte … das war wirklich nicht zu glauben. Da kam ich mir ja fast wie eine unbedachte Dreijährige vor. Was glaubte sie denn, was passieren würde, wenn sie mich mein Leben leben ließ?

Ich war noch nicht sehr weit gekommen, als Ryder mich einholte und nach meinem Arm griff, damit ich nicht einfach weiterlaufen konnte.

„Hey“ sagte er. „Alles okay?“

„Bestens.“

Er drückte mein Gesicht nach oben, damit ich ihn ansehen musste. „Weißt du, es ist okay schlechte Laune zu haben, aber die sollte man nicht am falschen auslassen.“

Toll. Ein schlechtes Gewissen war jetzt genau das was ich noch brauchte.

„Na los, komm schon.“ Er griff meine Hand. „Du warst doch so begeistert von dem Flohmarkt. Lass uns das jetzt genießen.“ Er warf einen Blick über die Schulter zu Lucy und Tyrone, die noch immer am Tisch standen. „Wenn wir uns beeilen, dann kommen wir sogar weg, bevor die beiden zu uns einholen können.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Du willst mit Lucy Verstecken spielen?“

„Solange ich mit dir ins gleiche Versteck schlüpfen kann“, gurrte er verspielt.

Ich verdrehte die Augen. „Du bist ja so durchschaubar.“

„Das heißt du willst nicht?“

„Und ob ich will. Los komm.“ Noch bevor er meine Worte verarbeiten konnte, zog ich ihn bereits hinter mir her, einfach weil Lucy gerade nicht auf mich achtete. Ich beeilte mich zwischen zwei Ständen hindurch zukommen, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.

Ryder lachte dabei leise. Es schien ihn zu freuen, dass ich lieber mit ihm allein war, als mit unserem Anhang zusammen. Und mich freute es auch.

Wir liefen einmal quer über den Flohmarkt, bis wir bei den äußersten Ständen angekommen waren. Erst da sah ich mich nach einer möglichen Verfolgerin um, doch von Lucy war nichts zu sehen – noch nicht.

„Wohin?“, fragte ich grinsend.

Er zeigte nach rechts. „Da hab ich vorhin etwas gesehen, das würde ich gerne mal machen.“

Das was er gesehen hatte, stellte sich ein paar Minuten später als großer Kasten heraus. „Ein Passfotoautomat?“ Ich hatte nicht mal gewusst, dass es die Dinger überhaupt noch gab.

„Warum nicht?“

Weil ich genug Teenagerschnulzen gesehen hatte, um zu wissen, was man in so einer Sardinenbüchse trieb.

„Na los, komm schon.“ Ryder fütterte das Gerät mir ein wenig Geld, schob den blauen Vorhang zur Seite und machte es sich darin auf der abgewetzten Bank bequem, die scheinbar nur noch von den vielen Klebestreifen zusammengehalten wurde. Dann hielt er mir auffordernd die Hand hin. „Ich verspreche auch, dass ich mich benehmen werde.“

„Sowas kannst du?“

„Das wirst du niemals erfahren, wenn du dort draußen bleibst.“

Da war was Wahres dran. „Na dann stellen wir dich mal auf die Probe.“ Etwas übermütig schlüpfte ich zu ihm in die Kabine und fiel fast über seine langen Beine, als ich den Vorhang zuzog. Als ich mich dann neben ihm auf die Bank setzen wollte, zog er mich kurzerhand auf seinen Schoss.

„Wie war das mit mit dem Benehmen?“

„Anders geht es nicht“, versuchte er mir ernsthaft weiszumachen. „Nur so passen wir beide auf das Foto.“

„Dir ist bewusst, dass ich nicht zum ersten Mal in so einem Ding sitze?“

„Hier ist das aber so, weil dieser Automat etwas ganz besonderes ist.“

„Warum, weil du hier deinen sitzt?“, spottete ich.

„Ganz genau.“ Er beugte sich zu dem Bildschirm vor, um sich durch das Menü zu arbeiten. Dann lehnte er sich zurück und wies mich an die Backen aufzublasen. Und damit ich verstand, was er wollte, machte er es mir vor.

Das erste Blitzlicht war ein Schock für meine Augen. Einen Moment sah ich nur noch helle Punkte, weswegen ich auf dem zweiten Bild blinzelnd verewigt wurde, während Ryder mich auslachte.

Für das dritte Bild sollte ich breit Lächeln und meine Kopf an seinen lehnen. Doch als die Kabine das nächste Mal erhellte wurde, spürte ich seine warmen Lippen auf meiner Wange.

Überrascht wandte ich ihm das Gesicht zu. „Hast du nicht gesagt, du weißt dich zu benehmen?“

„Ich habe mich doch benommen.“ Sein Gesicht kam ein kleinen wenig näher und die Farbe seiner Pupillen wurde ein wenig dunkler. „Aber weißt du was?“

„Was?“ Mein Gott, warum war ich den plötzlich so atemlos?

Das nächste Blitzlicht erhellte den Kasten.

„Du hast das nicht versprochen.“ Seine Stimme war ganz leise. Er ließ mich nicht einen Moment aus den Augen.

„Nein“, stimmte ich ihm genauso leise zu. „Das habe ich nicht.“

Als sich sein Mund einen Spalt öffnete, konnte ich seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren. Das war unglaublich verlockend.

Ich spürte wie mein Herzschlag sich beschleunigte und mich das Bedürfnis mich einfach vorzubeugen langsam übermannte. Aber irgendwie fühlte es sich falsch an. Darum wandte ich das Gesicht genau in dem Moment ab, als es ein letztes Mal blitzte. „Und das brauche ich auch nicht, weil ich mich zu benehmen weiß.“

Ich versuchte meine Zurückweisung mit einem Lächeln zu überspielen und erhob mich eilig. Ich musste aus diesem Ding heraus, wenn ich meine Hormone wieder unter Kontrolle bekommen wollte. Als ich jedoch den Vorhang zur Seite schob, wartete eine Überraschung auf mich. Lucy, die angesäuert direkt davor stand und mich anschaute, als wollte sie mir gleich eine Strafpredigt halten.

Tyrone, der neben ihr stand, wirkte so, als ginge ihn das Ganze nichts an.

„Nett das du auf uns gewartet hast“, bemerkte sie spitz.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Kann ja nichts dafür, wenn ihr so langsam seid.“ Ich schlängelte mich an ihr vorbei und war heilfroh, nicht mehr mir Ryder allein zu sein. Obwohl das total albern war. Ich mochte ihn doch und seine Gegenwart war alles andere als unangenehm. Warum also stellte ich mich in diesem einem Punkt an, als sei ich zwölf und würde gerade erst entdecken, dass es sowas wie Sexualität und schöne Gefühle gab?

Das war doch hirnrissig.

„Das hatte nichts mit langsam zu tun“, erklärte Lucy, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „Und das weißt du ganz genau.“

„Hallo? Seit wann sind wir siamesische Zwillinge?“

Dafür bekam ich einen bösen Blick. „Seit dem du vier warst und ich im Kindergarten den kleinen Lars für dich verhauen habe.“

Bei der Erinnerung daran, musste ich unwillkürlich lächeln. „Kann mich gar nicht daran erinnern, dass wir danach zusammengewachsen sind.“

Sie grummelte etwas, dass ich nicht verstand und ich auch nicht weiter beachtete, da der Automat gerade mit dem Drucken der Fotos angefangen hatte und Ryder sich direkt davor positioniert hatte, als wolle er die Bilder ganz für sich allein haben.

Ich kniff die Augen leicht zusammen und drängte mich dann an seine Seite, um als erstes die Bilder an mich reißen zu können.

Irgendwas daran schien ihn zu amüsieren, den er grinste mich an. „Versuch es ruhig, aber ich bin schneller.“

„Das werden wir ja sehen.“

Wie zwei hungrige Haie lauerten wir auf unsere Beute. Die Arme erhoben, um sofort zuschlagen zu können. Als das Gerät die Bilder dann ausspuckte, schnellte meine Hand vor, doch als ich den Schacht berührte, war er bereits leer.

Sprachlos schaute ich zu Ryder, der triumphierend den Fotostreifen in die Luft hielt. „Wie hast du das gemacht?“

„Schnelle Reflexe.“ Er nahm den Arm herunter und schaute sich die Bilder an. Dabei hielt er sie allerdings so, dass ich sie nicht sehen konnte.

„Hey, zeig her.“

„Was bekomme ich denn dafür?“ So verschlagen, wie er mich anschaute, wusste ich sofort worauf er hinaus wollte.

„Frag lieber, was du bekommst, wenn du es nicht tust.“

Aus irgendeinem Grund, ließ ihn das sogar noch breiter grinsen. „Es ist wirklich niedlich, wenn du versuchst mir zu drohen und …“

Urplötzlich ragte hinter Ryder ein riesiger Kerl auf und griff nach seinem Arm. „Ihr müsst gehen, jetzt.“

„Diego?“ Verdammt, wo kam der plötzlich her?

Er warf mir nur einen kurzen Blick zu. „Bitte“, sagte er sehr eindringlich zu Ryder, der seine Arm gerade mit einem Ruck befreite.

„Warum?“ Misstrauisch musterte Ryder ihn.

„Weil Cayennes Mutter die Security geschickt hat und die jeden Moment hier eintreffen werden. Wenn sie euch hier sehen, wird Cayenne wohl sehr bald in einem Flugzeug sitzen.“

Bitte? Ich drängte mich vor Ryder. „Was zur Hölle redest du da? Meine Mutter hat keine Security.“

„Sie hat sich eine zugelegt.“

Das war doch Schwachsinn. „Wie kommst du darauf?“

Er seufzte und schaute sich dann unruhig um. „Ich hab gerade mit deiner Mutter telefoniert. Sie wollte wissen, ob ich weiß wo du steckst. Da habe ich Victoria im Hintergrund sprechen hören. Sie haben gesagt, dass sie Männer auf dem Weg hier her sind.“

Aber … was sollte der Mist? „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz.“

„Sehe ich aus, als würde ich Scherze machen?“

Nein, das tat er nicht und das fand ich umso verstörender. „Aber woher weiß sie überhaupt wo wir sind.“ Ich verengte meine Augen leicht. „Und woher weißt du das?“

„Lucy hat mir vorhin eine Nachricht geschickt und woher deine Mutter das weiß? Keine Ahnung. Aber sie werden bald hier sein.“

Unschlüssig schaute ich von ihm zu den Brüdern, die seltsamerweise nicht so zweifelnd dreinschauten wie ich. Sie schienen mit einem Mal eher wachsam und sondierten die Stände. „Das kann doch nicht sein“, sagte ich zweifelnd. „Das wäre doch völlig überzogen.“

„Riskieren wir besser nichts“, sagte Ryder und schaute aufmerksam von links nach rechts. „Ich würde meine Prinzessin gerne in meiner Nähe behalten.“

„Dein Ernst?“

„Gehen wir besser auf Nummer sicher.“ Er schnappte sich meine Hand und setzte sich in Bewegung. Seine Schritte waren eilig. Auch die anderen machten sich auf den Weg.

Ich konnte es nicht glauben. Das war doch wirklich lächerlich. Meine Mutter sollte ein Securityteam auf mich angesetzt haben, um zu kontrollieren, ob ich mich auch an ihre Vorgaben hielt? Das war nicht nur überzogen, das war völlig abwegig.

Aber die anderen schienen an Diegos Worten keinen Zweifel zu haben. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, folgten sie Ryder über den ganzen Flohmarkt bis zu den Parkplätzen.

Über uns begann plötzlich der Himmel zu grollen. Ich schaute hoch und fiel deswegen fast auf die Nase, als Lucy „Achtung“ flüsterte und alle eilig hinter einem Mercedes in Deckung gingen. Ryder zog mich einfach mit hinunter.

„Gottverdammt“, fluchte ich, als ich mir dabei das Knie heftig am Asphalt stieß.

Diego hatte nur einen kurzen Blick für mich übrig, dann schaute er vorsichtig an dem Wagen vorbei. „Da“, sagte er und deutete auf eine Gruppe von Männern, die gerade aus einem schwarzen Lieferwagen stiegen. An der Seite prangte ein Emblem, dass ich gerade erst gestern gesehen hatte. Eine fünfzackige Krone, mit einem Wolfskopf. Darüber stand in großen Lettern Lupus Royal.

Okay, vielleicht war das ja doch kein dummer Streich. „Das ist doch wohl ein Witz“, flüsterte ich aufgebracht. „Das kann sie doch nicht ernst meinen.“

Die Gruppe bestand aus sechs Männern, in schwarzer Militärkleidung, die sich unauffällig auf dem Parkplatz umschauten.

„Deine Mutter meint es ernst“, sagte Lucy.

„Meine Mutter gehört dringend untersucht. Das ist doch nicht mehr normal.“

„Und so kommen wir hier auch nicht weg“, bemerkte Ryder leise. „Sie parken zu dich an unseren Motorrädern.“

Er hatte recht. „Glaubst du denn, die wissen, wie ihr ausseht?“

„Ich möchte eigentlich nicht riskieren es auszuprobieren.“

Die Männer unterhielten sich kurz am Wagen. Dann machten vier von ihnen sich auf dem Weg zum Flohmarkt, während die anderen beiden an ihrem Wagen Stellung bezogen und den Parkplatz aufmerksam unter Beobachtung hielten. Der eine von ihnen hatte ein so breites Kinn, dass er glatt als Bulldozer durchgehen würde.

„Die werden nicht so schnell verschwinden“, kommentierte Lucy.

Diego verlagerte sein Gewicht ein wenig. „Dann müssen wir dafür sorgen, dass sie verschwinden.“

Ausgezeichnete Idee, nur … „Wie willst du das anstellen? Sie schauen nicht so aus, als würden sie demnächst Feierabend machen.“

„Es gibt nur einen Grund, warum sie hier sind und der bist du“, erklärte Diego. „Wenn du verschwindest, dann …“

„Dann verschwinden auch die Kerle“, vervollständigte ich seinen Satz und ließ seine Idee in meinem Kopf zu einem Plan heranreifen. „Sie müssen sehen, wie ich den Flohmarkt verlasse, dann gehen sie auch. Und wenn sie weg sind, können Ryder und Tyrone auch das Weite suchen.“

Diego nickte.

„Wo hast du geparkt?“

„Hinten, bei den Bäumen an der Straße.“

Ich ließ meinem Blick suchend über den Parkplatz wandern und fand Diegos Wagen fast am anderen Ende. „Um da hin zu kommen, müssen wir direkt an ihnen vorbei.“

„Was bedeutet, dass sie uns auf keinen Fall übersehen werden“, fügte Lucy noch hinzu.

„Na dann ist ja alles klar.“ Ein wenig wehmütig schaute ich zu Ryder. Ich wollte den Tag eigentlich nicht so beenden, aber wenn ich ehrlich war, wollte ich auch nicht nach Amerika ausgeflogen werden. Bisher hatte ich daran gezweifelt – ja es sogar für unmöglich gehalten – dass meine Mutter ihre Drohung wahrmachen könnte. Doch wie es schien, konnte man mit genug Geld so ziemlich alles schaffen, auch die eigene Tochter verfolgen lassen.

„Hey.“ Ryder rempelte mich leicht mit der Schulter an. „Ich bin doch nicht aus der Welt.“

„Ich werde meine Mutter trotzdem umbringen. Das geht einfach zu weit.“

Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Tu nichts, was du später vielleicht bereuen könntest.“

Darüber würde ich erst gründlich nachdenken müssen.

„Hier.“ Er drückte mir den Fotostreifen in die Hand. „Und jetzt geh deinen Hintern retten, damit ich nicht gezwungen bin, in ein Flugzeug zu steigen, um ihn vor den Amis in Sicherheit zu bringen. Ich mag Flugzeuge nämlich nicht besonders.“

Blödmann.

„Komm“, sagte Diego. „Lass uns da hinten langgehen.“ Geduckt machte er sich auf den Weg.

Ich schaute noch kurz zu den Brüdern, bevor auch ich zusah, dass ich von dem Mercedes wegkam. Erst nach ein paar Metern fiel mir auf, dass Lucy noch bei Tyrone hockte. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, was ihn Lächeln ließ, drückte dann seine Schulter und folgte uns dann auch.

Diego führte uns hinter ein paar Autos entlang, bis wir uns im Schutz einiger Bäume aufrichteten und dann gemächlich über den Parkplatz schlenderten, als würden wir gerade den Flohmarkt verlassen wollen. Um das ganze noch glaubhafter zu machen, hakte ich mich bei Lucy unter.

„Schau nicht zu dem Mercedes“, zischte sie mich an, als mein Kopf in die Richtung ging.

„Mach ich ja gar nicht“, sagte ich patzig, obwohl ich genau das hatte tun wollen. Es war wirklich schwer, es nicht zu machen. Genauso schwer, wie nicht zu den beiden Männern zu schauen, die weiterhin die Gegend sondierten.

„Gib dich einfach ganz normal.“

„Flüstern ist doch aber nicht normal.“

Dafür bekam ich mal wieder ihren bösen Blick.

„Sag mal, was hast du Tyrone da eigentlich gerade zugeflüstert?“

„Das ich ihn heute Nacht besuchen und vernaschen werde.“

Ich verdrehte die Augen. „Das war eigentlich eine ernsthafte Frage gewesen.“

Sie schwieg, bis wir fast an Diegos Wagen waren. „Ich habe mich für das Eis bedankt.“

Okay, damit hatte ich nicht gerechnet. „Wirklich?“

„Tu nicht so überrascht.“

Ich konnte gar nicht anders, als zu grinsen. „Du magst ihn.“

Sie schnaubte. „Sicher nicht.“

„Wenn du dir das einreden möchtest, bitte, aber ich weiß es besser. Du bist schließlich das männerverschlingende Biest und niemals nett zum anderen Geschlecht. Nicht mal für ein Eis.“

„Halt die Klappe.“

Diego begann damit seinen Autoschlüssel aus der Tasche hervorzukramen. Ich riskierte währenddessen einen Blick zu dem schwarzen Lieferwagen und stellte fest, dass sie Männer uns wirklich beobachteten. Hatte ich bisher noch kleine Zweifel gehegt, so verschwanden die nun endgültig.

„Starr da nicht so hin“, zischte Lucy mich an.

„Hör auf mich ständig anzuzischen“, zischte ich zurück.

„Alles einsteigen“, übertönte Diego uns und ließ sich selber hinters Steuer gleiten.

Ich streckte Lucy die Zunge raus und nahm dann auf dem Beifahrersitz platz. Während ich mich anschnallte, konnte ich nicht verhindern, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, um zu sehen, was da hinter uns los war.

Den Lieferwagen konnte ich sehen, der Mercedes war jedoch außerhalb des Sichtfeldes.

Seufzend lehnte ich mich zurück und schaute mir dann zum ersten Mal den Fotostreifen an. Auf dem ersten Bild hatten wir beide aufgeblähte Backen. Auf dem zweiten, lachte Ryder mich aus, weil ich das Blitzlicht voll abbekommen hatte. Auf dem dritten Foto lächelte ich, während Ryder mir einen Kuss auf die Wange gab. Auf dem nächsten sah es so aus, als wollte auch ich ihn küssen.

„Danke“, sagte ich leise zu Diego. „Dafür dass du uns gewarnt hast.“

„Ich bin hier, um auf dich aufzupassen“, sagte er schlicht und startete den Motor.

 

°°°°°

Was das Herz begehrt

 

„Gleich hab ich es, es muss hier irgendwo sein“, entschuldigte ich mich bereits zum vierten Mal und suchte in meiner Tasche weiter nach meiner Geldbörse.

Die Frau an der Kasse der Mensa gab sich alle Mühe geduldig zu bleiben, aber nachdem ich schon fast den gesamten Inhalt meiner Tasche neben ihrer Kasse ausgeleert hatte, gab sie die Hoffnung wohl langsam auf, dass ich mein Geld noch finden würde. Ich wusste ganz sicher, dass ich es heute Morgen eingepackt hatte. „Einen Moment noch, es muss ja hier irgendwo sein.“ Das hoffte ich zumindest, da mein Magen wie verrückt knurrte und ich mir nichts von zu Hause mitgenommen hatte.

Für einen Moment ließ ich den Freitagmorgen, Revue passieren. Ich war wieder zu spät gewesen, hatte meine Geldbörse in aller Hast von meinem Schreibtisch aufgelesen, meine Mutter mit eiskalter Ignoranz gestraft und war runter zu Diego ins Auto geeilt. Hatte ich es in meine Tasche gesteckt?

Da ich mit der Hand mittlerweile auf dem leeren Boden angelangt war, bekam ich langsam Zweifel. Kein Cent weit und breit. „Ich glaube es liegt noch im Wagen“, überlegte ich laut und ignorierte die Studenten hinter mir, die sich lautstark darüber beschwerten, dass jede Oma schneller wäre als ich.

„Dann würde ich sagen, du machst den anderen erst mal Platz und holst es“, empfahl mir die Kassiererin mit einem gekünstelten Lächeln.

„Was, wirklich? Darauf wäre ich nie gekommen“, erwiderte ich mehr als sarkastisch und steckte meine Sachen zurück in meine Tasche. „Zum Glück haben Sie mir das gesagt.“

Zwei Hefte gesellten sich noch zu den anderen Sachen und dann ließ ich die Frau einfach stehen – zusammen mit meinem wundervoll duftenden Essen. Selbst mein Magen protestierte.

Falls ich mein Portemonnaie wirklich in Diegos Wagen gelassen hatte, musste ich jetzt erst zu ihm, dann zum Wagen und dann noch mal hier her, damit ich mich ein weiteres Mal anstellen konnte, um etwas zwischen die Kauleiste zu bekommen. Wirklich tolle Aussichten.

Noch dazu war heute Freitag, was bedeutete, dass ich morgen nicht nur in aller Herrgottsfrühe aufstehen musste, um das freiwillige Helferlein zu mimen, nein, es bedeutete auch, dass morgen das Wohntätigkeitsfest mit den vielen kleinen Kindern stattfinden würde. Ein wirklich grusliger Gedanke.

Warum hatte ich mich noch mal freiwillig gemeldet? Ach ja, meine Mutter hatte mich erpresst. Besser ich dachte gar nicht erst an diese Frau, sonst würde ich gleich sicher einen Wutanfall bekommen.

Unser Plan gestern war aufgegangen. Schon kurz nachdem wir den Parkplatz verlassen hatten, hatte Ryder mir eine Textnachricht geschickt und mir mitgeteilt, dass er und Tyrone sich hatten aus dem Staub machen können. Außer uns fünf wusste also niemand, dass wir uns gesehen hatten. Das war gut. Und auch schlecht. Ich mochte diese Heimlichtuerei nicht besonders.

„Denk nicht drüber nach“, mahnte ich mich selber und hielt Ausschau nach meinen Freunden. Diego entdeckte ich auf den Stufen vor dem Verwaltungsgebäude, Lucy war gerade nicht zugegen, da sie hatte aufs Klo gemusst.

Ich klagte Diego mein Leid und schaute ihn solange mitleidig an, bis er mir kopfschüttelnd seine Autoschlüssel in die Hand drückte.

„Keine Spritztouren.“

„Ich doch nicht“, versicherte ich sofort und erhob mich sofort wieder von den Stufen.

„Ich meine es ernst!“, rief er mir hinterher.

„Ich weiß!“, rief ich zurück und hob die Hand mit den Schüsseln zum Abschied. Als hätte ich Interesse an einem kleinen Ausflug, wenn mir der Magen irgendwo zwischen den Kniekehlen hing.

Mit direktem Kurs auf das Haupttor, eilte ich über das akribisch gepflegte Gelände. Die Wolken hatten sich ein wenig aufgelöst und auch einen Teil der Hitze mit sich genommen, was dieses Tag genehmer machte, als die ganzen letzten Wochen. Ich mochte den Sommer, aber Hitzewellen waren einfach nur belastend.

Ich hatte den Eingang fast erreicht, als ich ein Pärchen bemerkte, dass in der Nähe einer Baumgruppe stand und …

Moment mal, das war doch Ryder!

Ich blieb so abrupt stehen, als hätte sich direkt vor mir eine Wand aufgetan. Das war nicht nur Ryder, das war Ryder zusammen mit Elena!

Sie lehnte lässig an der Mauerbegrenzung und flirtete schonungslos mit Ryder, der so nahe vor ihr stand, dass kaum noch eine Briefmarke zwischen sie gepasst hätte. Sie spielte an dem Saum seines blauen T-Shirts herum und ihn schien das nicht zu stören. Warum sollte es das auch? Welchem Kerl würde es nicht gefallen, von jemand wie Elena angegraben zu werden? Ganz besonders wenn gerade mal neunzehn war und von pubertären Hormonen nur so triefte.

Wut in seiner reinsten Form flackerte in mir auf und kurz hatte ich das Bedürfnis, erst Elena zu erwürgen und dann Ryder mit einem gezielten Tritt zwischen die Beine auf ewig zu entmannen, aber ich bekam dieses Gefühl sofort wieder in den Griff. Gott sei es gedankt. Ich hatte keinerlei Rechte auf Besitzansprüche und es wäre doch äußerst peinlich gewesen, wenn ich hier eine Eifersuchtsnummer abziehen würde.

Dabei war es weniger die Wut, als viel mehr die Enttäuschung, die ihre Klauen in mich schlug. Einfach weil ich ihn mochte und bis jetzt angenommen hatte, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Wie man sich in den Menschen doch täuschen konnte.

Das Schlimmste daran war, dass es einfach nur wehtat. Warum denn ausgerechnet Elena? Hätte er sich denn nicht wenigstens eine andere suchen können, irgendwo wo ich es nicht sehen musste?

Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und das Weite gesucht, aber ein kleiner rebellischer Teil in mir, verbot mir den Schwanz einzuziehen und davon zu laufen. Ich hatte schließlich auch meinen Stolz und würde mit Sicherheit nicht zeigen, das mich dieser Anblick verletzte. Darum strafte ich die Schultern, ignorierte die beiden Turteltäubchen und lief mit erhobenem Kopf an ihnen vorbei.

Als wenn er meine Anwesenheit spüren würde, wandte sich Ryder zu mir um und zwinkerte mir zu. Dieses miese Arschloch besaß echt noch die Frechheit mir zuzuzwinkern!

Ich tat so, als würde ich ihn nicht bemerken und verließ das Unigelände. Diegos Wagen parkte eine ganze Ecke entfernt und als ich darauf zuhielt, bemerkte ich auch Ryders Maschine. Einen Moment hatte ich wirklich das dringende Bedürfnis dagegen zu treten und den fahrbaren Untersatz für die Schrottpresse vorzubereiten. Aber dann drückte ich einfach nur die Lippen aufeinander und schlürfte mit hängenden Schultern zu Diegos Wagen.

Wie nicht anders zu erwarten, lag meine Geldbörse tatsächlich auf dem Armaturenbrett. Auch wenn mir der Appetit gehörig vergangen war, so holte ich sie raus und stopfte es übertrieben brutal in meine Tasche, nur um genauso grob zu dem Wagen zu sein, als ich die Tür zuschlug. Leider fühlte ich mich danach kein bisschen besser.

Als ich dann wieder der Universität zuwandte, zögerte ich. Ich wollte da nicht hin und die beiden noch mal zusammen sehen, aber ich konnte mich ja schlecht in Diegos Wagen verkriechen. Oder?

Einen Moment war ich unentschlossen, ergab mich dann aber mit einem Seufzen meinem Schicksal. Ich würde ihm nicht zeigen, dass er mich verletzt hatte. Genau, ich würde die beiden einfach nicht beachten. Stattdessen würde ich zu Diego gehen und ihn bitten das Arschloch zu verhauen. Das hätte er verdient.

Ohne groß darüber nachzudenken, betrat ich wieder das Uniulgelände, doch bevor ich überhaupt die Chance bekam nachzuschauen, ob die beiden immer noch an der Mauer miteinander turtelten, packte mich jemand am Arm und zog ich ins nächste Gebüsch. Überrascht stieß ich einen kleinen Schrei aus.

„Hey, nicht so laut, ich bin es nur.“

Ryder. Oh Gott, ich hätte mir vor Schreck fast in die Hose gemacht. Ich schlug nach ihm, traf ihn aber nicht. „Mach das nicht noch mal!“, fauchte ich ihn an und versuchte mein Herz dazu zu bewegen, wieder in einem normalen Rhythmus zu schlagen.

„Warum nicht? Das macht die ganze Sache doch nur spannender.“ Er hob verrucht die Augenbrauen.

Mehr als eine Erwiderung lag auf meiner Zunge, aber ich biss die Zähne fest zusammen, riss meinen Arm los und wollte Wortlos abziehen, doch bevor ich nur einen Schritt tun konnte, hatte er mich schon umrundet und versperrte mir den Weg.

„Nicht so schnell, warum willst du weg?“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte ihn stumm mit den Augen. Nur der Teufel persönlich, konnte vor fünf Minuten noch mit meiner Erzfeindin rummachen und jetzt so unschuldig vor mir stehen, als wäre nichts passiert. „Warum sollte ich bleiben wollen?“, stellte ich die Gegenfrage.

„Weil ich ein umwerfender Typ bin, der mit dir hier in den Büschen steht, wo uns niemand sehen kann und ich dich darum bitte.“

Seine Worte fachten die Flammen meiner Wut wieder an. Ein umwerfender Typ, das mochte schon sein, aber ein umwerfender Typ, der gerade noch mit Elena angebandelt hatte. „Vielleicht solltest du besser jemand anderes bitten.“ Ich wollte an ihm vorbei, aber er verstellte mir wieder den Weg. „Lass mich durch“, knurrte ich ihn an.

Verwirrt kräuselte sich seine Stirn. „Du scheinst irgendwie verärgert. Hab ich was angestellt?“

„Scheinbar nicht, sonst wüsstest du es ja“, sagte ich kühl. „Wenn ich jetzt bitte gehen dürfte. Diego und Lucy warten auf mich.“

„Nicht bevor du mir nicht gesagt hast, was du hast. Also spuck´s aus, wo liegt das Problem?“

„Wenn du deine zwei Gehirnzellen anstrengst, kommst du bestimmt von ganz alleine darauf.“ Um nichts in der Welt wurde sie zugeben, wie enttäuscht ich von ihm war. Nachher würde er sich darauf noch etwas einbilden.

Nachdenklich kam er einen Schritt näher. Dabei sah er mir tief in die Augen, als wenn er dort die Antworten finden würde, nach denen er suchte.

Da ich ihn nicht so nah an mich heranlassen wollte, wich ich automatisch einen Schritt zurück. Er machte einen weiteren Schritt vor und wieder wich ich zurück. Das Spielchen trieben wir solange, bis ich die Außenmauer im Rücken spürte und nicht weiter zurück konnte.

„Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich angestellt haben könnte, dass du so abweisend zu mir bist.“

Das gab es doch wohl nicht. „Nein? Wie traurig. Tja, dann wirst du wohl dumm sterben.“ Meine Stimme war kalt wie ein Winter in der Antarktis. „Aber was hatte ich auch anderes von dir erwartet. Diego und Lucy hatten Recht, du bist das aller letzte!“

Die Kränkung in seinen Augen war echt. Diese Worte hatten ihn getroffen und plötzlich tat es mir leid, dass ich sie ihm an den Kopf geschleudert hatte. Ich senkte meinen Blick, damit ich es nicht sehen musste. Obwohl er den Mist gebaut hatte, fühlte ich mich jetzt mies, klasse. „Sorry, das hab ich nicht so gemeint.“

Mit dem Finger tippte er gegen mein Kinn, damit ich zu ihm nach oben sah, aber ich tat es nicht. „Schau mich an.“

Mein Blick blieb gesenkt.

Ryder kam noch näher, sodass seine Brust gegen meine verschränkten Arme drückte. Diese Nähe wollte ich nicht, besonders jetzt nicht, nachdem ich gesehen hatte, dass er Elena so nahe gewesen war. Ich wollte ihn wegstoßen, doch bevor mir das gelang, packte er meine Handgelenke und drückte sie neben meinen Kopf an die Wand. Das machte mich wütend. Ich versuchte mich zu befreien, bockte, doch so sanft sein Griff auch war, so unnachgiebig blieb er.

„Verdammt Ryder, lass mich los!“

„Warum? Ist doch alles nur Spaß.“

Das hatte er jetzt nicht gesagt. Gegen meinen Vorsatz, sah ich nach oben und funkelte ihn böse an. Seine Stimme mag amüsiert geklungen haben, doch seinem Gesicht war jeglicher Humor abhanden gekommen. Mein abweisendes Verhalten wunderte ihn wirklich. Er hatte keine Ahnung, warum ich sauer war und das machte es noch schlimmer, weil es mir zeigte, dass er keinen Gedanken an mich verschwendet hatte. „Das ist kein Spaß, geh weg von mir!“

„Warum?“

„Weil ich gesehen hab …“ Ich biss mir auf die Lippe. Das würde ich nicht sagen.

Sein Blick hielt meinem stand. „Weil du was gesehen hast?“

Ich schwieg.

„Prinzessin, ich weiß wirklich nicht, was ich falsch gemacht habe und wenn du es mir nicht sagst, wie kann ich daran etwas ändern? Ich will nicht, dass du sauer auf mich bist und möchte auch nichts tun, was dich sauer macht, aber wenn du deinen hübschen Mund nicht aufmachst, weiß ich nicht, was ich beim nächsten Mal anders machen sollte.“

Da war was dran. „Warum interessiert es dich, was ich denke? Ich hatte bisher nicht das Gefühl, dass es dich überhaupt interessiert, was die Leute von dir halten.“

„Du hast recht, es interessiert mich nicht, was irgendwer von mir hält“, bestätigte er meine Worte. „Aber es interessiert mich was du von mir hältst.“

Mein Herz machte einen dummen, kleinen Hüpfer und dafür verfluchte ich es in diesem Moment.

„Bitte, sag mir was los ist.“

Mein Gott, sollte er doch denken was er wollte. „Elena.“ Ich spie dieses Wort aus, als wäre es das pure Gift, was es in gewisser Hinsicht ja auch war. Elena war Gift. Egal was sie berührte, sie verdarb es und jetzt hatte sie Ryder berührt.

„Du bist sauer, weil ich mit Elena gesprochen habe?“ Langsam schlich sich ein kleines Lächeln in sein Gesicht, wofür ich ihm wohl eine geklatscht hätte, wenn er meine Hände frei gewesen wären.

„Nein“, sagte ich. „Ich bin nicht sauer weil du mit Elena gesprochen hast. Ich bin sauer, weil sie an dir rumgefummelt hat und dich das nicht gestört hat.“

Sein Gesicht wurde noch heller. „Du bist eifersüchtig.“

Das brachte das Fass echt zum überlaufen. „Eifersüchtig? Du hast sie doch nicht mehr alle!“

„Wenn du nicht eifersüchtig bist, dann erklär mir doch mal, warum du dich so albern aufführst.“

Wenn ich eine Erklärung parat gehabt hätte, hätte ich sie ihm so vor den Latz geknallt, dass er ein blaues Auge davon getragen hätte, aber da ich keine hatte, schlug ich eine andere Methode ein. „Weißt du was, du hast recht.“

Er sah überrascht aus, positiv überrascht. „Ach hab ich das?“

„Ja. Es ist albern, dass ich mich so aufführe. Du bist ein freier Mann und kannst rummachen mit wem du willst. Genauso wie ich. Ich kann auch rummachen mit wem ich will.“

Das waren wohl nicht die Worte, die er hatte hören wollte. Das Lächeln auf seinen Lippen starb einen grausigen Tod. Er ließ meine Hände los und trat einen Schritt zurück. „Ja, du hast recht, es geht dich nichts an, genauso wenig wie mich deine Sachen etwas angehen. Wenn du der Meinung bist, mit irgendeinem besoffenen Trottel einen drauf zu machen, dann solltest du das, den hey, du bist mir gegenüber ja zu nichts verpflichtet.“

„Ganz genau.“ Ich schob mich an ihm vorbei und wollte nichts wie weg aus dieser Situation, denn plötzlich hatte ich das Bedürfnis, solange zu heulen, bis der Welt die Taschentücher ausgingen. Meine Augen brannten und bevor er etwas merken konnte – was wirklich zu peinlich gewesen wäre – wandte ich mich eilends von ihm ab.

„Ich wollte nur, dass sie dich in Ruhe lässt.“

Als ich seine Stimme hörte, so traurig und gebrochen, blieb ich automatisch stehen. Verdammt. Ich konnte mich wenigstens rechtzeitig davon abhalten, mich auch noch zu ihm umzudrehen. Mit aller Kraft drängte ich das Brennen in meinen Augen zurück. Jetzt bloß nicht heulen, sagte ich mir, nicht hier, und nicht jetzt. Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder, weil ich mir nicht sicher war, dass meine Stimme normal klang.

Ich hörte ihn nicht kommen, dafür war er viel zu leise, aber ich spürte es. Je näher er trat, desto mehr nahm ich seine Gegenwart wahr. Ein seltsames Gefühl.

Als erstes fühlte ich seine Hände an meinen Hüften, dann wie er langsam die Arme um meinen Bauch schlang und mich an seine Brust zog. Durch meine Bluse konnte ich sein Herz spüren, wie es etwas zu schnell schlug. Ich roch ihn. Ein komischer Kupferartiger Duft, vermischt mit Waschmittel und etwas das mich an eine Sommerbrise erinnerte.

„Ich hab nur mit ihr geredet, damit sie dich in Ruhe lässt“, sagte er leise.

„Und bei der Gelegenheit, lässt du dich gleich ein wenig betatschen.“ Die Worte waren aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten konnte und zum Ende hin brach meine Stimme auch noch. Na das hatte ich ja toll hinbekommen. Aber jetzt war es eh egal. „Und das ausgerechnet von der Person, die schon einmal versucht hat mir jemanden wegzunehmen, der mir etwas bedeutet hat, einfach um mich zu verletzten.“

Seine Arme drückten mich fester an sich und ich konnte nicht anders, als ihn zu lassen. Es fühlte sich einfach zu gut an. Trost und Geborgenheit. „Ich hab schon öfter festgestellt, dass ein kleiner Flirt zum Ziel führen kann. Elena ist nicht besonders Clever und dadurch, dass ich ihr das gestattet hab, ist sie mir jetzt etwas schuldig.“

Das stimmte nicht. Elena war clever. Zwar auf ihre Art, aber sie war nicht dumm und wenn sie etwas wirklich wollte, dann bekam sie es auch meistens. Ryder hatte ihr mit seinem Verhalten praktisch eine Einladung geschickt, ganz nach dem Motto: Du willst mich? Na dann komm und hol mich!

„Und ich will nicht, dass du mit irgendeinem anderen Typen rummachst.“

Mein Herz klopfte plötzlich wie wild. „Warum?“

„Musst du das wirklich fragen?“ Er machte seine Arme gerade mal so locker, dass er mich zu sich drehen konnte. „Was glaubst du wohl warum?“

Nein, das konnte nicht sein … oder doch? „Weil du genauso wie Diego einen Großer-Bruder-Tick hast?“

Er zog mich näher an sich und schüttelte den Kopf. „Wenn ich so etwas hätte, dann müsste ich den Typen der dich gerade im Arm hält mächtig eine reinhauen, bei den Gedanken, die ihm bei deinem Anblick durch den Kopf gehen.“ Ein schüchternes Lächeln lag auf seinen Lippen.

Es war ihm bestimmt nicht leicht gefallen, das zu sagen und ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Er hatte gesagt, bei den Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen. Was waren das für Gedanken? Wollte ich das wirklich wissen? Die Antwort darauf war ein eindeutiges Ja. „Was geht diesem Typen denn durch den Kopf?“

Der Blick mit dem er mich bedachte, trieb mir die Röte ins Gesicht. Mein ganzer Körper wurde vor Erwartung kribblig, aber ich spürte auch wieder diesen seltsamen Teil in mir erwachten, der mich aufforderte, das Gesicht abzuwenden, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte es auch nicht.

„Er würde es dir gerne zeigen.“ Ryders Stimme war nur ein Hauch, der zusammen mit seinem Atem von seinen Lippen fiel. Ich spürte die Worte auf meinen Gesicht, sah wie sich die Farbe in seinen Augen verdunkelte und konnte nichts gegen meinen schnellen Herzschlag ausrichten. Er würde mich küssen. Ich wusste es und ich wollte es. Oh Gott, auf einmal wollte ich es so sehr.

Sein Gesicht kam immer näher. Ich spürte seine einladenden Lippen bereits an meinen und erinnerte mich an das letzte Mal, als er mir so nahe gewesen war. Ich wollte …

Plötzlich wurde er von mir weggerissen. Er stolperte nach hinten und riss mich fast noch ein Stück mit, da er nicht sofort losließ. Dann stand ich auf einmal allein da und versuchte mir klar darüber zu werden, was gerade passiert war. Wir waren immer noch alleine und … nein, niemand hatte ihn weggerissen, wie mir in der nächsten Sekunde klar wurde, ich hatte ihn von mir gestoßen. Meine Arme waren sogar noch ausgestreckt, als wollten sie ihn weiterhin auf Abstand halten.

Fassungslos starrte ich ihn an. Er schien nicht so überrascht wie ich, aber die heftige Zurückweisung hatte ihn gekränkt. Das brauchte er mir gar nicht zu sagen, ich sah es in dem Ausdruck seines Gesichts.

Ich schüttelte den Kopf. Warum? Vielleicht um ihm zu sagen, dass ich das nicht wollte, was eigentlich nicht stimmte. Vielleicht auch, um ihm zu sagen, dass ich das nicht so gemeint hatte, dass er mich jetzt nicht hassen sollte. Ich wusste nicht warum, ich tat es einfach.

Er sah mich einen langen Moment einfach an. „Okay, das war deutlich.“

„Nein Ryder, ich wollte nicht …“

Er hob die Hände und brachte mich damit sofort zum Schweigen. „Du brauchst mir nichts zu erklären, ich hab es verstanden.“ Seine Augen senkten sich leicht. „Das war das dritte Mal, in drei Tagen, dass du mich abgewiesen hast und deutlicher geht es nun wirklich nicht.“

„Ryder, das war nicht …“ Wie sollte ich das erklären? Ich verstand ja selber nicht warum ich das getan hatte. Es war einfach passiert, ohne dass es mir selber bewusst gewesen war. Das war nicht ich, das war etwas in mir, dass das getan hatte. Wie sollte ich ihm das erklären? Das war doch verrückt! „Ich wollte das nicht.“ Welch schwache Entschuldigung.

„Ich weiß“, sagte er leise und wandte sich dann mit hängenden Schultern von mir ab. „Wir sehen uns, Prinzessin.“ Damit verschwand er zwischen den Bäumen.

War mir bereits vorher zum Heulen zumute gewesen, so war das gar nichts im Vergleicht zu was nun folgte. Ihn einfach davongehen zu sehen schmerzte schlimmer, als ich mir das je hätte vorstellen können, aber ich traute mich auch nicht ihm zu folgen. Verdammt, was war nur mit mir los?

 

°°°

 

„Gibst du mir mal den Dreizehner?“ Diego, der halb unter dem lag, was in ein paar Stunden der Stand fürs Ringewerfen sein sollte, streckte mir seine Hand entgegen.

Ich bemerkte es kaum, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, zum Dreitausendvierhundertzweiundsiebzigsten Mal in den letzten zehn Minuten auf die Wahlwiederholung meines Handys zu drücken und zu hoffen, dass Ryder dieses Mal an sein verfluchtes Telefon ging. Oder war es das dreitausendvierhundertdreiundsiebzigste Mal? Mist, jetzt hatte ich mich auch noch verzählt. „Ich hab keine Ahnung, wovon zum Teufel du da sprichst“, sagte ich und hielt mir das Handy ans Ohr.

„Von dem metallenen Ding, das neben dir auf dem Tisch liegt.“

Freizeichen. Es klingelte, fünf Mal, sechs Mal und dann sprang die verdammte Mailbox an. Fluchend legte ich auf. Seit Ryder gestern das Schuldgelände verlassen hatte, versuchte ich nun schon ihn zu erreichen, um mit ihm zu reden, ihm zu erklären, was da passiert war, aber er ging einfach nicht an sein dämliches Handy. Wofür hatte der Kerl das Ding, wenn er es nicht benutzte? Das war doch echt zum Haareraufen!

„Cayenne“, erinnerte Diego mich ungeduldig an seine Aufforderung.

Ich nahm das eine von den zwei Werkzeugen neben mir und legte es ihm in die Hand.

Diego schaute drauf und verzog missbilligend seinen Mund. „Ich weiß ja, das du keine große Ahnung von Werkzeugen im Allgemein hast, aber selbst du dürftest eine Zange von einem Schraubenschlüssel unterscheiden dürfen.“

„Du hast etwas von dreizehn gesagt und ich hab keine Ahnung, was damit gemeint ist, also beschwere dich nicht.“ Mit einem letzten Blick auf das Display, als könnte ich das Handy damit zwingen, mich mit Ryder zu verbinden, ließ ich es in meiner Hosentasche verschwinden.

Seufzend kroch Diego unter dem Holzgerüst hervor und stellte sich dann vor mich. „Da ich es dir heute schon drei Mal gesagt hab, ging ich davon aus, dass du sehr wohl wüsstest, wovon ich rede.“ Er musterte mich seinem großer-Bruder-Blick. „Du scheinst mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein, möchtest du mir vielleicht erzählen, was los ist?“

„Gar nichts ist los“, sagte ich und drückte ihm den Schraubenschlüssel in die Hand. „Ich werde mich mal dran machen, ein paar Preise herzuschaffen.“ Damit ließ ich ihn stehen und strebte über die Festwiese hinüber zum Verwaltungsgebäude.

Ich wusste, dass es nicht richtig war, Diego anzupflaumen. Er konnte nichts dafür, dass dieser Idiot von Ryder meine Anrufe ignorierte, er wollte mir nur helfen. Aber da war jede Hilfe sinnlos. Das war eine Sache, die ich alleine Regeln musste. Klar, ich konnte Ryder verstehen. Hätte ich eine solche Zurückweisung erhalten, nachdem ich so ehrlich gewesen war, würde ich mich auch erst mal verkriechen, um meine Wunden zu lecken, aber das Fiese daran war, dass er mir nicht die Gelegenheit gab es zu erklären und das nahm ich ihm übel.

Überall um mich herum waren Studenten damit beschäftigt, die verschiedenen Attraktionen aufzubauen. Wir waren bereits seit den frühen Morgenstunden dabei und langsam nahm das Fest Gestalt an. Ein paar Leute dekorierten die Umgebung mit Wimpeln und Luftballons. Sogar zwei riesige Stehaufmännchen hatte man besorgt. Sie standen bereits am Eingang und würden die Besucher als erstes empfangen.

Elena war bei dem Stand Lose-ziehen bereits dabei zusammen mit ihren beiden Gehirnzellen die Preise aufzubauen. Gideon füllte den großen Wassertank und Lucy half zusammen mit Julian dabei die Tombola zu organisieren.

Der Sozialfuzzi Edward Walker turnte hier auch die ganze Zeit herum und versuchte ein wenig Ordnung in das Chaos zu bekommen. Jetzt gerade sah ich ihn allerdings nicht.

Mit dem Wetter hatten wir Glück. Zwar hingen ein paar vereinzelte Wolken am Himmel, doch die sorgten nur dafür, dass hin und wieder ein Schatten auf die Erde fiel.

Ich ließ das alles hinter mir und betrat über den gepflasterten Steinweg das Verwaltungsgebäude. Auch hier herrschte Hochbetrieb. Heute schienen die Studenten aus allen Löchern gekrochen zu sein, um zu helfen.

Ich wollte gerade den Korridor nach links herunter, als plötzlich eine Idee durch meinen Kopf schoss. Mann, ich war doch wirklich saudämlich, warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Wenn Ryder nicht an sein verdammtes Handy ging, dann würde zumindest Tyrone auf einen Anruf reagieren, oder? Ein Versuch war es auf jeden Fall wert. Also wandte ich mich nach rechts, weil da eindeutig weniger los war und zog beim Laufen meine Brieftasche aus der Hose. Der Zettel von Ryder und das Handy folgten. Dann musste ich nur noch die Nummer eingeben und hoffen.

Während es klingelte, schob ich den Zettel mit den Nummern zurück in meine Geldbörse und verstaute alles wieder.

Nach dem vierten Klingeln ging jemand ans Telefon. „Randal“, brummte es.

Randal? Was soll denn Randal sein? Vielleicht so etwas wie Randalieren? Oder Randale? „Was heißt Randal?“

Ein leises Knacken drang an mein Ohr. „Cayenne?“

Hätte er jetzt vor mir gestanden, hätte ich die Augen verdreht. „Wer den sonst?“

Er lachte leise. „Ob du es glaubst oder nicht, es gibt eine Menge Leute, dich mich anrufen.“

„So hatte ich das nicht gemeint.“

„Hatte ich auch nicht gedacht.“ Es knackte erneut in der Leitung. „Womit kann ich dir helfen?“

Ich stierte auf den Boden und machte ein Spiel daraus, einen Fuß direkt vor den anderen zu setzen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. „Als erstes wüste ich gerne, was Randal sein soll.“

„Nicht was“, er lachte. „Wer. Das ist mein Nachnahme, du erinnerst dich?“

Klar, wie hatte ich das vergessen können? Das war echt blöd von mir. Wahrscheinlich machte mich die ganze Sache mit Ryder so fertig, dass ich alles außer ihm automatisch aus meinem Hirn verbannte. „Ach ja, stimmt ja. Sorry, ist mir irgendwie entfallen.“ Wieder knackte es in der Leitung und langsam fragte ich mich, was er da trieb. Das hörte sich an, als würde er Nüsse knacken.

„Aber ich gehe mal nicht davon aus, dass du dich über meinen Nachnamen unterhalten möchtest, oder liege ich da falsch?“

„Nein. So amüsant dieses Thema auch sein mag, ich rufe wegen Ryder an.“

Schweigen.

Es war plötzlich so still in der Leitung, dass ich schon dachte, er hätte aufgelegt. Selbst das Knacken war verstummt. „Hallo? Bist du noch da?“

„Ja, natürlich.“

„Kannst du ihn mir dann bitte kurz geben?“ Bitte, bitte, flehte ich innerlich. Ich brauche nur zwei Minuten, um das zwischen uns zu bereinigen, nur eine Chance, dass zu klären und alles wieder in Ordnung zu bringen. Oder zumindest so weit, dass er den Hörer abnahm, wenn ich ihn anrief.

Er seufzte. „Tut mir Leid, Cayenne, er möchte im Augenblick nicht mit dir reden.“

Autsch. Das saß. „Und warum nicht?“

„Um ganz ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Er hat mir nicht erzählt, was da zwischen euch vorgefallen ist und ich mische mich da auch nicht ein. Das ist etwas, dass nur euch beide etwas angeht.“

Na toll. Jederzeit mischten sich Gott und die Welt in mein Leben ein – ob ich das nun wollte, oder nicht – aber jetzt, wo ich es mal gebrauchen könnte, waren alle viel zu sehr mit sich selber beschäftigt. „Kannst du ihn vielleicht mal kurz fragen?“

„Cayenne, ich glaub nicht …“

„Bitte“, bettelte ich.

Seufzend gab er sich geschlagen. „Okay, ich versuche es.“

Durchs Handy konnte ich hören, wie er durch die Wohnung ging und an eine Tür klopfte. Immer und immer wieder, solange, bis ich Ryders genervtes „Was?“ hörte.

Tyrone sprach leise mit ihm. Ich vermutete, dass er den Hörer mit der Hand abdeckte und so bekam ich nur wenig von dem gesagt mit. Aber das Grundlegende verstand ich, Ryder hatte keinerlei Interesse daran, sich mit mir zu unterhalten. Weder jetzt noch in der näheren Zukunft.

„Tut mir leid, Cayenne“, sagte er dann wieder in den Hörer. „Er möchte jetzt nicht mit dir sprechen.“

„Ja, das habe ich mitbekommen.“

Meine Stimme musste ihm wohl mehr verraten haben, als mir lieb war, denn er sagte: „Mach dir keinen Kopf, das wird sich schon wieder einrenken.“

Das glaubte ich nicht. Er hatte keine Ahnung, was passiert war, hatte nicht den Ausdruck in Ryders Gesicht gesehen, als er sich von mir abgewandt hatte und nichts von dem mitbekommen, was Ryder mir vorher gesagt hatte. Ich hatte die ganze Sache wirklich vermasselt. Und zwar gründlich. „Ganz bestimmt“, stimmte ich ihm ohne die geringste Hoffnung zu.

„Lass den Kopf nicht hängen. Wir sehen uns nachher auf dem Fest.“

Wir schon, dachte ich, aber ob Ryder hier auftauchen würde, war eher fraglich. Es würde mir nur gerecht geschehen, wenn er sich für immer von mir fernhielt. „Okay, dann bis später“, sagte ich tonlos und legte auf.

Niedergeschlagen lehnte ich mich gegen die Wand und fragte mich zum bestimmt hunderten Mal, was da gestern eigentlich geschehen war. Ich hatte es doch gewollt. Und trotzdem hatte ich ihn von mir gestoßen.

Ich verstand mich selber nicht mehr und das war mindestens genauso schlimm.

Ein Ruf, irgendwo am anderen Ende des Korridors erinnerte mich daran, dass ich hier ja eigentlich etwas zu erledigen hatte. Allerdings tat ich mich gerade schwer damit etwas anderes zu tun, als mich in einer dunklen Ecke zu verkriechen und mich selber zu bemitleiden. Doch wenn ich mich nicht aufraffte, würden Diego und Lucy irgendwann nach mir suchen und dann würde ich eine Erklärung liefern müssen, auf die ich keine Lust hatte. Wieder an die Arbeit zu gehen, erschien mir daher als das kleinere Übel.

Doch als ich mein Handy wegsteckte und mich gerade in Bewegung setzte, kamen aus dem Raum mir gegenüber plötzlich laute Stimmen. Das Schild neben der Tür verkündete, dass dies das Büro von Edward Walker war.

Eigentlich hätte mich das nicht weiter interessiert, doch die lauteste Stimme war die einer Frau und die kam mir verdammt bekannt vor. Wenn mich nicht alles täuschte, gehörte die Victoria.

Aber das war doch nicht möglich, oder? Was sollte unsere Haushälterin denn bitte an meiner Uni? Noch dazu in dem Büro unseres Sozialfuzzis.

Um das herauszubekommen, gab es nur eine Möglichkeit. Also schlich ich auf Zehenspitzen quer über den Korridor und drückte mein Ohr dann gegen die dünne Holztür.

„ … nicht mehr zu tolerierenden Risiko.“

Das war eindeutig die Stimme unseres Sozialarbeiters.

„Das ist nicht mehr so einfach, wie du dir das vorstellst.“ Victoria. Das war eindeutig Victoria. Was machte sie hier? War sie etwas mit dem Sozialfuzzi bekannt? Die Sicherheit in ihrer Stimme zeigte mir nur allzu deutlich, dass die beiden sich nicht erst vor fünf Minuten begegnet waren.

Meine Neugierde wuchs. Die einzige Verbindung, die ich zwischen den beiden sah, wollte mir nicht gefallen, weil ich damit zwangsläufig bei mir landete. Ich war der Knotenpunkt zwischen den ihnen und nun wollte ich wissen, was das zu bedeuten hatte.

„Sie sind schlau.“ Das war wieder Victoria. „Und verdammt schnell.“

„Das weiß ich“, murrte der Eddy. „Aber so kann es nicht weitergehen. Isaac will Ergebnisse.“

„Dann sollte er sich vielleicht selber darum kümmern“, schoss Victoria zurück.

Eine kurze Stille breitete sich zwischen den Parteien aus und dann ergriff Eddy wieder das Wort. „Schuldzuweisungen bringen uns hier auch nicht weiter, was wir brauchen ist eine Lösung – eine dauerhafte Lösung.“

„Ich versteh dich einfach nicht, Papa. Wie kannst du in einer solchen Situation so ruhig bleiben?“

„Das macht die Erfahrung des Alters“, antwortete Eddy ihr.

Moment, hatte ich das jetzt richtig mitbekommen? Edward Walker war Victorias Vater? Das war doch nicht möglich. Victoria hieß mit Nachnamen Wulf. Am liebsten wäre ich in den Raum marschiert, um die beiden zur Rede zu stellen, aber ich glaubte, wenn ich hier draußen war, würde ich wesentlich mehr und erheblich bessere Informationen erhalten, als wenn ich einen auf wütender Stier machen würde. Also blieb ich wo ich war und lauschte weiter.

„Und? Was sagte dir dein Alter?“, fragt sie spitz. „Was sollen wir jetzt tun. Celine weiß nicht mehr weiter. Und Isaac ist wie immer keine große Hilfe.“

Wer bei allen Höllenhunden war jetzt schon wieder Isaac? Und warum war er keine Hilfe?

„Sprich nicht so von ihm“, tadelte Eddy seine Tochter. „Er hat mehr als genug zu tun.“

Das abfällige Schnauben, kam eindeutig aus dem Mund einer weiblichen Person, die sich aber nicht nach Victoria anhörte. War da noch jemand drin?

„Möchtest du etwas dazu beitragen, Isabelle?“, fragte Eddy.

Isabelle? Lucys Isabelle? Ihre Mutter Isabelle? War sie etwa auch Teilhaberin dieser illustren Runde? Und wenn ja, warum? Warum trafen sich hier ein Haufen Menschen, die ich zwar kannte, aber ich nie gedacht hätte, dass sie etwas miteinander zu tun hätten? Und warum zum Teufel hatte ich niemanden hier, der mit Antworten auf meine Fragen geben konnte? So ein Mist aber auch.

„Was Isabelle damit zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass Isaac weitaus mehr tun könnte, als das was er macht“, sagte ein Mann, der nicht Eddy war. „Es ist kein Geheimnis, dass er sich lieber mit seien eigenen Dingen beschäftigen, als sich um die Belange des Volks, oder gar um ein ungewolltes Kind zu kümmern.“

Als ich diese Stimme hörte, rutschte mir mein Herz plötzlich in die Hose. Ich kannte diese Stimme, hatte sie aber seit Jahren nicht mehr gehört und auch nicht geglaubt, es je wieder zu tun. Es war die Stimme von David. David Evers, Diegos Vater! Der Mann, der seinen Sohn vor Jahren im Stich gelassen hatte, der Mann, der seine Frau für eine jüngere verlassen hatte, der Mann, der Leid in das Herz meines besten Freundes gebracht hatte, nur kurze Zeit nachdem wir einander kennengelernt hatten. Und dieser Mann stand nun auf der anderen Seite dieser Tür und redete über …

„Cayenne ist ein verantwortungsbewusstes Mädchen“, sagte Eddy.

… redete über mich! Oh mein Gott, was war hier eigentlich los?

„Wir sollten uns gar nicht so viel einmischen“, führte der Sozialfuzzi weiter aus. „Das wäre mehr als auffällig. Seht doch nur was passiert ist. Sie hat sogar angefangen, an ihren Freunden zu zweifeln und das ist wirklich etwas, dass ich nicht tolerieren kann. Wenn sie anfängt denen zu misstrauen, die sie lieben, dann wird es gefährlich. Cayenne kommt bestens klar, auch ohne dass wir uns da allzu viel einmischen. Sie ist kein kleines Kind mehr, sie wird langsam erwachsen. Sie muss ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Wenn wir versuchen sie ihr abzunehmen, wird sie uns entgleiten.“

„Aber …“ wollte der Isabelle widersprechen, wurde doch sofort von Eddy zur Ruhe gebracht.

„Da gibt es kein Aber“, sagte er. „Keine Einmischung mehr, ohne dass ich die Anweisung dazu gebe, verstanden?“

Zustimmendes Murmeln erklang.

Was war denn jetzt los? Diese Leute nahmen Befehle von Edward an? Von dem neuen Sozialfuzzi meiner Universität? Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Die ganze Welt schien sich mit einem Mal in die falsche Richtung zu drehen.

Ich wollte nichts mehr hören. Alles was jetzt noch kommen konnte, würde mich nur weiter verwirren und außerdem hatte ich keine Ahnung, wann sie sich dazu entschließen würden, diesen Raum zu verlassen. Es wäre wahrscheinlich nicht sehr angebracht, wenn sie mich beim Lauschen erwischten.

So wandte ich mich ab und schlich auf Zehenspitzen davon. Erst als ich den Eingangsbereich erreicht hatte, lief ich wieder normal. Hier waren so viele Leute, dass es einfach auffällig wäre, wenn ich ich durch die Gegend schlich. Und außerdem hatte ich noch was zu erledigen, auch wenn mir gerade überhaupt nicht der Sinn nach Arbeiten stand. Die Preise mussten rausgeschafft werden, genau wie das Spiel selber.

Ich musste mich zusammenreißen, auch wenn ich dieses Gespräch einfach nicht aus dem Kopf bekam. Wobei sollten sie sich nicht einmischen? Hatte das was mit der Security zu tun, die meine Mutter mir gestern auf den Hals gehetzt hatte? Aber was bitte hatte der Sozialfuzzi damit zu schaffen? Oder Diegos Vater?

Davids Anwesenheit war wohl das, was mich an der ganzen Geschichte am meisten verstörte.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich in ein paar der anderen Studenten hineinlief und dem einen dabei eine Kiste mit Kuscheltieren ausversehen aus der Hand schlug.

„Hey!“, mokierte sich der Träger sofort. „Kannst du nicht aufpassen?“

„Kannst du nicht höflicher sein?!“, fauchte ich ihn an. Sowas konnte ich ja leiden. Als wenn ich das mit Absicht getan hätte.

Er funkelte mich an, sagte aber nichts mehr, als ich ihm dabei half, die Kuscheltiere zurück in die Kiste zu packen. Dann machte ich mich auf den Weg, um mir eine eigene Kiste zu besorgen, die voll mit kleinen Teddybären war.

So ging ich wieder nach draußen und überlegte, was ich zu Diego sagen sollte. Sollte ich überhaupt etwas sagen? Sollte ich überhaupt erwähnen, dass sich sein Vater gerade jetzt in diesem Augenblick zusammen mit ihm auf dem Gelände aufhielt?

Ich war mir unsicher und dachte noch immer darüber nach, als ich mit meiner Beute an unseren Stand zurück kam, wo Diego gerade fluchend den Schraubenschlüssel zur Seite legte und und dann einen genaueren Blick auf seine Hand warf.

Verwundert stellte ich die Kiste ab. „Was hast du angestellt?“

„Finger eingeklemmt.“

Ich trat zu ihm und nahm seine Hand, um zu entscheiden, ob der Finger amputiert werden musste, oder zur Not auch ein Pflaster reichen würde. Direkt am Nagelbett blutete es leicht. „Nichts Lebensbedrohliches“, witzelte ich und verschwand dann hinter im Stand, wo ich meine Tasche und die Lederjacke von Tyrone gebunkert hatte. Ich holte eine Wasserflasche und ein Taschentuch heraus und machte mich dann daran den kleinen Riss zu versorgen. Besser ich als er. Er besaß zwar viele Talente, aber dafür hatte er einfach nicht das erforderliche Feingefühl.

Geduldig ließ er es über sich ergehen, dass ich den Dreck aus der Wund spülte, sie leicht mit seinem sauberen Taschentuch abtupfte und ihn dann hinter mir her zu meiner Tasche schleifte, weil ich das Pflaster darin vergessen hatte – ja, ich war immer für alle Situationen gerüstet.

Während ich den lebensbedrohlichen Kratzer versorgte, dachte ich wieder an Diegos Vater. Wenn es mein Vater wäre, der mich vor Jahren verlassen hatte, würde ich erfahren wollen, was ich wusste? Ich war mir nicht sicher, ich konnte mich einfach nicht in die Situation hineinversetzten. Also musste ich es anders versuchen. Aber ich musste vorsichtig vorgehen. „Denkst du eigentlich manchmal an deinen Vater?“ Ich wich seinem Blick bei dieser Frage aus, konzentrierte mich ganz darauf, das Pflaster ordentlich auf den kleinen Riss zu kleben.

Einen Moment schien er irritiert. „Warum fragst du das?“

„Ich weiß nicht, ist mir nur gerade so durch den Kopf gegangen.“ Einen kurzen Blick auf ihn riskierte ich, als ich die Laschen des Pflasters umklappte. Er hatte wieder diese undurchdringliche Maske auf. Ich hätte es mir ja eigentlich denken können.

„Manchmal“, gestand er. „Aber der Mann, den ich für meinen Vater gehalten hatte … er war nie wie Jeremy gewesen.“

Die Erwähnung meines Vaters, den ich nie hatte kennenlernen dürfen, war wie eine eiskalte Dusche und plötzlich wusste ich ganz genau, dass es besser war, einfach den Mund zu halten. Darum verdrängte ich jeden Gedanken an das Gehörte und begann damit den Stand zu dekorieren, während Diego wieder nach dem Schraubenschlüssel griff und die restlichen Schrauben festzog, damit das Konstrukt über unserem Kopf nicht einfach zusammenbrach.

Danach half er mir weitere Preise und das Spiel selber aus dem Verwaltungsgebäude zu holen und alles aufzubauen.

Wir hatten vielleicht noch eine Stunde bis zur Eröffnung, als auch Lucy sich bei uns einfand und bei den letzten Vorbereitungen mit Hand anlegte. Natürlich wurde auch mein Schild aufgehangen, das selbst bei gutem Willen nur mit dem Wort hässlich zu beschreiben war.

„Die Kinder werden sich bestimmt nicht daran stören“, überlegte Lucy, als sie es betrachtete. „Sie werden annehmen, dass ein Kind es gemacht hätte.“

Oh, wenn Blicke töten könnten.

Eingeschnappt verschwand ich im Stand und rückte dort einige der Auslagen zurecht.

„Ach komm schon, du wirst doch jetzt nicht etwa beleidigt sein.“

„Wenigstens hab ich ein Schild gemacht“, sagte ich schnippisch.

Diego platzierte das Spiel direkt vor unserem Stand und schaute böse zu Lucy, als sie einen der Ringe danach warf. „Könntest du das bitte unterlassen.“

„Ich muss doch ausprobieren, ob alles funktioniert.“ Und da kam der nächste Ring geflogen.

„Das hier ist keine High-Tech-Anlage, das ist Ringe-werfen. Was bitte kann da nicht funktionieren?“

„Mach nicht so einen Aufriss.“

Mit einem bösen Blick erhob unser großer Teddybär sich. „Noch so ein Ding und ich werfe dich in den Wassertank.“

„Uh, jetzt hab ich aber Angst.“

Ich kicherte leise vor mich hin. Eine klitschnasse Lucy, das wäre sicher ein lustiger Anblick.

In der Ferne hörte ich das Lachen einer ganzen Schar von Kindern und als ich aufschaute, konnte ich einen Haufen Genome aus einem Bus steigen sehen, der unweit vom Haupteingang geparkt hatte. „Das bedeutet dann wohl, dass es gleich losgeht.“

„Ganz ruhig Brauner“, zog Lucy mich auf. „Die werden dich schon nicht fressen.“

„Kennst du The Ring?“

Das brachte Lucy zum Lachen. „Solange hier kein Brunnen in der Nähe ist, brauchst du dir keine Sorgen machen.“

„Vielleicht ist hier kein Brunnen, aber wie eben bereits erwähnt, steht dort hinten ein Wassertank. Und außerdem ist Samara aus einem Fernsehgerät gestiegen.“

„Aber diese Kinder hier steigen aus einem Bus, also brauchst du keine Angst haben.“ Sie kam zu mir hinter den Tisch und legte mir einen Arm um die Schultern. „Und falls sie doch zu zudringlich werden, werfe ich ein paar Gummibärchen. Dann sind sie abgelenkt und du kamst fliehen.“

„Du bist so …“

„Witzig?“

Das war es nicht, was ich hatte sagen wollen, aber ich ließ sie einfach in dem Glauben.

Lucy drückte mich noch einmal an sich, dann löste sie sich wieder. Dabei bemerkte sie die Lederjacke, die neben meiner Tasche lag. „Seit wann trägst du sowas?“

„Das ist nicht meine.“ Ich begann damit die Ringe neben der Schließkassette zu stapeln. „Die gehört Tyrone.“

Als sie den Blick nicht davon abwenden konnte, musste ich schmunzeln. Von wegen sie mochte ihn nicht. „Möchtest du sie ihm geben?“

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, griff dann aber nach der Jacke. „Gute Idee.“

So durchschaubar. „Du magst ihn also doch.“

„Träum weiter. Ich mache das nur wegen dir.“

Ich glaubte mich verhört zu haben. „Wegen mir?“

„Na klar, Feindforschung. Kümmere dich um deine Freunde, aber noch mehr um deine Feinde.“

Okay, jetzt war sie völlig übergeschnappt.

„Und um alles zu erforschen, steckst du ihm dann die Zunge in den Hals“, schmunzelte Diego.

O-kay, irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht auf dem neusten Stand zu sein. „Hab ich irgendwas verpasst?“ Ich sah von Diego zu Lucy, die so tat, als hätte sie den letzten Kommentar nicht gehört.

„Als ich sie heute morgen eingesammelt habe, habe ich sie dabei erwischt, wie sie mit dem Kerl Speichel ausgetauscht hat“, beantwortete Diego meine Frage.

„Übertreib mal nicht“, sagte Lucy. „Das war kaum mehr als ein kleines Küsschen.“

Ich warf einen der Ringe nach ihr. „Du Luder!“

Lucy gab sich gleichgültig. „Wie bereits gesagt, das ist nichts weiter als Feindforschung. Ich muss schließlich auf meine Freundin aufpassen.“

„Klar, alles nur für mich.“

Sie warf mir einen äußerst seltsamen Blick zu. „Wenn du nur wüsstest, wie recht du damit hast.“

„Ähm … was?“

„Egal.“ Sie zog sich die Lederjacke über, obwohl es dafür eigentlich viel zu warm war und wandte sich dann der Meute der Zwerge zu, die den Platz wie eine Plage zu überschwemmen drohte.

Zu meiner Erleichterung konnte ich feststellen, dass nicht nur Kobolde die Festwiese stürmten. Da waren auch ein paar Halbwüchsige und Teenager dabei. Von den Erziehern einmal ganz abgesehen. Und je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Vielfalt der Besucher. Viele von ihnen waren Angehörige und Bekannte der Studenten. Doch genauso viele waren durch die verteilten Flyer auf dieses Veranstaltung aufmerksam geworden.

Leider schien Ringe-werfen ein wahrer Magnet unter den Kleinsten von ihnen zu sein und so hatte sich schon bald eine ganze Schlage vor unserem Stand versammelt und wartete darauf, bedient zu werden.

Wie sich zu meiner Verwunderung herausstellte, war es Lucy, die am besten mit ihnen klar kam. Geduldig sprach sie mit den Kleinen und half ihnen, wenn sie das Ziel mehr als einmal verfehlten.

Ich konnte nur Staunen. Irgendwann würde sie sicher mal eine gute Mutter abgeben.

Zwischendurch versuchten immer mal wieder Jugendliche und Erwachsene ihr Glück bei uns. Ein besonders dreistes Ekel, das vielleicht sechzehn Jahre alt war, grapschte mir doch tatsächlich an den Hintern, als ich ihm einen einen Preis vom Harken holen wollte.

Ich funkelte ihn an. „Noch so 'nen Ding, Augenring“, drohte ich.

Der Typ lächelte mich an. „Hey, immer schön locker. Ich will mich auf diesem Kindergatrenfest doch nur ein wenig amüsieren.“

„Ich gehöre aber nicht zum Angebot, also unterlasse das gefälligst, wenn du keine gebrochenen Nase riskieren möchtest.“

Die Drohung ließ ich schmunzeln. „Du willst mir die Nase brechen?“

„Ich? Und mir dann wegen dir noch meine Maniküre ruinieren?“ Ich schnaubte, als wäre das völlig abwegig. „Natürlich nicht. Aber er ist nicht so zimperlich wie ich.“ Ich zeigte auf Diego, der sofort seinen besten finsteren Blick aufsetzte. „Und der mag es gar nicht, wenn ich begrapscht werde, also solltest du deine flinken Finger besser unter Kontrolle bekommen.“

Ein Blick auf Diego reichte und der Kerl hob abwehrend die Hände. „Schon gut, nur kein Stress.“ Auf einmal hatte er es sehr eilig seinen Preis entgegen zu nehmen und dann schnell das Weite zu suchen.

Tja Diego war ein verdammt netter Kerl, aber auch nur, solange alle nett zu mir waren.

Lucy schaute ein wenig missgelaunt drein. „Warum drohst du in solchen Situationen eigentlich immer mit Diego?“

„Weil du einfach zu niedlich bist, um Ernst genommen zu werden, bevor dir die Faust ausrutscht. Diego beeindruckt allein durch seine Größe.“

Grummelnd kassierte sie ein junges Mädchen ab und drückte ihr dann fünf Ringe in die Hand. „Das nennt man Diskriminierung.“

„Nein, das nennt man Realität“, widersprach ich sofort und behielt das kleine Mädchen im Auge, dass die Zunge zwischen die Lippen steckte, als sie von der Wurflinie aus den ersten Ring warf. Sie schaffte einen zwanzig-Punkte-Wurf. „Auf dem ersten Blick bist der feuchte Traum eines jeden Mannes und keine Schlägerbraut.“

„Ach ja? Und wem hat man gerade an den Hintern gegrapscht?“

„Mir. Aber auch nur, weil du dich hinter dem Stand verkriechst, wenn die Kunden älter als sechs sind.“

„Ach halt doch die Klappe.“

So viel zum Thema Ehrlichkeit.

Das Mädchen, das gerade ihr Glück versuchte, erreichte am Ende eine Punktzahl von einhundertfünf Punkten und gewann so einen der kleinen Teddybären.

Unser nächster Kunde war wieder ein Mädchen. Nur etwas älter als ihre Vorgängerin. Und viel exotischer. Als ich sie sah, war ich einen kurzen Moment wirklich erstaunt. Ihr Haar war kurz und … gefleckt. Dunkle Rosetten zeichneten sich auf dem kurzen Stoppelhaar ab. Und ihre Augen. Sie erinnerten mich an die Augen von Elvis. Nicht nur die Farbe, auch die Form. Im Sonnenlicht schienen ihre Pupillen sich zu erweitern.

Gott, was hatte ich in der letzten Zeit nur ständig mit den Augen anderer Leute?

Sie grinste und entblößte dabei eine entzückende Zahnlücke.

Lucy erwiderte ihr Lächeln und gab ihr im Austausch für ihr Geld fünf Ringe, mit denen sie ihr Glück versuchen konnte.

Ich überwachte ihre Würfe, aber nur bis einer vertraute Gestalt mir blondem Haar auf uns zukam.

„Hey“ begrüßte ich Tyrone ein wenig zu überschwänglich und gab ich einen Kuss auf die Wange. „Hab mich schon gefragt, ob ihr noch auftauchen würdet.“

Eine seiner Augenbrauen wanderte wissend nach oben.

„Okay, ich habe mich gefragt, ob Ryder noch auftauchen wird.“ Ich schaute auf den leeren Platz neben ihm. „Wohl eher nicht.“

„Die kleine Nervensäge schaut sich gerade ein wenig um“, erklärte er mir.

Klein? Ich hatte gedacht die beiden seien im selben Alter. „Aha.“

Mitfühlend legte er mir eine Hand auf die Schulter. „Egal was da zwischen euch gelaufen ist, er wird sich schon wieder einkriegen. Normalerweise ist er nicht sehr nachtragend.“

Da er nicht wusste was geschehen war, konnte er es leicht sagen. „Da bleibt mir wohl nur zu hoffen, dass du recht hast.“

„Das wird schon wieder“, sagte er lapidar, schien aber nicht ganz bei der Sache zu sein, was wohl daran lag, das er versuchte Lucy unauffällig zu beobachten, die ihrerseits so tat, als wäre ihr seine Anwesenheit völlig egal.

Ich verdrehte die Augen. „Na los“, forderte ich sie auf. „Widme dich wieder der Feindforschung. Diego und ich bekommen das hier schon alleine hin.“

Ein verschmitztes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Nur für dich“, erklärte sie ernsthaft und kam hinter dem Stand hervor.

„Natürlich“, stimmte ich ihr zu und konnte in der nächsten Minute nur noch dabei zuschauen, wie die beiden zwischen den ganzen Besuchern verschwanden.

Leider bemerkte ich erst ein paar Minuten später, was Lucys Abwesenheit für Konsequenzen für mich hatte. Ein kleiner Junge, von vielleicht vier Jahren, tauchte mit einer Erzieherin bei uns auf und nahm nach langem Zureden die fünf Ringe an sich. Leider begann das Problem damit erst. Er traute sich nicht zu werfen, weil er Angst hatte das Ziel zu verfehlen.

Fünf Minuten gab ich der ältere Frau, die ihn und noch drei weitere Kinder begleitete, bevor ich mich einschaltete, damit die Schlange nicht noch länger wurde.

Ich kniete mich direkt neben ihm ins Gras, um so auf gleicher Höhe zu sein. „Ganz schön schwierig“, sagte ich so, dass er es hören konnte.

Er schaute mich mit ausdruckslosem Gesicht an.

„Weißt du was du machen musst?“

Er zögerte, nickte dann aber.

„Aber es macht dich nervös, dass dir alle zuschauen.“

Wieder ein Nicken.

„Wenn du möchtest, dann kann ich dir helfen.“

Er musterte mich einen Moment kritisch, hielt mir dann aber die Ringe vor die Nase.

„Nein, nicht so. Wir machen das zusammen, okay?“ Ich positionierte mich hinter ihm, legte ihm einen Ring in die Rechte Hand und griff dann nach seinem Arm. „So und jetzt holen wir ganz viel Schwung und lassen den Ring dann wie ein Ufo fliegen okay?“

Wieder ein nicken.

„Okay.“ Ich maß den Abstand bis zu dem Gestell, holte dann zusammen mit dem Kleinen Schwung und versuchte ihn dabei so zu lenken, dass der Ring wenigstens halbwegs in die richtige Richtung flog. Wir schafften ganz knapp einen fünf-Punkte-Wurf. „Getroffen!“, rief ich mit viel zu viel Begeisterung, doch dem kleinen Jungen entlockte es ein Lächeln, also musste ich ja irgendwas richtig gemacht haben.

„So, und jetzt versuchen wir in die Mitte zu zielen.“

Wir trafen die Mitte tatsächlich, aber erst beim vierten Versuch. Am Ende hatte er genug Punkte zusammen, um sich ein Kuscheltier auszusuchen. Allerdings wollte der Kleine lieber eines der Spielzeugautos haben. Also gab ich ihm das Kuscheltier und steckte ihm dann noch heimlich das kleine Auto zu.

Diego grinste dabei leise vor sich hin. „Wer hätte gedacht, dass du ein Händchen für Kinder hast?“

Bevor ich darauf antworten konnte, zupfte ein kleines Mädchen an meinem Hosenbein und schaute mich mit großen Augen an. „Hilfst du mir auch?“

Oh mein Gott, war die niedlich! Da konnte ich wohl schlecht nein sagen.

In der nächsten Stunde lernte ich, dass kleine Kinder gar nicht wirklich gruselig waren, nur ein wenig … anders. Mit der Zeit machte es mir sogar Spaß ihnen zu helfen. Nur als ein kleiner Junge mit einer riesigen Rotzfahne bei mir ankam, trat ich dann doch den Rückzug an. Das war eklig.

Aber es waren nicht nur Kinder, die unseren Stand besuchten, auch Erwachsene kamen und ließen ihr Geld bei uns.

Zwischendurch kam Edward Walker an unseren Tisch, um sich zu erkundigen, wie es lief. Ich überließ es Diego mit ihm darüber zu sprechen und beobachtete ihn dabei misstrauisch. Ich hatte nicht vergessen, was ich gehört hatte und auch nicht, wer alles bei ihm gewesen war. Aber ich konnte mir noch immer keinen Reim darauf machen. Dieser Mann war erst vor ein paar Wochen in meinem Leben getreten, was also hatte er mit mir zu tun und warum kommandierte er Leute herum, die ich schon seit Ewigkeiten kannte? Obwohl die bessere Frage ja eigentlich lauten sollte, warum ließen sie sich von ihm herumkommandieren?

Okay, Victoria schien seine Tochter zu sein, da ergab das schon Sinn. Aber das war der nächste Punkt auf meiner Liste. Die Beiden waren verwandt? Sie sahen sich jedenfalls kein bisschen Ähnlich.

Als Eddy sich dann mit einem Lächeln von mir verabschieden wollte, tat ich so, als würde ich es nicht bemerkten und schob ein paar der Preise zurecht, obwohl es eigentlich nichts zum Zurechtrücken gab. Leider bemerkte ich so jemanden anderen, der ganz in der Nähe stand und zu uns herüber schaute.

Ryder.

Die Haare hatte er wie immer im Nacken zu einem Zopf gebunden. Er trug Bluejeans und ein schwarzes Shirt. Und er sah nicht so aus, als wollte er mir in nächster Zeit noch eine Chance geben. Da hatte Tyrone wohl unrecht gehabt, Ryder war doch nachtragend.

Ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Trotzdem tat es weh als er sich abwandte und irgendwo in der Menge verschwand, anstatt zu mir zu kommen, um mit mir zu sprechen.

Diego beobachtete mich von der Seite, während er einen Kunden abkassierte und das Wechselgeld herausgab. „Alles klar bei dir?“

„Natürlich.“

Damit lockte ich wohl ein paar Zweifel bei ihm hervor. „Wie lange kennen wir beide uns jetzt?“

„Oh nein“, sagte ich sofort. „Mach das nicht.

Er schaute etwas verdutzt. „Was mache ich denn?“

„Mir zeigen wie erwachsen du bist, solange bis ich mir dumm und unbedeutend vorkomme und ich nicht mehr anders kann, als mich dir an die Brust zu werfen, um Rotz und Wasser zu heulen.“

Meine bildliche Darstellung ließ ihn schmunzeln. „Okay. Aber wenn du was auf dem Herzen hast, denk dran, ich bin für dich da.“

„Das weiß ich doch“, versicherte ich ihm und hockte mich vor meine Tasche, um nach meiner Wasserflasche zu kramen. Gerade als ich sie an den Mund setzte, hörte ich neben mir etwas klappern und musste feststellen, das mein Handy aus meiner Hosentasche gerutscht war. Toll.

Ich nahm es wieder an mich und steckte es in meine Umhängetasche. Da war es wahrscheinlich sicherer aufgehoben. Dann machte ich mich daran ein paar der herumfliegenden Ringe aufzusammeln, damit für die nächsten Kunden genug Nachschub da war.

Diego gab gerade einen Preis an ein junges Mädchen aus, das bei dem Versuch durch Flirten etwas besseres für sich rauszuschlagen, kläglich versagte.

Ich konnte darüber nur Schnauben. Auf sowas war Diego noch nie angesprungen. Wenn ich nicht wüsste, dass er eine Zeitlang mit Lucy zusammen gewesen war, hätte ich darauf getippt, dass er seine Beute im eigenen Revier jagte. Wie sonst war es zu erklären, dass er sich nie für das andere Geschlecht interessierte? Es würde mich nicht stören. Im Grunde wäre es sogar irgendwie ganz niedlich. Aber seit mit Lucy Schluss war, schien er sich für niemanden zu interessieren. Vielleicht war er ja noch nicht über sie hinweg?

„Warum schaust du mich so an?“

Hm, hier war nicht der richtige Ort, um sowas zu erläutern. „Ich hab gerade darüber nachgedacht, dass du dir vielleicht mal eine Freundin zulegen solltest.“

„Eine Freundin neben dir und Lucy? Die würdet ihr beide doch zerfleischen, bevor sie überhaupt hallo gesagt hat.“

„Oh“, machte ich. „So schlimm sind wir nun aber auch nicht.“

Am Rand der Tischplatte krabbelte ein dicker, schwarzer Käfer herum. Ich fegte ihn mit der rechten Hand fort, bevor er noch in eines der Spielzeuge kriechen konnte. Leider bemerkte ich den halb herausstehenden Nagel erst, als ich mir durch den Schwung dabei die halbe Handfläche an ihm aufriss.

Zischend riss ich den Arm zurück. „Gottverdammt!“, fluchte ich. Das tat saumäßig weh und blutete sofort wie ein abgeschlachtetes Schwein.

„Was ist los?“ Diego klappte sofort die Schließkassette zu und kam zu mir rüber.

„Ich hab mir die Hand an dem blöden Nagel aufgerissen.“

Vorsicht nahm Diego meine Hand in seine und schaute sich den blutenden Cut in der Handfläche an. Er war bestimmt zwei Zentimeter lang. „Das sollten wir ausspülen.“

„Wir können den Stand nicht allein lassen“, gab ich sofort zu bedenken.

Diego schaute zu der kurzen Schlange vor unserem Stand. Von Lucy war weit und breit nichts zu sehen. Genaugenommen war sie bereits verschollen, seit Tyrone hier aufgetaucht war und ich glaubte auch nicht daran, das wir die so schnell wiedersehen würden.

„Bleib du hier“, sagte ich deswegen. „Ich verschwinde kurz aufs Klo.“

„Ich Ordnung.“ Er gab mein Hand wieder frei, kramte aber noch ein sauberes Taschentuch aus seiner Hose hervor, dass er mir vorsichtig in die Handfläche legte.

„Bin gleich wieder da.“ Ich schlängelte mich hinter dem Tisch hervor und suchte mir dann einen Weg zwischen den Ständen und Besuchern hindurch. Das Fest war mittlerweile voller, als ich es für möglich gehalten hatte und so kam ich nur langsam voran. Würde meine Hand nicht so schmerzen, würde ich mich auch gar nicht beschweren, aber so war es einfach nur ärgerlich.

Das Taschentuch hatte sich bereits mit Blut vollgesogen und ich kam mir vor wie eine Darstellerin aus einem meiner Horrorfilme. Blöder Nagel, blöder Käfer.

Es dauerte fast zehn Minuten, bis ich in die Frauentoilette im Verwaltungsgebäude trat und dort direkt an die Waschbecken streben konnte. Den Wasserhahn aufzudrehen war allerdings etwas umständlich, da ich kein Linkshändler war. Ich hatte bereits die halbe Amateur mit meinem Blut beschmiert, und bisher nur einen kleinen Wasserstrahl zustande gebracht, als hinter mir die Tür geöffnet wurde.

Schritte nährten sich, aber ich schaute erst auf, als eine Hand nach dem Kaltwasserregler griff und ihn für mich voll aufdrehte.

„Was hast du angestellt?“, fragte Ryder.

„Ach, du redest wieder mit mir?“ Ich zupfte vorsichtig das Taschentuch von meiner Hand und hielt sie dann unter den Strahl. Mittlerweile war der Schmerz zu einem heftigen Pochen geworden und es tat gut, die Wunde ein wenig zu kühlen.

Er rupfte ein paar Papierhandtücher aus der Spenderbox und legte sie mir neben das Waschbecken. „Ich habe nie aufgehört mit dir zu reden.“

Wie bitte?! „Du leidest wohl an Gedächtnisschwund. Seit gestern Abend versuche ich dich zu erreichen, um mich bei dir zu entschuldigen, aber du hast jeden meiner Anrufe gekonnt ignoriert. Und als ich bei Tyrone angerufen habe, hast du mir aufgezeigt, dass ich mir meine Versuche genauso gut in den Arsch schieben kann.“ Ich griff mir ein paar der Papierhandtücher, machte sie nass und drückte sie mir viel zu grob in die Handfläche. „Und jetzt stehst du hier und behauptest, dieses Schweigen habe ich mir nur eingebildet?“

„Lass mich das machen, du tust dir nur weh.“ Er zog meine Hand unter dem Strahl hervor und entfernte vorsichtig das aufgeweichte Papier. „Ich habe Zeit zum Nachdenken gebraucht“, sagte er dann leise. „Ich wollte dich nicht zurückweisen, oder verletzten, ich musste mir nur selber über ein paar Dinge klar werden.“

„Ach und jetzt ist wieder alles in Ordnung? Oder rennst du gleich wieder davon und strafst mich mit Schweigen?“

Ryder griff nach einem sauberen Papiertuch und begann damit sehr vorsichtig die Ränder der Wunde abzutupfen. „Ich habe dich nicht bestrafen wollen.“

„Aber das war es, was du getan hast“, warf ich ihm vor. „Tyrone war bereits vor zwei Stunden bei uns am Stand gewesen, was heißt, dass auch du die ganze Zeit hier warst, aber bist du zu mir gekommen? Nein. Stattdessen hast du mich einen Moment aus er Ferne angeglotzt und bis dann wieder abgetaucht.“

Aus irgendeinem Grund zuckte sein Mundwinkel. „Kannst du dir vorstellen, dass ich einfach unsicher war und nicht wusste, wie ich mich dir näheren sollte?“

Ryder und unsicher? „Schwer.“

Er schnaubte belustigt. „Ich mag dich Prinzessin, aber du hast ziemlich hart an meinem Ego gekratzt. Auch ich stecke so eine Abfuhr nicht einfach weg.“

Das war mir klar, ich war ja nicht dumm. „Aber gerade deswegen hättest du mit mir reden sollen.“

„Vielleicht“, räumte er ein und legte das benutzte Tuch zur Seite. Dann nahm er ein weiteres, faltete es länglich zusammen und wickelte es mir dann vorsichtig um die Hand. „Lass das ein Weilchen drauf.“ Seine Finger strichen über meine und plötzlich war ich einfach nur froh dass er wieder bei mir war.

Natürlich regte sein Verhalten mich noch immer auf, aber wenigstens sprach er wieder mit mir. Damit war es wohl an der Zeit, dass ich ihm eine Erklärung lieferte. „Hör zu. Wegen gestern. Ich wollte …“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Er griff nach dem Wasserhahn und stellte den Strahl ab. „Was da passiert ist … es war nicht deine Schuld. Ich hätte gleich wissen müssen, dass du so reagieren würdest, das liegt einfach deiner Natur.“ Tief einatmend, lehnte er sich mit dem Hintern an den Waschtisch. „Ich hatte nur gedacht … ach keine Ahnung. Es war dumm gewesen.“

Also eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt mich bei ihm zu entschuldigen. Naja, irgendwie schon, aber nicht so wie er sich das vorstellte. Eigentlich wollte ich ihm erklären, was passiert war und dass ich mehr oder weniger gar nichts dafür konnte, dass ich erst realisiert hatte, was ich da tat, als es schon geschehen war, aber seine Worte verwirrten mich. Seine Schuld? Von was für einer Natur sprach er? „Was war dumm gewesen?“

Er machte ein Geräusch, eine Mischung aus Schnauben und Lachen, klang dabei aber nicht wirklich belustigt. „Wenn ich dir das sage, würdest du mich für verrückt halten.“

„Versuch es doch einfach mal.“

Einen langen Moment schaute er mich einfach nur mit diesen wunderschönen Augen an. Es schien so, als würde er jedes Wort das ihm auf der Zunge lag, genau abwiegen. „Ich dachte, dass genug Mensch in dir wäre, damit du es mit mir aushalten könnest, aber wie wir gesehen haben, habe ich mich da gründlich getäuscht.“

Ähm … ja, so viel zu dem Versuch. „Tut mir leid, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, was du mir damit sagen möchtest.“

Er musterte mich. „Wie lautet dein Nachname?“

„Was?“ Was hatte denn jetzt mein Familienname damit zu tun?

„Dein Nachname, wie ist der?“

„Amarok.“

„Weißt du was das bedeutet?“

„Nicht wirklich“, musste ich zugeben. Ich hatte mir nie viel Gedanken über Namensbedeutungen gemacht.

„Der Name Amarok ist indianischer Herkunft. Genaugenommen bezeichnet er einen riesigen mystischen Wolf aus dem Glauben der Inuit, von dem man sagt, er fresse jeden, der töricht genug sei bei Nacht allein jagen zu gehen.“

Oh-kay. „Das heißt ich stamme von Indianern ab? Hast du mich mal angeschaut? Ich bin nicht nur blond, ich bin blonder als blond und werde selbst auf einer Sonnenbank nur bedingt braun.“

Das entlockte ihm ein kleines Lachen. „Das hast du den Genen deines Vaters zu verdanken. Deine Mutter sieht ganz anders aus, oder?“

Da hatte er recht. Meine Mutter war eine exotische Schönheit. Aber gleich eine Indianerin? Moment, Inuit waren doch Eskimos, oder? Bedeutet das jetzt, ich war ein europäischer Eskimo? „Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.“

„Nein“, sagte er leise. „Das kannst du auch gar nicht. Und genau da liegt das Problem.“

Ahja, das ergab absolut keinen Sinn, was bedeutete, dass ich jetzt wohl dumm sterben musste. Konnte er nicht einfach mal Klartext reden? Das war doch echt nervig.

Er sah auf meine Hand. „Tut es noch weh?“

Ich schaute auf den notdürftigen Verband. „Ich werde es überleben.“

Ein mildes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Das sind doch mal gute Neuigkeiten.“

Der sanfte Ton in seiner Stimme, berührte etwas tief in mir und auf einmal bekam ich meinen Blick nicht mehr von seinen Lippen weg. Sofort lauerte wieder dieses neuerliche Gefühl direkt unter meiner Haut. War es vielleicht Angst? „Weißt du, als ich damals Yannick kennenlernte, habe ich mich Hals über Kopf in ihn verknallt und das leider auch sehr offensichtlich. Immer wenn er in meine Nähe war, hatte ich plötzlich zwei linke Füße und bin praktisch nur noch von links nach rechts gestolpert. Und als er mich dann um eine Verabredung gebeten hat … Mann.“ In der Erinnerung daran schüttelte ich lächelnd den Kopf. „Ich war so peinlich gewesen, aber ich habe mich halt einfach gefreut und bin praktisch zum Treffpunkt getanzt. Aber als ich dann am Treffpunkt angekommen bin, musste ich mit ansehen, wie er mit Elena knutscht.“

„Darum verabscheust du sie so.“

„Es hat einfach verdammt wehgetan. Ich bin auch direkt wieder abgehauen und hab mich bei Lucy vergraben. Ich wollte nie wieder etwas mit diesem Mistkerl zu tun haben. Doch ein paar Tage später habe ich von eine Schulkameradin gehört, dass nicht er sie sondern, sie ihn geküsst hat und nach einigem hin und her im meinem ganz persönlichen Teeangerdrama, haben wir uns doch noch getroffen.“ Wieder ließ mich die Erinnerung lächeln, aber nur bis ich an das Ende dachte. „Aber dann verschwand er einfach von heute auf morgen und hatte ich vorher schon geglaubt, es hätte wehgetan, so wurde ich nun eines besseren belehrt. Als Yannick verschwunden ist … meine halbe Welt ist zusammengebrochen.“

Ich schaute ihm direkt in die Augen und zögerte mit meinen nächsten Worten. Wenn ich da nun sagte, würde ich damit meine Karten offen auf den Tisch legen. Aber war er mir gegenüber nicht auch offen gewesen? Es war ihm sicher nicht leicht gefallen, mit von seinem angekratztem Ego zu erzählen. „Du wirst nicht einfach verschwinden, oder?“, fragte ich sehr leise und offenbarte ihm damit meine wohl größte Angst.

„Bisher bin ich doch auch immer wieder aufgetaucht.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. Ich rückte ein wenig näher. „Versprichst du es mir?“ Zögernd legte ich ihm eine Hand an die Wange. „Versprichst du mir, dass du dich nicht einfach in Luft auflösen wirst?“

Jede Spur von Humor schwand. „Solange du es möchtest, werde ich immer wieder kommen“, sagte er leise. „Mein Wort darauf, Prinzessin.“

Unsere Gesichter waren nur noch ein Hauch voneinander entfernt. Ich konnte seinen Atem schmecken. „Das ist gut“, flüsterte ich und dann küsste ich ihn.

Ein kleiner Teil in mir brüllte auf. Ich ignorierte ihn. Meine größte Angst in diesem Moment war, dass er mich zurückstoßen würde, so wie ich es mit ihm getan hatte, aber stattdessen spürte ich, wie er den Kuss nach einem überraschten Zögern erwiderte und ein damit ein Kribbeln durch mein Körper jagte, das ich bis in die Zehenspitzen fühlen konnte.

Sein Geruch füllte meine Lunge, seine Wärme verschmolz mit meiner, als ich mich an ihn lehnte und den Kuss vertiefte. Seine Lippen waren so weich. Und dieser Geschmack. Mein Kopf begann zu summen und nichts außer seiner Nähe und dieser zarten Berührung schien noch von Bedeutung zu sein.

Oh Gott, sowas hatte ich noch nie gefühlt. Es war einfach nur … intensiv und fühlte sich unglaublich toll an.

Ich spürte wie seine Hand sich in mein Kreuz legte und mich näher an sich drückte, während seine Lippen ein Prickeln nach dem anderen über meine Haut jagten und ich nichts mehr anderes, als das hier spüren wollte. Seine Nähe, seine Wärme, seinen Mund. Oh Gott, dieser Mund. Sowas hatte ich noch nie erlebt.

Als seine zweite Hand ihren Weg in meinen Nacken fand, lösten sich meine Lippen von seinen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und als ich sah, wie rot seine Lippen von unserem Kuss waren, musste ich unwillkürlich lächeln. „Weißt du, ich denke ich kann es doch mit dir aushalten“, flüsterte ich leise.

Dieses Mal war er es, der mich küsste und er ging dabei keinesfalls so vorsichtig vor, wie ich es getan hatte. Seine Lippen waren ein Sturm, der versuchte mich zu erobern und sich gegen mich drängten, als würde er fürchten, dass ich ihm sonst einfach entglitt.

Das Untier in mir brüllte auf, wollte mich dazu bewegen, ihn von mir zu stoßen, aber je länger dieser Kuss dauerte, umso leiser wurde es, bis es schließlich ganz verstummte.

Bis zu diesem Moment hatte ich keine Vorstellung davon gehabt, wie es im Himmel war, doch dies hier gab mir einen sehr nachhaltigen Vorgeschmack darauf. Es war einfach nur … wow.

Meine Finger wühlten sich in sein Haar, glitten durch den kleinen Pferdeschwanz. Sein Haar war so weich. Ich konnte seinen schnellen Herzschlag an meiner Brust fühlen. All meine Sinne waren erfüllt mit Ryder.

Als seine Lippen einen Pfad meinen Hals hinunter küssten, jagte mir ein heißer Schauder über den Rücken. Doch dann hielt er an. Sein Atem ging schneller und immer wenn mich der warme Hauch traf, prickelte es auf meiner Haut. „Was machst du nur mit mir?“, hauchte er an meiner Halsbeuge.

Ich weiß nicht ob die Frage ernst gemeint war, aber ich hatte vor sie zu beantworten. Ich umfasste sein Kinn, sodass er mich ansehen musste. Seine Augen waren von der Glut zwischen uns verschleiert und er wirkte so offen. Er vertraute mir und ich vertraute ihm. „Das“, antwortete ich und küsste ihn gieriger als zuvor.

Mit einem Mal wusste ich bis tief in meine Zellen, er gehörte mir. Es war egal was geschehen war, oder was noch kommen würde, ich würde ihn nie wieder gehen lassen.

Als er stöhnte, nutzte ich seine geteilten Lippen, um den Kuss aufs nächste Level zu heben. Ich wollte das die Welt um uns herum verblasste, bis es nichts mehr außer diesem Moment gab.

Er hieß mich nicht nur willkommen, er drückte mich sogar noch fester an sich. Seine Hand grub sich mein Haar, hielt mich fest und gab mir das Gefühl, dass er mich nie wieder loslassen würde.

Es war nicht nur ein Genuss, es hatte beinahe etwas Episches. Ich konnte ewig so weiter machen und mich einfach nur in ihm verlieren.

Ich biss ihm sanft in die Lippe, glitt mit der Zunge in seinen Mund, fuhr über seine Zähne. Es pickte, als wäre ich gegen eine Nadel gekommen. Schmerz zuckte durch meine Zunge und weswegen ich ich instinktiv den Kopf zurück riss.

Er erstarrte.

Was zur Hölle …

Verwundert schaute ich ihn an. Der plötzlichen Geschmack nach Blut fand ich irritierend, genau wie das Piksen selber.

Ryder wirkte mit einem Mal ziemlich nervös. Der verträumte Glanz versiegte einfach und er schien mir nicht mehr in die Augen schauen zu wollen. „Wir sollten aufhören und mal nachschauen, was die anderen so treiben.“ Er wollte mich von sich schieben, aber ich hielt mich an seinen Schultern fest. „Cayenne …“

„Nein.“ So einfach würde ich mich nicht abschieben lassen, besonders nicht jetzt. „Was war das gerade?“

Er antwortete nicht, drückte nur die Lippen aufeinander.

Was war gerade geschehen? Ich hab ihn geküsst, war mit der Zunge an seine Zähne gekommen und die waren spitz wie eine Nadel. Wie bei einem … okay, jetzt schnappte ich wirklich über. Aber ich hatte es doch gespürt, oder nicht? Den Kratzer auf meiner Zunge merkte ich noch immer, auch wenn er seltsamerweise leicht taub war.

„Lass uns einfach gehen, okay?“

„Nein.“ So bekloppt das auch sein mochte, ich musste es wissen. „Mach den Mund auf.“

Das tat er nicht.

Na klasse, er stellte sich stur. „Ryder, mach den Mund auf. Bitte.“

Er tat nichts dergleichen, schaute mich nur an und ließ seinen Mund fest verschlossen.

Aber ich wollte es wissen. So absurd es auch war – und das war es – ich musste es wissen, einfach weil er sich mit einem Mal so seltsam verhielt. Nur darum schob ich meinen Finger nach einem prüfenden Blick zwischen seine Lippen.

Er tat nichts, um mich aufzuhalten, doch seine Augen schlossen sich, als würde er seinen Widerstand einfach aufgeben.

Vorsichtig tastete ich an seinen Zähnen entlang, bis ich auf … ich riss meine Hand zurück. Fassungslos starrte ich ihn an. Das war ich da gefühlt hatte, konnte einfach nicht real sein. Dafür musste es eine einleuchtende Erklärung geben. Natürlich gab es die, da war ich mir sicher. Trotzdem. „Ich will es sehen.“ Meine Stimme war kaum ein flüstern.

Seine Augen öffneten sich langsam.

„Mach den Mund auf, Ryder.“

Er zögerte, sehr lange sogar. Doch dann kam er meiner Aufforderung langsam nach. Erst war es nur ein kleiner Spalt, doch je weiter sein Kiefer sich nach unten bewegte, desto deutlicher wurde das sichtbar, was ich gespürt hatte.

Reißzähne. Das was sich dort direkt vor meinen Augen offenbarte, waren lange und dünne Reißzähne. Und sie wirkten messerscharf.

 

 

°°°°°

Vermächtnis

 

Das musste eine Täuschung sein. So etwas gab es nicht. Nicht mal mit der heutige Chirurgie bekam man sowas hin, dafür wirkten sie einfach zu … echt.

Es war dieser Gedanke, der mich vor ihm zurückschrecken ließ, doch ich schaffte es nicht mal mich von ihm zu lösen, denn sobald ich auch nur mit einem Muskel zuckte, wurde der Griff um meinem Rücken fester.

„Nicht“, sagte er leise. „Hab keine Angst.“ Ohne mich aus den Augen zu lassen, nahm er meine verletzte Hand in seine. Irgendwann während unseres Kusses, hatte sich der provisorische Verband gelöst und so lag die frische Wunde nun offen und ungeschützt vor ihm. Sehr langsam hob er sie an seinen Mund.

Ich konnte nur ungläubig dabei zuschauen, wie er einen zarten Kuss direkt auf die Wunde drückte und dann vorsichtig mit der Zunge darüber leckte. Aber er benutzte nicht nur die Zunge, auch seine Reißzähne schabten über die Haut und drangen dann sogar ganz kurz und schmerzhaft in die Wunde ein.

Fast schon panisch wollte ich meine Hand wegreißen, aber er hielt sie mit seinem eisernen Griff fest und fuhr noch ein zweites Mal mit der Zunge darüber.

Mein Herz hämmerte regelrecht gegen meine Brust.

Die Wunde wurde taub. Gleichzeitig konnte ich in dem Gewebe auch ein Kribbeln spüren.

Während er tat was er tat, ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Und doch bemerkte er erst, dass ich ausholte, als meine Hand in sein Gesicht klatschte und ich mich von ihm losriss.

Ich zögerte keine Sekunde, wirbelte einfach nur herum und stürzte zur Tür, doch noch bevor ich die Klinke auch nur berühren konnte, stand Ryder bereits wieder vor mir und verstellte mir meinen Fluchtweg.

Er wollte mich nicht gehen lassen. Oh Gott, er ließ mich hier nicht raus!

Panisch wich ich vor ihm zurück, bis ich mit dem Rücken zu den Waschbecken stand. Er hatte an meiner Hand geleckt. Er hatte … diese Reißzähne … oh Gott!

Langsam, als wollte er ein scheues Tier beruhigen, hob er die Hände. „Prinzessin …“

Ich schüttelte den Kopf. Egal was er zu sagen hatte, ich wollte es nicht hören. Er war ein … er war … ich konnte es nicht einmal denken. Das war einfach zu abwegig.

Ryder trat einen Schritt auf mich zu, blieb aber sofort wieder stehen, als ich ein Wimmern von mir gab. „Hör mir bitte zu“, sagte er sehr ruhig. „Ich tue dir nichts, ich möchte nur dass du mir zuhörst, okay?“

Aber ich wollte ihm nicht zuhören. Genaugenommen wollte ich nicht mal mehr in der selben Stadt mit ihm sein.

Unauffällig suchte ich nach irgendeiner Waffe, um mich verteidigen zu können, aber da war nichts. Nur eine Klobürste und so ekelig die auch war, die würde ihn bestimmt nicht davon abhalten, sich auf mich zu stürzen und sich an meiner … nein nein nein, ich musste hier dringend raus!

„Ich tu dir wirklich nichts“, betonte er noch einmal. „Ich bin noch immer der Selbe, du brauchst keine Angst vor mir haben.“

„Keine Angst“, flüsterte ich und hätte fast gelacht doch allein sein Anblick lähmte mich. „Keine Angst“, wiederholte ich und konnte spüren, wie meine Augen zu brennen begannen. Eine Träne rollte über meine Wange. „Ich soll keine Angst haben?!“, schrie ich ihn an. „Du bist ein scheiß …“ Ich stockte. Nein so etwas gab es nicht. Dafür musste es eine andere Erklärung geben. Das war nur ein Traum. Ja genau, das musste ein echt schräger Traum sein.

„Ich bin ein Vampir“, vollendete er meinen Satz. „Ja, das ist richtig, aber du hast nichts vor mir zu befürchten. Ich würde dir niemals etwas tun, verstehst du? Ich bin keine Gefahr für dich.“

„Keine Gefahr?“, fragte ich viel zu schrill. „Ich sitze hier mit einer wandelnden Leiche und soll keine Angst haben?“

Ryder schnaubte abfällig. „Das ewige Hollywood mit seinen ständigen Fehlinterpretation kann ein echt auf die Nerven gehen.“ Er lächelte mich vorsichtig an, seufzte dann aber, als er merkte, dass ich keineswegs belustigt war. „Ich bin keine Leiche. Ich habe ein schlagendes Herz und kann sterben, genau wie du und jedes andere Lebewesen.“

Ein schlagende Herz. Ja. Erst vor ein paar Minuten hatte ich es gespürt. Als mir klar wurde, wie nah ich ihm gewesen war, wurde mir auf einmal schlecht. „Du kannst sterben.“ Das war keine Frage, sondern eher so etwas wie erlösende Worte in meinen Ohren. Er konnte sterben, ich brauchte nur eine Waffe.

„Ja, ich kann und irgendwann werde ich das auch.“ Er streckte die Hand nach mir aus, als wenn er mich berühren wollte und kam einen Schritt näher.

„Bleib weg von mir!“

Er hielt sofort wieder an. Sein Hirn schien auf Hochtouren zu arbeiten. „Bitte, hör mir einfach nur zu. Ich habe dir in den letzten Wochen nichts getan und habe auch jetzt keinen Grund dazu.“

„Doch den hast du“, widersprach ich sofort, ohne überhaupt darüber nachdenken, was da aus meinem Mund kam. Eine weitere Tränen lief über meine Wange und hinterließ eine feuchte Spur. „Ich kenne jetzt dein kleines Geheimnis, ich könnte dich verraten.“

„Kein Mensch würde dir glauben.“

Vermutlich nicht.

„Und die Anderen, würde es nicht interessieren.“

Die anderen. Aber natürlich. Er war nicht der einzige.

Aus meinem Mund kam ein ersticktes Schluchzen. Ich musste hier raus, bevor er mir etwas tun konnte. Er war ein … er war ein … oh Gott, ich saß hier mit einem Vampir fest!

„Bitte, ich möchte nur reden. Hier.“ Aus den Tiefen seiner Hosentasche zauberte er ein Taschenmesser hervor und bevor ich noch irgendeine Chance hatte darauf zu reagieren, warf er es mir direkt vor die Füße. „Jetzt kannst du dich verteidigen. Hörst du mir jetzt zu?“

Unsicher schaute ich von ihm zu dem Messer, versuchte abzuschätzen, wie lange ich brauchen würde, um danach zu greifen und wie er dann reagieren würde.

„Nimm es ruhig.“

Ich zögerte, ließ mich dann aber sehr langsam in die Hocke sinken und tastete blind den Boden ab, biss ich es zu fassen bekam. Ich wollte ihn nicht aus den Augen lassen. Auch als ich mich wieder aufrichtete, ging ich dabei sehr langsam vor. Ich wollte keine schnellen Bewegungen riskieren, die ihn auf falsche Gedanken brachten.

Meine Finger zitterten, als ich das Messer aufschnappen ließ. Es war nicht besonders groß, würde seine Wirkung aber nicht verfehlen, wenn es darauf ankam. Vielleicht schaffte ich es, mich an der Wand entlang zurück zur Tür vorzuarbeiten.

Ryder ließ mich keinen Moment aus den Augen. „Gut“, lobte er mich. „Jetzt kannst du dich verteidigen, okay? Also hör mir bitte einfach zu. Ja, ich bin ein Vampir, aber wir sind nicht die blutrünstigen Monster, als die wir immer dargestellt werden. Eigentlich sind wir sogar ziemlich zivilisiert. Wir sind nicht übernatürlich oder so, wir sind einfach eine weitere Spezies auf diesem Planeten, die unbemerkt zwischen den Menschen …“

„Trinkt ihr Blut?“

Er stockte, zögerte, nickte dann aber. „Du hast es doch gerade selber gesehen.“

Meine Hand. Automatisch warf ich einen Blick darauf und … ach du Scheiße. Die Wunde sah aus, als wäre sie schon mindestens eine Woche alt. „Aber …“ Ungläubig schaute ich von meiner Hand zu ihm. Das konnte doch nicht sein, sowas gab es einfach nicht. Keine Verletzung konnte innerhalb von Minuten so stark heilen. „Wie ist das möglich?“, fragte ich mehr mich selber, als ihn.

„Ich könnte jetzt anfangen von Enzymen, Zellerneuerung und beschleunigtem Wachstum zu reden, aber um es in verständlichem Worten auszudrücken, mein Speichel hat eine heilende Wirkung.“

„Von wegen nicht übernatürlich.“ Meine Stimme bebte. Ich wollte hier raus, schnellstens. Langsam schob ich mich an den Waschbecken entlang, das Messer vor mir ausgestreckt, um mich im Notfall verteidigen zu können.

„Jede Spezies hat etwas Besonderes.“

„Keine trinkt Blut!“, schoss ich zurück.

„Doch. Es gibt eine Fledermausart, die sich ausschließlich von Blut ernährt. Wir tun das nicht, wir nehmen auch normale Nahrung zu uns, aber wir brauchen auch Blut, um bestimmte Nährstoffe zu erhalten.“

„Schmarotzer!“

Das hatte gesessen.

„Und das von einer Kreatur, die den Planeten ausbeutet, wo sie nur kann.“ Seine Stimme war gefährlich ruhig und in mir schrillten alle verfügbaren Alarmglocken. So hörte ich mich immer an, wenn ich richtig sauer war.

„Wir saugen niemandes Blut.“

„Nicht so wie wir Vampire, aber auch ihr saugt Laben aus. Nehmt euch was ihr wollt, zerstört alles wo ihr euch auch niederlasst, also tu nicht so, als wärst du etwas Besseres als ich. Ich bin anders, als die Menschen, werde älter, habe besondere Fähigkeiten, aber …“

„Wie viel?“

„Was?“

„Wie viel älter werdet ihr?“

Diese Augen. Vom ersten Moment an hatten sie eine faszinierende Wirkung auf mich ausgeübt. Sie strahlten eine Macht aus, die ich mir nicht erklären konnte, zumindest bis jetzt. „Unser Stoffwechsel ist anders. Wenn nichts dazwischen kommt, können wir die doppelte Lebenspanne eines Menschen erreichen.“

Für einen Moment war ich sprachlos. Das war wirklich kaum zu fassen. „Und du bezeichnest euch als nicht übernatürlich?“

Er zuckte mit den Achseln. „Es gibt Schildkröten, die haben eine ähnliche Lebenserwartung.“

„Du bist aber keine Schildkröte!“

„Nein, ich bin ein Vampir, ob es dir nun gefällt oder nicht.“

Es gefiel mir definitiv nicht. Ich rutschte weiter an der Wand entlang, das Messer vor mir ausgestreckt. Tränen liefen mir lautlos übers Gesicht. Ich wollte aufhören zu heulen, aber es ging einfach nicht.

„Prinzessin, bitte“, sagte er. „Ich bin immer noch der derselbe, der ich vor ein paar Minuten war.“

Vor ein paar Minuten, als ich noch wild mit ihm herumgeknutscht hatte und glaubte, mich im Himmel zu befinden. Doch jetzt steckte ich tief in der Hölle und wusste nicht was ich tun sollte.

Wie hatte das nur passieren können? Wie war ich in dieser Absurdität gelandet, wo ich mich eben noch …

Auf einmal stockte ich. Das was er zu mir gesagt hatte … der Grund, warum er mir nicht die Schuld gegeben hatte … „Was ist mit mir?“, fragte ich leise, obwohl ich mich vor der Antwort fürchtete.

Mit dieser Frage konnte er nichts anfangen. „Was soll mit dir sein?“

„Ich bin kein … du hast gehofft, dass in mir genug Mensch ist, damit ich … ich bin nicht …“

„Wie ich? Nein.“ Er lachte freudlos. „Nein, du bist kein Vampir. Gott wäre das schön wenn du einer wärst. Das würde vieles einfacher machen, obwohl wir uns dann wahrscheinlich nie begegnet wären. Aber um dich zu beruhigen, nein du bist keiner.“

So wie er das sagte, hatte das keinen sehr beruhigenden Effekt auf mich. „Ich bin ein Mensch.“

Er wich meinem Blick nicht aus. „Auch.“

Auch? „Was soll das heißen, auch?“ Nur noch ein kurzes Stück trennte mich von der Tür. Ich musste ihn nur weiter am sprechen halten, dann konnte ich abhauen.

Langsam öffnete er den Mund. „Du bist weitaus mehr, als ein einfacher Mensch.“

„Mehr?“

Einen Moment verfiel er in Schweigen, als müsste er sich selber erstmal die Worte zurechtlegen. „Ich wollte eigentlich nicht, dass du es so erfährst, aber …“

Urplötzlich warf ich das Messer nach ihm.

Ryder duckte sich weg, um nicht davon getroffen zu werden und ich nutzte meine Chance. Ich stürzte einfach an ihm vorbei zur Tür, riss sie auf und gab dann Vollgas. Doch weit kam ich nicht. Schon nach wenigen Metern wurde ich am Arm gepackt und zurückgerissen.

„Nein!“ Mein Schrei hallte durch den ganzen Korridor. Ich begann mich heftig zu wehren und schlug nach Ryder, um von ihm loszukommen, aber er gab mich einfach nicht frei. „Lass mich los!“

„Nein, nicht bevor du mir zugehört hast.“

„Ich will dir nicht zuhören!“, fauchte ich ihn an und zerrte mit aller Kraft. Ich probierte sogar den Trick, den mir Tyrone beigebracht hatte, aber ich kam einfach nicht los.

„Jetzt hör doch mal auf, Cayenne.“

„Nein!“ Ich begann zu schreien in der Hoffnung damit Aufmerksamkeit zu erregen, doch er drückte mir sofort eine Hand auf den Mund und drängte mich mit dem Rücken gegen die Wand, um mich unter Kontrolle zu bekommen.

Mein Atem wurde hektischer. Ich stand kurz vor einer ausgewachsenen Panik und schaffte es einfach nicht mich aus dieser Situation zu befreien.

„Bitte“, flehte Ryder und hob vorsichtig die Hand, um mir die Tränen von der Wange zu wischen. „Glaub mir doch, du hast nichts vor mir zu befürchten. Ich würde dir niemals etwas tun.“

Das konnte ich ihm einfach nicht glauben.

„Nicht schreien, in Ordnung?“ Er beschwor mich nicht nur durch Worte, sondern auch durch seinen eindringlichen Blick. „Ich nehme jetzt meine Hand weg, aber bitte schreie …“

„Was zur Hölle machst du da?!“, donnerte plötzlich eine Stimme durch den Korridor.

Lucy. Sie stürmte den Korridor entlang. Tyrone war direkt hinter ihr.

Ryder war nicht weniger überrascht als ich, sie mit wutverzerrter Mine auf uns zueilen zu sehen.

„Nimm sofort deine Pfoten von ihr, wenn du sie nicht verlieren willst!“

Entgegen meiner Erwartung, ließ Ryder mich tatsächlich los und trat einen Schritt zurück.

Mich hielt nichts mehr. Sobald ich frei war, rannte ich los, direkt auf meine Freundin zu.

„Lucy ist ein Werwolf“, sagte Ryder und brachte mich damit wirksamer zum Stehen, als es jede Wand gekonnt hätte. „Genau wie Tyrone und Diego. Sie alle sind Werwölfe, obwohl sie sich ja lieber als Lykaner bezeichnen.“

Mit weit aufgerissenen Augen schaute ich zu Lucy, die meinen Blick genauso entsetzt erwiderte. Was Ryder da sagte … es konnte nicht stimmen. Ich kannte Lucy seit dem Kindergarten. Sie konnte kein Werwolf sein, das war einfach unmöglich. Und das nicht nur, weil es so etwas nicht gab. Aber es gab ja auch keine Vampire.

„Du lebst in einer Welt von der du nichts weißt“, führte er weiter aus. „Fast jeder in deinem Umfeld ist ein Lykaner und …“

„Bist du bescheuert?!“, fauchte Lucy ihn an. „Wenn du nicht sofort still bist, werde ich dich zum Schweigen bringen!“

Ryder ließ sich nicht einschüchtern. „Zeig es ihr.“

Tyrone schaute unbehaglich zwischen uns dreien hin und her. „Ich glaube nicht, dass dies hier der richtige Ort für so eine Demonstration ist. Vielleicht …“

„Tu es einfach“, forderte Ryder ihn sehr nachdrücklich auf.

Lucy wirbelte zu ihm herum. „Wage es nicht, das ist gegen das Gesetzt!“

„Nein“, widersprach Ryder ihr sofort. „Es ist gegen das Gesetzt Menschen einzuweihen. Aber Cayenne ist kein Mensch. Du hast es doch selber miterlebt, sie ist dabei zu erwachen.“

Unschlüssig sondierte Tyrone den Korridor, als wollte er sichergehen, dass auch kein Unbeteiligter in der Nähe war, der etwas mitbekommen könnte, das nicht für seine Augen bestimmt war. Dann seufzte er ergeben und plötzlich schienen seine Konturen sich zu verschieben. Das Gesicht wurde ein wenig spitzer und da wo die blanke Haut zu sehen waren, sprossen blonde Haare.

Mit einem Wimmern wich ich zurück, bis ich die Wand im Rücken spürte. Das war ein Alptraum. Ich war gefangen in einem Alptraum und schaffte es einfach nicht daraus zu erwachen.

Lucy stieß ihn von sich, sodass er ins Stolpern geriet. „Du sollst das lassen!“, fauchte sie ihn an.

Er schaute sie nur an, wobei das Fell sich unter seine Haut zurückzog und er einen Monet später wieder genauso aussah wie immer. Ein junger Mann, wie es sie zu tausenden gab. Nur das dieser hier nicht wie die anderen war.

Ich glaubte den Verstand verlieren zu müssen.

Mit einem besorgtem Ausdruck, wandte Lucy sich wieder mir zu, doch als sie einen Schritt auf mich zumachte, stolperte ich hastig vor ihr zurück. „Stimmt es?“, fragte ich leise. „Bist du … wie sie?“

Sie sagte nichts und das war mir Antwort genug.

Ich lachte auf und wusste nicht einmal warum. „Meine Freundin ist ein Ungeheuer und ich habe es nie bemerkt.“

„Ich bin kein Ungeheuer.“

„Du verwandelst dich in eine verfluchte Bestie!“, fauchte ich sie an.

Dazu sagte sie nichts, doch die Worte hatten sie getroffen.

„Sie ist keine Bestie“, sagte Tyrone. „Sie ist die gleiche, die sie immer war. Du entdeckst nur gerade eine Seite an ihr, die dir bisher fremd war.“

Ja, so könnte man es natürlich auch ausdrücken. „Eine Seite, die ihr alle vor mir versteckt habt.“ Plötzlich machten meine eigenen Worte mir etwas sehr bewusst. „Das ist es, oder?“, fragte ich leise. „Das ist der Grund, warum ihr versucht habt, mich von ihnen fernzuhalten.“

„Das ist unsere Aufgabe“, erklärte Lucy schlicht. „Wir sind hier um dich zu beschützen.“

„Nein“, widersprach Ryder sofort. „Ihr seid da, um sie versteckt zu halten.“

„Sei still, du Scheißkerl!“, fauchte Lucy ihn an. „Du hast für einen Tag genug angerichtet! Wie konntest du ihr das nur sagen!?“

„Ich habe nichts gesagt, sie hat es allein herausgefunden.“

Ja, indem ich ihn geküsst hatte. Oh Gott, ich hatte ein Monster geküsst. Und nicht nur das. Meine Gefühle für ihn … nein!

Auf einmal erinnerte ich mich an einen große, braune Fellnase. „Der Hund aus der U-Bahn.“

„Das war mein Schwager“, erklärte Tyrone sofort. „Wir hatten bemerkt, dass du dabei warst dich zu verändern und wollten dich in dieser Vollmondnacht nicht allein durch die Gegend fahren lassen.“

Vollmond. Dieses Wort brannte sich in mein Hirn. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Soll das heißen … bin ich …“ Nein, ich schaffte es nicht, das über meinen Lippen zu bringen.

„Du bist ein Misto“, sagte Ryder. „Ein Mischwesen. Genaugenommen ein halber Lykaner. Dein Vater war ein Mensch, aber deine Mutter …“

Lucy machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. „Wenn du nicht endlich die Schnauze hältst, dann werde ich sie dir stopfen!“

Ryder fixierte sie. „Nur zu, Umbra, schauen wir mal, wie wie gut dir das gelingt.“

Die beiden funkelten sich an.

Ein Misto, ein halber Werwolf. Mein Vater war ein Mensch, aber meine Mutter … meine Mutter nicht.

Meine Beine gaben unter mir nach. Ich sackte einfach an der Wand zusammen und drückte meine Handflächen an meine Schläfen. Ich war kein Mensch, ich war … ein Monster. Und ich hatte es nicht einmal gewusst.

Ich glaubte nicht, dass ich heute noch mehr verkraften konnte, aber Tyrone war plötzlich unerbittlich. „Du musst wissen, Cayenne, deine Mutter ist nicht irgendein Lykanthrop, sie ist die Tochter von König Isaac und Königin Geneva, die Alphas des größten Rudels der verborgenen Welt, was dich automatisch zu einer Prinzessin der Lykanthropen macht.“

„Prinzessin Cayenne Amarok“, ergänzte Ryder. „Zweite in der Thronfolge der Werwölfe, Titel durch Blut.“

Isaac. Das war der Name, der zwischen Victoria und meiner Mutter gefallen war, der Name meines Großvater. Plötzlich ergab so Vieles einen Sinn, aber das machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil sogar.

Obwohl an dieser Situation absolut nichts komisches war, begann ich zu kichern. Vielleicht verlor ich ja gerade meinen Verstand, aber mal ehrlich, ich sollte eine Prinzessin sein? Und noch dazu eine Prinzessin von Bestien, die es eigentlich nur in Film und Fernsehen geben durfte?

Das war nicht nur lächerlich, das war völlig abwegig. „Ich bin ein Mensch“, flüstere ich, um mir das selber klar zu machen. „Ihr verascht mich nur.“ Ein Witz. Ein riesiger Spaß auf meine Kosten. Ich konnte kein Werwolf sein, dass hätte ich doch bemerkt. Und eine Prinzessin? Das war einfach nur lachhaft. „Ich bin Cayenne. Ich studiere Pharmatechnik und will in den Ferien endlich meinen Führerschein machen. Ich habe eine Katze, die niemanden außer mir …“ Der Gedanke an Elvis brachte mich ins stocken. Er konnte niemanden leiden, niemanden außer mir und Ryder. Katzen mochten keine Hunde.

Lucy ließ sich langsam in die Hocke sinken. „Cayenne.“

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nichts mehr hören.

„Es ist zu viel für sie“, sagte Tyrone.

Lucy fuhr wütend zu ihm herum. „Und wessen Schuld ist das?!“

„Die der Leute, die ein Geheimnis aus ihrer Herkunft gemacht haben“, sagte Ryder schlicht.

Nun funkelte sie den Vampir an. Gott, nun höre einer nur mal meine Gedanken. Vampire und Werwölfe. Sowas gab es einfach nicht.

„Es war uns verboten, etwas zu sagen!“ giftete sie ihn an. „Glaubst du ich will aus dem Rudel verstoßen werden und als Abtrünniger enden?“

„Das ist nicht real“, flüsterte ich. „Ich muss träumen. Das alles ist nur eine Ausgeburt meiner dummen Phantasie.“

Die Drei wechselten einen besorgten Blick.

„Nein“ widersprach Ryder mir skrupellos. „Vampire, Ailuranthropen und Lykaner sind kein Mythos, sie sind sogar verdammt real und als Misto gehörst du nicht nur zu ihnen, du bist ein Teil des Ganzen.“

Nein, nein, nein.

„Und der Grund, warum man dich bisher im Dunkeln hat tappen lassen, ist ganz einfach. Dein Wolf hat bis jetzt geschlafen. Niemand konnte wissen, ob er jemals erwachen würde und deswegen war es verboten dich einzuweihen.“

„Aber nun ist er dabei sich an die Oberfläche zu kämpfen“, fügte Tyrone hinzu. „Das kann niemand mehr verleugnen.“

Lucy biss sich auf die Zunge. Sie sah aus, als wollte sie den beiden einfach nur das Maul stopfen. „Und wessen Schuld ist das?!“, fuhr sie die Brüder an.

„Die ihrer Familie“, erwiderte Ryder schlich. „Sie sind für die Gesetzte des Rudels verantwortlich. Ihre Mutter war es die sich mit einem Menschen eingelassen hat und deswegen ins Exil verband wurde. Isaac ist es, der sie verborgen hält, weil ein Misto in der Familie der Alphas einfach nur skandalös wäre. Das Engstirnige Denken der Lykaner hat sie zu einer Unwissenden verurteilt.“

„Ihr seid daran schuld“, fauchte Lucy, als hätte er gar nichts gesagt. „Wegen euch ist der Wolf erwacht. Bevor ihr aufgetaucht seid, war alles völlig in Ordnung.“

„Du findest es in Ordnung Cayenne im unklaren zu lassen? Ich dachte du bist ihre Freundin. Aber wie es aussieht, bist du wirklich nichts weiter als ihr Umbra.“

„Das ist nicht wahr“, knurrte sie. „Ich habe immer nur versucht sie vor solchem Abschaum wie dir zu beschützen.“

„So wie vor Yannick?“, fragte er bissig. „Das ist doch der Grund, warum er von heute auf morgen einfach verschwunden ist, oder? Er war auch ein Lykaner.“

Ich horchte auf. Nein das konnte nicht stimmen.

„Sie hat sich instinktiv zu ihm hingezogen gefühlt und deswegen musste er von der Bildfläche verschwinden.“

Bitte, nein.

Lucy bestritt es nicht. „Wir hatten unsere Befehle“, erwiderte sie schlicht. „Selbst wenn ich gewollte hätte, ich hätte nichts dagegen tun können. Niemand verweigert sich den Wünschen der Alphas.“

Oh Gott, wo war ich hier nur hineingeraten?

„Dann ist es ja gut, dass ich ein Vampir bin und mir damit die Befehle der Alphas einfach am Arsch vorbei gehen.“

Lucy knurrte. Das war nicht nur eine Metapher, sie knurrte wirklich.

„Wirklich beeindruckend“, kommentierte Ryder.

Das ließ Lucy verstummen. Doch in ihren Augen lag ein Hass, der sich nicht in Worte fassen ließ. „Wenn wir jetzt schon bei der Wahrheit sind, dann klärt mich doch mal auf, warum ihr überhaupt in Cayennes Leben getreten seid und alles daran setzt das zu zerstören, was sie kennt und liebt.“

Alle beide, Tyrone und Ryder, ließen ihre Gefühle hinter einer Maske der Gleichgültigkeit verschwinden.

„Das“, erklärte Tyrone, „ist etwas, das dich nichts angeht. Wenn überhaupt, sprechen wir nur mit Cayenne darüber.“

Oh Gott, Diego hatte recht gehabt. Dass die beiden in mein Leben getreten waren, war kein bloßer Zufall, sie wollten etwas von mir. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht mit ihnen sprechen, weder über ihre Gründe, noch über irgendetwas anderes.

„Sieht nicht so aus, als wollte sie allein mit euch allein sein“, erkannte Lucy ganz richtig. Aber das war nur die halbe Wahrheit, ich wollte auch nicht mit ihr sprechen. Ich wollte mit all dem überhaupt nichts zu tun haben.

Das konnte Ryder nicht akzeptieren. Er ging in die Hocke, was mich unwillkürlich vor ihm zurückweichen ließ.

„Cayenne …“, fing er an, unterbrach sich aber sofort und biss sich auf die Lippe. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte, verbarg er seine Reißzähne nicht. Tat er das bewusst, weil ich jetzt über alles Bescheid wusste, oder aus Unachtsamkeit? An das zweite konnte ich nicht glauben. Zwar kannte ich ihn noch nicht wirklich lange, aber bisher hatte er selbst beim essen, oder Lächeln immer darauf geachtet, die verräterischen Zähne verborgen zu halten. Jetzt allerdings bestand dafür kein Grund mehr, denn nun wusste ich, wer er wirklich war.

Er seufzte und versuchte es erneut. „Prinzessin, ich …“

In meinem Kopf kam es zu einem Kurzschluss. Prinzessin! Plötzlich bekam dieser Kosename eine ganz andere Bedeutung.

Es war eine Lüge. Alles war eine Lüge. Seine ganzen Worte, seine Zuneigung, ja selbst dieser verdammte Kuss, der meine Welt von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt hatte. „Ich hab dir vertraut“, sagte ich leise. „Ich hab dir verdammt noch mal vertraut!“ Das war nicht mehr leise. „Und du hast mich nur belogen!“

Lucy und Diego hatten von Anfang an recht gehabt. Die beiden waren nur in meinem Leben erschienen, weil sie Hintergedanken gehabt haben.

„Nein“, widersprach Ryder sofort. „Was ich gesagt habe …“

„Halt die Schnauze!“ Auf einmal war ich auf den Beinen. Tränen des Zorns und der Enttäuschung liefen mir dabei über das Gesicht. „Ich habe dir vertraut du beschissenes Arschloch! Ich hätte dir alles geglaubt, verdammt, ich habe dich sogar …“ geküsst. Das Wort blieb im Hals stecken. Es war einfach zu schmerzlich, es auszusprechen und an die Gefühle erinnert zu werden, die mich dabei erfüllt hatten. Wie nur hatte das alles geschehen können?

Nun erhob auch Ryder sich wieder. „Ich habe es dir schon einmal gesagt, aber ich wiederhole es gerne noch einmal. Es war nie meine Absicht dich zu verletzten.“

„Aber genau das hast du getan“, warf ich in vor und hasste mich selber dafür, dass meine Stimme am Ende einfach wegbrach. „Du hast gelogen und mir etwas vorgespielt.“

„Nein“, dementierte er sofort. „Ich habe dir nie etwas vorgespielt und werde …“

Noch bevor ich wusste, was ich da tat, rutschte mir die Hand aus. Der Schlag war so heftig, dass nicht nur sein Kopf zur Seite flog, auch meine Hand schmerzte davon, aber es war mir egal.

„Schluss mit Lügen“, hauchte ich. „Ich will nichts mehr davon hören. Nichts von Vampiren und Werwölfen, nichts von Königen und Prinzessinnen und absolut nichts von dir!“

Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen uns aus.

Dort wo ich ihn getroffen hatte, war Ryders Wange feuerrot. Doch mehr als mein Schlag schien ihn meine Ablehnung zu schmerzen.

„Cayenne“, begann Lucy. „Du musst …“

„Nein!“, fuhr ich ihr über den Mund. „Auch von dir will ich nichts hören.“

Sie biss die Zähen zusammen und funkelte dann Ryder an. „Das ist allein deine Schuld“, fauchte sie ihn an.

„Sagt das kleine Miststück, dass ihre beste Freundin ihr ganzes Leben lang belogen hat.“

Das war zu viel. Ohne jegliche Vorwarnung stürzte Lucy sich auf ihn und versetzte ihm so einen heftigen Schlag, dass er ein paar Schritte zurückstolperte. Doch damit gab sie sich noch lange nicht zufrieden. Sie holte noch einmal aus und traf ihn an der Schulter, doch ihr dritter Schlag wurde von seinem erhobenen Arm abgeblockt, was sie einen Moment aus dem Konzept zu bringen schien. Aber es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie sich davon erholt hatte und erneut auf ihn losging.

„Lucy!“, rief Tyrone und mischte sich nun auch ein. Er versuchte sie einzufangen, um ihn daran zu hindern, weiter auf seinen Bruder einzuschlagen, doch sie wich ich geschickt aus.

Eine ganze Minute beobachtete ich das Gerangel, doch dann wurde mit mit einem Mal klar, dass keiner der drei mehr auf mich achtete. Das war meine Chance mich aus dem Staub zu machen und bevor ich noch genauer darüber nachdenken konnte, ergriff ich sie.

Weg, ich wollte einfach nur weg, also nahm ich die Beine in die Hand und rannte den Korridor hinunter, während die Drei versuchten sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.

Tränen verschleierten mir die Sicht. Dieser Tag war wohl der schrecklichste in meinem ganzen Leben. Nicht nur wegen dem, was ich über mich selber erfahren hatte, der Vertrauensbruch der Menschen die mir so viel bedeuteten, schmerzte mehr, als ich mir das jemals hätte vorstellen können. Nein, korrigierte ich mich selber. Keine Menschen, Monster. Und ich war eine von ihnen.

Meine Welt lag in Trümmern vor mir. Mein ganzes Leben war eine einzige Lüge, aufgebaut, auf Unwahrheit und Betrug. Nichts von dem woran ich geglaubt hatte, beinhaltete auch nur ein Fünkchen von Realität. Alles war eine Lüge und das Mädchen, dass ich zu sein glaubte, existierte gar nicht.

Als ich die Tür des Verwaltungsgebäudes aufriss, rannte ich fast einen Studenten über den Haufen, aber das interessierte mich genauso wenig, wie sein Schimpfen.

Meine Füße trommelten über den Pflastersteinweg, als ich direkt auf das Fest zulief. Ich wusste nicht genau wohin ich eigentlich wollte, bis ich den Stand mit dem Ringe-werfen erblickte und Diego, der Kunden bediente. Doch als ich meinen besten Freund sah, blieb ich unwillkürlich stehen. Auch er gehörte zu den Monstern vor denen ich davon lief. Bei ihm würde ich nicht in Sicherheit sein.

Als er dann aufschaute und mich in der Menge bemerkte, wich ich nicht nur einen Schritt zurück, ich wirbelte herum und lief einfach davon. Weg von ihm, weg von diesem ganzen Alptraum, zu dem mein Leben mit einem Schlag geworden war.

Ich rannte bis das Haupttor vom Unigelände vor mir auftauchte und dann noch weiter. Meine Beine trugen mich auf den überfüllten Parkplatz. Völlig kopflos bahnte ich mir einen Weg zwischen den parkenden Autos, bis das plötzliche quietschen von Bremsen mich darauf aufmerksam machte, dass nicht jedes Auto hier stillstand.

Die Schnauze des rote Peugeot hielt so dicht neben mir, dass mich vielleicht noch zwei Zentimeter vor einer Kollision trennten.

„Scheiße!“, fluchte der Fahrer und steckte dann den Kopf zum Fenster heraus. „Bist du bescheuert?! Ich hätte dich fast überfahren!“

Gideon. Das war Gideon. Er saß hinter dem Steuer und hätte mich fast angefahren.

Innerhalb von Sekunden traf ich eine Entscheidung. Ich eilte um den Wagen herum, riss die Tür zum Rücksitz auf und setzte mich in den Wagen. „Fahr los!“, sagte ich, noch bevor ich dir Tür wieder zugeschlagen hatte.

Irritiert drehte er sich zu mir herum. Aber er war nicht der einzige. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Julian – sollten sie nicht eigentlich auf dem Fest sein? Scheiß drauf!

„Na los!“, forderte ich ihn erneut auf, als er mich nur hirnlos angaffte. „Tritt aufs Gas!“

Gideon tat nichts dergleichen. Er schaute mich nur verwirrt an. Zumindest für einen kurzen Moment. Dann glitt sein Blick an mir vorbei zum Rückfenster hinaus.

Panisch wirbelte ich herum und musste entdecken, dass Tyrone, Lucy und Ryder am Haupteingang erschienen und sich nervös auf dem Parkplatz umschauten.

„Bitte“, flehte ich Gideon an. „Fahr los!“

Er runzelte nur die Stirn.

„Na los“, sagte da Julian. „Beweg deine Karre.“

Und Gideon tat es. Nicht so überstürzt, wie ich mir das vorstellte, aber er trat endlich wieder aufs Gaspedal und lenkte das Fahrzeug vom Parkplatz herunter.

Ich schaute derweil wieder durchs Fenster und musste so feststellen, dass Lucy auf den Wagen aufmerksam wurde und auf uns zeigte. Ryder rannte sofort in eine andere Richtung davon. Aber es war zu spät, Gideon fädelte sich bereits in den Nachmittagsverkehr ein und fuhr einfach davon.

Ich zitterte am ganzen Leib und die verdammten Tränen wollten einfach nicht versiegen. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass ich vor meinen Freunden davonlief? Warum musste das mir passieren? Alles schien so gut zu laufen, sogar Ryder …

Als ich an ihn dachte, wurde mein Herz unglaublich schwer.

Gideon beobachtete mich durch den Rückspiegel. „Kannst du mir mal verraten, was das gerade war?“

Ich schüttelte den Kopf. Nicht nur weil ich nichts sagen wollte. Selbst wenn ich versuchte es ihm zu erklären, er würde mir sowieso kein Wort glauben.

Julians Gedanken gingen in eine ganz andere Richtung. „Bist du verletzt?“, fragte er besorgt und musterte meinen aufgelösten Zustand. „Sollen wir dich in ein Krankenhaus bringen?“

Wieder ein Kopfschütteln. „Nein, mir geht es … gut.“ Was für eine Lüge.

Das sah Julian wohl auch so. „Tut mir leid das sagen zu müssen, aber so siehst du nicht aus.“

„Doch“, beharrte ich. „Alles in Ordnung. Kein Krankenhaus.“ Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, was nicht viel brachte, da sofort neue da waren.

„Dann vielleicht zur Polizei?“, fragte Gideon.

„Nein“, sagte ich leise. Was sollte ich der Polizei auch erzählen? Hi, ich bin Cayenne und habe gerade erfahren, dass meine Freunde Monster sind. Wir sollten sie in ein dunkles Loch werfen, aus dem es kein Entkommen gibt. Und mich sollte man wohl auch zu ihnen stecken, da ich gerade erfahren habe, dass ich zu diesem Club gehöre. Die würden glatt die Männer mit den weißen Kitteln kommen lassen und mich für immer wegsperren.

„Zu dir nach Hause?“

Nach Hause? In die Arme meiner Werwolfmutter? Nun höre sich nur mal einer diesen verrückten Gedanken an!

„Cayenne?“

„Nein, nicht nach Hause.“

Sie beiden Freunde tauschten einen Blick aus.

„Cayenne“, sagte Julian. „Du bist gerade vor deinen Freunden davongerannt. Was ist passiert?“

Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Wir können dir nicht helfen, wenn du uns nichts sagst“, versuchte er weiter in mich zu drängen.

Nein, konnte er nicht. Genaugenommen konnte mir in dieser Situation niemand helfen. Obwohl, vielleicht ein Exorzist, aber ich kannte keinen. Wohin sollte ich mich also wenden?

Julian dachte fieberhaft darüber nach, wie er mich zum Reden bringen sollte. „Möchtest du …“

Das Aufheulen eines herannahenden Motorrads ließ mich panisch herumwirbeln. „Nein“, hauchte ich, als ich Ryder entdeckte, der versuchte alle Geschwindigkeitsrekorde zu brechen, um uns einzuholen. „Fahr schneller fahr schneller, fahr schneller!“

Gideon warf einen Blick durch den Rückspiegel. „Ich werde hier bestimmt keine Verfolgungsfahrt …“

Ich schlug gegen seinen Sitz. „Schneller!“

Ryder holte auf.

Es war wohl die Panik in meiner Stimme die Gideon umdenken ließ. Er stieß einen derben Fluch aus, schaltete einen Gang hoch und beschleunigte.

Ich schaute nach hinten. Ryder holte nicht nur immer noch auf, er war fast auf gleicher Höhe mit dem Peugeot. „Los, schneller!“

In der nächsten Sekunde befand Ryder sich nicht nur direkt neben uns, er schaute mir sogar direkt ins Gesicht. Und die grimmige Entschlossenheit, die ich in seinem Blick sah … sie machte mir Angst.

„Schneller Gideon“, flehte ich.

„Wenn ich einen verdammten Strafzettel … scheiße!“

Plötzlich überholte Ryder, riss dann seine Maschine herum und blockierte so unsere Spur. Nur dank Gideons unglaublich schneller Reaktion, fuhren wir nicht in ihn hinein. Gerade noch rechtzeitig riss er das Lenkrad herum, trat dann heftig auf die Bremse und brachte seinen Wagen so zum Stehen. Allerdings warf die Vollbremsung mich mit der Schulter gegen die Tür. Ein heftiger Schmerz raste meinen Arm hinauf.

„Verdammt noch mal!“, fauchte Gideon, während Julian sich erschrocken nach mir umschaute.

Ich jedoch achtete nur auf Ryder, der seinen Motorrad mitten auf der Straße liegen ließ und die wenigen Meter zu uns herüber rannte.

„Nein, nein, nein.“ Ich rutschte auf die andere Seite, stieß die Wagentür auf und sprang praktisch aus der Karre heraus. Doch Ryder war unglaublich schnell. Meine Beine hatten kaum die Straße berührt, da fing er mich auch schon ab. „Nein!“, schrie ich und versuchte ihn wegzustoßen, aber er packte mich einfach bei den Armen und hielt mich fest.

„Cayenne, bitte.“

„Nein!“ Ich versuchte nach ihm zu treten, doch er wich scheinbar mühelos aus. „Lass mich los!“

„Hey!“ Julian stemmte die Beifahrertür auf und stieg eilig aus dem Wagen. „Nimm deine Finger von ihr.“

Auch Gideon hielt nichts mehr im Wagen.

Ryder fixierte die beiden. „Mischt euch nicht ein.“

Ich versuchte erneut nach ihm zu treten und erwischte ihn am Schienbein, aber er gab mich nicht frei.

„Nicht einmischen?“ Julian gab ein ungläubiges Geräusch von sich und griff dann nach Ryder, um ihn von mir wegzuzerren, doch bevor er ihn überhaupt berühren konnte, hatte Ryder ihn mit der freien Hand bereits am Kragen gepackt und mit einem heftigen Stoß von sich geschleudert. Dabei war er unglaublich schnell. Julian stolperte einfach zurück und fiel dann auf den Hintern.

„Hey!“, rief Gideon und umrundete eilig seinen Wagen. „Keine Ahnung was hier los ist, aber wenn du nicht sofort deine Finger von ihr nimmst, wird es für dich ungemütlich.“

Es war schon irgendwie beeindruckend, wie Gideon, der einen Kopf kleiner war, furchtlos auf Ryder zumarschierte, während Julian wieder auf die Beine kam.

Ich zerrte weiter an meinem Arm, schaffte es aber nur, dass sein Griff zu meinem Handgelenk rutschte.

Ryder fixierte Gideon und plötzlich geschah etwas sehr seltsames mit seinen Augen. Der blasse Ton wurde intensiver und dunkler, bis es ein tiefes Dunkelblau war. „Bleib stehen“, befahl Ryder in einem seltsam sanften Ton und Gideon hielt tatsächlich an. „Steig wieder in deinen Wagen. Hier ist alles in Ordnung, Cayenne ist nicht in Gefahr.“

Ich glaubte kaum was ich da hörte, aber was mich wirklich fassungslos machte, war das was Gideon daraufhin tat. Sein Gesicht entspannte sich. Er lächelte sogar. „Klar“, sagte er, drehte sich dann herum und tat genau das, was Ryder ihm gesagt hatte.

„Verdammt, was …“, sagte Julian und konnte es genauso wenig glauben wie ich.

„Was hast du gemacht?“, fragte ich und vergaß dabei völlig mich zu wehren. „Was hast du mit ihm gemacht?“

Hinter uns hupte ein Wagen, weil die beiden Fahrzeuge die halbe Fahrbahn blockierten.

„Ich habe ihn weggeschickt“, sagte er schlicht und schaute mich dabei an. Seine Pupillen waren gerade dabei wieder zu verblassen.

Ein Blick. Er hatte Gideon nur angeschaut und ihn damit unter seine Kontrolle gebracht. „Aber du bist ja nicht übernatürlich!“, fauchte ich und boxte ihm gegen die Brust. Schmerz zuckte durch meine Schulter. Ich musste mir beim Aufprall etwas geprellt haben.

Ich begann mich wieder zu wehren.

„Cayenne, bitte hör auf. Du brauchst keine Angst zu haben, ich tu dir nichts.“

„Du hast mir schon längst etwas getan!“, schrie ich ihn an. Er hatte in mir Gefühle geweckt, die ich nicht mehr wollte, hatte mich belogen. Alles war eine Lüge gewesen, jedes Wort, jedes Lächeln, jeder verfluchte Blick.

„Jetzt lass sie endlich los“, sprang nun auch Julian wieder in die Bresche und griff ein weiteres Mal nach ihm. Und dieses Mal erwischte er ihn am Hemd, da Ryder damit beschäftige war, mich an einer weiteren Flucht zu hindern.

„Nimm deine Finger weg, Kumpel“, knurrte Ryder.

Julian verengte drohend die Augen. „Du solltest deinen eigenen Rat befolgen, Kumpel.“

Verdammt, ich wollte hier weg und plötzlich spukte mein verängstigtes Hirn eine Idee aus. Ich schlug mit meiner ganzen Kraft direkt auf Ryders Armbeuge, wodurch sein Arm ein wenig nach unten gedrückt wurde. Dann tat ich das, was Tyrone mit beigebracht hatte und drehte mein Handgelenk einfach aus seinem Griff heraus.

„Cayenne!“, rief Ryder und griff sofort nach mir, aber Julian hielt ihn noch immer fest, was mir die Gelegenheit gab einen weiteren von Tyrones Selbstverteidigungstipps in die Tat umzusetzen: Renn dass es staubt! Also rannte ich.

Ich achtete nicht auf Ryders Fluch, oder das Quietschen des Wagens, dem ich praktisch direkt vor die Motorhaube sprang, ich rannte einfach nur quer über die Straße, um möglichst schnell von hier wegzukommen. Dabei bemerkte ich erst, dass der Wagen den ich gerade geschnitten hatte Diego gehörte, als er zusammen mit Tyrone und Lucy ausstieg und nach mir rief.

Ich hielt nicht an. Im Gegenteil, ich holte alles aus mir heraus was ich hatte und rannte so schnell, das meine Füße kaum den Boden berührten. Ich war noch nie besonders sportlich gewesen, doch schnell, das war ich schon immer.

Aber auch die anderen konnten rennen. Ich hörte ihre Schritte und Rufe dicht hinter mir und wusste, ich würde ihnen nicht ewig davonlaufen können. Wenn ich entkommen wollte, musste ich sie austricksen, das war meine einzige Chance.

Ohne stehen zu bleiben, versuchte ich mich zu orientieren und eine rettende Idee zu erzwingen, die mich aus diesem Alptraum hinaus brachte. Und dann fiel mir auf, wo ich mich befand. Direkt auf der anderen Straßenseite war das große Einkaufszentrum, in dem ich mit Lucy und Diego nach der Uni des öfteren herumgetrieben hatte. Auf einem Samstagnachmittag, mussten sich dort Unmengen von Menschen befinden. Wenn ich nur schnell genug war, könnte ich in der Menge einfach untertauchen.

Ich zögerte keine Sekunde, schlug einen Haken und rannte quer über die Straße, ohne auch nur einen Moment auf das Hupen der Autos zu achten. Erst als ich auf der anderen Straßenseite war und hinter mir ein heftiges Bremsquietschen hörte, nahm ich mir eine Sekunde, um einen Blick über sie Schulter zu werfen.

Diego wurde gerade von einem Typen in seinem Porsche angeschrien, während Tyrone und Lucy den Wagen eilig umrundeten. Von Ryder sah ich keine Spur. Wahrscheinlich war der noch immer mit Julian beschäftigt.

„Cayenne!“, rief Lucy. „Bleib stehen!“

Bestimmt nicht. Ich gab wieder Fersengeld, wich ein paar Passanten aus und hielt dann geradewegs auf den großen Haupteingang des Einkaufsparadieses zu. Eine junge Mutter schimpfte, als ich ihr im Vorbeirennen ausversehen die Handtasche von der Schulter riss und ein älteres Ehepaar mokierte sich lautstark über das schändliche Verhalten der heutigen Jugend. Niemand von ihnen bekam auch nur den Hauch von Beachtung.

Die Drehtür des Centers verlangsamte mich einen Moment, was meinen Verfolgern Zeit gab aufzuholen. Doch dann standen sie vor dem gleichen Problem, was mir die Zeit gab in der Menge abzutauchen. Und hier war es wirklich voll. Es machte fast den Eindruck, als würde in jedem Laden ein Sommerschlussverkauf stattfinden, was nur umso mehr Leute in die Welt der klingenden Kassen gelockt hatte.

Um nicht zu sehr aufzufallen, verlangsamte ich meine Schritte und schloss mich dem geschäftigen Treiben um mich herum an.

Mein Atem ging noch immer viel zu schnell, mein Herz trommelte wie wild und die Muskeln meiner Beine zitterten förmlich vor Anstrengung. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so schnell gerannt. Ich hatte auch in meinem ganzen Leben noch nie vor etwas wegrennen müssen.

Oh Gott, was sollte ich denn jetzt nur tun? Ich konnte nicht nach Hause, ich konnte nicht zu meinen Freunden und einen anderen Ort hatte ich nicht. Da war niemand an den ich mich wenden konnte. So fühlte man sich wohl, wenn man völlig allein war.

Schniefend wischte ich mir ein paar Tränen von den Wagen, während ich mich umschaute um herauszufinden, wohin ich jetzt am besten gehen sollte. In einen Laden? In ein Café? Sollte ich das Center wieder verlassen, oder war es besser, sich erstmal hier zu verstecken?

Ich wusste es nicht, weswegen ich ein in Bewegung blieb und …

„Pass doch auf!“, rief ein älterer Mann hinter mir.

Ich drehte mich um und konnte beobachten, wie Tyrone dabei half, hastig ein paar Einkäufe aufzuheben, die er dem Mann wohl gerade aus der Hand geschlagen hatte.

Sofort ging ich hinter einem Stützpfeiler in Deckung.

Lucy und Diego waren bei ihm, schauten sich fieberhaft um, aber von ihrem Standpunkt aus, konnten sie mich nicht sehen. Da waren zu viele Leute im Weg.

Am liebsten wäre ich sofort wieder losgelaufen, aber das wäre dumm gewesen. Wenn ich einfach hier stehen blieb, hatte ich vielleicht Glück und sie würden einfach an mir vorbeilaufen. Stattdessen machte Diego etwas sehr Seltsames. Er blieb stehen, schloss die Augen und steckte die Nase in die Luft, während Tyrone und Lucy ungeduldig an seiner Seite warteten.

Sehr langsam drehte Diego den Kopf und als er dann die Augen wieder aufschlug, hob er die Hand und zeigte genau in meine Richtig. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, was er da getan hatte. Er war ein Wolf und Wölfe orientierten sich über ihren Geruchssinn.

Verdammte scheiße, sie witterten meine Fährte und folgten meiner Duftspur!

Ich wirbelte auf der Stelle herum und rannte wieder los.

„Da!“, rief Lucy.

Nein, nein, nein. Oh Gott, nein! Wenn sie wirklich in der Lage waren meiner Fährte zu folgen, dann würde ich sie auf diese Art nicht abhängen können. Nun hörte sich das mal einer an, meine Freunde erschnüffelten mich. Das war doch Wahnsinn!

Was sollte ich denn jetzt machen? Ich konnte doch nicht Ewig vor ihnen davonlaufen. Es wunderte mich sowieso schon, dass ich noch immer durchhielt. Das musste am Adrenalin liegen.

„Cayenne!“

Ein Blick über die Schulter, mehr brauchte es nicht, damit ich frontal in einen jungen Mann hineinrannte und ihn mit mir zu Boden riss. Dabei stieß ich mir erneut die geprellte Schulter, während er einen Fluch ausstieß, von dem sogar dem Teufel die Ohren geschlackert hätten.

„Was ist falsch mit dir?“, schimpfte er und ließ sich von seinem Kumpel zurück auf die Beine helfen. Erst da bemerkte ich, dass er zu einer Gruppe von sieben jungen Männern gehörte.

Das war meine Chance. „Bitte“, sagte ich, ohne weiter darüber nachzudenken und arbeitete mich zurück auf meine Beine. „Ich brauche Hilfe.“

Das war der Moment in dem sie alle meinen aufgelösten Zustand bemerkten.

Ein etwas drahtiger Kerl mit abstehenden Ohren, trat ein wenig zur Seite, um einen besseren Blick auf mich zu erhaschen. „Immer mit der Ruhe, wo brennt´s denn?“

„Ich werde verfolgt.“

Wie aufs Stichwort rief Lucy in diesem Moment nach mir. „Cayenne!“

„Da.“ Ich zeigte auf die Drei, die mich nun fast erreicht hatten, ihre Schritte aber nun verlangsamten, als müssten sie die neu Situation erst einschätzen. „Sie wollen mich holen.“

Alle sieben, inklusive dem einen, den ich umgerannt hatte, schauten unisono zu meinen drei Verfolgern.

„Warum?“, fragte der kräftigste unter ihnen. Er hatte so breite Oberarme, dass ich mich dahinter hätte verstecken können und nichts davon war Fett.

„Ich weiß nicht“, log ich. „Sie jagen mir schon die ganze Zeit hinter. Ich kenne sie nicht.“

Lucy, die sich nun in Hörweite befand, verzog entrüstet das Gesicht. „Hör auf Scheiße zu labern.“

Als die Männer mich wieder ins Auge nahmen, schüttelte ich ängstlich den Kopf und das musste ich nicht einmal spielen. „Ich weiß nicht was sie wollen.“

Mr. Muskelmann traf eine Entscheidung und schob mich schützend hinter sich. Seine Freunde traten an seine Seite und verdeckten mich somit praktisch.

Das schien keinem von den Dreien zu gefallen, aber diese Übermacht schien sie nicht einzuschüchtern.

Diego trat genau vor den Rädelsführer. „Mach den Weg frei.“

„Warum sollte ich das?“ Muskelmann verschränkte lässig die Arme vor der Brust.

Ein paar der Passanten wurden auf uns aufmerksam und schauten neugierig zu uns hinüber.

Ich verfolgte wie Tyrone zwischen den Ganzen Typen hin und her schaute, als suchte er nach einer schnellen Lösung, ohne viel Aufsehen zu erregen, aber dafür war es bereits zu spät.

„Weil ich dich sonst dazu zwinge“, knurrte Diego.

Die Typen lachten nicht, wie man es hätte bei der Überzahl annehmen sollen. Muskelmann hob einfach nur eine Augenbraue.

Tyrone trat neben ihn. „Wir wollen kein Streit mit euch, wir wollen einfach nur unsere Freundin holen.“

Muskelmann sah über seine Schulter zu mir.

Ich schüttelte vehement den Kopf und trat weiter weg von der Gruppe.

„Ich glaube nicht, dass sie von euch geholt werden will“, erklärte Segelohr.

„Das ist völlig unwichtig.“ Lucy drängte sich zwischen Tyrone und Diego in die erste Reihe und trat so dicht vor Muskelmann, dass sich ihre Nasen fast berührt hätten. „Cayenne, lass das Theater und komm mit uns. Sofort!“

Ich wich weiter zurück. „Ich kenne keine Cayenne“, sagte ich ohne groß darüber nachzudenken. „Mein Name ist Luciela.“ Okay, vielleicht hätte ich darüber doch mal eine Sekunde nachdenken sollen.

Lucy sah aus, als würde gleich ihr Kopf explodieren. „Du willst mich doch verarschen.“

Immer mehr Leute wurden auf uns aufmerksam und einige blieben sogar stehen, um zu beobachten, was hier passierte.

„Cayenne!“, knurrte Lucy erneut und dann ging Diego einfach nach vorne. Er wollte zwischen den Kerlen hindurch nach mir greifen. Großer Fehler, denn die wollten das nicht zulassen. Einer der Kerle schlug zu. Diego gab Kontre und im nächsten Moment war auch Lucy von der Partie.

Tyrone versuchte sich an der Seite zu mir vorbei zu mogeln, aber da waren jetzt die ganzen Schaulustigen, die ihm schlich den Weg versperrten.

Ich sah noch wie Lucy Segelohr am Arm packte, dann wirbelte ich einfach herum und rannte so schnell ich konnte einfach davon. Weg, ich wollte einfach nur weg.

 

°°°

 

Fröstelnd schlag ich meine Arme um mich und versuchte es mir auf der alten Parkbank ein wenig bequemer zu machen. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden bereits am Horizont und nahmen dabei auch die Wärme des Tages mit sich. Ohne Jacke war es deswegen schon recht kühl. Doch das war nicht der Grund, warum ich fror. Es waren meine Gedanken, die Erkenntnis und die Angst vor dem was nun passieren würde.

Ich wusste nicht mehr weiter.

Meine Verfolger hatte ich hinter mir gelassen. Sie waren nicht rechtzeitig aus dem Handgemenge herausgekommen, um mir auf den Fersen zu bleiben zu können. Direkt vor dem Einkaufcenter war ich ins nächste Taxi gesprungen und hatte mein ganzes Geld dafür ausgegeben, damit es mich ans andere Ende Stadt brachte.

Und jetzt saß ich hier auf diesem heruntergekommenen Spielplatz, bei Anbeginn der Nacht, in einer Gegend die ich nicht kannte und hatte absolut keine Ahnung, was ich nun tun sollte.

Nach Hause gehen? Wohl eher nicht. Eine Zeitlang hatte ich überlegt, mich bei irgendwelchen Bekannten zu verkriechen, dann aber feststellen müssen, dass es da niemanden gab. Bis jetzt hatte ich gar nicht bemerkt, wie isoliert ich mein ganzen Leben lang gewesen war.

Ich könnte zu Julian gehen, aber ich war mir sicher, dass sie dort auch früher oder später auftauchen würden, wenn sie mich nicht finden konnten. Und außerdem wollte ich mich nicht erklären müssen, oder Ausreden erfinden. Diese ganze Geschichte war einfach nur noch bizarr.

Wenigstens war die Angst abgeflaut und die Tränen versiegt. Das gab mir die Gelegenheit über alles in Ruhe nachzudenken. Wobei ich eigentlich gar nicht so genau darüber nachdenken wollte. Es wäre viel einfacher das alles zu verdrängen und vergessen, aber dann müsste ich weiter diese Lüge leben, die man aus meinem Leben gemacht hatte.

Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte, aus dieser Sache kam ich nicht mehr raus. Was ich in den letzten Stunden erfahren hatte, würde alles verändern.

Werwölfe und Vampire, wie war das nur möglich? Wie konnten diese Spezies unter den Menschen leben ohne entdeckt zu werden? Bei der heutigen Technik sollte das doch eigentlich unmöglich sein. Es gab so viele Menschen, da musste doch wenigstens einer etwas gesehen haben. Jedes Handy hatte eine Kamera. Schnappschüsse und zufällige Aufzeichnungen, ließen sich nicht vermeiden. Durch die Medien müsste alles im Handumdrehen bekannt werden und was war mit Besuchen beim Arzt? Es musste doch einfach auffallen. Etwas so offensichtliches verborgen zu halten, war nach meiner Auffassung eigentlich unmöglich. Und doch war es nun eine Tatsache, an der sich nicht rütteln ließ. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ryders Reißzähne und Tyrones angehende Verwandlung. Das war wie ein Zerrbild der Realität.

Mein Blick ging ins Leere.

Nun war ich Teil einer Welt, in die ich nicht gehörte. Mythen, die eigentlich nur dazu da waren, kleine Kinder zu erschrecken. Monster in der Nacht. Aber waren sie wirklich Monster, wie sie in Filmen immer dargestellt wurden? Das waren doch schließlich die Leute, mit denen ich aufgewachsen war, die mir Halt gegeben hatten, wenn ich ihn brauchte, die mit mir gelacht und geweint hatten und mir Trost spendeten, wenn wenn es einmal nötig war.

Das war alles so verwirrend. Und wenn solche Fabelwesen wirklich existierten, was gab es dann noch? Elfen, Feen, Heinzelmännchen? Was war mit Meerjungfrauen? Steckte wirklich in jedem Mythos ein Körnchen Wahrheit? Und wenn ja, wie war es möglich, dass diese Wesen das alles vor den Menschen verbergen konnten und warum? Was hatten sie zu verbergen, wenn die doch angeblich so zivilisiert waren?

Langsam dröhnte mir der Kopf von den ganzen Fragen. Alles drehte sich im Kreis. Mir schwebten noch hundert weitere im Kopf herum, aber nicht auf eine einzige wusste ich die Antwort. Das war echt deprimierend. Trotzdem konnte mein Hirn einfach nicht aufhören zu arbeiten.

In den Wohnhäusern um mich herum gingen nach und nach die Lichter aus. Niemand achtete auf die einsame Gestalt auf dem kleinen Spielplatz. Warum sollten sie auch? Ich sah völlig normal aus, wie ein Mensch eben, aber ich war kein Mensch, ich war niemals einer gewesen, ich war ein Monster.

Eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg über mein Gesicht und dann noch eine. Es dauerte nicht lange bis ich wieder schluchzend dasaß, weil ich einfach am Ende war. Alles war wegen eines verdammten Kusses in die Brüche gegangen.

Gott, ich wollte kein Werwolf sein, oder ein Misto, wie Ryder mich genannt hatte. Ich wollte einfach nur Cayenne sein, ein unbedeutendes Individuum der Gesellschaft. Ich wollte mich verlieben, irgendwann vielleicht mal heiraten und ein paar Kinder in die Welt setzen. Doch jetzt schwebte über meiner Zukunft riesiges Fragezeichen, das alles andere unter sich begrub.

„Hier, nimm.“

In Erwartung eines dieser Monster vor mir zu haben, riss ich erschrocken den Kopf herum, und fiel fast von der Bank, doch es war nur ein älterer Mann, der mir ein Päckchen Taschentücher vor die Nase hielt. Sein Kopf war fast kahl, die Augenbrauen buschig und die die Statur rappeldürr. Er trug einen alten, löchrigen Mantel, eine Fleckige Hose und Schuhe, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hatten. Außerdem roch er etwas unangenehm. Ein Obdachloser.

„Na los, nimm schon.“ Er lächelte mich wohlwollend an. „Keine Angst, sie sind sauber.“

Nachdem was ich gerade hinter mir hatte, machte er mir absolut keine Angst mehr. Trotzdem griff ich nur zögernd nach den Tüchern. Ich musste wirklich scheiße aussehen, wenn schon ein Obdachloser zu mir kam und mir seine Hilfe anbot.

Meine Finger zitterten ein wenig, als ich eines der Taschentücher aus der schützenden Hülle zog und damit begann, mir die Tränen von den Wangen zu wischen. Leider kamen immer neue nach und so war das erste Tuch ziemlich schnell durchnässt.

„Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?“

Ich zuckte nur mit den Achseln. Warum auch sollte es mich stören? Wenigstens war er ein Mensch. Ich sollte eher ihn warnen, dass er im Begriff war, sich mit einer Bestie abzugeben.

Die Bank neben mir bog sich unter seinem Gewicht durch. Sie war so morsch, dass es mich nicht gewundert hätte eine Etage tiefer zu landen.

„Das Leben kann manchmal echt mies sein“, sinnierte er nach einer Schweigeminute.

Ich gab ein halb ersticktes Geräusch von mir. Wenn er nur wüsste. Meine Augen wurden wieder feucht und drohten überzulaufen. Hastig drückte ich mir das Taschentuch dagegen.

„Wie kommt es, das ein so hübsches Mädchen an diesem Ort sitzt und weint, hm? Das Leben ist doch viel zu schön, um es mit Tränen zu vergeuden.“

Ich lachte freudlos. „Sie würden es mir sowieso nicht glauben, auch wenn ich es ihnen erzählen würde.“ Niemand würde ein Wort von dem glauben, was mir heute widerfahren war. Wie auch? Noch vor ein paar Stunden hätte ich jeden der mir von Werwölfen erzählte als einen Spinner abgestempelt. Aber es war wahr, es gab sie wirklich, ich hatte es mit eigenen Augen gesehen

„Oh du würdest dich wundern, was ich alles glaube.“ Er breitete die Arme über die Rückenlehne aus. „Ich bin ganz Ohr.“

Ich seufzte. Spielte mit dem bereits dritten Taschentuch in meinen Händen herum. Vielleiche sollte ich wirklich den Mund aufmachen. Dann konnte er die netten Männer mit der Zwangsjacke holen. In einer Klapse wäre ich vor Fabelwesen wenigstens sicher. Außer natürlich, dort arbeiteten auch Monster, die sich an den Seelen Unschuldiger genüsslich taten. „Ich habe heute erfahren, dass ich nicht die bin, für die ich mich selber gehalten habe und auch dass meine Familie, meine Freunde andere sind, als sie mich haben glauben lassen. Alles was sich bisher kannte, war eine Lüge, mein ganzes Leben besteht aus Betrug.“

„Hm“, machte er. „Das hört sich sehr schlimm an.“

„Sie machen sich keine Vorstellung.“ Niemand konnte das.

Wie ein kurzer Moment doch alles verändern konnte. Nur ein Kuss und ich verlor alles was mich ausmachte. Wer war ich nun? Was war von Cayenne Amarok jetzt noch übrig? Warum hatte ich nie bemerkt, dass ich anders war?

„Aber weißt du“, sagte der Obdachlose, „so schlimm im Augenblick auch alles sein mag, ich habe gelernt, dass es einen Punkt im Leben gibt, an dem man nicht mehr weiter sinken kann. Wenn du ganz unten angekommen bist, gibt es nur noch den Weg nach oben.“

Wie schön es wäre, das glauben zu können. „Das ist eine Sache, aus der ich leider nicht mehr rauskomme.“ Nie mehr. Ich war eine Kreatur der Dunkelheit, das Böse, das im Schrank kleiner Kinder lauerte und ihnen Alpträume bescherte. Ich war Van Helsings Beute.

Ein Schnauben entschlüpfte mir, als in mir die Vorstellung aufstieg, wie meine Brust von einer Armbrust des berühmt berüchtigten Vampirjäger durchbohrt wurde. War ich jetzt auf Silber allergisch? Wuchs mir unter dem Vollmond ein Pelz? Neue Tränen sammelten sich in meinen Augen.

„Hm“, machte er wieder.

„Ich weiß einfach nicht mehr was ich tun soll“, schniefte ich und versuchte ein weiteres vergebens mein Gesicht trocken zu tupfen.

„Weißt du, ich habe einen Freund. Er ist kein wohlhabender oder auch sehr angenehmer Mensch, weil er … naja, er kann einfach ein sehr großes Ekelpacket sein.“ Irgendwas daran ließ ihn lächeln. „Auf jeden Fall, hat mein Freund vor ein paar Jahren überraschend von irgendeinem entfernten Verwandten etwas geerbt. Ein Gemälde, so einen riesiger, alten Schinken. Ich vergesse immer wie der Künstler hieß.“

War wahrscheinlich auch nicht wichtig.

„Dieses Gemälde jedenfalls, ist richtig viel Geld wert. Wenn er es nur verkaufen würde, könnte er seinen Lebensstandart deutlich verbessern. Dann würde es statt Dosensuppe Fünf-Sterne-Menüs geben und er müsste nicht jeden Winter darum bangen, ob man ihm die Heizung abstellt, weil er die Rechnung mal wieder nicht bezahlen kann. Darum haben ihm viele gesagt – darunter auch ich selber – er soll dieses hässliche Bild verkaufen und damit ein paar seiner Sorgen damit aus der Welt schaffen. Aber er hat es nicht getan.“

„Hört sich in einen Ohren ziemlich dumm an.“

Er schmunzelte. „Ja, das habe ich auch gedacht und deswegen bin ich zu ihm gegangen und hab ihm das gesagt. Ich hab ihm gesagt, dass ihn dieses Bild nicht wärmt und auch kein Essen auf dem Tisch bringt. Und weißt du was er erwidert hat?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Er sagte, er mag das Bild. Er sagte, natürlich konnte er es für viel Geld verkaufen, aber was würden ihm teure Essen und ein funktionierende Heizung bringen, wenn es ihn nicht glücklicher macht? Das Bild jeden Tag anzuschauen, bereit ihm mehr Freude, als es Geld je tun könnte.“ Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Das hilft dir bei deinem Problem vielleicht nicht unbedingt weiter, aber es sagt dir, was du jetzt tun solltest.“

Ach ja? „Und das wäre?“

„Tu das, was dir Freude bereitet. Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann tu einfach das was dich glücklich macht.“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Das war absolut keine Lösung für meine Probleme und im Moment hatte ich auch keine Ahnung, was mich glücklich machen könnte, aber es war ein netter Ratschlag, den ich mir mit Sicherheit merken würde.

„Ja, so gefällst du mir gleich viel besser.“

„Danke“, sagte ich und meinte es auch ehrlich.

„Nichts zu danken. Aber jetzt solltest du besser nach Hause gehen“, sagte er dann. „Das hier ist keine Gegend für ein junges Mädchen wie dich. Viele üble Typen, viel Gesindel.“

Ich wandte mich dem Mann zu, diesem Mann der weder Geld noch ein Zuhause besaß und trotzdem besser dran war als ich. In sein Leben waren weder Vampire noch Werwölfe eingefallen und er war kein Monster. Zumindest hoffte ich das. Einen Vampir konnte ich auf den ersten Blick erkennen. Jetzt wusste ich ja, wonach ich Ausschau halten musste. Doch bei den Werwölfen kannte ich das Erkennungsmerkmal nicht. Gab es überhaupt eines?

„Na los, geh nach Hause zu deinen Eltern, es wird sich sicher alles klären, du wirst schon sehen.“

Ich nickte, aber ich ging nicht. Weder als er sich verabschiedete, noch als die Nacht endgültig über mich hereinbrach. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen zu den Leuten zurückzukehren, die mich und mein Leben betrogen hatten.

Verdammt, ich hatte immer gemocht wer ich war, ich wollte niemand anders sein. Keine Prinzessin und ganz bestimmt kein Werwolf. Warum nur hatte mir das passieren müssen? Warum mussten die Monster aus den Mythologien und Legenden plötzlich zum Leben erwachen?

Die Frage war müßig, denn es gab darauf einfach keine zufriedenstellende Antwort.

Als ich irgendwann dann doch die Kraft fand mich zu erheben, fühlte mein Körper sich steif und taub an. Mein Herz war schwer und mein Kopf leer. Ich wollte nicht mehr denken, wollte das alles nur vergessen, aber es hatte sich in mein Hirn gebrannt. Jedes Wort, jedes Bild.

Leider konnte ich mich nicht ewig verstecken. Außerdem waren meine Klamotten dreckig, mein Geldbeutel leer und mein Herz nur noch ein Scherbenhaufen. Das Einzige was blieb, war der Weg nach Hause.

Die Nacht war ruhig, als mich meine Füße langsam durch die Straßen trugen. Da ich mein ganzes Geld schon für die Taxifahrt ausgegeben hatte, blieb mir gar nichts anderes übrig, als auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurückzugreifen. Zwei Mal musste ich umsteigen, bis ich die Buslinie fand, die mich bis fast vor meine Haustür brachte. Von hier aus waren es nur noch ein paar Minuten Fußweg, aber als ich den Bus verließ, stand ich einfach nur unschlüssig da und war mir nicht sicher, ob ich wirklich weiter gehen konnte. Meine Beine jedenfalls verweigerten mir ihren Dienst und das Zittern meiner Hände konnte ich nur unterdrücken, indem ich sie mir unter die Achseln steckte.

Ich hatte Angst, wurde mir klar. Ich fürchtete mich vor dem was nun zwangsläufig auf mich zukam, einfach weil ich mir nicht mal im Ansatz vorstellen konnte, was das sein würde. Das war als würde ich blind durch einen dunklen Raum tappen, in dem es absolut nichts gab, an dem ich mich orientieren konnte.

Vielleicht sollte ich einfach auf den nächsten Bus warten und wieder wegfahren. Das würde mich zwar nicht weiterbringen, aber das Unbekannte noch ein wenig herauszögern.

„Mau.“

Erschrocken fuhr ich zusammen. Elvis. Dieser miese Kater! „Musst du mich so erschrecken?“

„Mauau.“

Gott, sowas konnte er doch nicht mit mir machen, wenn ich vor Nervosität sowieso bereits auf dem Zahnfleisch nagte.

Er jedoch schien das ganz anders zu sehen. Seelenruhig und sich keiner Schuld bewusst, kroch er unter einem der Zierbüsche hinter Haltestelle hervor und schmiegte sich schnurrend um meine Beine. Dann ging er ein paar Schritte die Straße hinunter und maunzte mich auffordernd an als wollte er, dass ich ihm folgte. Wahrscheinlich war sein Fressnapf leer und da der Herr es als Frevelhaft empfand, sich von jemand außer mir persönlich füttern zu lassen, sollte ich wohl meinen Hintern in Bewegung setzten. Doch um ehrlich zu sein, war es viel verlockender einfach wieder das Weite zu suchen.

Leider war die kleine Kratzbürste nicht sehr nachsichtig mit der Welt, wenn es um seinen Magen ging. Welchen Wert hatte da schon mein kleines Problem?

Unruhig zuckte seine Schwanzspitze hin und her, und sein Blick war eindringlich auf mich gerichtet. „Mau.“

Okay, dachte ich und riss mich zusammen. Ich konnte ja auch nicht Ewig davon laufen. Schicksal ich komme und wehe dir mir gefällt nicht, was du für mich bereithältst!

Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und hatte dabei das Gefühl, dass ich gerade neu laufen lernen müsste. Es war, als würde die Ungewissheit mich lähmen und mir jede Bewegung noch erschweren.

Elvis wartete geduldig, bis ich an seiner Seite war, bevor er ohne nach links oder rechts zu schauen, über die Straße marschierte.

Ich lief ihm einfach hinterher. Ein Schritt nach dem anderen. Es war leichter sich auf ihn zu konzentrieren, als auf das, was direkt vor mir lag.

Jedes Stück das ich hinter mich brachte, ließ mein Herz ein wenig schneller schlagen. Die Straße lag still und leer vor mir, doch da war dieses leise Rauschen in meinem Ohren. Meine Hände waren vor Nervosität schwitzig und als ich Elvis einen Moment aus den Augen verlor, weil er in die Straße einbog, in der wir wohnten, war ich stark versucht einfach wieder umzudrehen und das Weite zu suchen. Doch dann hörte ich ihn wild und drohend fauchen und konnte gar nicht anders, als hinter ihm herzueilen, um nachzuschauen, was los war. Und was ich dann sah, ließ mich abrupt anhalten.

In der Zwischenzeit war es so spät, dass jeder normale Mensch sich eigentlich längst im Bett befinden sollte, aber vor unserem Haus herrschte hochtrieb. Nicht nur die Fenster waren hell erleuchtet, da waren auch ein Haufen Leute, von denen ich so gut wie niemanden kannte. Und sie alle, Männer und Frauen, trugen die gleiche schwarze Militäruniform, die auch schon diese Securitytypen auf dem Flohmarkt angehabt hatten.

Sie standen in kleinen Gruppen zusammen, oder liefen nebeneinander eilig die Straße entlang. Naja, zumindest taten sie das, bis sie mich bemerkten. Jeder – wirklich jeder einzelne von ihnen – heftete seinen Blick auf mich und stellte mich damit in den Mittelpunkt.

Ich schluckte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen nach Hause zu kommen.

Elvis fauchte eine Frau an, die ihm seiner Meinung nach im Weg stand. War das nicht unsere Nachbarin von gegenüber?

Sie beachtete das kleine aufgeplusterte Fellknäuel gar nicht. Genau wie jeder andere hier, galt ihre Aufmerksamkeit allein mir.

Das war unheimlich. Keiner bewegte sich, alle starrten mich nur an, als würden sie sich auf mich stürzen wollen, sollte ich auch nur einen Schritt in die falsche Richtung machen. Würde ich jetzt versuchen abzuhauen, würden sie sich vermutlich alle gleichzeitig versuchen mich aufzuhalten.

Ich hatte keine Ahnung, was genau das zu bedeuten hatte, aber ich war mir fast sicher, dass das etwas mit dieser Prinzessinnenkiste zu tun hatte.

Mit diesem Gedanken kam die Erkenntnis. Aber natürlich, das waren alles Werwölfe! Oh Gott, es konnte gar nicht anders sein. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das plötzlich wusste, aber die Sicherheit war mit einem Mal da und so fest in Stein gemeißelt, dass sich nicht an ihr rütteln ließ. Es war ein rein instinktives Wissen und es gefiel mir überhaupt nicht, dass ich es hatte.

„Mau.“

Elvis Aufforderung, ihm weiter zu folgen, machte mir bewusst, dass ich bereits seit Minuten unbewegt mitten auf der Straße stand und einfach nur Locher in die Luft starrte. Aber diese Atmosphäre hier war einfach … sonderbar.

Langsam und äußerst wachsam setzte ich mich wieder in Bewegung, immer dem riesigen, schwarzen Kater hinterher, der jedem, der uns zu nahe kam warnend anfauchte. Er sah aus als hätte er in eine Steckdose gegriffen und knurrte wie eine wütende Bestie – eine kleine Bestie.

Keiner dieser Leute kam uns zu nahe, aber jeder beobachtete mich. Selbst von denen, die ich bereits hinter mir gelassen hatte, konnte ich die Blicke im Rücken spüren. Das empfand ich als sehr unangenehm. Ich mochte es gar nicht, jemanden im Rücken zu haben, ohne dessen Absichten zu kennen.

Trotz meiner Unruhe versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen. Ich versuchte einfach die Schultern durchzudrücken und das Haupt selbstbewusst erhoben zu lassen. Es war bestimmt nicht gut, wenn ich Angst zeigte. Wölfe waren schließlich Raubtiere und die konnten sowas bestimmt riechen.

Als ich mich unserem Haus nährte, hörte ich ein paar Stimmen. Eine besonders laute stach nicht nur aus ihnen heraus, sie kam mir verdächtig vertraut vor. Das war Isabelle, Lucys Mutter. Und sie schien ziemlich wütend zu sein.

Zuerst verstand ich trotz der Lautstärke kein Wort von dem was sie sagte, doch je näher ich kam, desto deutlicher wurde ihre Stimme. „… euer ganzes Leben dazu ausgebildet, damit so etwas nicht passieren kann!“, war das erste, was in aller Deutlichkeit an meine Ohren drang. „Ihr seid beide Nahkampf erprobt und es will mir einfach nicht in den Kopf, wie ein unwissendes Mädchen euch einfach so entkommen konnte. Und jetzt kommt mir nicht wieder mit den ganzen Typen, die euch aufgehalten haben. Es waren nur Menschen, ihr hättet sie mit Leichtigkeit aus dem Weg schaffen …“

„Du selber hast mir doch beigebracht, dass wir uns unauffällig benehmen sollen!“ Das war Lucy. „Die Kerle vor den Augen des halben Einkaufcenters massenhaft niederzuschlagen fällt nach meiner Auffassung nicht unter unauffällig!“

„Aber doch nicht in einer solchen Situation!“, fauchte Isabelle nun förmlich. „Nicht wenn sich die Prinzessin in einem solch aufgelösten Zustand befindet!“

Ich lief am Gartenzaun entlang und konnte sie jetzt nicht nur hören, sondern auch sehen. Sie befand sich in meinem Garten und genau wie jeder andere hier trug auch sie diese schwarze Uniform, was ich ein wenig irritierend fand, da ich sie sonst nur in geblümten Kleidern und streng zugeknöpften Blusen kannte. Sie stand mit dem Rücken zu mir und war gerade schwer damit beschäftigt Lucy und Diego eine deftige Standpauke zu halten, weswegen sie wohl eine der Wenigen war, die meine Ankunft bisher noch nicht bemerkt hatte.

„Und jetzt seid ihr nicht mal in der Lage euren Schützling aufzuspüren!“ Sie raufte sich die Haare. „Jahre des Trainings und der Lehren und nun benehmt ihr euch wie zwei blutige Anfänger, die es noch nicht mal aus ihren Kinderschuhen geschafft haben. Wenn ich nur daran denke, dass du … hörst du mir überhaupt zu?“

Nein, Lucy hörte ihr nicht mehr zu, denn als ich in den Garten betrat, entdeckte sie mich und schien plötzlich taub für alles andere zu sein. Unter ihren Augen hatte sie tiefe schwarze Ringe, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen und ihre Hautfarbe war ein wenig blass. Sie sah fertig aus.

Als ihre Lippen meinen Namen formten und sie einen vorsichtigen Schritt auf mich zumachte, wich ich unwillkürlich vor ihr zurück. Ja, sie war meine Freundin, aber wenn ich sie nun anschaute, sah ich immer wieder, wie Tyrones Züge sich veränderten und überall aus seiner Haut Fell spross.

Sie war genau wie er. Und nicht nur das. Jahrelang hatte sie etwas äußerst Wichtiges vor mir verborgen und das konnte ich nicht so leicht vergessen. Das war, als hätte sie mich die ganze Zeit angelogen. Sie hatte mich etwas glauben lassen, was nicht der Wahrheit entsprach.

Als auch Diegos Blick auf mich fiel, drehte Isabelle sich herum, um zu erfahren, was da so interessant war und als sie mich dann erblickte, flackerte echte Erleichterung über ihr Gesicht.

Zunehmend verstummten auch die anderen Leute in unserem Garten und richteten ihre Aufmerksamkeit auf mich.

Ich sah Victoria, die mit Ausnahme von Diego und Lucy die einzige war, die nicht in einer dieser schwarzen Uniformen steckte. Auch David, Diegos Vater befand sich unter den Anwesenden. Er stand bei einer kleinen Gruppe, die sowohl aus Menschen, als auch aus ziemlich großen Hunden bestand. Obwohl, wenn ich genauer darüber nachdachte, waren das wahrscheinlich gar keine Hunde.

Keiner von ihnen kam auf mich zu. Wie schon auf der Straße, standen sie einfach nur da und warteten darauf, was ich tun würde. Eigentlich hatte ich gar keine große Auswahlmöglichkeit, weswegen ich mich einfach von ihnen allen abwandte und dann langsam aufs Haus zuging.

Die Tür stand sperrangelweit offen, sodass ich direkt in das hellerleuchtete Eingangsfoyer treten konnte und damit in die nächste Gruppe Uniformierter. Überall waren Werwölfe, sowohl in Menschlicher, als auch in tierischer Gestalt und sie alle sahen mich an.

Elvis ging nach wie vor, vor mir her, was sehr ungewöhnlich war, da er sich normalerweise nie in die unteren Etagen wagte. Aber er war sowieso ein sehr eigensinniger Kater, weshalb man bei ihm nie vorhersagen konnte was genau in seinem Katzenhirn vor sich ging.

Mit erhobenem Schwanz spazierte er das Foyer entlang, direkt auf die Treppe zu. Da ich ihm einfach auf Autopilot folgte, lief ich hinterher, doch als ich am Esszimmer vorbei kam, blieb ich unwillkürlich stehen.

Ein Dutzend Leute befanden sich in dem Raum, unter ihnen auch Edward Walker, der mit den Armen auf den Tisch gestützt zwei junge Männer anfunkelte, die scheinbar unter strenger Bewachung standen. Ryder und Tyrone.

Sie saßen an unserem Esstisch und wirkten nicht sehr glücklich darüber hier zu sein. Tyrone tippte immer wieder nervös mit dem Finger auf die Tischplatte.

Der Anblick der beiden versetzte mir einen kleinen Schock. Nicht nur, weil ich absolut nicht mit ihrer Anwesenheit gerechnet hatte, es führt mir plötzlich wieder glasklar vor Augen, was am frühen Nachmittag geschehen war.

Der Kuss …

Ein schmerzhafter Stich durchbohrte mein Herz. Nein, das war etwas, an das ich im Augenblick wohl besser nicht dachte. Genaugenommen sollte ich nie wieder daran denken.

„Langsam geht mir die Geduld mit euch beiden aus“, sagte der Sozialfuzzi und schaute grimmig von einem Bruder zum anderen. Wobei … konnten sie überhaupt Brüder sein? Sie gehörten ja nicht einmal der gleichen Spezies an. „Ich möchte nicht noch einmal fragen müssen.“

„Dann lassen Sie es doch einfach.“ Beinahe schon lässig lehnte Ryder sich auf seinem Stuhl zurück. „Sie haben doch schon unsere Ausweise, da steht alles.“

„Das sind Fälschungen und das weißt du genauso gut wie ich.“

„Ich? Nein. Ich bin völlig ahnungslos.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Aussage noch untermalen. „Ich weiß wirklich nicht …“ Und dann entdeckte er mich. „Cayenne!“ Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf die Beine, weswegen sich einer der Aufpasser wohl gezwungen fühlte, ihn an der Schulter zu packen, um ihn zurück auf seinen Stuhl zu drücken.

Zu seinem Leidwesen sah Ryder das aber ganz anders. Kaum dass der Mann ihn an der Schulter berührte, wirbelte er herum und schlug einfach zu.

Was folgte war ein Knacken, das sich äußerst schmerzhaft anhörte. Der Mann ging zu Boden, doch sofort waren drei weitere zur Stelle, die Ryder grob zurück auf seinen Platz verwiesen.

„Sitzen bleiben“, sagte ein Mann mit einem auffälligen Tribaltattoo auf dem Oberarm.

Verdammt, den hatte ich doch an dem Tag in der Uni gesehen, als die Brüder nach dem Gespräch mit dem Dekan einfach verschwunden waren. Was zum Teufel lief hier eigentlich?

Genau wie Ryder und auch jeder andere in diesem Raum, hatte er meine Ankunft mittlerweile registriert. Selbst der Mann mit der lädierten Nase, der sich mit der Hilfe eines Kollegen wieder auf die Beine arbeitete, warf einen Blick in meine Richtung.

Ich schaute von einem zum anderen und bemerkte dabei wie Tyrone mich beobachte. In seinem Blick lag eine Resignation, die ich mir nicht erklären konnte. Doch besonders lange blieb ich an Ryder hängen. Ihn hier zu sehen, schmerzte mehr, als ich es für möglich gehalten hatte.

Alles war eine Lüge gewesen.

Seine Augen flehten mich an. Er wollte offensichtlich mit mir reden, doch das würde niemand in diesem Raum erlauben. Und selbst wenn sie es täten, ich würde es nicht wollen. Ich wollte nie wieder mit ihm sprechen, oder ihn auch nur in meiner Nähe haben.

In diesem Moment wünschte ich nur, dass ich ihm niemals begegnet wäre.

„Cayenne!“

Der aufgebrachte Ruf meiner Mutter löste mich aus meiner Erstarrung. Plötzlich packte mich eine eiskalte Wut, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass sie in mir gelauert hatte.

„Cayenne! Gott sei …“

„Du!“ Ich schnappte mir eine der vielen Vasen, mit denen sie das ganze Haus dekoriert hatte und warf sie blind in die Richtung, aus der ich die Stimme hörte. Ich verfehlte sie um mehrere Meter, aber ein paar der Uniformierten mussten hastig zur Seite springen, um nicht von unverdaulichen Gegenständen getroffen zu werden. „Wie war das? In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse und du verbirgst überhaupt nichts vor mir? Ja, gar nichts, außer dass wir verdammte Werwölfe sind!“, schrie ich sie an und suchte nach einer weiteren Vase, aber die nächste stand zwei Meter von mir entfernt auf einem Beistelltisch.

Meine Mutter hob hob die Hände, als wollte sie mich mit dieser Geste beruhigen. „Cayenne, ich weiß, das Ganze ist nicht ganz einfach zu verstehen, aber bitte lass mich erstmal erklären, dann können wir …“

„Ich will keine verdammten Erklärungen!“ Nun überwand ich doch die zwei Meter und warf die nächste Vase nach ihr. Diesmal verfehlte ich sie nur, weil sie rechtzeitig auswich. Ich war so wütend auf sie, dass ich am liebsten ganz andere Dinge nach geworfen hätte. „Mir wurde heute schon genug erklärt und deswegen ist jetzt alles nur noch eine riesengroße Lüge!“

„Cayenne …“

„Ich wäre lieber die Erbin eines Mafiaclans, als die beschissene Brust eines Ungeheuers!“ Tränen der Wut stiegen mir in die Augen. „Wie konntest du mir das nur antun?“

„Hör mir doch bitte zu, ich …“

„Ich will dir aber nicht zuhören! Mein ganzes verdammtes Leben habe ich dir zugehört, habe dich praktisch angebetet und was hat mir das gebracht? Nichts als Lügen! Wegen dir bin ich ein verdammtes Monster, ein Monster wie du auch eins bist und wie scheinbar jeder gottverdammte Mensch in meinem Leben es ist! Ab sofort bist du für mich gestorben, ich hasse dich!“

Bei den letzten Worten wurde meine Mutter ganz blass, aber ich spürte keine Reue. Sie war meine Mutter, sie hätte es mir sagen müssen und mich nicht mit einer Lüge aufwachsen lassen dürfen. Darum hatte sie es nicht besser verdient.

Ich warf ihr einen letzten vernichtenden Blick zu und rannte dann die Treppe nach oben. Dabei stieß ich noch unseren Gärtner zur Seite, der – Überraschung, Überraschung – auch in schwarz durchs Haus lief. Ich war umgeben von Werwölfen. Jeder verdammte Scheißkerl in meinen Leben war ein beschissener Werwolf! Es war ein einziger Alptraum, aus dem es kein Erwachen geben würde.

Elvis flitzte an mir vorbei und wartete bereits an meiner Zimmertür, bevor ich sie erreicht hatte. Ich ließ ihn rein, schlug die Tür dann mit einem Knall hinter mir zu und verriegelte sehr nachdrücklich und lautstark das Schloss. Ich wollte niemanden von ihnen sehen, nie wieder! Jeder den ich zu kennen glaubte, hatte mich betrogen, sogar Menschen, mit denen ich kaum etwas zu tun hatte. Sie alle hatten mir etwas vorgespielt und dafür hasste ich sie. Sie alle, jeden Einzelnen von ihnen.

Meine Hände zitterten, mein Herz raste wie wild und als ich die Bilder an meiner Wand sah, die von glücklichen Kindertagen zusammen mit meiner Mutter und meinen Freunden erzählten, packte mich die Wut erneut. Ich riss sie von den Wänden und schmiss sie gegen die nächste Wand.

Mit einem Hechtsprung rette sich Elvis auf meinen Schrank, um das ganze aus sicherer Entfernung zu beobachten. Von dort aus konnte er dabei zuschauen, wie ich weitere Bilder von der Wand riss und sie von mir schleuderte, eins genau ihn meine Filmsammlung und plötzlich hasste ich auch sie. Ich riss alles aus meinem Regal raus und schmiss es auf den Boden. Ich trat darauf herum, weil ich ich die Filme einfach nur noch zerstören wollte. Ab sofort brauchte ich keinen Horror mehr auf der Mattscheibe, denn er hatte leibhaftigen Einzug in mein Leben erhalten und würde mich für den Rest meiner Tage begleiten, ohne dass ich die Chance bekam ihm zu entkommen. Werwölfe und Vampire auf DVD? Ha! Ich brauchte nur nach unten zu gehen und dort würde ich sie Live und in Farbe haben!

Eine Keramikfigur von einer schönen, jungen Vampirlady, mit blutigen Zähnen fiel mir in die Hände. Ich hatte sie auf einem Trödelmarkt entdeckt und gekauft, weil sie mir so gefiel, aber jetzt hasste ich auch sie. Mit aller Kraft schleuderte ich sie von mir. Sie knallte gegen die Wand, zerschellte dort und fiel in ihren Einzelteilen auf meine Kommode.

Dann sank ich einfach auf die Knie. Tränenüberströmt, mit zitternden Händen saß ich inmitten den Überresten meines Lebens. Nichts hatte noch einen Wert für mich.

Ich saß einfach da, bis ich eine kleine, raue Zunge an meiner Hand spürte. Elvis war vom Schrank heruntergekommen und wollte mich trösten. Der Einzige in meinem Leben, der mich nicht verraten hatte. Ich zog ihn auf meinen Schoss, schlang die Arme um seinen warmen Körper und weinte leise.

Aber nicht mal diese kurze Pause war mir heute vergönnt. Kaum das Ruhe in mein Zimmer eingekehrt war, versuchte jemand sie von außen öffnen. Als das aus offensichtlichen Gründen nicht funktionierte, verlegte man sich aufs Klopfen.

„Cayenne? Schatz, bitte lass mich rein.“

Aber sicher doch. „Ich habe dir gesagt, du bist für mich gestorben, also verzieh dich!“

„Das kann ich nicht, wir müssen miteinander reden.“

Sie wartete auf eine Reaktion, da es meiner Meinung nach aber nichts mehr zu sagen gab, blieb die aus.

„Cayenne?“ Sie klopfte wieder. „Bitte mach die Tür auf.“

Ich lehnte mich mit dem Rücken an Bett und drückte Elvis an meine Brust. Bevor ich diese Tür wieder öffnete, würde ich in diesem Zimmer verrotten.

Noch ein Klopfen. „Cayenne.“

„Geh weg, verdammt noch mal!“, fauchte ich und wischte mir missmutig Tränen von der Wange.

Einen Moment blieb es ruhig. Aber ich hörte keine Schritte, also war mir klar, dass sie nicht wegging. „Wenn du die Tür nicht freiwillig aufmachst, werde ich sie aufbrechen.“

Bitte? War denn in diesem Haus plötzlich gar nichts mehr heilig? „Ich will dich nicht sehen, kapierst du das nicht?!“

„Es tut mir leid, aber darauf kann ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Also bitte öffnen die Tür.“

Das tat ich nicht. Ich bewegte mich kein Stück, drückte Elvis einfach nur ein wenig fester an mich, als könnte er mir den Schutz und den Trost geben, den ich im Moment so dringend brauchte.

„Bitte Schatz.“ Diese zwei Worte waren fast ein Flehen, das ein kleinen wenig verzweifelt klang. Aber ich würde mich nicht davon einwickeln lassen. Ich würde mich nie wieder von ihr einwickeln lassen. Sie konnte von mir aus zur Hölle fahren und dort verrotten. Obwohl, wenn man es genau nahm, befanden wir uns ja bereits dort.

Als ihr wieder nur Stille antwortete, hörte ich meine Mutter durch die Tür seufzen. Und dann erklangen endlich die Geräusche sich entfernender Schritte, was mich ein kleinen wenig aufatmen ließ. Ich wollte sie wirklich nicht sehen. Ich wollte keine Ausreden und Erklärungen hören, den sie würden nichts – rein gar nichts – besser machen.

Ich wollte einfach nur, dass man mich in Ruhe ließ, damit ich wenigstens die Chance bekam, das irgendwie zu verarbeiten.

Aber dann kehrten die Schritte zurück und dieses Mal waren sie nicht alleine. Das mussten mindestens vier oder fünf Leite sein.

Wieder klopfte es. „Cayenne? Ich bitte dich ein letztes Mal, öffne die Tür.“

Verdammt noch mal. „Lass mich doch einfach in ruhe!“, schrie ich sie an.

„Tut mir leid, das kann ich nicht.“ Sie seufzte geschlagen. „In Ordnung, brecht sie auf.“

Wie bitte? Das war doch wohl ein schlechter Scherz.

Aber dann hörte ich, wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte. Es knackte und knirschte wie splitterndes Holz. Dann zitterte der Rahmen und im nächsten Moment flog die Tür nach innen auf und donnerte mit einem Knall gegen meine Wand.

Ich konnte nur sprachlos zu dem Mann mit dem Stemmeisen schauen, der höflich einen Schritt zurück machte, damit meine Mutter Platz hatte.

Sie schaute vergrämt aus und schien eine ganze Wagenladung voll Kummer mit sich herumzutragen. Aber sie wirkte auch unnachgiebig, als sie meine verweinte Gestalt auf dem Boden sitzen sah. „Ob es dir gefällt, oder nicht, wir beide werden uns jetzt unterhalten.“

 

°°°°°

Der Schleier lüftet sich

 

Meine Hände krallten sich in Elvis Fell. Ich brauchte diesen Halt um nicht einfach schreiend aufzuspringen und wieder mit der Einrichtung um mich zu werfen. „Warum tust du das?“, fragte ich sehr leise und verfluchte mich dafür, dass meine Stimme zum Schluss hin fast wegbrach. „Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“

Sie wirkte einfach nur traurig. „Weil ich deine Mutter bin“, war ihre schlichte Antwort.

Meine Mutter. Meine ganz persönliche Lügnerin traf es wohl weitaus besser.

Einen Moment schaute sie mich einfach nur an, dann wandte sie sich seufzend zu den vier anderen Personen um, die hinter ihr warteten. Eine von ihnen war Victoria. „Danke für die Hilfe, ihr könnt jetzt gehen.“

Keiner bewegte sich.

„Bitte“, sagte sie sehr nachdrücklich.

Victoria schüttelte den Kopf. „Nein, Celine. Die Aufsicht und Sicherheit der Prinzessin liegt in unserer Verantwortung und da das Geheimnis nun keines mehr ist, besteht auch kein Grund mehr sich zu verstellen. Ich trage in diesem Haus die Verantwortung, meine Befehle sind eindeutig und darum werde ich dich nicht mit ihr allein …“

Meine Mutter schlug so heftig mit der flachen Hand gegen meine Wand, dass sie eine richtige Delle im Mauerwerk hinterließ.

Was zur Hölle … ich traute meinen Augen kaum.

„Geht“, knurrte sie und dieses eine Wort sorgte dafür, dass sich plötzlich alle unter ihrer Stimme wegduckten. Ja selbst ich hatte auf einmal das Bedürfnis den Kopf einzuziehen.

Victoria funkelte sie an, neigte dabei aber unterwürfig den Kopf. „Ich werde ein paar Wachposten im Garten positionieren.“

„Tu was du nicht lassen kannst.“

Sie schaute meine Mutter noch einmal sehr eindringlich an. „Mach keine Fehler, Celine, das könnte dich den Kopf kosten.“

Mama erwiderte ihren Blick nur stumm, als würde sie versuchen die andere Frau in den Boden zu starren. Und es funktionierte. Nicht nur Victoria, auch die drei Männer schienen unter diesem Blick immer kleiner zu werden, bis sie sich schließlich wortlos abwandten und im Gänsemarsch die Treppe nach unten gingen.

„Sie hat Angst, dass ich dich entführe“, sagte sie leise, als glaubte sie ich wollte eine Erklärung für diese kleine Szene. „Ich habe es wohl einmal zu oft versucht.“

Hä? Meine Mutter hatte versucht mich zu entführen? Wann?

Beinahe bedächtig drückte meine Mutter die Tür zu. Allerdings sprang sie sofort wieder einen Spalt auf. Das Schoss war nicht nur beschädigt, es war nahezu herausgebrochen. „Ich werde das wieder reparieren lassen.“

„Spar es dir, so brauchst du das nächste Mal einfach kein Brecheisen.“ Ich konnte noch immer nicht glauben, dass sie das wirklich getan hatte. In diesem Haus war wirklich nichts mehr heilig.

„Es tut mir leid, Cayenne, aber ich muss mit dir sprechen.“ Sie drehte sich zu mir herum und ließ ihren Blick über das Chaos wandern, dass ich hier veranstaltet hatte. „Und du musst mir zuhören.“

Ich musste?! „Ich will dir aber nicht zuhören! Ich will einfach nur, dass du verschwindest und mich in Ruhe lässt! Also warum tust du uns nicht beiden den Gefallen und gehst einfach wieder durch diese Tür?!“

„Weil du wissen musst, was auf dich zukommt!“, fauchte sie mich an und rieb sich dann verzweifelt über die Stirn. „Es ist scheiß egal was ich will, oder was du willst, du musst wissen was dich jetzt erwartet. Du musst dir ein dickes Fell anschaffen und eine Stärke entwickeln, die … scheiße!“ Ihre Hand wanderte zu ihren Augen und ich hatte das starke Gefühl, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. „Ich hab immer nur versucht dich vor all dem zu beschützen und diese Welt von dir fernzuhalten, aber dann sind diese Jungs aufgetaucht und die haben irgendwas gemacht, um deinen Wolf zu wecken.“ Sie gab ein bitteres Geräusch von sich. „Und nun wird alles anders werden.“

„Das ist es doch schon“, sagte ich so leise, das selbst ich es kaum verstand.

„Da täuschst du dich.“ Sie schaute mich einen Moment an und begann dann unruhig im Raum auf und ab zu laufen. „Um zu verstehen, was nun passiert, musst du wissen, was geschehen ist. Du musst wissen, wer du bist und wer du sein sollst und … ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll.“

Na wenn sie es nicht wusste, dann sollte sie vielleicht wirklich einfach wieder gehen und mich in Ruhe lassen.

„Okay“, sagte sie dann, steuerte meinen Schreibtischstuhl an und ließ sich mit einem Seufzen darauf nieder. Dann saß sie eine ganze Weile einfach nur schweigend da, als müsste sie erstmal die Gedanken in ihrem Kopf ordnen. „Okay“, sagte sie dann wieder. „Hör mir zu. Ein Wolfsrudel funktioniert anders als die menschliche Gesellschaft. Es gibt drei Gesellschaftsschichten in dieser Hierarchie. Die Alphas, die Betas und die Omegas. Bis auf dich und mich ist jeder in diesem Haus ein Omega. Sie sind das Volk, das Rudel und die Schwachen, die wir beschützen und auch kontrollieren. Die Betas sind der Adel, die Unterstützer und in gewisser Weise auch das Bindeglied. Du und ich, wir beide gehören zu den Alphas und haben damit nicht nur die Macht jeden anderen Werwolf zu kontrollieren, sondern auch die Pflicht sie zu beschützen. Verstehst du das?“

Ich schaute sie nur stumm an. Zu diesem Schwachsinn würde ich mich bestimmt nicht äußern. Alphas und Omegas? Das ganze hatte auch noch eine Struktur? Ich war wirklich in einem verdammten Film gelandet.

„Bitte Cayenne, ich weiß, dass du nicht mit mir sprechen willst, aber ich muss wissen, ob du verstehst, was ich sage.“

„Ich bin ein Alpha, ein Beschützer und ein Held der Moderne, der, um sein Revier zu markieren, einfach nur an einen Baum pinkeln muss. Und wenn ich was sage, werden ab sofort alle anderen angekrochen kommen, um mir die Füße zu küssen.“

In ihren Augen war das wohl genauso witzlos wie in meinen. Wieder seufzte sie und verfiel für einen Augenblick in Schweigen. „Prinzessin Celine Amarok, Tochter von König Isaac Amarok und Königin Geneva Amarok, dritte in der Thronfolge des Rudels der Könige, Titel durch Blut. Das ist der Name mit dem ich geboren wurde.“

„Das ist kein Name, das ist ein halber Lebenslauf mit eingebautem Stammbaum.“ Oder auch einfach eine Zumutung.

Ihr Mundwinkel zuckte ein wenig. „Im Allgemein hat man mich einfach nur mit Prinzessin Celine angesprochen.“

Okay, das konnte man sich merken.

„Ich bin nicht nur ein geborener Alpha, ich bin eine Tochter des Königshauses und somit in einem Schloss aufgewachsen.“

Ahja. Sie war nicht nur eine Prinzessin, nein, natürlich nicht. Sie war auch noch in einem Schloss groß geworden. Ich befand mich also doch nicht in einem Horrorfilm, ich befand mich in einem Märchen. „Mit Zinnen und Türmchen und vielen kleinen Dienern, die dich von vorne bis hinten bedient haben.“

„Ja.“

Das war so sachlich und ernst ausgesprochen, dass mir dazu absolut nichts mehr einfiel.

„Ein Alpha zu sein ist keine leichte Aufgabe. Besonders als Prinzessin gibt es viele Regeln und Gebräuche zu beachten, die alle streng eingehalten werden müssen. Jeder Wolf im Rudel schaut auf dich und du darfst dir keine Fehler erlauben, weil du sonst den Unmut des Rudels auf dich ziehen kannst. Alles befindet sich in einem empfindlichen Gleichgewicht. Das hat mein Vater immer zu mir gesagt und glaub mir, wenn ich dir sage, dass er genau weiß, wie er seine Regeln und Gesetze durchzusetzen hat. Nicht mal in meiner Kindheit war er besonders nachsichtig mit mir gewesen.“

Hörte sich in meinen Ohren ein wenig nach Tyrann an.

„Mein Leben als Prinzessin war nicht unbedingt ein Regenbogen mit vielen kleinen Einhörnern, aber es war in Ordnung. Ich bin damit klar gekommen.“

„Aber?“

Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schien tief in die Vergangenheit abzutauchen. „Ich war gerade mal zwanzig, als ich im Auftrag meine Vaters ein paar Tage wegen eines Geschäftstermins nach Würzburg reisen musste. Es ging um mehrere Immobilien in der Nähe des Guttenberger Waldes. Ich hatte schon immer ein Händchen für Immobilien gehabt und …“ Sie stockte. „Nicht so wichtig. Jedenfalls … nach einem dieser Termine habe ich in einem kleinen Bistro eine Pause eingelegt. Der Barista, der an diesem Tag hinter der Theke beschäftigt war, hieß Jeremy Kottmann.“

„Mein Vater.“

Sie nickte. „Um zu verstehen was danach geschah, musste du das oberste Gesetz des Rudels kennen. Niemand, kein Alpha, kein Beta und auch kein Omega, darf die verborgene Welt gegenüber den Menschen offenbaren. Was Menschen nicht kennen, fürchten sie und was sie fürchten, das wollen sie töten. Es gibt viele Werwölfe, viel mehr, als du dir das wahrscheinlich vorstellen kannst. Aber die Menschen sind uns trotzdem mindestens eins zu tausend überlegen. Verstehst du?“

„Ja, ich kann rechnen. Viele Werwölfe, aber noch viel viel mehr Menschen.“ Ich begann damit Elvis hinter den Ohren zu kraulen. Sofort schloss er genussvoll die Augen.

Mama wirkte nicht sehr zufrieden mit dieser Antwort, beließ es aber dabei. „Als ich mir nun bei Jeremy meinen Kaffee holte, begann er mit mir zu flirten. Er war nicht nur ein gutstehender Mann gewesen, er war auch äußerst charmant und witzig. Doch was mich wirklich an ihm fasziniert hat, war seine offene Lebensfreude. Er konnte wirklich an allem etwas gutes finden, selbst an einer dreckigen Tasse, die er putzen musste. So hat man was zu tun und bleibt in Bewegung. Das hat er damals zu mir gesagt.“

Das war irgendwie ein wenig … exzentrisch.

„Ich weiß bis heute nicht was genau es war, dass mich dazu bewegte das Bistro am nächsten Tag noch einmal aufzusuchen. Oder an dem darauffolgendem. Die ganze Woche in Würzburg war ich jeden Tag dort gewesen und am letzten Tag haben wir sogar etwas zusammen unternommen. Leider musste ich dann zurück nach Silenda.“

„ Silenda?“

„Die Königsstadt der Werwölfe, der Ort an dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Er befindet sich an der Grenze zu Österreich, am südlichen Ende des Königssees.“

Also, die hatten es echt, mit diesem Monarchenkram.

„Wie bereits gesagt, ich musste zurück, aber schon nach wenigen Tagen hat er mir unheimlich gefehlt, also ging ich zu meinen Vater und behauptete, ich müsste wegen der Immobilie noch einmal nach Würzburg und er ließ mich gehen. Das tat ich drei Mal und mit jedem Mal wurde die Verbindung zu Jeremy stärker. Wir verliebten uns hoffnungslos ineinander, aber da ich nun einmal war wer ich war, gab es praktisch nichts, was ich ihm von mir erzählen konnte. Er liebte mich, aber ich war noch immer ein großes Geheimnis für ihn, einfach weil es mir verboten war, ihm etwas zu erzählen. Ja, ich konnte ihm nicht einmal sagen, woher genau ich kam. Ich tauchte immer auf, blieb ein paar Tage und verschwand dann wieder in die Nacht. Er wusste, dass ich ihm etwas verheimlichte. Das war nicht nur für mich belastend gewesen.“

Das konnte ich mir vorstellen.

„Kurz vor meiner letzten Abreise stellte er mich deswegen vor die Wahl. Entweder ich würde ihm mein Geheimnis offenbaren, oder ich sollte nicht wiederkommen, denn so wie es war, hätte es keinen Sinn.“ Sie seufzte schwer. „Dies war eine Entscheidung, die mir nicht leichtgefallen ist. Wenn ich ihm alles erzählte, verstieß ich nicht nur gegen das Gesetz, das Risiko ihn zu verlieren blieb trotzdem bestehen, einfach weil ich nicht wusste, wie er es aufnehmen würde. Aber … naja. Du musst wissen, wenn ein Wolf sich bindet, ist das etwas, dass man nicht mehr rückgängig machen kann. Jeder von uns hat nur den einen wahren Gefährten in seinem Leben und in Jeremy hatte ich nun einmal meinen gefunden.“

Das erklärte zumindest, warum meine Mutter nie einen Freund hatte.

„Es dauerte sehr lange, bis ich eine Entscheidung traf und mich dann bei Nacht und Nebel aus dem Staub machte, um ihn nicht zu verlieren. Ich wusste, dass mein Vater eine solche Verbindung niemals billigen würde. Ein Alpha und ein Mensch? Skandalös. Darum sagte ich mich von ihm und allem was ich kannte los und ging zu Jeremy. Der Freute sich natürlich wie wahnsinnig. Naja, zumindest bis ihm ihm zeigte, wer ich wirklich war.“ Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Als ich mich direkt vor ihm verwandelte, ist er aufgesprungen und wollte weglaufen. Ich habe stunden gebraucht um ihn zu beruhigen und ihm zu erklären, was es mit den Werwölfen auf sich hatte. Und am Ende … ja, am Ende war er regelrecht fasziniert von der ganzen Sache.“

Tja, da unterschied ich mich dann wohl von meinem Vater. Mich faszinierte rein gar nichts an diesem Albtraum.

„Natürlich konnten wir nicht in Würzburg bleiben, denn ich wusste, sie würden nach mir suchen, weswegen wir kurzerhand einfach von der Bildfläche verschwanden. Damit begann wohl die schönste Zeit meines Lebens. Als ich dann kurz darauf auch noch mit dir schwanger wurde, war unser Glück perfekt. Fast ein Jahr waren wir einfach nur glücklich und ich begann schon zu vergessen, dass da etwas in den Schatten lauern könnte. Aber dann … dann änderte sich alles.“ Bedrückt senkte sie den Blick. „Jeremy starb und dann fanden sie mich und brachten mich zurück zu meinen Eltern. Und mein Vater tat das, was er immer tat, er befolgte die Gesetzte. Er verbannte mich aus dem Rudel und erkannte mir sowohl meinen Stand, als auch meinen Titel ab. Aber das war nicht das Schlimmste, denn da warst ja auch noch du. Ein kleines unschuldiges Baby, ein Misto, aber auch ein direkter Nachkomme der Alphalinie.“ Sie begann damit an einem Faden ihrer Bluse zu zupfen, „Du musst wissen, bei den Alphas wird sehr viel Wert auf die Größe der Familie gelegt. Je mehr Alphas es sind, desto stärker ist die Führung. Und du warst nun da und hattest vielleicht das Potential einer von ihnen zu sein. Aber bei einem Misto konnte man sie niemals sicher sein, ob er irgendwann wirklich erwachen würde, also konnte meine Vater dich unmöglich bei sich behalten, wie es mit Sicherheit sein erster Gedanke gewesen war. Hätte er mich in der Schwangerschaft erwischt, hätte er mich sicher zur Abtreibung gezwungen.“

Okay, den Kerl konnte ich definitiv nicht leiden.

„Also wollte er dich mir einfach wegnehmen und zu vertrauenswürdigen Lykanern geben, die ein Geheimnis bewahren konnten.“

Bitte?

„Auch bei ihnen hättest du erst erfahren, wer du bist, wenn du Zeichen des Wolfes gezeigt hättest. Aber … ich konnte das nicht zulassen. Ich hatte bereits alles andere verloren, ich konnte dich nicht auch noch verlieren. Ich hätte ihn deswegen sogar fast angegriffen, aber dann schritt meine Mutter ein und sorgte dafür, dass du bei mir bleiben durftest.“ Sie schnaubte. „So mehr oder weniger.“

Ich verstand was sie meinte, denn so wirklich bei mir gewesen war sie nie.

„Wir wurden beide in dieses Haus gebracht. Vertrauenswürde Lykaner wurden dazu abgestellt nicht nur mich, sondern auch dich im Auge zu behalten.“

„Victoria.“

Sie nickte. „Ja, Victoria ist eine von ihnen. Am Anfang war es ein Mann namens Joel.“

„Mein Kindermädchen?“ Das überraschte mich jetzt aber doch.

„Er ist eigentlich ein Wächter, aber ja, du kanntest ihn als dein Kindermädchen. Aber er war nicht der einzige, doch um den Schein zu waren, durfte nur er bei uns im Haus wohnen. Da mein Vater mich für meinen Verrat aber noch immer bestrafen wollte, gab er mir einen Job als Beraterin. So jedenfalls lautet meine offizielle Berufsbezeichnung, doch im Grunde hat er damit nur dafür gesorgt, dass ich in seinem Auftrag Tage und Wochen das Haus verlassen musste, damit ich mich um verschiedene Belange in aller Welt kümmern musste.“

So ein Mistkerl.

„Außerdem hielt man es für angebracht, dir, wie jeden anderem Alpha, ein paar Umbras an die Seite zu stellen.“

„Um-was?“

„Umbras. Das ist das lateinische Wort für Schatten. Das sind speziell ausgebildete Eliteleibwächter, die einen besonderen Stand im Rudel haben. Sie sind allein den Alphas unterstellt und sonst niemanden Rechenschaft schuldig.“

„Und solche Leibwächter habe ich?“ Ich schaute mich um, als würden sie jeden Moment aus irgendeiner Ecke gekrochen kommen. „Kenne ich sie?“

Nach dieser Frage schaute meine Mutter mich eine ganze Weile nur schweigend an. „Deinen ersten Umbra hast du kennengelernt, als du noch im Kindergarten gegangen bist. Es ist Lucy.“

Das erwischte mich eiskalt. „Was?“

„Lucy ist der erste Umbra, den man dir zugeteilt hat.“

„Aber … Lucy war damals doch selber noch ein kleines Kind. Sie kann unmöglich ein Bodyguard sein.“ Das war einfach nur lächerlich.

„Da du als Mensch aufwachsen musstest, konnte man dir nicht einfach einen fertig ausgebildeten Leibwächter an die Seite stellen. Das hätte mit der Zeit zu viele Fragen aufgeworfen. Man hielt es für besser, wenn dein erster Umbra zusammen mit dir aufwächst und somit deine Freundin ist. So einen Menschen würdest du ohne weitere Beanstandung jederzeit in deiner Nähe dulden, beziehungsweise, den Kontakt auch aus eignen Interesse heraus suchen.“

Ich konnte es nicht glauben. Das war einfach nur unfassbar. Lucy, das Mädchen, dass ich bereits seit meiner jüngsten Kindheit kannte, mir der ich alles – wirklich alles – geteilt hatte, der ich vertraute, die mir so viel bedeutete … sie war gar nicht meine Freundin, sondern nur ein Leibwächter, der dazu verpflichtet war in meiner Nähe zu bleiben. Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich. „Nein, das ist nicht wahr.“

„Es tut mir leid mein Schatz, aber genau so ist es. Lucy ist ein Umbra in Ausbildung und wurde nur in dein Leben gelassen, damit sie auf dich aufpasst.“

Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht wahr sein. Oh Gott, das war … das war ein Schock. Die ganzen Lügen gingen noch viel tiefer, als ich bisher angenommen hatte und es schmerzte auf eine Art, die ich nie für möglich gehalten hatte. Lucy war mein ganzes Leben lang meine Vertraute gewesen und jetzt … jetzt war sie nur noch ein Leibwächter.

Leider war meine Mutter mit dieser Eröffnung noch nicht fertig mit ihrer Geschichte. „Solange du ein Kind warst und nebenbei noch Joel hattest, war Lucy ausreichend, doch man wusste schon damals, dass man das nicht ewig so handhaben könnte. Jedem Alpha stehen mindestens zwei Umbras zur Verfügung und dein Kindermädchen würdest du mit der Zeit ablehnen, einfach weil es für jedes Kind irgendwann lästig wird, die ganze Zeit einen Erwachsenen hinter sich zu haben, der einem auf Schritt und Tritt folgt. Bei dir trat das früher ein, als man erwartet hatte. Bereits mit zwölf wolltest du nichts mehr von Joel wissen und bist ausgebüchst, wann immer du die Gelegenheit dazu bekommen hast. Das war der Zeitpunkt an dem man beschloss, Joel abzuziehen und wieder auf seinen Posten als Umbra an den Hof zu schicken. Deswegen haben wir damals ein Hausmädchen bekommen.“

Ich gab ein verbittertes Schnauben von mir. „Du meinst einen neuen Wachhund.“

Sie widersprach nicht. „Victoria nahm Joels Platz hier im Haus ein und war damit ab sofort für dich verantwortlich. Parallel dazu hat man die ganze Zeit einen weiteren Umbra ausgebildet, denn man in dein Leben integrierte, kurz nachdem du fünfzehn geworden warst.“

Bitte, nein, das konnte nicht sein.

„Da man sichergehen wollte, dass du ihn in der Anfangszeit nicht einfach abblitzen lässt, benutzte man einen ganz einfachen Trick, um ihn in deine Nähe zu bekommen.“

„Er gab sich als Lucys Freund aus.“ Die Worte waren nur ein Flüsterten, das von eine einzelnen Träne begleitet wurde.

Das was sich in den Augen meiner Mutter spiegelte war kein Mitleid, es war Kummer. „Ja, das ist richtig. Diego ist dein zweiter Umbra und im Gegensatz zu Lucy hat er seine Ausbildung bereits abgeschlossen. Damit steht es ihm nicht nur zu, in eigenem Ermessen auch gegen die Wünsche von Victoria zu handeln, da er nur meinem Vater Rechenschaft schuldig ist, er steht damit mehr oder weniger außerhalb der Hierarchie.“

Was auch immer das nun wieder bedeuten sollte. Eigentlich war es auch völlig egal. Diego war nicht mein Freund. Lucy war nicht meine Freundin. Alles war eine fürchterliche Lüge gewesen. Nichts von dem was ich kannte und liebte beinhaltete auch nur das kleinste Fünkchen Wahrheit. Ich war … allein. Ich hatte wirklich absolut niemanden.

„Bevor du erwacht bist, bestand die Aufgabe deiner Umbras nicht nur darin dich zu beschützen, sondern auch andere Wölfe von dir fernzuhalten. Wer nicht wusste, was sich in deinen Genen befindet, konnte nicht sehen, dass du mehr als ein Mensch bist. Nicht mal dein Geruch hat dich verraten. Aber ein Wolf spürt instinktiv seinen Alpha und fühlt sich zu ihm hingezogen.“

„Yannick“, flüsterte ich. Genau das war es doch gewesen, war Ryder in der Uni gesagt hatte.

„Ja, Yannick war so ein Fall. Sogar ein sehr extremer, weswegen ich ihn und seine Familie habe umsiedeln lassen. Ich konnte nicht riskieren, dass er ausversehen den Wolf in dir weckt.“

„Was?!“ Das war doch wohl ein schlechter Scherz. „Du hast mir das angetan?!“

Ihre Hände öffneten sich, als wollte sie fragen: was willst du hören? „Ich wollte dich immer nur beschützen und von dieser Welt fernhalten und ja, dazu war mir jedes Mittel recht. Ein gebrochenes Herz heilt, aber hat der Wolf erst einmal sein Haupt erhoben, gibt es kein Zurück mehr.“

Das heißt, ich sollte ihr dafür jetzt auch noch dankbar sein?

„Aber jetzt sind alle meine Bemühungen hinfällig. Diese beiden Jungs … sie haben das getan, was ich die ganze Zeit zu verhindern versucht habe und jetzt wird alles anders werden. Sobald mein Vater erfährt was hier geschehen ist, wird er dich sehen wollen. Wenn Eddy oder Victoria ihm bereits Bericht erstattet haben, dann weiß er es vielleicht sogar schon. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, ich erfahre sowas immer erst hinterher.“

Oh Gott, was sollte das nun wieder bedeuten? Würde dieser Isaac hier auftauchen und mir einen Besuch abstatten? Und was dann? Würde er mir ein Diadem auf dem Kopf setzten? Ich wollte nicht fragen. Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte einfach nur, dass es aufhörte.

Jedes neue Detail das sie an Licht zerrte, schien ein weiteres Stück aus mir herauszureißen. Es tat einfach nur noch weh.

„Aber ob er es nun schon weiß oder nicht, er wird es auf jeden Fall erfahren und dann … ich weiß nicht was er tun wird. Vielleicht lässt er alles wie es ist, einfach weil dein Wolf bisher sehr schwach ist.“

Vielleicht tat er es aber auch nicht. Und sie schien nicht bereit mir zu sagen, was in diesem Fall geschehen würde. Nicht um mich im Dunkeln tappen zu lassen, es hatte eher den Anschein, als wollte sie dieser Möglichkeit gar nicht stellen. Das nannte man dann wohl Verdrängungstaktik.

„Im Moment kann ich nur versuchen herauszufinden, was genau geschehen ist und was diese jungen Männer eigentlich von dir wollen. Und dass sie etwas wollen, ist eine unumstößliche Tatsache, denn egal was wir versucht haben, sie haben sich einfach nicht verscheuchen lassen.“ Ihre Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Ich werde dafür sorgen, dass sie für ihre Tat bestraft werden.“

„Warum?“, fragte ich. „Was haben sie den anderes gemacht, als jeder andere in meinem Leben? Sie kamen und logen, bei sich jeder nur bietenden Gelegenheit.“ Es konnte gar nicht anders sein. „Sie haben genauso mein Vertrauen missbraucht wie du und Lucy und Diego.“ Ich funkelte sie an. Sollte sie mir ruhig widersprechen. „Niemand von euch hat es für nötig gehalten, mir die Wahrheit zu sagen.“

„Ich kann verstehen, dass du das so empfindest, aber … wir wollten dich alle nur beschützen.“

Das ließ mich schnauben. „Ach ja? Wovor? Die einzige Gefahr der ich mich bisher gegenüber sah, ist der Betrug der Menschen in meinem Leben. Wobei, eigentlich gibt es in meinem Leben ja gar keine Menschen, da sich hier ja scheinbar jeder hin und wieder ein Pelz wachsen lässt! Scheiße, hör doch nur mal zu, was ich da rede! Ich bin das Kind eines verfluchten Werwolfs!“ Ich konnte nicht mehr länger sitzen bleiben und mir das in aller Ruhe anhören, sonst würde mein Kopf wohl einfach explodieren. Darum setzte ich Elvis zur Seite, erhob mich und ging zum Fenster. Dabei knirschten ein paar Glasscherben von irgendeinem Bild unter meinen Schuhen. Vielleicht würde ein wenig frische Nachtluft dafür sorgen, dass mein Kopf wieder klar wurde. Oder wenigstens, dass er in einem Stück blieb.

Doch als ich das Fenster hochschob und einen Blick in den Garten warf, erwarte mich dort eine Überraschung. Mindestens zwei Dutzend Leute standen verteilt um das Spalier herum und schauten wie eine einzige Person zu mir nach oben, als sie die Geräusche vernahmen. Victoria hatte wohl wirklich Schiss, dass ich einfach wieder verschwinden könnte.

„Wir wollten dich davor beschützen, eine Prinzessin sein zu müssen.“ Auch Mama erhob sich von ihrem Platz und stellte sich neben mich ans Fenster. Der Anblick, der sich ihr dort bot, schien sie nicht im mindesten zu überraschen. „Ich wollte nicht, dass du ein Leben in einem Käfig aus Regeln, Anstand und Etikette führen musst. Ich wollte, dass du frei sein kannst.“

„Aber stattdessen hast du mich in ein Konstrukt aus Täuschungen und Lügen gesteckt.“

„Es war das Beste so.“

Das konnte sie auch nur behaupten, weil sie immer die Wahrheit gekannt hatte.

„Aber jetzt …“

Als von unten auf einmal ein lauter Ruf durchs Haus hallte, drehten wir uns beide zur Zimmertür herum. Irgendwas kippte um. Ein Knall. Unruhen. Dann wieder ein lauter Ruf.

Plötzlich gab es im Garten ein lautes Klirren. Ich schaute gerade noch rechtzeitig heraus um sehen zu können, wie der Mann mit dem Tattoo am Arm mitten durch unsere Panoramascheibe flog und in einem Regen aus tausenden von Scherben auf unseren Rasen knallte. Ihm direkt auf den Fersen jagten zwei Schatten im Eiltempo aus dem Haus.

„Nicht schon wieder“, knurrte meine Mutter, als sie Ryder und Tyrone erkannten, die direkt auf unseren Zaun zujagten. Direkt hinter ihnen kam ein weiteres Dutzend Leute aus dem Haus gerannt. „Haltet sie auf!“, rief meine Mutter nach unten, aber die Leute die das Spalier bewachten, rührten sich nicht vom Fleck. Wahrscheinlich fürchteten sie, dass ich sonst die Gunst der Stunde nutzen würde und einfach in die Nacht verschwand. „Verdammt!“ Frustriert schlug Mama auf den Fensterrahmen, wirbelte dann herum und rannte aus meinem Zimmer.

Ryder und Tyrone erreichten währenddessen die Umzäunung, wobei der Vampir schneller war. Noch im Lauf sprang er und bekam so die obere Stange zu fassen. In einer einzigen Bewegung, zog er sich daran hoch, schaffte es weiß-Gott-wie sich oben rauf zu hocken und streckte gerade rechtzeitig den Arm nach unten, um Tyrones Hand zu ergreifen, als dieser seinem Beispiel folgte. Ryder riss seinen Bruder gerade rechtzeitig nach oben, bevor die Verfolger ihn an den Beinen Erwischen konnten.

Mit der Hilfe seines Bruders zog Tyrone sich nach oben, schwang sich über den Zaun und ließ sich dann einfach drei Meter in die Tiefe fallen.

Ryder dagegen richtete seinen Blick direkt auf mein Fenster und erblickte mich. In seinen Augen lag ein unglaublich tiefer Kummer, der sich in diesen kurzen Sekunden noch zu verstärken schien. Ich hatte das Gefühl, dass er zu mir wollte, um mir etwas wichtiges zu sagen, aber das ließen die Umstände natürlich nicht zu.

Ein paar der Verfolger versuchen auch an den Zaun zu springen, aber im Gegensatz zu den Brüder schienen sie keine Sprungfedern in den Beinen zu haben. Die meisten allerdings rannten zum Haupteingang, um ihnen auf diese Art auf den Fersen zu bleiben.

Meine Mutter kam aus dem Haus gerannt.

Tyrone brüllte seinen Bruder an, dass er endlich kommen sollte, drehte sich herum und rannte, dass es nur so staubte.

Ryders Lippen formten meinen Namen. Dann wandte er sich hastig ab, sprang mir rudernden Armen in die Tiefe und landete in der Hocke. Ich hätte mir bei diesem Manöver wahrscheinlich jeden Knochen gebrochen, doch er warf mir nur einen letzten Blick zu, eilte seinem Bruder dann hinterher und verschwand mit ihm Zusehens in der Nacht.

Und dann waren sie einfach fort. So plötzlich wie sie in mein Leben geplatzt waren, so schnell verschwanden sie nun auch und hinterließen nichts als einen großen Scherbenhaufen, zu dem mein Leben heute geworden war. Und doch spürte ich die Träne, die über meine Wange rann. Auf einmal hatte ich das schreckliche Gefühl, gerade etwas Wichtiges in meinem Leben verloren zu haben.

 

°°°

 

Ohne auf die neugierigen Blicke der fünftausend Anwesenden zu achten, trat ich in unsere Küche und strebte direkt nach hinten zu unserem Vorratsschrank. Nein, ausnahmsweise hatte ich es nicht auf meine sauren Gurken abgesehen, ich brauchte eine Mülltüte, denn irgendwo musste ich ja damit beginnen, die Scherben meines Lebens zu beseitigen.

Die Nacht war kurz und unruhig gewesen. Immer wieder hatte ich mich von einer Seite auf die andere gerollt und war dann schon in den frühen Morgenstunden völlig erschlagen aufgestanden. Als ich dann aus dem Bett gestiegen war, hatte ich mir direkt einen Glassplitter eingetreten. Darum hatte ich mich dazu entschlossen, nach einer schnellen Dusche, dem Chaos in meinem Zimmer den Gar auszumachen und befand mich nun auf der Jagd nach einer Mülltüte.

Die zu finden war allerdings gar nicht so einfach, da Victoria mal wieder umgeräumt hatte. Da ich mich aber weigerte mit ihr oder sonst jemand in diesem Haus Kontakt aufzunehmen, solange er mich nicht anmaunzte, suchte ich lieber mehrere Minuten die Kammer ab, bis ich die Tüten in einem kleinen Plastikkörbchen ganz unten in der Ecke entdeckte.

Als ich wieder aus der Kammer herauskam, schauten mich ein Haufen Leute an. Viele von ihnen trugen diese schwarzen Militärklamotten, die wenigstens kannte ich. Victoria, Edward Walker, David. Meine Mutter war nicht bei ihnen.

„Braucht ihr ein Passfoto?“, fauchte ich sie an, wandte mich dann mit erhobenem Haupt ab und verließ die Küche. Da kam man sich ja vor, als wäre man eine Kuriosität in dieser verdammten Freakshow. Wenn sie irgendwas anglotzen wollten, sollten sie den Fernseher einschalten.

Idioten.

Die Tür zum Esszimmer war angelehnt, doch als ich an ihm vorbei kam, hörte ich die vertrauten Stimmen von Lucy und Diego. Schon automatisch verlangsamten sich meine Schritte. Ich wollte zu ihnen, aber allein der Gedanke an die beiden tat weh. Sie waren keine Freunde, sie waren Fremde, Leute die man mir zugeteilt hatte. Umbra. Ich biss die Zähne zusammen und eilte die Treppe hinauf. Im Moment konnte ihn ihnen nicht begegnen. Genaugenommen wollte ich nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben. Die beiden konnten mir auf ewig gestohlen bleiben.

Mein Zimmer wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, lenkte mich ein wenig ab. Alles was ich kaputt gemacht hatte, landete in der Mülltüte, doch nicht alle Filme waren meinem Angriff zum Opfer gefallen. Darum sortierte ich aus denen die meiner Verzweiflung entkommen waren alle heraus, die nichts mit Werwölfen oder Vampiren zu tun hatte. Sie durften in mein Regal zurückkehren, der Rest landete in der Mülltüte.

Es dauerte ziemlich lange, das Chaos zu beseitigen. Besonders bei den vielen Glasscherben musste ich aufpassen, dass ich mir nicht die Hände zerschnitt. Ich hatte mehr Bilder von den Wänden geholt, als mir klar gewesen war.

Der Anblick der einzelnen Fotos versetzte mich in einen regelrechten Zwiespalt. In dem einen Moment war ich versucht sie zusammen mit den Rahmen in die Tüte zu feuern, dann legte ich sie doch auf meinen Schreibtisch, weil ich sie vielleicht wieder an die Wand bringen wollte, nur um sie bei meinem nächsten Blick darauf wieder wegwerfen zu wollen. Am Ende landeten sie bei dem Fotostreifen vom Flohmarkt und der leeren Ledermappe in meiner Schreibtischschublade und ich wusste nicht, ob ich es jemals wieder über mich bringen konnte, sie dort herauszuholen.

Als es nichts mehr weiter zu tun gab, schnappte ich mir den fast vollen Beutel, verknotete ihn und trug ihn nach unten.

Ein paar von diesen Armeetypen lungerten im Foyer herum, aber ansonsten schien sich das Haus nun weitestgehend geleert zu haben. In der Küche jedenfalls sah ich nur noch eine Handvoll Leute, die sofort wieder ihre Augen auf mich klebten, als ich den Raum betrat. Keiner von ihnen war mir bekannt.

Den Blick eines besonders interessierten Exemplars, erwiderte ich mit einer solchen Intensität, das er ziemlich schnell freiwillig das Gesicht abwandte und sich dann lieber auf die schöne Aussicht aus dem Fenster konzentrierte.

Mein Weg führte mich durch die Hintertür in die Garage, wo ich leider feststellen musste, dass die große Mülltonne schon ziemlich voll war. Darum überlegte ich kurz, ob ich die Tüte einfach daneben stellen sollte, versuchte dann aber doch, den Beutel zu dem restlichen Müll in die Tonne zu quetschen. Ich musste ziemlich viel Druck ausüben, damit sich hinterher der Deckel noch schließen würde und prompt bohrte sich eine verdammt scharfe Scherbe mitten in meine Handfläche.

Fluchend riss ich meinen Arm zurück und stierte verärgert auf das Blut, das aus dem langen Schnitt quoll. Es war genau die gleiche Stelle, an der ich mir bereits gestern die Hand aufgerissen hatte. Die gleiche Stelle, die Ryder kurz darauf geheilt hatte.

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Vielleicht sollte ich einfach dem Käfer die Schuld für alles geben. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich mich niemals an der Hand verletzt und würde jetzt noch immer in seliger Ungewissheit leben.

Dieser Gedanke schmeckte genauso bitter wie alles andere um mich herum.

Ohne das neugierige Gesindel zu beachten, marschierte ich leise vor mich hinschimpfend durch die Küche und versuchte dabei die Hand so zu halten, dass das Haus nicht in eine Kulisse von Scream verhandelt wurde. Als ich dann jedoch das obere Ende der Treppe erreichte und mich nach rechts wandte, blieb ich erst einmal abrupt stehen. Direkt vor meiner Tür standen Diego und Lucy.

Auf den ersten Blick wirkten sie so vertraut. Sie hatten sich in der Zwischenzeit umgezogen und schienen auch ein wenig Schlaf gefunden zu haben, aber als ich sie nun direkt vor mir hatte, konnte ich gar nicht anders, als an all das zu denken, was meine Mutter mir gestern gesagt hatte.

Lucy schaute mich nur einen Moment schweigend an, dann senkte ihr Blick sich auf meine blutende Hand. „Was ist passiert?“

Ich fuhr alle meine Verteidigungsschilde hoch, setzte eine undurchdringliche Maske auf und marschierte ohne sie oder Diego zu beachten auf mein Zimmer zu. Mit der Schulter drückte ich die Tür auf und nahm direkten Kurs auf mein Badezimmer. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, sie verschlossen und den Schlüssel weggeworfen, doch meine Mutter hatte dafür gesorgt, dass das in naher Zukunft nicht mehr möglich sein würde. So gab es nichts, was meine beiden Leibwächter daran hindern konnte, mir ins Zimmer zu folgen.

„Hey“, rief Lucy. „Jetzt warte doch mal.“

Das tat ich nicht. Und im Gegensatz zu der Zimmertür, konnte ich ihr die vom Bad durchaus vor der Nase zuknallen und mich dann dem Spiegelschrank über dem Waschbecken widmen, um nach Pflastern, oder irgend so etwas abzusuchen, um eine sofortige Not-OP einzuleiten. Ein kleiner, weißer Erste-Hilfe-Kasten kam zum Vorschein. Der würde wohl reichen.

Als sich die Badtür hinter mir öffnete, holte ich ihn gerade mit meiner unverletzten Hand heraus und stellte ihn auf den Waschbeckenrand.

„Kannst du mal mit den Kindereien aufhören?“, schnauzte Lucy mich auch direkt an.

Diego schlüpfte hinter ihr in den Raum.

„Könnt ihr nicht einfach verschwinden?“, gab ich zurück und versuchte mit einer Hand den blöden Kasten zu öffnen, was sich als problematischer erwies, als ich angenommen hatte. Das Blut klebte in der Zwischenzeit schon an meinem Arm, am T-Shirt, am Waschbecken und an dem Kasten selber.

Super, jetzt würde ich anschließend auch noch das Badezimmer putzen dürfen. Grummelnd versuchte ich mit nur einer Hand den blöden Verschluss von dem Kasten aufzubekommen.

Da sich Lucy sich dieses Leid wohl nicht mit gutem Gewissen anschauen konnte, trat sie seufzend an meine Seite und steckte die Hand nach dem Kasten aus. „Warte, ich helfe dir, so schmierst du nur alles voll.“

Bevor sie ihn berühren konnte, stieß ich ihn hastig zur Seite. Er fiel ins Waschbecken, sprang auf und verteilte seinen ganzen Inhalt in dem Keramik. Super, jetzt war er doch offen. Das war einfach nicht mein Tag. Aber es war immer noch besser, als ihre Hilfe annehmen zu müssen.

Lucy funkelte mich an. „Kannst du mir mal verraten, was der Blödsinn soll?“

„Ich kann das alleine.“ Mit nur einer Hand den Kasten wieder hochzustellen und den ganzen Inhalt einzusammeln, war ein wenig umständlich. Der Wunde gab es jedenfalls die Gelegenheit alles noch ein wenig mehr vollzuschmieren.

Leicht säuerlich stemmte sie die Hände in die Hüften. „Das ist doch albern. Lass dir helfen. Danach kannst du meinetwegen wieder deinen Film schieben, aber allein schaffst du das nicht, ohne dem Bad einen roten Anstrich zu verpassen.“

Leider musste ich mir eingestehen, dass sie damit nicht ganze unrecht hatte. Das passte mir nicht und machte mich wütend. Wütend auf mich, wütend auf sie und wütend auf die ganze verdammte Welt. Ich wollte mir nicht helfen lassen. Nicht von ihr und nicht von Diego. Aber wie es aussah, würde ich es alleine nicht schaffen, ohne eine riesige Sauerei zu veranstalten.

„Na komm“, sagte Diego und streckte mir die Hand entgegen, um meine zu empfangen.

Eine ganze Weile schaute ich sie nur widerwillig an. Dann kam ich ihm zwar nicht entgegen, resignierte aber mit einem schweren Seufzer und ließ es zu, als er zögernd danach griff.

Vorsichtig drehte er meine Hand so, dass er sich den Schnitt anschauen konnte. Dann machte er den Wasserhahn an und hielt sie darunter, um das ganze Blut wegzuspülen.

Es kühlte und brannte gleichzeitig. Aber vor allen Dingen tat es einfach nur weh.

Lucy stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute ihm über die Schulter. „Das sieht echt übel aus. Was hast du gemacht?“

Da ich nicht das geringste Interesse an ein Gespräch mit ihr oder ihm hatte, blieb ich stumm und beobachtete einfach, wie Diego mit vorsichtigen Bewegungen das Blut wegwischte.

Das gefiel meinem weiblichen Umbra offensichtlich nicht. Sie ließ sich zurück auf die Hacken fallen und kniff ihre Augen leicht zusammen. „Was soll das?“, fragte sie spitzt. „Wir haben nichts getan was dein Schweigen rechtfertigt, als hör auf damit so zu tun, als seinen wir Luft und rede gefälligst mit uns.“

„Ihr seid keine Luft, eher eckige Abgase, die die saubere Luft verpesten.“

Diego stellte den Wasserhahn ab und griff nach einem sauberen Handtuch, mit dem er vorsichtig die frische Wunde abtupfte. Dabei konzentrierte er sich so sehr auf seine Aufgabe, dass er mir nicht in die Augen schauen musste. Doch ich sah seine zusammengedrückten Lippen.

Lucy besaß diese Zurückhaltung natürlich nicht. „Ah, gut.“ Sie lehnte sich mit verschränkten Armen an die Dusche. „So willst du es jetzt also halten. Okay, meinetwegen, mach nur so weiter, rede dir nur dein eigenes Drama ein, bemitleide dich und dein armseliges Leben noch ein wenig mehr, vielleicht kannst du dich irgendwann wirklich davon überzeugen, dass du das bemitleidenswerte Opfer eines riesigen Komplotts gegen dich geworden bist.“

Das hatte sie jetzt nicht wirklich gesagt. Zorn brodelte in mir hoch und während Diego gerade nach dem weißen Kasten griff, riss ich meine Hand weg und wirbelte ich zu dieser falschen Schlange herum. „Das du dich erdreistest, so mit mir zu sprechen!“

Diego versuchte wieder nach meiner Hand zu greifen, aber ich trat einfach aus seiner Reichweite.

„Warum? Weil du die Prinzessin bist?“, spottete sie und machte mich damit noch wütender.

Dieses Miststück! „Nein, nicht weil ich die Prinzessin bin, sondern weil ich glaubte, du seist meine verdammte Freundin! Dabei bist du nur eine weiteres Lügenmaul, dass sich an dieser Intrige beteiligt hat!“, fauchte ich sie an. „Seit Jahren lasst ihr mich in dem Glauben, wir seien völlig normale Freunde, aber das sind wir nicht. Ihr seid nur Leibwächter, die mir zugeteilt wurden und diese ganze Farce unterstützen! Nicht ein einziges Mal seid ihr auf die Idee gekommen, mir die Wahrheit zu sagen, wie es echte Freunde getan hätten! Also steh jetzt nicht so selbstgefällig vor mir und tu so, als würde ich dir irgendwas bedeuten. Verdammt Lucy, weißt du eigentlich, was ihr getan habt? Ist dir überhaupt bewusst, was das Ganze für mich bedeutet?“

Meine Worte trafen sie nicht. „Bist du mit dem melodramatischen Teil jetzt fertig?“

„Ob ich …“ Es verschlug mir die Sprache. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.

Und Lucy war noch lange nicht fertig. „Nur zu deiner Information, nicht nur dein Leben ist beschissen. Du heulst herum wegen ein paar kleiner Lügen? Frag dich mal, wie es uns dabei ergangen ist. Glaubst du wirklich, es ist uns leicht gefallen, dich die ganzen Jahre im Dunkeln tappen zu lassen? Ich war erst sechs Jahre alt, als diese Tortur für mich begonnen hat. Ich war ein unschuldiges Kind, das niemals eine Wahl hatte. Niemand kam und setzte sich für ich ein. Ich wurde in dieses Leben gestoßen und musste dann lernen damit zurechtzukommen. Vom ersten Tag an wurde ich gezwungen meine wahre Natur vor dir zu verbergen und ein Geheimnis zu wahren, das für ein kleines Kind eigentlich viel zu groß war. Wenn Isabelle auch nur den Verdacht hatte, ich würde dir etwas sagen, drohte sie mir mich für immer aus deinem Leben zu entfernen und durch jemanden zu ersetzten, der für diese Stellung besser geeignet sei.“ Ihr Gesicht wurde zu einer bitteren Maske. „Sie erpressten mich mit meiner Zuneigung zu dir und unserer Freundschaft. Die ganze Zeit hatten weder Diego ich hatten ein eigenes Leben. Alles drehte sich immer nur um dich. Du glaubst, du wurdest um dein Leben betrogen? Du hattest wenigstens eins!“

Schwachsinn, sagte ich mir selber. Das war nur wieder ein Trick, um mich um den Finger zu wickeln. Arme kleine Lucy, so bemitleidenswert.

„Du hast keine Ahnung, wie es ist, in deinem Schatten zu leben“, fügte sie noch hinzu.

Okay, das reichte. Ich hatte sie nie gebeten, in meinem Schatten zu leben, ich konnte nichts dafür. „So“, sagte ich kalt. „Na dann erklär es mir doch. Erklär mir doch wie beschissen dein Leben war. Mal schauen, ob es mit meinem Mithalten kann.“

Sauer funkelte sie mich an. „Du willst es wissen?“

„Klar, warum nicht?“

„Lucy, nein“, mischte sich Diego ein. „Das gehört nicht hier …“

Mit einer Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. „Sie möchte es wissen, also soll sie es auch wissen.“

So wie sie das sagte, war ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich es wissen wollte, aber einen Rückzieher würde ich mit Sicherheit nicht machen. Diese Genugtuung würde ich ihr nicht gönnen. Sollte sie ruhig versuchen mich von ihrem schrecklichen Leben zu überzeugen.

„Etwas das du nie über Diego und mich erfahren hast, ist, dass wir beide Waisen sind, die vom Hof der Regenten aufgenommen wurden, um deine Umbra zu werden. Wir leben und atmen nur, damit du nachts sicher schlafen kannst.“

Ich zog die Stirn kraus. „Was soll der Quatsch? Ihr seid keine Waisen, ich kenne eure Eltern.“

„Nein“, widersprach sie sofort. „Tatsächlich kennst du unserer Eltern nicht. Ich stamme ursprünglich aus Russland. Das ist alles, was man über meine Herkunft weiß. Diego kommt aus einem kleinen Ort in Italien. Er war gerade mal ein paar Stunden alt gewesen, als man ihn vor einer Kirche der Menschen ausgesetzt hatte. Die Lykaner wurden nur auf ihn aufmerksam, weil er sich bei Vollmond in der Obhut seiner Pflegefamilie plötzlich in einen kleinen Wolf verwandelt hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für eine Panik bei den Leuten ausgelöst hat.“

Doch, das konnte ich. Sie mussten ähnlich reagiert haben wie ich.

„Die Leute von denen du glaubst sie seien unsere Eltern, sind unsere Ausbilder. Isabelle ist vielleicht das, was für mich einer Mutter am nächsten kommt, aber sie ist genauso wenig mit mir verwandt, wie du es bist. Sie ist nur meine Mentorin, die mir zugeteilt wurde, um mich auf meine Aufgabe als dein Umbra vorzubereiten.“ Ihre Lippen wurden dünn. „Und Diego hatte nie jemanden gehabt, der auch nur im Ansatz als Elternersatz gelten könnte. Seine Ausbildung war noch härter als meine. Nachdem du ihn ausgewählt hattest, wurde er in eine Kaserne zu einem Haufen Wächtern gesteckt, wo sein Tag daraus bestand zu lernen. Zu lernen wie man Kämpft, zu lernen wie man sich unauffällig bewegt, zu lernen wie man schweigt. Fehler durfte er sich nicht erlauben. Wenn er nicht schnell genug Fortschritte machte, hat er es bereut. Die Einzige die er hin und wieder hatte war ich, wenn ich in den Hof fuhr, anstatt irgendwo Urlaub zu machen, wie du es immer geglaubt hast. Er war ein Gegenstand, der gebraucht wurde und wurde auch als solcher behandelt, bis König Isaac vor vier Jahren entschied, dass es nun an der Zeit war, sich an deine Seite zu begeben, um die kleine undankbare Prinzessin zu beschützen.“

Was zum Teufel erzählte sie da für einen Mist? Ausbilder? Kaserne? „Ich habe nie jemanden ausgewählt. Du warst es doch, die mir Diego vorgestellt hat, ich habe ihn vorher nie gesehen.“

Lucy schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben wie naiv ich doch war. „Da täuschst du dich. Du hast nicht nur ihn, sondern auch mich ausgesucht.“

„Das ist nicht wahr!“ Ich war nicht für das verantwortlich, was Lucy da erzählte, das würde ich mir nicht in die Schuhe schieben lassen.

„Doch“, widersprach sie. „Ich sage nicht, dass du etwas dafür konntest, aber du hast dich für uns beide entschieden.

Mein Blick ging von mir zu Diego. „Nein.“

Ihr Kopf senkte sich ein wenig. „Du warst gerade vier, als man dich mit einem Haufen anderer Kinder in einen Raum gesperrt hat. Jung genug um zu vergessen, falls du etwas sehen solltest, dass eigentlich nicht für seine Augen bestimmt war, denn wir alle waren nichts als süße kleine Lykaner, die ihre Verwandlung noch nicht wirklich unter Kontrolle hatten.“

Was?

„Mit meinen sechs Jahren, war ich eine der Jüngsten dort, Diego mit seinen zehn einer der ältesten. Und …“

„Moment“, unterbrach ich sie. „Was erzählst du da für einen Blödsinn? Ihr seid genauso alt wie ich.“

Die beiden wechselten einen kurzen Blick, dann schüttelte Lucy den Kopf. „Nein. Ich bin einundzwanzig und Diego ist sogar schon fünfundzwanzig.“

„Aber … nein, das kann nicht sein.“ Das würde ja bedeuten … noch mehr Lügen und Falschaussagen. „Ich war bei all deinen Geburtstagen.“

„Auf denen ich immer jünger gemacht wurde, als ich in Wirklichkeit war. Man war der Meinung es sei von Vorteil, wenn du glauben würdest, wir wären ungefähr in deinem Alter. Alles für die Prinzessin.“ Das letzte Wort untermauerte sie mit einem äußerst herablassenden Ton.

Dafür funkelte ich sie an. Sie brauchte gar nicht so abfällig sein. Ich konnte am allerwenigstens etwas dafür. Ich hatte schließlich nicht darum gebeten, geboren zu werden.

„Wie dem auch sei. Wir waren also alle bei dir in diesem Raum und dann wartete man einfach, mit welchen der Kinder du dich am besten verstehen würdest. Diego hat damals nur den Raum betreten müssen, um deine Aufmerksamkeit zu erregen. Du hast dich sofort an seine Fersen geheftet und bist nicht mehr von seiner Seite gewichen. Darum wurde er auch sofort aus dem Raum entfernt und in den Hof geschickt, wo man direkt mit seiner Ausbildung begann. Solange er da war, hattest du absolut kein Interesse an einem der anderen Kinder.“

Das konnte nicht stimmen. Daran würde ich mich doch erinnern. Oder?

„Mit der Auswahl deines zweiten Umbras hast du dir mehrere Wochen Zeit gelassen, sodass man immer neue Kinder aus aller Welt herbeigeschafft hat, bis du dich für mich entschieden hast, weil ich dir mit deinem Stiftproblem geholfen habe.“

Daran erinnerte ich mich. „Lars.“

Sie nickte. „Damit war es entschieden. Man steckte mich in das Haus neben deines, damit ich in deiner Nähe sein konnte und so begann meine Ausbildung. An dem Tag als wir Freunde wurden, war meine Kindheit vorbei, aber habe ich dich dafür gehasst? Nein. Ich hatte dich gerne, ich wusste dass es nicht deine Schuld war und deswegen brauchst du dich jetzt auch nicht wundern, wenn ich keinerlei Mitleid mit dir habe. Dein Leben mag nicht das Beste sein und ich kann verstehen, dass du dich betrogen fühlst, aber es ist nichts im Vergleich zu dem, was wir durchgemacht haben.“

Was sie da erzählte, ich wollte es nicht glauben, aber … mit einem Mal ergab vielen einen Sinn. Lucys ständig aufwallenden Jähzorn und Diegos undurchdringliche Fassade. Kein Wunder das sie so geworden waren, wie sie sich heute gaben. Und obwohl ich das nicht wollte, fühlte ich mich plötzlich mies. Ihnen wurde diese Leben aufgezwungen, weil ich sie gerne hatte. Vielleicht war mein Leben gerade ein wenig scheiße, aber sie beide mussten damit schon klar kommen, seit sie kleine Kinder waren.

Allein diese Ausbildung.

Mir wurde bewusst, dass es in diesem Spiel mehr als nur ein Opfer gab. Genau wie mir wurde ihnen ein Leben aufgezwungen, dass sie nicht wollten, aber sie waren zu klein gewesen, um sich dagegen zur Wehr zu setzten. Das Königshaus – meine eigenen Großeltern – hatten kleine Kinder zu ihren Leibeigenen gemacht und dafür hasste ich sie, ohne dass ich sie kannte. Das waren keine Menschen, Menschen würden so etwas nicht fertig bringen. Das waren Tiere, die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht waren.

„Hey“, sagte Diego sanft und berührte mich an der Schulter. „Mach dir keinen Kopf, du kannst nichts dafür.“

„Aber … wenn ich nicht gewesen wäre … oh Gott.“ Ich hob meine unverletzte Hand an meinen Mund und schüttelte den Kopf. „Es tut mich leid. Ich hatte keine Ahnung, ich …“

„Natürlich hattest du die nicht“, erklärte Lucy spitz. Um sie wieder mild zu stimmen, würde es mehr brauchen, als eine nichtssagende Entschuldigung. „Du hast dich ja viel zu sehr in deinem Selbstmitleid gebadet, um mitzubekommen, was um dich herum …“

„Lucy, das reicht jetzt“, unterbrach Diego sie grob und warf ihr einen warnenden Blick zu. „Sie kann genauso wenig dafür wie wir, also lass es jetzt einfach gut sein.“

Es war mehr als offensichtlich, dass ihr noch etwas auf der Zunge lag und das sie es gar nicht lustig fand gemaßregelt zu werden. Aber sie hielt den Mund und wandte einfach nur beleidigt den Blick ab.

Diego seufzte tief. „Gib mir deine Hand, ich will das verbinden.“

Was konnte ich anderes tun als ihm zu gehorchen? Ja, mein Leben war eine Lüge, aber ihres – besonders Diegos – musste die Hölle gewesen sein. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was das für ein so kleines Kind bedeutete.

Etwas ungeschickt nahm Diego die Salbe aus dem Kasten und schmierte mir vorsichtig einen Streifen in die Handfläche. Er hatte absolut kein Händchen für sowas. „Mach dir keine Vorwürfe, Cayenne, es war nicht ganz so extrem wie Lucy es dargestellt hat. Besonders seit ich hier bin, ist vieles besser geworden.“

In meinen Ohren klang das nach Schönreden.

„Hier hab ich ein Zuhause und Freunde. Und natürlich dich.“

Ich gab ein Geräusch von mir, in dem man nur mit sehr viel Phantasie ein Lachen erkennen konnte. „Ich bin doch der Grund, warum dir das alles passiert ist.“

„Nein.“ Er tauschte die Salbe gegen einen Verband und begann damit ihn mir vorsichtig um die Hand zu wickeln. „Der Grund dafür sind die veralteten Ansichten und die Tradition, auf die König Isaac so viel gibt. Es war schon immer Brauch, Waisenkinder zu Umbras auszubilden.“

„Weil niemand da ist, der sie vor diesem Schicksal bewahren kann.“

Diego widersprach nicht. Er steckte einfach nur das Ende des Verbandes fest und begann dann damit alles einzusammeln und sauber zu machen.

Ich versuchte zu helfen, wurde dann aber irgendwann auf der Toilette abgesetzt, weil ich ständig im Weg war. Mit nur einer Hand und dann auch noch der Linken, war ich in seinen Augen wohl gerade nicht zu gebrauchen. Lucy aber schon, also half sie ihm meine Sauerei zu beseitigen, während ich versuchte diese Komplexität der ganzen Geschichte zu verarbeiten.

Innerhalb von nur einem einzigen Tag wurde ich von einem Leben in ein ganz anderes geworfen, einen, in dem niemand der war, den er vorgegeben hatte zu sein – inklusive mir selber. Aber egal wie es mir dabei ergangen war, was Lucy und Diego durchgemacht hatten … ich wusste nicht, ob ich das gekonnt hätte. Ja, sie waren beide starke Charaktere, aber an so eine Geschichte konnte man doch nur zerbrechen, oder?

Waisen. Unschuldige Kinder, die man wie Gegenstände benutzte, weil sie gerade gebraucht wurden. Hatte meine Mutter diesen Teil der Geschichte bei ihrer Erzählung bewusst ausgelassen? Oder war es in ihren Augen einfach nicht wichtig genug gewesen? Ich wollte ihr ja nichts unterstellen, aber wenn ich ehrlich war, fand ich das viel schlimmer, als das was sie mir über sich erzählt hatte.

„So“, sagte Lucy in meine Gedanken hinein und wischte ein letztes Mal mit ihrem Lappen über den Rand des Waschbeckens. „Massaker beseitigt und jetzt habe ich Lust auf Trickfilme.“

Ähm … hä? Sie wollte Trickfilme schauen? Jetzt?

Sie warf den Lappen in den Schacht für die dreckige Wäsche und spazierte dann aus dem Bad hinaus.

Auch Diego entsorgte seinen Lappen und hielt mir dann wortlos die Hand hin.

Ich schaute sie nur an, nicht ganz sicher, was ich nun tun sollte. Es war auf einmal einfach alles anders und doch irgendwie gleich.

Als ich keine Anstalten machte mich auf irgendeine Art zu bewegen, nahm Diego einfach meine Hand, zog dann erst auf die Beine und dann in mein Zimmer, wo Lucy gerade links und rechts die Fernsehanlage absuchte. „Wo hast du die blöde Fernbedienung schon wieder versteckt?“

Sie wollte jetzt wirklich fernsehen? „Ich glaub die liegt auf dem Schreibtisch.“

Diego ließ meine Hand los, trat sich dann die Schuhe von den Füßen und machte es sich auf meinem Bett bequem.

Er auch? Sie wollten beide so tun, als sei dies ein ganz normaler Sonntagvormittag? Konnten wir das überhaupt noch? Ich glaubte nicht, dass ich in meinem Leben schon einmal so verunsichert war wie in diesem Moment.

„Aha!“, machte Lucy triumphierend, als sie die Fernbedienung in dem Durcheinander auf meinem Tisch fand. Dann kam sie mit ihrer Beute zu meinem Bett, wo Diego sich gerade ein paar Kissen in den Rücken schob. „Mach dich nicht immer so breit.“ Sie schubste ihn, bis er ein Stück rutschte, streckte sich dann neben ihm aus und schaltete an seine Brust gekuschelt den Fernseher ein.

Ich konnte nur dastehen und zuschauen, weil ich wirklich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich meine, dass Lucy, Diego und ich zusammen in meinem Bett lagen und uns dabei einen Film anschauten, war nichts neues für mich. Wenn wir nicht gerade Videospiele spielten, oder die Gegend unsicher machten, war das so ziemlich unser Hauptzeitvertreib. Aber bisher waren sie meine Freunde gewesen. Jetzt waren sie meine Leibwächter und … Werwölfe.

Okay, wenn man es genau nahm, waren sie das schon immer gewesen, ich hatte es nur nicht gewusst.

Während Lucy konzentriert von einem Sender zum anderen schaltete, bis sie endlich einen Cartoon fand, der ihren Ansprüchen genügte, schaute Diego zu mir hoch. „Na los“, sagte er. „Komm her.“

Ich wollte. Und dann auch wieder nicht. Hm, wie es aussah, hatten sich da wohl ein paar Schrauben in meinem Kopf gelockert. Aber das Ganze war ja auch einfach nur verrückt. Und es wurde auch nicht besser, als ich mir selber befahl, mich am Riemen zu reißen und mich zaghaft an Diegos anderer Seite ausstreckte. Ich zögerte damit, mich an seine Brust zu kuscheln, so wie ich es eigentlich schon hunderte von malen getan hatte. Als er dann einfach von hinten den Arm um mich legte und mich an sich zog, spannte ich mich sogar an.

Das war so vertraut und doch fremd. Aber nicht unangenehm. Meine Hand fand ihren Weg zu seinem Herzen. Ich konnte es ruhig und gleichmäßig unter meinen Fingern schlagen spüren. Das fand ich beruhigend.

Doch dann hörte ich ein sehr vernehmliches Magenknurren.

Lucy zog eine Augenbraue nach oben und drehte den Kopf zu Diegos Gesicht.

„Ich hab heute noch nichts gegessen“, erklärte er, ohne eine Mine zu verziehen.

Der rothaarige Teufel neben ihm hob die Hand und pikte ihm mit dem Zeigefinger mitten in den Bauch. „Möp.“

„Lass das.“ Er gab ihr einen Klaps auf den Rücken.

Lucy richtete sich auf, beugte sich zu meinem Nachtschränkchen vor und begann völlig ungeniert damit in der Schublade herumzusuchen. „Wusste ich es doch“, sagte sie und zauberte dann einen Schokoriegel hervor. Als sie ihn Diego vor die Nase hielt, schaute der nur zweifelnd drein.

„Du glaubst ich werde von einem Schokoriegel satt?“

Mit einem Schulterzucken setzte sie sich auf die Hacken zurück. „Wenn du ihn nicht willst, dann esse ich ihn eben.“

Diego streckte wortlos die Hand aus.

„Wie heißt das Zauberwort?“

„Gib her.“

Sie schüttelte den Kopf und begann damit langsam und provozierend den Riegel auszuwickeln. „Das ist falsch.“

Einen Moment schaute Diego sie einfach nur an. Dann ruckte er plötzlich mit dem Bein zu Seite und schubste Lucy damit aus dem Bett. Der Schokoriegel rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden, während sie sich mit einer Hand an der Matratze festhielt.

Dann beugte Diego sich seelenruhig zur Seite, griff selber in die noch offene Schublade und tastete darin herum, bis ein weiterer Riegel aus seinem Inneren auftauchte. Mit seiner Beute, lehnte er sich wieder in die Kissen und begann dann damit die Verpackungsfolie einhändig zu öffnen – ich blockierte ja noch immer seinen zweiten Arm.

Lucy feuerte einen bösen Blick auf ihn ab. „Das findest du wohl witzig.“

„Ein wenig“, gab er völlig ungerührt zu und biss dann in seinen Riegel.

Schweigend schaute ich dabei zu, wie sie miteinander herumalberten. Sie benahmen sich völlig normal, so wie sie es schon von Anfang an getan hatten.

Als Lucy grummelnd ihren Riegel aufsammelte und sich mit untergeschlagenem Bein neben Diego setzte, musste ich daran denken, was meine Mutter zu mir erzählt hatte.

„Mama hat mir gestern erzähl, dass ihr nie wirklich ein Liebespaar gewesen seid.“

„Das ist richtig.“ Lucy gab Diego einen Klaps, als er sie wieder mit dem Bein anstieß – wahrscheinlich wollte er auch noch den zweiten Riegel haben. „Es war Teil der Tarnung. Man war der Meinung, wir hätten nur einen Versuch Diego unbemerkt an deine Seite zu bekommen und das war ihrer Auffassung nach der sicherste Weg. Als meinen Freund konntest du ihn nämlich nicht einfach wegschicken.“

„Aber … war das denn nicht komisch für euch die verliebten Teenys zu mimen?“

„Du meinst weil wir deswegen auch miteinander rumknutschen mussten?“

„Unter anderem.“

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Es waren nur unbedeutende Küsse.“

Ich schaute zu Diego hoch. „Für dich auch?“

Sein Blick war ruhig. „Ehrlich gesagt empfand ich als nicht besonders angenehm. Lucy sabbert zu viel.“

„Oh du mieser Saftsack! Dein nervöses Herumgefummel, war auch nicht gerade inspirierend gewesen.“

Lächelnd schob Diego sich den Rest seines Riegels in den Mund.

„Wie könnt ihr das nur so auf die leichte Schulter nehmen?“ Ich verstand es wirklich nicht.

„Was hätten wir den machen sollen?“, fragte Lucy, anstatt eine Antwort zu geben. „Dem Befehl eines Alphas widersetz man sich nicht einfach so. Und das nicht nur wegen der Konsequenzen. Es ist einfach ein Instinkt zu gehorchen.“

Ein Instinkt der einen zwang den Wünschen eines anderen zu folgen? Das wollte mir nicht gefallen.

„Außerdem mussten wir es ja nur machen, wenn du in der Nähe warst. Und sobald Victoria sicher war, dass du Diego nicht mehr einfach abkapseln würdest, konnten wir ja auch ganz damit aufhören.“

„Victoria? Ich dachte ihr würdet nur den Alphas unterstehen.“ Hatte ich das falsch verstanden? Oder war Victoria jetzt plötzlich auch ein Alpha? Aber Mama hatte doch gesagt, alle außer uns beiden würden zum Fußvolk gehören.

„Das ist richtig“, erklärte Lucy. „Als Umbra stehen wir außerhalb der Rangordnung, aber wir konnten ja nicht alleine agieren und mussten uns mit den Wächtern und Vorgesetzten absprechen.“

„Wächter?“

„Das sind die Leute in den schwarzen Einsatzuniformen.“ Sie nickte Richtung Tür, als würden sie direkt dahinter lauern. „Victoria ist eine Wächterin der Königsgarde. Ihr Vater ist der Hauptmann.“

„Edward Walker.“

Sie nickte einfach nur. Vermutlich glaubte sie, dass wisse ich auch von meiner Mutter. „Großwächter Edward, oder besser gesagt Großwächter Eddy, wie wir ihn alle nennen. Netter Kerl. Er war es auch, der sie für diesen Posten empfohlen hat.“

„Aber wenn seine Tochter hier aufpasst, warum ist er dann in der Uni aufgetaucht?“

„Befehl vom König. Nachdem die … nachdem es etwas chaotisch wurde, schickte man ihn um nach dem Rechten zu schauen und notfalls alles wieder in Ordnung zu bringen.“

„Sogar eure Eltern haben auf ihn gehört.“

„Ausbilder“, korrigierte Diego mich, als sei ihm das wichtig.

„Ausbilder.“

„Er ist ihr Vorgesetzter und hat damit das Sagen.“

Hä? „Ich dachte alle hören nur auf die Alphas.“

Sie lächelte ein wenig herablassend. „Die Alphas sind unsere Obersten, aber auch in den anderen Schichten gibt es Arbeiter und Bosse. Auch Diego und ich haben einen Chef. Tribunus Umbra Drogan. Theoretisch gesehen stehen wir alle auf der selben Stufe, aber praktisch steht er eine Stufe über uns. Naja, über Diego, ich bin noch ein wenig weiter unten, weil meine Prüfung erst noch bevorsteht.“

Das war alles wohl doch ein wenig komplizierter, als ich bisher angenommen hatte. „Und du hast diese Prüfung schon gemacht?“

„Vor vier Jahren, direkt bevor ich zu dir geschickt wurde.“ Er hielt seinen Arm hoch und zeigte mir das breite Lederarmband mit dem Wolfskopf. „Das ist meine Auszeichnung.“ Er klang schon ein kleinen wenig stolz.

„Angeber“, murrte Lucy.

Ich schaute auf ihren Arm. „Und du hast sowas nicht?“

„Ich hab meine Kette. Das zeigt, dass ich ein Umbra in Ausbildung bin. Aber bis zu meiner Abschlussprüfung sind es nur noch ein paar Monate.“

„Und was macht man da?“

„Zeigen was man kann“, erklärte Diego. „Und möglichst lange gegen Umbra Drogan durchhalten.“

„Gott sei dank.“ Lucy ließ sich zur Seite kippen und machte es sich halb auf Diegos Bein bequem. „Wenn ich nur daran denke, dass du deine Prüfung noch bei Umbra Roger hattest ablegen müssen.“ Es schüttelte sie.

Auf meinen verständnislosen Blick hin erklärte Diego. „Bis vor drei Jahren war der Tribunus Umbra noch Umbra Roger. Er war der wohl beste Umbra in den letzten hundert Jahren, aber leider hat er sich vor gut drei Jahren eine schwere Beinverletzung zugezogen, weswegen er aus dem Dienst ausgeschieden ist und ist dann einfach von der Bildfläche verschwunden. Umbra Drogan ist sehr gut in dem was er tut, aber an Umbra Roger reicht er nicht ganz heran.“

„Warum sagt ihr immer Umbra, als wäre das … was-weiß-ich, ein Nachname, vor dem Namen. Also ein Vornachname.“ Das klang jetzt irgendwie schräg.

Lucy zuckte mal wieder mit den Achseln. „Das ist so Sitte. Wächterin Victoria, Großwächter Eddy. Umbra Drogan. Deine Mutter zum Beispiel ist nicht Celine Amarok, sie ist Beraterin Celine. Nachnamen tragen wir alle eigentlich nur aus praktischen Gründen. Du weißt schon, damit wir zwischen den Menschen nicht so auffallen.“

Ja, das klang logisch. Aber wie bezeichnete man jemand, der Arbeitslos war? „Und ihr seid demnach Umbra Diego und Umbra Lucy?“

„Umbra Luciela.“

„Und ich?“

Diego drehte den Kopf ein wenig. „Theoretisch bist du Prinzessin Cayenne mit endlosem Titel, aber da du nie offiziell als Alpha eingeführt wurdest und es dich eigentlich gar nicht gibt, bist du nur Cayenne Amarok, irgendein Mädchen in der Hauptstadt des Landes.“

„Außer für die Leute, die über mich beschied wissen.“ Nein, das sollte dieses Mal kein Vorwurf sein, ich versuchte gerade nur diese ganzen Informationen in meinem Kopf halbwegs geordnet unterzubringen.

„Selbst für die warst du bis vor einer Woche nur Cayenne“, erklärte Diego. „Erst seit dem letzten Vollmond … naja, seit dem hat sich einiges geändert.“

„Mein Wolf ist erwacht“, wiederholte ich die Worte meiner Mutter.

Lucy nickte. „Das war der Zeitpunkt, an dem so ziemlich jeder Lykaner der über dich Bescheid wusste, ein wenig nervös geworden ist.“

„Warum?“

Sie schaute mich an, als wäre das die dümmste Frage, die jemals gestellt worden war. „Weil du ein Alpha bist. Wir lieben unsere Alphas. Sich in ihrer Nähe aufzuhalten, ist ein unglaublich beruhigendes und auch erfüllendes Gefühl. Es macht einen irgendwie … vollkommen.“ Sie warf mir einen Blick zu, der mich ausdrücklich davor warnte, einen unangebrachten Kommentar abzugeben. „Es ist schwer zu beschreiben. Man muss es selber fühlen.“

„Da ich laut euch selber ein Alpha bin, wird mir das wohl nicht gelingen.“

„Wahrscheinlich. Ich habe mich noch nie mit einem Alpha über sowas gesprochen.“

Ja, die hatten wahrscheinlich besseres zu tun, als sich mit den Bauern zu beschäftigen. Die mussten schließlich Waisenkinder versklaven und Enkel verleugnen. Sowas war anstrengend. „Und diese ganzen Leute … wie viele sind das? Wenn ich das richtig verstanden habe, bin ich doch ein kleines, dreckiges Geheimnis. Aber da waren gestern so einige Leute im Haus.“

Lucy machte eine wage Bewegung mit der Hand. „Abgesehen von deiner Familie, würde ich so zwanzig bis dreißig schätzen. Alles vertrauenswürdige Leute, die ein Geheimnis bewahren können und den Alphas auf irgendeine Art nahe stehen.“

„Wie diese Betas?“ Betas waren Laut Mama schließlich der Adel und dadurch meiner Auffassung nach sowas wie die Vertrauten der Alphas.

Lucy gab ein schrilles Lachen von sich. „Betas?“, fragte sie ungläubig.

Offensichtlich hatte ich mich da wohl gerade getäuscht.

„Betas sind so ziemlich der größte Abschaum des Rudels. Snobs, die den lieben langen Tag nichts anderes tun, als sich selber in den Himmel zu loben und über alles und jeden lästern.“

Das hatte sich bei meiner Mutter irgendwie anders angehört. „Und was machen Betawölfe dann genau?“

„Meisten nur ein hochnäsiges Gesicht.“ Zur Demonstration reckte Lucy die Nase in die Luft. „Richtige Arbeit ist unter ihrer …“

Ein Klopfen unterbrach sie.

Wir schauten alle zur Tür.

„Darf ich einen Moment stören?“, fragte meine Mutter.

Ich drehte mich halb auf dem Rücken. „Da mein Schloss seit gestern nicht mehr funktioniert, kann ich dich wohl kaum daran hindern.“ Ja, da war ein leicht verärgerter Ton in meiner Stimme. Es gefiel mir eben nicht, dass durch das kaputte Schloss nun jeder nach gut dünken einfach in meinen privaten Bereich eindringen konnte. Ich war schließlich kein kleines Kind mehr. „Wobei dich ja auch eine verschlossene Tür nicht daran gehindert hat, hier hinein zu kommen.“

Ein leises Seufzen ertönte. Dann drückte sie die Tür auf und trat in den Raum. Ihr Blick ging direkt zu mir, prüfte die Konstellation von uns dreien und glitt dann mit einer Intensität über mich, bei der ich mir irgendwie durchleuchtet vorkam. „Dir scheint es ein wenig besser zu gehen.“ Sie kam nicht näher. Es hatte den Anschein, als wollte sie mich nicht bedrängen.

„Ja, Lucy hat mich angeflaumt. Das hat mir den Kopf ein wenig zurecht gerückt.“

Nachdem ich das gesagt hatte, röteten sich doch tatsächlich Lucys Wangen. „Ich hab dich gar nicht angeflaumt.“

„Doch, hast du.“

Sie funkelte mich an.

„Es geht ihr etwas besser“, sagte Diego, bevor das hier noch in zu einem Zickenkrieg eskalieren konnte.

„Sprich nicht von mir, als sei ich krank.“

Irgendwie schien das meine Mutter nicht zu beruhigen. Sie wirkte fertig und müde. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe und ihre Haare waren völlig zerrauft. Ein besorgter Ausdruck hatte sich tief in ihr Gesicht gegraben. „Ich muss mit dir reden, Cayenne.“

„Schon wieder?“

„Ja.“ Sie schaute kurz zu Lucy und Diego, als überlegte sie die beiden aus dem Raum zu schicken, konzentrierte sich dann aber wieder auf mich. „Ich habe gerade von Eddy erfahren, dass er mit meinem Vater gesprochen hat und wollte es dir sagen, bevor Victoria hier aufkreuzt.“

Der Ton in ihrer Stimme … irgendwie klang der nicht so gut. „Was sagen?“

Mama zögerte einen Moment. „Eddy war verpflichtet meinem Vater Bericht zu erstatten, also hat er es auch getan und … naja, jetzt weiß mein Vater, dass du erwacht und eingeweiht bist.“

So wie sich das anhörte, waren das keine guten Neuigkeiten. „Und das bedeutet?“

Resigniert, fuhr sie sich mit einer Hand durchs Haar. „Es bedeutet, das König Isaac dich persönlich kennenlernen möchte. Genaugenommenen besteht er sogar darauf.“

„Kennenlernen?“, fragte ich unsicher nach. Vielleicht ein Telefonat, oder ein Videotalk. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es sich nur um einen Videotalk handelte.

Sie nickte. „Ja, er hat dich in den Hof eingeladen. Wir werden Morgen früh abreisen.“

„Was?“ Mit einem Ruck setzte ich mich auf und schaute sie ungläubig an. „Wir fahren zum Hof? Zum König?“ Zu diesem Arschloch, der aus meinem Leben eine Farce gemacht hatte?

Meine Mutter nickte noch einmal. „Er hat dich eingeladen. Victoria wird dir gleich ein paar Koffer bringen und dir dann beim Packen helfen, damit …“

„Ich will aber nicht zum Hof reisen“, unterbrach ich sie. „Mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben.“ Nicht jetzt, und auch nicht in Zukunft. Allein für das, was ich bisher über sie erfahren hatte, was sie Diego und Lucy angetan hatten, was ich wegen ihnen erleiden musste, hasste ich sie schon und wollte niemals etwas mit diesen Menschen … sorry, Werwölfen, zu tun haben.

Ein mitleidiger Ausdruck erschien in ihrem Gesicht. „Es tut mir leid, aber eine Einladung des Königs weist niemand zurück. Auch du nicht.“

Zum Glück war ich kein Niemand. „Und ob ich die zurückweise“, widersprach ich sofort. „Er kann mich ja wohl schlecht zwingen, wenn ich nicht will.“

Die Blicke, die Lucy und Diego miteinander tauschten, behaupteten das Gegenteil.

Mama biss sich auf die Unterlippe. „Bitte Cayenne, stell dich nicht quer. Ich werde versuchen dir zu helfen, aber dies ist etwas, dass du nicht ablehnen kannst. Wenn du nicht freiwillig gehst, wird man dich notfalls auch gegen deinen Willen zu ihm bringen.“

„Was?“ Ich hatte mich ja wohl gerade verhört. „Wenn der Wixer glaubt, dass er mich herumkommandieren kann, dann hat er sich aber geschnitten. Ich will nicht gehen, also werden ich auch nicht gehen.“ Und das war mein letztes Wort.

„So einfach ist das leider nicht. Darum möchte ich, dass du alles einpackst, was du brauchst. Morgen früh werden wir zum Flughafen fahren. Die Maschine soll um zehn starten, sieh also zu, dass du rechtzeitig wach wirst. Wir müssen hier spätestens um acht los.“

Hörte sie mir überhaupt zu? „Ich habe doch gerade gesagt …“

„Es ist egal was du sagst“, führ sie mir über den Mund. „Es ist egal was du willst und auch was du denkst. Der König der Lykaner – dein König – will dich sehen, also wirst du gehorchen.“

Das konnte sie doch nicht Ernst meinen. Sie konnte mich doch nicht wirklich zu etwas zwingen, dass ich nicht wollte. König hin oder her, ich war kein dummes kleines Kind, ich war erwachsen. „Mama“, begann ich, um ihr genau das in aller Ruhe zu sagen. „Ich …“

„Nein!“, schnitt sie mir erneut das Wort ab und hatte dabei einen Ton drauf, der mich unwillkürlich schlucken ließ. „Es tut mir leid mein Schatz, aber es führt kein Weg daran vorbei. Du wirst morgen in diesen Flieger steigen und das ist mein letztes Wort.“

Ich schaute von ihr zu meinen Freunden, doch auch die beiden schienen in diesem Fall nicht bereit, hilfreich an meine Seite zu eilen. Lucy wirkte äußerst grimmig und Diego verbarg seine Gefühle hinter einer Maske. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass sie alle drei zu kreuze kriechen wollten? Das war doch sonst nicht ihre Art. „Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein.“

Doch keiner von ihnen sah so aus, als würde es sich hier um einen schlechten Scherz handeln. Ich hatte meine Mutter noch nie so ernst gesehen. Keine Ahnung warum, aber sie war der festen Überzeugung, dass ich das hier tun musste. Aus dieser Nummer würde ich wohl nicht so einfach mit sturer Gegenwehr herauskommen.

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Das gefiel mir nicht. „Und wie lange wir dieser Ausflug dauern?“

„Ich weiß nicht.“ Sie kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe herum. „Das wird sich erst entscheiden, nachdem er mit dir gesprochen hat, aber du solltest doch auf jeden Fall auf einen längeren Aufenthalt vorbereiten.“

„Länger als zwei Wochen. Oder Länger wie ein Monat?“

Ihre Antwort bestand in einem unwissenden Schulterzucken.

Na das waren doch mal klare Vorgaben. „Und was ist mit Elvis? Er hasst seine Transportbox und ich habe auch nichts mehr von diesem Beruhigungsmittel, das …“

„Elvis wird hier bleiben.“

Aber sicher doch. „Ich werde Elvis auf keinen Fall hier allein zurücklassen.“

„Es wird dir gar nichts anderes übrig bleiben. Versteh doch Cayenne, wir fahren an den Königshof der Lykaner. Glaubst du wirklich, er würde sich dort wohlfühlen?“

Wahrscheinlich nicht. Er bekam ja hier schon immer die Krise. „Aber ich kann ihn doch nicht einfach allein lassen.“

Jetzt schaute sie doch mitleidig. Super. „Ich werde unsere Nachbarin bitten ihn während unserer Abwesenheit zu füttern.“

Unsere Nachbarin? „Sie ist eine Fremde, du weißt doch wie er mit Fremden ist. Das …“

„Es reicht!“, fauchte sie und fuhr sich nervös mit der Hand durch ihr langes Haar. „Es ist entschieden. Wir fahren, Elvis bleibt hier, ende der Diskussion. Also pack alles ein was du brauchst, ansonsten werden andere für dich packen – notfalls auch dich, das kann ich dir versprechen.“ In ihrem Blick lag eine Drohung, die ich nicht verstand und plötzlich hatte ich den Eindruck verloren zu haben, ohne überhaupt jemals eine Chance auf einen Sieg gehabt zu haben.

„Ich bin kein Ding, dass man nach belieben hin und her reichen kann.“

„Nein“, stimmte sie mir zu. „Du bist eine Prinzessin.“ Mit diesem letzten Satz verließ sie mein Zimmer, als hätte sie für weitere Diskussionen einfach keine Kraft mehr.

„Sie hat recht“, sagte Diego leise. „Wenn der König dich sehen will, musst du hinfahren.“

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Gut, wenn er es unbedingt so wollte, bitte, dann würde ich hinfahren. Ich würde hinfahren, ihm das Leben ein wenig zur Hölle machen und dann wieder meiner Wege ziehen. Ich würde dafür sorgen, dass er mich nach dem ersten Kennenlernen nicht mehr sehen wollen würde. Darauf konnte er Gift nehmen.

„Dann bleibt mir wohl keine große Wahl.“ Ich erhob mich von meinem Bett, ging zu meinem Kleiderschrank und riss die Türen auf. Mit welchen Klamotten könnte ich meine Großeltern wohl am meisten schockieren?

„Was machst du da?“, fragte Lucy.

„Was schon? Ich versuche zu entscheiden, welche Klamotten ich einpacken will.“

Misstrauisch setzte Diego sich auf. „Einfach so?“

„Na glaubst du, ich will das andere das für mich entscheiden?“ Ein glitzerndes Paillettentop fiel mir ins Auge. Es war kaum mehr als ein BH mit ein paar Fransen, dass man im Nacken zusammenband. Ich zog es heraus und hielt es mir vor den Oberkörper. „Was meint ihr, würden meine Großeltern an einem Schock sterben, wenn ich so vor ihnen auftauche?“

„Nein“, sagte Lucy ganz ernst. „Aber sie würden wohl annehmen du wärst läufig und dir ohne zu zögern einen Keuschheitsgürtel verpassen.“

Das war ein Scherz, oder?

„Röcke und Kleider, sind die bevorzugten Kleidungsstücke bei Mädchen und Frauen des Adels“, erklärte Diego.

„Am Besten noch hochgeschlossen und mit einem Schleier vor dem Gesicht, oder was?“ Ich warf das Top zurück in den Schrank und tauschte es gegen eine hautenge Lederkorsage, in der meine Brust doppelt so groß wirkte, wie sie wirklich war. „Ich trage weder Röcke noch Kleider und das weißt du ganz genau.“ Nicht mit meinem Bein. Genaugenommen besaß ich sowas nicht mal.

„Das kannst du aber auch nicht tragen, ohne einen Skandal auszulösen.“

Ich grinste. „Dann ist es perfekt.“

Seufzend rutschte Lucy vom Bett, nahm mir die Korsage weg und warf dann selber einen Blick in meinen Schrank. Nach einigem Suchen zog sie eine prüde Damenbluse aus irgendeiner versteckten Ecke und hielt mir die vor die Nase. Wo kam die denn her? „Das wäre in Ordnung.“

„Das würde ich nicht mal tot in einem Sarg tragen.“ Ich griff weiter oben in den Schrank und zog ein Shirt heraus, das an verschiedenen Stellen strategisch aufgeschnitten und eingerissen war und zum Teil nur durch die vielen Sicherheitsnadeln nicht einfach in seine Einzelteile zerfiel. Triumphierend präsentierte ich es den beiden.

Vom Bett bekam ich ein Stirnrunzeln. „War das nicht Teil deines Halloweenkostüms im letzten Jahr?“

„Ja und?“

Diego schnappte sich ein Kissen und legte es sich aufs Gesicht.

„Hey, ich habe dafür viele Komplimente bekommen.“

„Ja, weil ständig dein BH hervorblitzte.“ Damit nahm Lucy mir auch dieses Kleidungsstück weg. „Du kannst da nicht auftauchen, als wäre es eine hormongetränke Orgie, der Adel ist sehr konservativ.“

„Ja, aber ich bin das nicht.“ Ich holte mir mein Shirt zurück. Und wenn in bereits dabei war, gleich auch noch meine Korsage. Die Bluse konnte sie meinetwegen behalten. „Und er will mich schließlich in all meinen glorreichen Facetten kennenlernen, also sollte ich ihn nicht enttäuschen und ihm gleich die ganze außergewöhnlichen Vielfalt präsentieren.“

„Indem du dich anziehst wie eine Nutte?“

„Eine Nutte mit Stil“, konterte ich und hielt mir das Korsett erneut vor die Brust.

Auf dem Korridor rumpelte etwas die Treppe herauf. Gleich darauf stieß Victoria mit einem Koffer meine Tür auf und marschierte einfach in meine Zimmer.

„Hat man dir das Hirn ausgesaugt, oder ist es jetzt üblich, ohne anzuklopfen in meine Privatsphäre einzudringen?“

„Dir Tür war offen.“ Victoria stellte die beiden Koffer, die sie mitgebracht hatte, neben meiner Kommode ab und ließ dann auch noch die passende Reisetasche von ihrer Schulter auf den Boden rutschen. „Möchtest du, dass ich dir beim Packen helfe?“ Sie schaute auf und bemerkte die Korsage.

„Ich schaffe das schon. Du hast sicher Wichtigeres zu tun, als hier die Haushaltshilfe zu spielen.“

Der kleine Seitenhieb beeindruckte sie nicht. „Weißt du Cayenne, wenn du aufhören würdest dich verletzt zu fühlen, würdest du vielleicht die Richtigkeit dieser ganzen Angelegenheit erkennen.“

Das hatte sie jetzt nicht gesagt. „Richtigkeit? Du findest diesen ganzen Betrug richtig? Du klaust wohl kleinen Kindern auch ihren Lolli und freust dich dann, wenn sie anfangen zu weinen.“

„Nein, aber du scheinst einfach nicht begreifen zu wollen, wie weitreichend diese Angelegenheit geht, darum steht es dir nicht zu ein Urteil zu fällen. Natürlich fühlst du dich betrogen. Mir selber würde es an deiner Stelle nicht anders ergehen, aber wir haben nun einmal Gesetzte.“

„Dumme Gesetzte, in denen ihr die eigenen Leute bestraft, nur weil die es wagen, einen Menschen zu lieben.“

Sie bekam etwas Mitleidiges. „Es ist nicht verboten, einen Menschen zu lieben, es ist nur verboten, ihnen von uns zu erzählen. Es ist ein Gesetz, das wir brauchen, um zu überleben, oder was glaubst du, was passieren würde, wenn die Menschen von uns erfahren?“

Da fielen mir auf Anhieb ein paar Dinge ein. Unter andrem Großwildjagd, Seziertisch, Zirkus und Kuriositätenkabinett. Alles keine besonders angenehmen Aussichten. Aber das Ganze so zu regeln, wie sie es nun mal taten, erschien mir auch nicht richtig. „Aber nicht jeder Mensch ist so.“ Mein Vater war es nicht.

„Nein, nicht jeder, aber immer noch viel zu viele.“ Sie lehnte sich mit dem Hintern an meine Kommode, als würde sie sich für eine längere Diskussion einrichten. „Und bevor du jetzt wieder in den Angriffmodus schaltest, solltest du vielleicht wissen, dass ich aus persönlicher Erfahrung spreche. Genau wie du bin ich ein Misto, nur verdanke ich mein menschliches Erbe nicht meinem Vater, sondern der Frau, die mich geboren hat.“

„Du bist auch ein Misto?“

„Ja, und das war mein Verhängnis. Mein Vater hat meine Mutter nur ein paar Mal getroffen. Es war ein Urlaubsflirt, mehr nicht. Danach ist er auf seinen Posten zurückgekehrt. Das meine Mutter schwanger war, hat sie erst Wochen später bemerkt. Und mit was genau sie da schwanger war, bemerkte sie erst nach meiner Geburt. Im Gegensatz zu dir, hat mein Wolf aber nicht viele Jahre geschlafen, weswegen ich mich immer mal wieder verwandelte. Meine Mutter glaubte ich sei ein Dämon, eine Ausgeburt der Hölle und hat mit allen Mitteln versucht mir den Teufel auszutreiben.“

So wie sie das sagte, wollte ich lieber keine genauen Einzelheiten wissen.

„Ich war drei, als meine Mutter beschloss, dass es an der Zeit ist mich zu einem Exorzisten zu bringen und die Dämonen notfalls auch mit Gewalt aus mir herauszuzerren. Das wir auf dem Weg dorthin genau dem Mann über den Weg gelaufen sind, der das alles zu verantworten hatte, war wohl nichts weiter als ein glücklicher Zufall. Er erkannte sie natürlich sofort, aber vor allen Dingen erkannte er, dass das kleine Mädchen in dem Kinderwagen nach Werwolf roch und auffallende Ähnlichkeit mit den Frauen seiner Familie hatte. Und da ich nun hier bin, kannst du dir den Rest sicher denken.“

So ungefähr. „Diese Geschichte zeigt mir eigentlich nur, wie verantwortungslos dein Vater gehandelt hat. Er wusste schließlich was er war und auch was passieren kann, wenn er mit einer Frau ins Bett hüpft. Ein einfaches Kondom kann einen vor vielen harten Schicksalsschlägen bewahren.“ Und ich sprach hier nicht nur von ungewollten Schwangerschaften.

Victoria Lippen spitzten sich ein wenig. „Jeder macht Fehler. Und dann liegt es in unserem Ermessen, ob wir großzügig genug sein können, sie zu verzeihen, oder ein Drama voller Vorwürfe daraus machen, unter dem nicht nur die Leute um uns herum, sondern auch wir selber leiden.“

Verdammt, damit hatte sie recht. Und das nahm ich ihr in diesem Moment doch irgendwie übel. Vielleicht war das ein wenig kleinlich, da sie ja wie jeder andere hier auch nur auf den Befehl des großen Unbekannten gehandelt hatte, aber ich würde mich wenigstens ein kleinen wenig besser fühlen, wenn ich sie in ihre Schranken weisen könnte.

„Ich habe mich entschieden meinem Vater seinen Fehler zu vergeben und dafür ein Geschenk erhalten. Eine gute Kindheit, einen Job der mir Spaß mach und …“

„Das vergnügen meine dreckigen Socken zu waschen.“ Ich feuerte die Klamotten aus meiner Hand zurück in den Schrank.

„Die Stelle in diesem Haus beinhaltet weit mehr, als dir hinterherzuräumen, oder für einen geregelten Ablauf in deinem Leben zu sorgen.“

„Ach ja?“ Ich schlenderte zum Bett und ließ mich neben Diego auf die Matratze fallen. „Und das wäre?“

„Weißt du Cayenne, es waren nicht nur meine Qualifikationen, die mir zu diesem Posten verholfen haben, es war auch meine Natur.“

Ihre Natur? „Weil du so ein überaus einnehmendes Wesen hast?“

Das ließ sie schmunzeln. „Nein, weil ich genau wie du ein Misto bin. Aber im Gegensatz zu dir bin ich bereits erwacht und kann dir um Notfall zur Seite stehen.“

„Notfall?“

„Bei deiner ersten Verwandlung – sollte es jemals dazu kommen.“

Das so vor den Kopf geknallt zu bekommen, war ein kleiner Schock. Natürlich hatte ich verstanden, dass ich ein Misto war und damit der Nachkomme eines Werwolfs – so unglaublich das noch immer war – aber das war wohl das erste Mal, dass man mir so genau vor Augen führte, das auch ich das tun konnte, was Tyrone mir gezeigt hatte.

Ich konnte mich in ein anderes Wesen verwandeln, in etwas das die ganze Zeit verborgen in mir gehaust hatte. Ich war ein Werwolf. „Ich werde mich verwandeln.“

„Jetzt wo du erwacht bist, irgendwann, ja, nur kann in Moment noch niemand beurteilen, wie und wann. Der Vollmond konnte bisher nur ein einziges Mal Einfluss auf deinen erweckten Wolf nehmen und damit …“

„Moment, Vollmond? Du meinst das, was letzte Woche bei den Brüdern passiert ist?“

Sie nickte.

Oh Gott. „Soll das heißen, ich muss das noch mal durchmachen?“ Dieser Gedanke war erschreckend. Zwar waren mir von dieser Nacht nur ein paar Erinnerungsschnipsel geblieben, aber der Schmerz, den ich hatte durchleben müssen, stand mir noch immer so klar vor Augen, dass ich genau wusste, ich wollte das kein weiteres Mal durchmachen müssen.

„Einmal, zehnmal.“ Sie zuckte die Achseln. „Das kann vorher niemand genau bestimmen. Es kommt darauf an wie viel Mensch du in dir trägst und wie sehr du dich akzeptierst. Die meisten von uns zeigen die ersten Anzeichen bereits kurz nach der Geburt. Je älter man wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass mehr als ein Mensch in einem steckt. Doch in seltenen Fällen – so wie bei dir – schläft der Wolf einfach nur tief und braucht um herauszukommen einen Katalysator oder Auslöser. Aber nach neunzehn Jahren bist du so sehr Mensch, dass es Zeit braucht, bis deine wahre Natur sich zeigt.

Ich konnte sie einfach nur entsetzt anstarren. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Mir ist nur selten in meinem Leben etwas ernster gewesen.“

Oh Gott. Noch so eine Tortur, oder auch zehn. Ich wusste nicht, ob ich das aushalten konnte. Was hatte Ryder mir da nur angetan?

 

°°°°°

Schluss mit lustig

 

Die schweren Schiebetüren des Flughafens öffneten sich beinahe geräuschlos, sodass Lucy und ich endlich aus dieser drückenden Hitze in einen halbwegs klimatisierten Bereich des Terminals kamen. Wenn diese verdammte Hitzewelle nicht endlich den Rückzug antrat, würde ich früher oder später einfach abkratzen. Ehrlich mal, was dachte Mutter Natur sich eigentlich dabei? Wollte sie uns alle grillen?

Auch Lucy ächzte und hob sich das dicke Haar aus dem Nacken, während sie ihren Blick über die Menschenmassen zu den großen Tafeln schweifen ließ. „Boah, ich glaube ich sterbe demnächst einfach.“

Tja, gleiche Gemüter dachten in ähnlichen Bahnen.

„Wohin genau müssen wir?“

„Woher soll ich das wissen?“ Ich war doch nur die kleine Prinzessin, die man schon den ganzen Morgen herumschubste. Pack dies ein, tu das nicht, geh nach unten, steig in den Wagen, es ist egal was du willst. Ich war mir vorgekommen, wie ein Kleinkind, dass man nicht unbeaufsichtigt herumlaufen lassen durfte. „Frag Mama, oder Victoria.“

Sie warf ein Blick durch die Glastüren nach draußen, wo die beiden zusammen mit Diego, Eddy und noch einem Dutzend Wächtern gerade dabei waren, unter dem strahlend blauen Himmel das Gepäck aus den Autos zu laden. Wenn das so weiter ging, würde das wohl der heißeste Tag des Jahres werden. Der Asphalt jedenfalls flimmerte schon vor Hitze. „Ich glaube, ich warte bis die hier rein kommen.“

Konnte ich verstehen. Ich wollte auch nicht mehr freiwillig hinaus in diesen Backofen. „Lass uns da drüben zum Kiosk gehen, ich will mir etwas zu trinken holen.“

„Ich bin dabei.“

Es war gerade mal kurz vor Neun, aber der Flughafen war so voll, dass wir anderen Reisenden auf dem kurzen Weg zu dem kleinen, überteuerten Laden auf der anderen Seite, ständig ausweichen mussten. Zu meiner großen Freude war dann auch noch das Wasser aus dem Kühlschrank alle, weswegen ich auf eine lauwarme Flasche zurückgreifen musste. Murrend bezahlte ich sie und trat dann zur Seite, um Lucy Platz zu machen. Der Tag wurde wirklich mit jeder Minute besser.

Während Lucy ihre Ware auf den Tresen stellte und ihr Kleingeld abzählte, bemerkte ich eine junge Frau mit einem schwarzen Pferdeschwanz bei dem Ständer mit den Sonnenbrillen. Sie war nicht besonders auffallend, nicht mal mit dem langen schwarzen Rock, der auf beiden Seiten bis zu den Knien geschlitzt war. Auch verhielt sie sich nicht seltsam. Sie nahm sich nur eine Brille, setzte sie sich auf die Nase und überprüfte ihr Aussehen dann in dem kleinen Spiegel an dem Ständer. Dann schüttelte sie den Kopf und wiederholte das ganze mit einer anderen Brille.

Das war etwas, dass ich selber bereits getan hatte, nur … irgendwie kam sie mir bekannt vor. Allerdings konnte ich sie nicht zuordnen. War sie vielleicht auch Studentin an der Uni?

„Mein Gott ist das hier teuer“, beschwerte sich Lucy und ließ ihre Brieftasche in ihrer Hose verschwinden. Die Flasche mit dem Saft, hatte sie sich unter den Arm geklemmt. „Zum Glück besitze ich ein Spesenkonto.“

Ich versuchte eine Augenbraue nach oben zu ziehen und musste wieder einmal feststellen, dass ich dafür absolut kein Talent besaß. „Du hast ein Spesenkonto?“

„Was hast du denn geglaubt. Ich bekomme auch ein Gehalt, oder meinst du ich kann von Luft und Liebe leben?“

Ehrlich gesagt hatte ich darüber noch gar nicht so genau nachgedacht.

„Los, lass und da drüben auf die anderen warten.“ Lucy dirigierte mich aus dem kleinen Laden heraus zu einer Informationssäule, die nur ein paar Meter entfernt stand. Dort kramte sie aus ihrer Kuriertasche eine Zopfspange, mit der sie sich die Haare an den Kopf band.

Um mich herum herrschte das übliche treiben eines Flughafens. Fremde, wohin das Auge reichte, die geschäftig ihren Ziel entgegen strebten. Ob es nun war, um einen Flug zu erwische, oder jemanden in Empfang zu nehmen, der nach einer langen Reise ins heimatliche Nest zurückkehrte.

Waren unter ihnen auch Werwölfe? Was war mit dem Mann dort hinten im Wartebereich? Der sah schon ziemlich haarig aus. Oder die Frau, die gerade an uns vorbei ging und dabei etwas ins Handy knurrte. Allerdings hörte es sich dabei eher so an, als würde sie sich über irgendwelche Preise beschweren.

„Und?“, fragte Lucy in meine Gedanken hinein. „Nervös?“

Ich winkte ab. „Kein bisschen.“ Das war eine Lüge und so wie sie mich anschaute, keine sehr gute. Aber sollte ich zugeben, dass ich wegen dem was mich heute erwartete die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte? Nicht nur weil ich gezwungen war, diesen Flug anzutreten. Dem Mann dem ich heute noch gegenübertreten sollte, hatte nicht nur mein Leben zu einer einzigen Farce gemacht, er hatte auch die Leben meiner Freunde ruiniert. Und da war es völlig egal, ob es Tradition war, oder einfach nur zur Machtdemonstration.

Ich sollte heute in eine neue Welt eintreten, eine Welt, in der Mythen und Legenden zur Realität werden sollten – nicht dass sie das nicht schon waren – eine Welt, die vom Vater meiner Mutter beherrscht wurde – meinem Großvater. Da stand es mir doch zu wenigstens ein wenig nervös zu sein.

„Lügnerin“, warf Lucy mir auch schmunzelnd vor. „Ich glaube nicht, dass ich dich in meinem Leben schon einmal so unruhig erlebt habe.“

„Kannst du mir das verübeln? Ich hasse es zu etwas gezwungen zu werden und das hier ist einfach nur Mobbing.“

„Es ist ein Gespräch, mehr nicht.“

Ich fixierte sie. „Wirklich? Warum habe ich dann das Gefühl, direkt in eine Falle zu tappen?“

„Weil du es einfach nicht leiden kannst, wenn andere dir Vorschriften machen. Das ist ganz normal für einen Alpha. Du gehörst zu den obersten Gliedern der Kette. In der Regel darfst du nun die Befehle geben und alle im dich herum müssen gehorchen.“

Gut zu wissen. „Ist es nicht ein wenig riskant, so in aller Öffentlichkeit über sowas zu sprechen?“

„Nur wenn du dir dabei einen Pelz wachsen lässt. Ansonsten schenken die Leute dir eigentlich keine große Aufmerksamkeit. Und falls doch, denken sie du sprichst über einen Film, oder ein Buch oder sogar ein Rollenspiel.“

„Oder sie halten dich schlicht und ergreifend für völlig durchgeknallt.“

„Das auch“, stimmte sie mir zu und schaute zum Eingang, wo gerade die ersten Wächter in Zivil das Gebäude betraten. Diese schwarzen Uniformen wären auf einem öffentlichen Flughafen wohl zu auffällig. „Aber im Allgemein sind die Leute sowieso viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, als dass sie darauf achten würden, was um sie herum los ist.“

„Was wohl der einzige Grund ist, warum das Verborgene noch immer …“

Als mir jemand auf die Schulter tippte, unterbrach ich mich und drehte mich halb herum. Vor mir stand lächelnd die junge Frau aus dem Kiosk und wie es schien, hatte sie eine Sonnenbrille für sich gefunden.

„Ja?“

„Ich wollte nur mal hallo sagen und fragen wie es dir so geht.“

„Ähm.“ Verwundert schaute ich einen Moment zu Lucy, die die Frau misstrauisch musterte. „Kennen wir uns?“

„Nein, nicht wirklich.“ Sie schob ihre Sonnenbrille ein wenig nach unten, sodass ich ihre Augen sehen konnte. Violette Augen und so blass, dass ich sofort wusste, da einen Vampir vor mir zu haben. „Aber ich denke es ist an der Zeit, dass wir das ändern.“ Und noch bevor irgendjemand reagieren konnte, packte die junge Frau den Gurt meiner Tasche und riss ihn mir mit einem Ruck von der Schulter. Im nächsten Moment rannte sie schon davon.

Zwei volle Sekunden stand ich einfach nur völlig perplex da, dann setzte ich ihr nach. „Hey!“, schrie ich diesem taschenklauenden Miststück hinterher. „Bleib stehen!“

„Niemals!“, rief sie so laut, dass es sogar die Geräuschkulisse des Flughafens übertönte und gab dann richtig Gas.

„Cayenne, warte!“, rief Lucy mir hinterher, aber ich dachte nicht im Traum daran. Ich wollte meine Tasche wiederhaben. Nicht nur weil sie mir gehörte, sondern wegen der Dinge die darin waren. Mein im Moment eigentlich immer leeres Portemonnaie, mein Handy. Das einzige Bild, dass ich von meinem Vater besaß.Die Fotos von mir und Ryder aus dem Fotoautomaten. Der kleine Plastikring mit dem aufgedruckten Stern.

Keine Ahnung, warum ich die Sachen vor unserer Abfahrt eingesteckt hatte, aber ich würde sie nicht so einfach aufgeben.

Die junge Frau war verdammt schnell und schien einen Heidenspaß bei der Verfolgung zu haben – das entnahm ich zumindest ihrem Lachen und den Jubelrufen. Aber abhängen ließ ich mich deswegen noch lange nicht. Eigentlich ärgerte mich das nur.

„Verdammt Cayenne!“, rief Lucy und holte zu mir auf. „Du kannst doch nicht einfach …“

„Mein Reisepass ist in der Tasche!“, unterbrach ich sie und umrundete eilig eine Menschengruppe. Nicht das mich der Reisepass interessieren würde. Wenn ich diese Reise nicht antreten müsste, wäre das für mich völlig in Ordnung.

Lucy fluchte und überholte mich dann ein Stück. Sie stellte sich bei der Verfolgung viel geschickter an, ließ sich von den Menschen nicht aufhalten und bewegte sich mit einer Eleganz, die wohl vom vielen Training kam.

Ich fiel ein wenig zurück und verlor diesen elenden Vampir sogar einen Moment aus den Augen – die war verdammt schnell – aber Lucy rannte einfach weiter, so als wüsste sie ganz genau wohin es ging.

Wir kamen in einen weitestgehend leeren Bereich, wo wir in einen einsamen Korridor abbogen, an dessen Ende eine Tür sperrangelweit offen stand. Ich sah gerade noch den flatternden Rock dieser gackernden Hexe darin verschwinden und holte noch einmal alles aus mir raus.

In Höchstgeschwindigkeit überholte ich Lucy, rannte durch die Tür, orientierte mich dann schnell mit einem kurzen Blick und dabei entdeckte ich ihn. Meine Beine verharrten so plötzlich, als seien sie auf einem am Boden festgewachsen. Dass ich durch meinen Schwung nicht einfach vornüber fiel und auf die Nase klatschte, glich einem Wunder.

Das hier musste ein Zwischenlager oder sowas sein. Überall standen Kisten und Kartons. Und in einem schmalen Durchgang dazwischen stand er.

Ryder.

Die junge Frau drängte sich mit einem „Umbraalarm!“ an ihm vorbei und verschwand dann zwischen den ganzen Kisten. Er dagegen bliebt genau dort wo er war und schaute mir einfach nur entgegen.

Gleichzeitig wetzte Lucy durch den Eingang, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür mit einem lauten Knall von innen zugeschlagen wurde.

„Was zum …“, begann Lucy und stieß dann einen deftigen Fluch aus.

Ich wirbelte zu ihr herum und sah gerade noch wie ein bebrillter Anzugträger sie von hinten packte und dann mit dem Gesicht voran gegen die nächste Wand drückte, während Tyrone eilig die Tür verbarrikadierte. In der nächsten Sekunde trommelten von außen Schläge dagegen und ließen sie im Rahmen vibrieren – waren Diego und die Wächter uns gefolgt? Ich achtete nicht darauf. Genauso wenig wie ich auf Ryder achtete, oder darauf, dass Tyrone den Metallschrank links neben der Tür umstieß und ihn als zusätzliches Hindernis vor den einzigen Zugang schob. Stattdessen sprang ich dem braunhaarigen Mann in den Rücken, klammerte mich mit Händen und Füßen fest und versuchte so Lucy zu helfen. Die schien nämlich einige Probleme damit zu haben, den Typen wieder loszuwerden.

Der doch recht muskulöse Mann versuchte mich natürlich sofort abzuschütteln, ohne Lucy dabei aus dem Griff zu verlieren. Klappte nur nicht so richtig.

Ich schlag meinen Arm um seinen Hals und zog, während Lucy nach hinten austrat.

Der Mann knurrte. Wirklich, das war ein richtiges Knurren, dass tief aus seiner Kehle zu stammen schien und seinen ganzen Brustkorb vibrieren ließ. „Könnte mir mal bitte jemand helfen?!“, fauchte er und warf dem Vampir, der bereits auf dem Weg zu uns war einen eindringlichen Blick zu. Doch es war Tyrone, der zuerst zu uns stieß, mich kurzerhand an der Taille packte und versuchte von dem Rücken zu pflücken.

„Nimm deine Pfoten weg!“, knurrte ich ihn an und krallte mich regelrecht in die Anzugjacke von diesem Brillenträger. Doch leider war dann auch schon Ryder zur Stelle und so war es den Brüdern ein Leichtes, mich von dem Kerl herunterzuholen. „Nein!“, schrie ich.

Etwas schlug mit einem lauten Knall von außen gegen die Tür.

„Cayenne!“ Lucy schaffte es irgendwie eines ihrer Beine hochzureißen und sich damit von der Wand abzustoßen. Damit katapultierte sie sich samt dem Typen mit einer Wucht weg, die beide zu Boden stürzen ließ. Der Brillenheini ächzte, ließ ihre Arme aber noch immer nicht los.

„Las mich los!“, fauchte ich Tyrone an, als er mich aus dem Getümmel herauszog. Und so unwahrscheinlich es auch war, er kam meinem Wunsch nach. Nur leider nicht so wie ich es gemeint hatte.

Er stieß mich direkt in Ryders Arme und wirbelte dann zu Lucy und dem Kerl herum. „Bring sie weg, ich helfe Romeo!“

„Beeilt euch!“

„Nein!“ Ich versuchte mich zu wehren, als Ryder seinen Griff veränderte, mich am Oberarm packte und damit begann mich hinter sich herzuzerren. „Spinnst du? Nimm die Finger weg!“

Er warf mir nur einen hektischen Blick zu, dann zog er mich auch schon in den schmalen Durchgang.

Das konnte er ja mal sowas von vergessen. Ohne lange darüber nachzudenken, ließ ich mich einfach fallen. Ich stieß mir meine von der Flucht in Gideons Wagen eh schon geprellte Schulter an einer der Kisten, aber ich schaffte es so Ryder aus dem Gleichgewicht zu bringen. Leider riss es ihn nicht wie erhofft von den Füßen, sondern brachte ihn für einen Moment nur ins Taumeln.

„Verdammt Prinzessin“, schimpfte er und zog mich an den Armen wieder auf die Beine.

„Nenn mich nicht so!“, brüllte ich ihm direkt ins Gesicht.

Er schaute mich nur einen Moment wortlos aus diesen wunderschönen Augen an, schlang dann einen Arm um meine Taille und hob mich einfach an. Dann eilte er weiter durch den Durchgang.

„Hey!“ Ich schlug auf seinen Arm. „Lass mich sofort los!“

„Noch nicht.“ Seine Schritte waren schnell – verdammt schnell sogar – und mein Gewicht schien ihn nicht weiter zu belasten.

„Was soll das heißen, noch nicht?“ Der Durchgang öffnete sich zu einem großen Raum, der offensichtlich zum Abstellen von alten Büromöbeln genutzt wurde. „Was soll das hier eigentlich werden? Versuchst du gerade mich zu entführen?!“ Oh Gott, kaum war der Gedanken da, schlug mir mein Herz plötzlich bis zum Hals. Ich wusste ja in der Zwischenzeit, dass die Brüder nicht ohne Grund in mein Leben geplatzt waren. Bisher waren sie immer freundlich gewesen, aber jetzt war die Wahrheit ans Tageslicht gekommen, weswegen für niemanden mehr ein Grund bestand den Schein zu wahren. „Pfoten weg habe ich gesagt!“

Ich begann mich heftiger zu wehren, denn auch wenn ich es nicht wollte, plötzlich bekam ich Angst. Was wusste ich schließlich schon über Ryder und seine Absichten? Gar nichts. Und nun brachte er mich gegen meinen Willen weg.

„Hör auf!“, schimpfte er und veränderte seinen Griff ein wenig, damit ich ihm nicht aus den Armen rutschen konnte. Dabei steuerte er auf eine Tür in der hinteren Ecke zu, die laut Aufschrift direkt in eine Garage führen musste.

„Nein! Ich will nicht! Lass mich los!“

„Jetzt beruhige dich, ich tu dir doch nichts!“ Ächzend warf er sich mit der Schulter gegen die Tür und drückte sie auf. Direkt dahinter stand ein großer Hippiebus mit lustigen Dämonenfratzen und mit einem Mal tauchte die Erinnerung wie aus einem dichten Nebelgebilde auf und stand mir glasklar vor Augen. Die junge Frau, das war Future. Ich hatte sie auf dem Weg zu Ryder kennengelernt.

Nicht das mir diese plötzliche Erkenntnis in irgendeiner Weise weiterhalf.

„Was soll das werden?“, fragte ich mit leichter Panik in der Stimme, als Ryder mich direkt auf den Bus zutrug. „Lass mich runter!“

Noch bevor wir das Fahrzeug erreichten, ging die seitliche Schiebetür auf und Future grinste uns mit einem amüsierten Funkeln in den Augen entgegen. „Los, Beeilung.“ Sie winkte sogar noch auffordernd, bevor sie in den vorderen Teil des Busses huschte. Gleich darauf wurde auch schon der Motor gestartet.

Oh Gott, nein. „Verdammt Ryder, lass mich endlich los!“

Das tat er. Aber erst, als wir die Seitentür erreichten. Er schubste mich hinein und kletterte dann selber hinterher.

Ich landete auf allen Vieren und schürfte mir die Handfläche auf. Mein Herz schlug immer schneller und das hatte ganz sicher nichts mit dem Wiedersehen mit Ryder zu tun. In diesen Bus gestoßen zu werden … mit einem mal bekam ich wirklich Angst.

„Was ist mit den anderen beiden Musketieren?“ fragte Future.

„Kommen nach, sobald sie fertig sind.“ Ryder griff nach der Tür, aber in dem Moment wirbelte ich herum und versuchte wieder herauzuspringen. Wenn die Tür erst zu war, hätte ich meine Chance verspielt. Es war die einzige Möglichkeit die mir noch blieb. Doch Ryder reagierte in Bruchteilen von Sekunden. Eben noch holte ich aus, um ihn direkt ins Gesicht zu springen und im nächsten Moment lag ich auf dem Rücken und musste zuschauen, wie die Seitentür zugeschlagen wurde. „Hör jetzt auf!“, fauchte Ryder mich an und warnte mich mit einem Blick davor noch einen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen. „Dir passiert nichts!“

Der Wagen setzte sich mit quietschenden Reifen in Bewegung.

„Mir passiert nichts? Du entführst mich gerade!“

„Ja“, stimmte Future mir von vorne zu und lenkte den Kleinbus zwischen den geparkten Autos umher. „Und ich kann dir sagen, so viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr. Das sollten wir bei Gelegenheit unbedingt wiederholen.“

Bitte was?

Ryder fuhr sich ungläubig mit der Hand durchs Gesicht. „Halt einfach die Klappe, Future und fahr uns hier raus bevor es hier unten von Wächtern nur so wimmelt.“

„Aye aye, Sir.“ Sie bog auf die Ausfahrt ein.

Ich schaute mich hektisch nach einer Fluchtmöglichkeit um. Aber der einzige Ausgang schien die Seitentür zu sein und vor der hockte meine Entführer.

Der hintere Teil war durch ein eingebautes Bett verbarrikadiert. Gegenüber der Seitentür hatte man eine komplette Computeranlage fest verbaut und überall baumelten bunte Lichterketten. Es war ein surrealer Anblick, der mir auf Anhieb keine Möglichkeit auf ein Entkommen lieferte.

Ich lag auf dem Boden, direkt vor dem Bett und schlitterte ungewollt zur Seite, als Future in einer scharfen Kurve aus der Garage fuhr und dann das Gas voll durchtrat.

Ryder behielt mich genau im Auge, während wir über den Parkplatz kurvten und uns dann immer weiter vom Flughafen entfernten.

„Wohin?“, wollte Future wissen.

„Einfach in Bewegung bleiben“, wies Ryder sie an und griff dann nach einem Haltegriff, um bei Futures verrückter Fahrweise nicht hin und her geschleudert zu werden.

Ich drückte mich in die Ecke und hielt mich mit einer Hand an dem Bett fest. Meine Augen waren vor Furcht geweitet und mein Atem konnte schon lange nicht mehr als normal angesehen werden. „Was hast du jetzt mit mir vor?“, fragte ich und griff etwas fester zu, als Future wieder abbog. „Wo bringt ihr mich hin?“

„Nirgends.“ Ryder seufzte und senkte einen Moment den Blick. Er sah fertig aus und völlig übermüdet. Wenn ich mich nicht täuschte, trug er noch immer die Kleidung, die er schon auf dem Wohltätigkeitsfest angehabt hatte und die dunklen Ringe unter seinen Augen sprachen von schlaflosen Nächten. „Niemand hier will dir etwas tun, Prin- … Cayenne. Ich muss einfach nur mit dir reden und dies ist die einzige Möglichkeit an dich heranzukommen.“

„Indem du mich entführst?!“

„Indem ich dich eine Zeitlang von deinen Aufpassern trenne.“ Sein Blick war so intensiv, als versuchte er mir allein damit etwas mitzuteilen. „Es tut mir leid, dass wir zu solchen Mitteln greifen mussten und ich kann mir vorstellen, dass du mich im Moment nicht sehen möchtest …“

„Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, sagte ich kalt.

„… aber ich brauche deine Hilfe.“

„Meine Hilfe?“ Ich lachte scharf auf. „Willst du dass ich dir den Arsch rette, bevor die Werwölfe ihn in der Luft zerreißen?“ Es war immer noch merkwürdig dieses Wort in den Mund zu nehmen.

„Um ehrlich zu sein, ist mir mein Arsch vollkommen egal. Es geht um meine Schwester.“

Seine Schwester? „Amber?“ So hieß sie doch, oder?

Einen Moment schien er überrascht, dann warf er einen wachsamen Blick über die Schulter zu Future. „Können wir einen Moment ungestört reden?“

Sie warf ihm einen Blick durch den Rückspiegel zu. „Geheimnisse?“

Ryder fixierte sie mit einem sehr eigenartigen Blick. „Wie bist du noch gleich zu den Themis gekommen?“

Nach dieser Frage fiel ihr Lächeln einfach in sich zusammen. Sie funkelte Ryder an, drückte dann einen Knopf am Armaturenbett und noch in der gleichen Sekunde fuhr eine Trennwand aus dem Boden, die die Fahrerkabine vom Hinteren Bereich abtrennte.

Ryder wartete, bis sie sich komplett geschlossen hatte, bevor er seinen Blick wieder auf mich richtete. Aber dann zögerte er, als würden ihm die Worte fehlen.

Ich drückte mich noch ein wenig weiter in die Ecke. Ihn direkt vor mir zu sehen, war verwirrend. Ich erinnerte mich nur zu gut an unseren Kuss und wünschte dieses Gefühl noch einmal erleben zu können. Es war wie eine Sehnsucht tief in mir, die seinen Namen schrie. Gleichzeitig konnte ich nicht aufhören daran zu denken, was für Konsequenzen sein Auftauchen in meinem Leben hatte. Genau wie an die Dinge, die deswegen direkt vor mir lagen.

„Okay“, sagte Ryder dann. „Ich weiß nicht was man dir bisher von der Verborgenen Welt und Tyrone und mir erzählt hat, aber …“

„Sei still!“, fauchte ich. „Ich will keine Lügen mehr hören. Nicht von dir und auch von keinem anderen. Davon habe ich für den Rest meines Lebens wirklich genug!“

Er wich meinem Blick nicht aus. „Keine Lügen mehr“, sagte er. „Nur noch die reine Wahrheit.“

Dass er es wagte, dieses Wort in den Mund zu nehmen. „Bist du überhaupt dazu fähig die Wahrheit zu sagen?“ Ich bezweifelte es.

„Ich kann verstehen …“

„Nichts verstehst du!“, unterbrach ich ihn rüde, bevor er überhaupt die Gelegenheit bekam, irgendwas zu erklären. „Weißt du überhaupt, was du angerichtet hast?!“

Einen kurzen Moment wurden seine Lippen zu einem dünnen Strich. „Ich habe den letzten Weg gewählt, der mir noch bleibt.“

Ich wollte nicht fragen. Ich wollte es nicht wissen, ich wollte einfach nur hier raus. Und doch öffnete ich den Mund. „Letzter Weg?“

„Der letzte Weg, um meine Schwester vor einem grausamen Schicksal zu bewahren.“

Was? „Ich verstehe nicht.“

Ryder öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Er schien nicht recht zu wissen, was genau er sagen sollte. „Sagt dir der Begriff Skhän etwas?“

Mein verwirrtes Stirnrunzeln war ihm wohl Antwort genug.

„Wie es scheint, hat man das wohl nicht für wichtig genug befunden, um einer angehenden Prinzessin davon zu berichten.“ Seine Stimme klang äußerst bitter. Aber die Wut darin war nicht an mich gerichtet. Es war eher wie ein kleiner Brand, der schon sehr lange in ihm schwelte.

Ein Schlagloch ließ den Wagen rumpeln. Die bunten Lichterketten hüpften und klackten leise klirrend aneinander.

Ryder warf einen prüfenden Blick auf die Trennwand, dann machte er zwei Schritt, um sich direkt vor mich zu hocken.

Hätte ich gekonnt, wäre ich sofort weggekrochen, aber ich saß ja schon mit dem Rücken zur Wand. „Geh weg“, knurrte ich.

„Du hast recht“, sagte er in einer Lautstärke, in der nur ich ihn hören konnte, ohne meine Worte zu beachten. „Ich hab dich viele Male angelogen. Ich weiß, dass es nichts besser macht, aber es tut mir leid und wenn es anders gegangen wäre, hätte ich anders gehandelt. Aber da du nichts von dem wusstest, was um dich herum vor sich ging, mussten wir zuerst dein Vertrauen gewinnen, damit du nicht einfach schreiend vor uns davon läufst, wenn du die Wahrheit erfährst.“

Ich glaubte nicht was ich da hörte. „Mein Vertrauen gewinnen? Ihr habt mich angelogen, um mein Vertrauen zu gewinnen?!“ Am liebsten hätte ich ihm ein paar gescheuert.

„Ja“, sagte er leise. „Und ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben schon mal etwas so bereut habe.“

Es klang ehrlich. Aber so viel von dem was er von sich preisgegeben hatte, hatte ehrlich geklungen. Es bedeutete also nicht das Geringste. „Ich bereue nur, dir jemals begegnet zu sein.“

Während der Wagen über eine weitere Bodenwelle hüpfte, schaute er mich nur an. „Das habe ich wohl verdient.“

„Das und noch viel mehr.“ Er brauchte gar nicht glauben, dass ich ihm wegen irgendeiner unbedeutenden Entschuldigung irgendwas verzeihen würde. Wenn ich nur daran dachte was Victoria mir gestern gesagt hatte, was mir jetzt noch bevorstand. Das hatte ich allein ihm zu verdanken.

„In Ordnung“, sagte Ryder und wirkte plötzlich mehr als entschlossen. „Du willst die Wahrheit, hier ist sie. Mein Name ist nicht Ryder Randal. Ich bin nicht adoptiert, stamme nicht aus Seidingstadt und neunzehn wurde ich bereits vor drei Jahren.“

„Was?“ Wollte er mich verarschen? „Du bist nicht … Ryder?“

Ohne auch nur einen Moment den Blick abzuwenden, schüttelte er den Kopf. „Ryder Randal ist eine falsche Identität, die ich benutze um meine Familie zu schützen, da ich aufgrund meines … Berufs – nennen wir es mal so – nicht unbedingt mit netten Leuten in Kontakt komme.“

Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. „Und wer bitte bist du dann? Obwohl die bessere Frage wohl lauten sollte: Was zum Teufel willst du eigentlich von mir?“

Er atmete einmal tief ein, als würde es ihm nicht ganz leicht fallen ehrlich zu sein. „Mein Name ist Raphael Steele. Ich bin zweiundzwanzig, bin in einem kleinen Ort namens Arkan geboren und dort bei meiner Mutter aufgewachsen. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, da er sich bereits vor meiner Geburt aus dem Staub gemacht hat. Und bevor meine Familie ins Chaos gestürzt wurde, habe ich eine Ausbildung zum Koch begonnen.“ Er ließ mich keinen Moment aus den Augen. Seine Worte waren schnell und eindringlich, als wollte er es einfach hinter sich bringen. „Tyrones richtiger Name lautet Tristan Maas. Er ist fünfundzwanzig. Meine Mutter und seine waren sehr eng miteinander befreundet, weswegen wir beide wir Brüder aufgewachsen sind. Ich nenne seinen Vater Papa und Amber und Vivien sind auch meine Schwestern. Um das zu wissen, muss ich nicht durch Blut mit ihnen verwand sein. Wir sind eine Familie und wir sind immer füreinander da.“

Das klang sehr lobenswert, erklärte aber rein gar nichts, außer dass er noch ein viel größerer Lügner war, als ich bisher angenommen hatte. „Nette Geschichte. Wie lange hast du gebraucht, um sie dir auszudenken?“

Das war wohl nicht die Erwiderung, auf die er gehofft hatte. „Es ist keine Geschichte.“

Unter uns verstärkte sich die Vibration des Busses. Future beschleunigte.

„Ach nein? Und was ist dann mit diesem Ort namens Akern? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“

„Arkan und dass du davon noch nie etwas gehört hast ist nun wirklich keine große Überraschung, da dieses Dorf ausschließlich von Lykanern und Vampiren bewohnt wird und man dir bisher ja alles verheimlicht hat, was mit der Verborgenen Welt zusammenhängt.“

Okay, das klang auf eine sehr verquere Art glaubhaft. „Aber das …“

Das Fahrzeug ging so plötzlich in eine Kurve, dass Ryder – nein, Raphael! – gegen mich geschleudert wurde. Er schaffte es noch den Arm auszustrecken und sich an der Wand hinter mir abzustützen, um mich nicht unter sich zu begraben, aber dadurch war er mir plötzlich so nahe, dass ich seinen warmen Atem im Gesicht spüren konnte.

Seine Lippen teilten sich und sein Blick war so intensiv. Genau wie auf der Mädchentoilette.

Bevor ich noch etwas Dummes tun konnte, wandte ich hastig den Blick ab. „Würde es dir etwas ausmachen mir nicht so auf die Pelle zu rücken?“

Einen Moment schien er genau dort verharren zu wollen, wo er gerade war, doch dann seufzte er leise und gab mir wieder ein wenig mehr Luft zum Atmen. „Bitte Cayenne, ich brauche wirklich deine Hilfe.“

Ich funkelte ihn an. „Was kann ich dummes, unwissendes Naivchen schon für den ach so mächtigen Vampir tun?“

„Für den Anfang? Einfach nur zuhören.“

Das wollte ich nicht. Genaugenommen wollte ich nicht einmal hier sein, aber so wie die Dinge gerade lagen, würde er mich wohl nicht einfach aussteigen lassen. Also hielt ich einfach den Mund.

Mein Schweigen nahm Ryder – nein, verdammt, Raphael, sein Name war Raphael! – zum Anlass den eigentlichen Grund für diese ganze Geschichte zu offenbaren. „Ich habe eben schon mal die Skhän erwähnt. Skhän ist nichts anderes als ein umgangssprachlicher Ausdruck für die wohl größte Bedrohung unserer Welt. Es bedeutet nichts anderes als Sklavenhändler.“

„Sklavenhändler?“

Wieder fuhr Future eine scharfe Kurve, die mich dieses Mal gegen Raphael – ha, richtig! – schleuderte. Verdammt, wo hatte die ihren Führerschein her? Der Fahrlehrer musste betrunken gewesen sein, ihr eine Fahrerlaubnis zu erteilen.

„Ja, Sklavenhändler“, bestätigte Ryder – Raphael – und wollte mir dabei helfen, mich zurück in die Ecke zu setzten. Ich stieß seine Hand weg und funkelte ihn warnend an. Ich wollte auf keinen Fall von ihm berührt werden. Nie wieder.

Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm das nicht in den Kram passte, doch sein Blick sprach Bände. „Obwohl die Fänger der Händler für die Leute wohl eher die Bedrohung darstellen. Sie schnappen sich Vampire und Werwölfe, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bietet, verschleppen sie und bringen sie den Händlern.“

Das war … barbarisch. Wo lebten wir denn bitte, im Mittelalter?

„Vor ungefähr einem Jahr drang eine ganze Gruppe von Fängern in unser Dorf ein. Um für Verwirrung zu sorgen, legten sie mitten in der Nacht ein großes Feuer und während die Anwohner damit beschäftigt waren die Flammen unter Kontrolle zu bekommen, drangen sie in die Häuser ein und verschleppten ein Dutzend junger Frauen.“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Eine von ihnen war meine Schwester Vivien.“

„Deine Schwester … wurde entführt?“

„Ja“, sagte er grimmig und presste seine Zähne dabei so fest zusammen, dass sein Zahnarzt sich sicher freuen würde. „Wir haben es nicht sofort bemerkt. Und dann stand auch noch Tristans Haus in Flammen. Er ist reingelaufen, weil er dachte Amber und Vivien seien noch darin. Dabei hat er sich diese Brandwunde zugezogen.“ Er klopfte sich auf die rechte Schulter.

„Aber sie waren nicht mehr darin?“

Ryder schüttelte den Kopf. „Vivien hatten sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits geholt und Amber war schon vorher verschreckt nach draußen gelaufen.“ Er seufzte. „Als die Wächter dann kamen, waren die Fänger mit ihrer Beute schon lange verschwunden. Sie suchten nach Spuren und gaben wertlose Plattitüden zum Besten, aber im Grunde taten sie nichts anderes als uns ihr Beileid auszusprechen und wieder zu gehen.“

„Sie haben diese Fänger nicht verfolgt?“

„Doch, aber sie haben sich nicht sehr viel Mühe gegeben. Deswegen sind wir – Tristan, Viviens Verlobter und ich – letzten Sommer auch zum Hof der Werwölfe gefahren und haben bei einer Audienz vor den Alphas um Hilfe gebeten, doch alles was wir bekamen, waren weitere Beileidsbekundungen. Sie dachten nicht einmal darüber nach, bevor sie unsere Anfrage ablehnten. Der Fall war bereits bei den Wächtern und die würden sich darum kümmern.“ Raphael schnaubte verachtend. „Es war ihnen scheiß egal, was mit dem Rudel ist. Vivien ist ja keine Adlige, kein Betawolf, sondern ein einfacher Omega und die gibt es ja wie Sand am Meer.“ Er senkte wieder den Blick. „Ich weiß genau, dass sie helfen könnten, aber es interessierte sie einfach nicht.“

Ich konnte nicht sagen, ob es stimmte, was er sagte, schließlich kannte ich mich in der Verborgenen Welt nicht aus. Aber wenn ich nur daran dachte, was ich bisher alles von meinem Großvater erfahren hatte, war ich geneigt ihm trotz allem zu glauben.

„Nach diesem Fehlschlag haben wir drei uns alleine auf die Socken gemacht, um nach ihr zu suchen. Dabei sind wir auf eine Gruppe gestoßen, die sich Themis nennt – nach der Göttin der Gerechtigkeit benannt – und es sich zur Aufgabe gemacht hat, Sklaven zu finden und zu befreien.“ Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und knickte sein Ohr um. Dahinter kam ein kleines Tattoo zum Vorschein. Ein Omegazeichen, unter dem eine waagerechte Linie gezogen war. Es war das Sternzeichen für die Waage. „In der Hoffnung Vivien auf diese Art zu finden, haben wir uns ihnen angeschlossen, nur … die Themis halten sich bei ihren Aktionen nicht immer unbedingt an die Regeln.“

„Nicht unbedingt an die Regeln?“

Er zögerte. „Naja, das erste was ich bei ihnen gelernt habe war, wie ich schnell und effektiv Schlösser knacken kann. Wenn ich will, komme ich mittlerweile in so ziemlich jedes Gebäude hinein. Türen und Fenster stellen für mich nur noch selten ein Hindernis da.“

„Du bist ein Einbrecher?!“

Er wich meinem Blick nicht aus. „Ich tue was nötig ist um meine Schwester zu finden.“

Ja, lügen und betrügen. Ryder war ein Krimineller, ich konnte es kaum glauben!

Als Future plötzlich eine Vollbremsung mit quietschenden Reifen hinlegte, segelte ich nur nicht quer durch den Bus, weil Ryder – nein verdammt, Raphael! – blitzschnell einen Arm um mich schlang und mich festhielt. Dann fuhr der Wagen auf einmal rückwärts und machte aus diesem Manöver heraus eine Kehrtwende, nur um das Gaspedal sofort wieder bis zum Anschlag durchzudrücken.

Ich wurde dabei hin und her geschleudert und landete am Ende halb auf Ryder – Raphael! – drauf.

„Scheiße“, fluchte ich und krabbelte hastig von ihm weg. Dabei suchte ich nach irgendetwas, an dem ich mich festhalten konnte. „Wo hat die ihren Führerschein gewonnen?“

Ryder schaute zur Trennwand, als fragte er sich, was da los war. „Achte nicht auf Future.“

„Nicht auf sie achten?“ Ich lachte spitz auf. „Wenn die so weiter macht, bringt sie uns noch alle um!“

„Bitte“, sagte er und schaute zum Seitenfenster. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“

„Ja, weil wir wegen ihr gleich in einem Grab landen!“ Gott, wo war ich hier nur hineingeraten? „Wo hast du die Verrückte nur aufgetrieben?“

„Sie gehört auch zu den Themis.“

„Noch mehr Kriminelle?“ Das war doch wohl ein Witz.

Raphael verzog das Gesicht. „Wir sind keine Kriminellen. Wir halten uns bei unseren Aktionen nur nicht immer unbedingt an die Gesetzte. Nur so schaffen wir es den Skhän beizukommen.“

Ich war mir nicht sicher, ob das so eine gute Entschuldigung war. Nur weil man gegen Kriminelle antrat, musste man doch nicht selber kriminell werden.

„Egal, bitte, vergiss Future und hör mir zu. Ich möchte das du das verstehst, weil … weil …“

„Weil du meine Hilfe willst.“

„Weil ich deine Hilfe brauche, Prin-“ Er biss sich auf die Lippe und zeigte mir damit einem mehr seine langen, dünnen Fänge.

Unwillkürlich brachte ich mehr Abstand zwischen uns. Wenn ich nur daran dachte, wie ich sie das erste Mal entdeckt hatte, wollte ich … naja, eigentlich wollte ich nicht so genau darüber nachdenken.

Natürlich bemerkte er das und diese offensichtliche Zurückweisung schien ihm Kummer zu bereiten. „Hör zu, nachdem wir uns den Themis angeschlossen hatten, hofften wir, irgendwann auf einen Hinweis zu stoßen, aber egal wie viele Sklaven wir auch befreiten und wie viele Skhän wir ausschalteten, wir fanden einfach keine Spur.“ Seine Hand krampfte sich ein wenig zusammen. „Romeo war mittlerweile völlig am Ende, wir wussten nicht mehr was wir noch tun sollten. Es wurde so schlimm, dass er damit begann, sich jeden Abend in einer anderen Bar volllaufen zu lassen, nur um ihren Verlust irgendwie zu ertragen.“

„Romeo ist dein Schwager.“

Er nickte. „Viviens Verlobter und … scheiße!“ Er biss die Zähne zusammen und zum ersten Mal seit dieses absurde Gespräch begonnen hatte, wich er meinem Blick aus. „Ich weiß, wenn du das jetzt hörst, wirst du mich hassen, aber … bitte, wir wussten wirklich nicht mehr weiter.“

„Hassen?“ Was kam den jetzt noch?

„Cayenne, du musst verstehen, wir suchen seit fast einem Jahr nach ihr und wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt. Diese Ungewissheit ist die reine Folter, an der die ganze Familie langsam zerbricht. Und als Viviens Verlobter dann wieder in einer dieser Bars war und sich volllaufen ließ … wir mussten die Gelegenheit einfach beim Schopf ergreifen. Wir waren verzweifelt.“

Ich wollte es nicht wissen, ich wollte gar nicht hier sein. Und doch musste ich fragen. „Was für eine Gelegenheit?“

Der Bus machte einen Ruck und begann dann leicht zu schlingern, bevor er eine weitere scharfe Kurve nahm. Dieses Mal jedoch schaffte ich es mich am Bettgestell festzuhalten.

Ryder atmete ein paarmal tief ein, als müsste er sich auf seine folgenden Worte erstmal vorbereiten. „Vor ungefähr zwei Monaten ging Romeo in diese kleine Eckkneipe und da hat sich so ein Saufkopf zu ihm gesetzt. Der faselte vom Königshaus und von den Regenten und von einer Misto von königlichem Geblüt, die nicht wusste wer oder was sie war und vor den Augen des Rudels versteckt gehalten wurde. Als Romeo das hörte, kam ihm auf einmal die Idee. Zwar wussten wir nicht mal, ob es dieses Mädchen überhaupt gab, oder ob das einfach nur Gerede war, aber wenn wir sie finden könnten und es uns gelänge sie auf unsere Seite zu ziehen, dann könnte sie helfen. Eine Prinzessin hat die Macht dazu.“

Mein Herz krampfte sich zusammen. Nein, bitte, das durfte nicht wahr sein.

„Wenn man nur wusste wo man ansetzen musste, war es gar nicht so schwer dich auswendig zu machen. Es ist schließlich kein Geheimnis, welche der drei Töchter des Königshofes verstoßen wurde. Nur sie kam als Mutter einer Misto in Frage, denn sie war die einzige, die immer wieder aus dem Auge der Öffentlichkeit verschwand. Wir mussten ihr also nur auf den Fersen bleiben und wie erhofft, führte sie uns irgendwann zu dir, das menschlichste Mädchen, das mir je unter gekommen ist.“ Er lachte freudlos. „Als ich dich das erste Mal sah, saßt du zusammen mit Diego und Lucy im Garten. Laute Musik dröhnte aus deinem Zimmer und ihr habt um eine Fernbedienung gerungen.“

Ich erinnerte mich an den Nachmittag. Ich mochte das Lied nicht, dass meine Anlage spielte und wollte umschalten, aber Diego war damit nicht einverstanden.

„Als ich dich dort sah, so ahnungslos und unschuldig, kamen mir bereits die ersten Zweifel, aber ich ignorierte sie. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatten wir wirklich ein Ziel vor Augen. Also beobachteten wir dich ein paar Tage und schrieben uns dann in deine Kurse ein.“ Er seufzte gequält. „Wären wir einfach auf dich zugekommen und hätten dir erzählt wer du bist und was wir von dir wollen, hättest du uns für verrückt gehalten. Hätten wir dir gezeigt wer wir sind, hättest du uns für Monster gehalten und wärst schreiend davongelaufen.“

Da konnte ich ihm leider nicht widersprechen. „Also habt ihr euch als Menschen ausgegeben und mir eine Lüge nach der anderen erzählt.“

„Wir mussten dein Vertrauen gewinnen. Wir mussten deinen Wolf wecken und wenn das geschafft war, hätten wir dir alles erzählt, aber es ist alles schiefgelaufen. Nicht nur dass dein Wolf offensichtlich schüchtern ist, Lucy und Diego sind uns immer wieder dazwischen gekommen. Erst in der Uni, als sie uns aus dem Büro des Dekans abführen ließen und dann am Vollmond, als sie, kaum das du weg warst, unsere Wohnung mit einer Horde Wächtern zu Kleinholz verarbeitet haben.“

Was?

„Aber irgendwie schafften wir es trotzdem dich für uns zu gewinnen und … ich weiß nicht. Wir haben gehofft Freunde zu werden, oder das du eine Schwärmerei für Tristan entwickelst, doch je mehr Zeit ich mit dir verbracht habe … Cayenne, nicht alles war eine Lüge gewesen. Das auf dem Frauenklo …“

„Sprich nicht davon!“ Das wollte ich nicht hören.

Er zögerte einen kurzen Moment. „Vampire und Lykaner können Freunde sein, aber Werwölfe haben einen Instinkt, der sie daran hindert eine Beziehung zu ihnen zu vertiefen. Nenn es von mir aus einen Überlebensinstinkt. Darum war ich auch mehr als überrascht, als ich bemerkte, dass du dich für mich und nicht für meinen Bruder interessierst. Mir wäre niemals in den Sinn gekommen …“

„Ich will das nicht hören!“, fauchte ich ihn an.

In dem Moment legte Future eine so heftige Vollbremsung hin, dass es weder Ryder noch mir gelang uns an dem Bettgestell festzuhalten und beide der Länge nach hinknallten. Als sie dann wieder Vollgas gab, stieß ich mit dem Kopf gegen die Wand und krachte anschließend in Raphael.

Vorne gab es ein Summen und dann fuhr die Trennwand langsam hinunter. „Sagt mal ihr Süßen“, kam es von Future, „kann es sein, dass das Mädel irgendwo einen Peilsender mit sich herumträgt? Ich werde unsere Anhängsel nämlich nicht los, egal was ich tue.“

„Was?“, fragte ich, als es auch schon in die nächste Kurve ging.

„Peilsender“, sagte sie langsam, als wäre ich völlig unterbelichtet. „Das ist ein kleiner Sender, der andere über deinen genauen Standort informiert und …“

„Ich weiß was ein Peilsender ist!“, fauchte ich sie an, nur war mir nicht ganz klar, wie sie darauf kam, dass ich einen bei mir trug.

Ryder – Raphael, verdammt noch mal! – schaute grimmig von mir zu ihr. „Kannst du sie noch ein bisschen im Schach halten?“

„Ich werde es versuchen, aber falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, dieser Wagen ist nicht gerade unauffällig und mittlerweile kleben mir bereits sechs Autos am Arsch.“

Seine Lippen wurden zu einem grimmigen Strich. „Gib einfach dein Bestes. Wenn er nicht mehr geht, müssen wir sie rauslassen.“

„Das wollte ich hören“, sagte sie noch, dann ging die schwarze Trennscheibe auch schon wieder hoch und der Wagen legte noch ein wenig an Geschwindigkeit zu.

Trotz der Fliehkraft, schaffte Ryder es, sich wieder aufzusetzen und wollte auch mir helfen, doch ich wich seiner Hand aus. Im Moment, nach allem was er mir gerade gesagt hatte … ich konnte ihn einfach nicht berühren.

„Wer ist hinter uns her?“, fragte ich und zog mich wieder in die Ecke, während der Wagen mal hier und mal dort mit einer Geschwindigkeit abbog, die mich durchschüttelte.

„Wer schon. Wächter. Und wahrscheinlich auch deine Umbras.“

„Lucy und Diego.“

„Sie haben dir mittlerweile also erzählt, wer sie wirklich sind.“

Das ließ mich aufhorchen. „Du wusstest, wer sie sind?“

„Erst nachdem Lucy mir ihre Kette vor die Nase gehalten hatte.“ Er seufzte. „Cayenne. Ich wollte dir niemals wehtun. Und als ich dann begann dich richtig kennen zu lernen … deine Gefühle sind nicht einseitig, verstehst du?“

Damit erwischte er mich eiskalt. „Was für Gefühle? Ich hasse dich.“

So wie er mich anschaute, war sehr deutlich, dass er mir kein Wort glaubte. „Du wünschst dir wahrscheinlich mich hassen zu können, aber das tust du nicht und das wissen wir beide. Vergiss nicht, ich war dabei, als du mich geküsst hast.“

„Der vermutlich größte Fehler meines ganzen Lebens.“

Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Worte trafen. „Ob es ein Fehler war oder nicht, es hat dir die Wahrheit gebracht. Ich habe dir die Wahrheit gebracht.“

„Und dafür soll ich dir jetzt auch noch dankbar sein?“ Der hatte wohl den Arsch offen! „Du hast mich in eine Welt voller Monster gestoßen! Du hast mich zu einem Monster gemacht! Und jetzt muss ich vor das wohl größte Monster dieser Welt treten!“

„Und genau deswegen musste ich jetzt noch mit dir sprechen.“ Er rutschte weg, als Future wieder in eine Kurve ging und fluchte leise. „Ich versuche seit Tagen an dich heranzukommen, aber seit Samstag lässt man dich nicht mehr aus den Augen. Deswegen haben wir am Flughafen einen Hinterhalt gelegt. Ich musste ungestört mit dir sprechen und das hier ist meine letzte Gelegenheit.“

Das konnte ich nachvollziehen. „Und was erwartest du jetzt von mir?“

„Ich erwarte gar nichts, ich bitte dich einfach nur zu helfen. Ich weiß dass du furchtbar enttäuscht von mir bist und ich kann dich verstehen, aber Vivien kann nichts dafür.“ Er wollte näher rücken, wurde durch einen Schlenker aber fast auf mich geworfen, sodass er mir mal wieder viel zu nahe kam. Sein Blick flehte mich an. „Wenn du erstmal im Hof bist, dann hast du Einfluss. Bitte, lass mich nicht im Stich, ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch tun soll.“

„Ryder …“ Ich stockte. „Raphael.“ Der Name fühlte sich auf meiner Zunge irgendwie seltsam an. „Ich fahren nur zu einem Gespräch in den Hof.“

Seine Augen wurden ein wenig größer, als könnte er nicht recht glauben, was er da hörte. „Das haben sie dir erzählt?“

So wie er das sagte … das hörte sich nicht sehr gut an.

„Cayenne, die Alphas sind geradezu besessen von ihrer Macht. Ein weiteres Familienmitglied stärkt ihre Stellung und …“

Futur ging so heftig in eine Kurve, dass Raphael nicht nur gegen mich gedrückt wurde, ich knallte auch noch mit dem Kopf in der Wand. Schmerz explodierte in meinem Kopf und ich zischte.

„Verdammt!“ Ryder regte den Hals und warf einem Blick aus dem Fenster. „Wir haben nicht mehr viel Zeit. Bitte Cayenne, ich tue was auch immer du willst, nur hilf mir meine Schwester zu finden.“

Wie sollte ich das denn tun? Er kannte sich in dieser Welt aus, doch für mich war das alles neu und fremd. Verbrecher jagen? Gefangene befreien? Das war doch Irrsinn. Ich war eine kleine Studentin, die nicht mal ihr eigenes Leben richtig auf die Reihe bekam.

„Bitte“, flehte er. Sein Gesicht war direkt vor meinem und dieser Blick, diese Augen … sie waren es, die mich in seinen Bann geschlagen hatten. Seine Hand hob sich und berührte mich an der Wange. „Hilf mir.“

„Ich kann nicht“, flüsterte ich und versuchte mir bewusst zu machen, was wegen ihm jetzt auf mich zukam. Er sollte mich nicht so anschauen. Er sollte mir nicht so nahe sein. „Ich will dich nie wieder sehen.“

„Was?“

„Ich will dich nie wiedersehen“, wiederholte ich und schlug seinen Arm weg. Ich wollte nicht von ihm berührt werden. „Du hast mein Leben zerstört. Du hast mich belogen und betrogen und vom ersten Moment an darauf hingearbeitet meine Zuneigung zu gewinnen, nur um sie für deine Zwecke zu missbrauchen. Dabei ist es völlig egal, wie edelmütig deine Beweggründe auch gewesen sein mochten. Du bist der größte Lügner, der mir jemals begegnet ist und ich verabscheue Lügner.“

Das hatte gesessen. Ich konnte geradezu dabei zusehen, wie etwas in ihm brach, aber in diesem Moment war mir das völlig egal. Ich wollte ihn genauso tief verletzten, wie er mich verletzt hatte.

„Tu das nicht“, flehte er mich verzweifelt an. „Bitte, tu das …“

Die Fliehkraft einer weiteren Kurve schleuderte ihn wieder gegen mich. Als der Wangen dann in der nächsten Sekunde an Geschwindigkeit zulegte, wurde er gegen das Bett gedrückt. Im gleichen Moment fuhr die Trennwand wieder herunter.

„Tut mir leid Leute, aber das wird mir langsam zu brenzlig. Unser Mäuschen muss aussteigen.“ Sie riss das Lenkrad nach rechts.

Irgendwo hinter uns knallte etwas.

Ryder schaute unwillig von mir zu ihr. „Ich brauche noch ein wenig …“

„Nein“, unterbrach sie ihn. „Wenn du mit aussteigen willst, kann ich dich nicht daran hindern, aber ich lege keinen Wert darauf, nähere Bekanntschaft mit dem langen Arm des Gesetzes zu machen.“ Wieder riss sie das Lenkrad herum.

Verzweifelt ging sein Blick von ihr zu mir, aber ich konnte dem Flehen in seinen Augen einfach nicht nachgeben.

„Es ist vorbei“, sagte ich leise. „Es war bereits vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat.“

„Cayenne, bitte … tu mir das nicht an.“

Der Schmerz in seine Stimme ließ mein Herz brechen, aber wenn ich daran dachte, was alles passiert war und was mir jetzt noch bevorstand … das konnte ich nicht verzeihen. Wie sollte das gehen? Im Grunde war mir dieser junge Mann fremd. So schmerzlich es auch war das zuzugeben, es war Ryder, der es in den letzten Wochen geschafft hatte mein Herz zu gewinnen. Raphael dagegen … ihn kannte ich nicht.

Ich wandte das Gesicht ab und fixierte einen Fusel auf dem Bett. Natürlich war mir dabei äußerst bewusst, wie nahe er mir war und auch dass er noch immer nach einem Weg suchte, mich zu überzeugen, aber ich schaffte es einfach nicht länger ihn anzuschauen.

„Du hast mir das Versprechen abgenommen, niemals einfach aus deinem Leben zu verschwinden und …“

„Das ist ohne Bedeutung“, unterbrach ich ihn. „Nichts von dem was gewesen ist, hat noch eine Bedeutung.“

„Mir hat es etwas bedeutet. Bitte Cayenne, lass es nicht so enden. Ich brauche dich.“ Er kam näher, bis sein Atem mein Ohr streifte. „Ich liebe dich“, flüsterte er.

Mein Herz krampfte sich zusammen. „Hör auf zu lügen.“

„Es ist keine Lüge. Ich …“

„Halt endlich den Mund!“, fauchte ich ihn an. „Ich will das alles nicht hören! Ich habe genug von Geschichten und Storys, die mich blenden, damit andere das bekommen, was sie haben wollen.“ Ich schaute ihm tief in die Augen. „Sieh es ein, Ryder, es ist vorbei und es gibt nichts mehr, was mich vom Gegenteil überzeugen könnte – gar nichts.“

Future fuhr so dicht am Bordstein vorbei, dass der Wagen ins Schaukeln geriet. Dann schien sie einen Rekord im Zickzackfahren aufstellen zu wollen. Ich wurde so durchgeschüttelt, dass ich es kam schaffte mich festzuhalten. Als der Wagen in einer Kurve dann auch noch leichte Schräglage bekam, stieß ich sogar einen kleinen Schrei aus.

Mein Herz hatte mittlerweile alle Geschwindigkeitsbegrenzungen gebrochen. Es war gut möglich, dass sogar schneller war als der Bus.

„Das wird jetzt holprig“, informierte Future uns und hatte ich geglaubt, dass sie vorher schon wie eine Wahnsinnige gefahren war, so wurde ich nun eines besseren belehrt. Die nächsten fünf Minuten waren die reine Hölle. Das Gefährt schlingerte so sehr, dass meine Finger mir bereits vom Festhalten wehtaten. Als sie dann auch noch begannen wegzurutschen, griff Ryder – mein Gott, Raphael! Bekomm das endlich in deinen Kopf! – über mich rüber und hielt sich links und rechts von mir an dem Gestell fest. So bildete er mit seinem Körper ein Sicherheitsnetz, dass mich daran hinderte quer durch den Wagen zu segeln. Allerdings sorgte es auch dafür, dass er mit seinem ganzen Gewicht gegen mich gedrückt wurde, als Future eine Vollbremsung hinlegte. Und da mir von vorne der Bettrahmen in den Magen drückte, war das alles andere als angenehm.

„Alle Entführungsopfer die kein Ticket haben, werden nun gebeten das Fluchtfahrzeug schnellstmöglich zu verlassen.“ Future drückte vorne am Armaturenbrett einen Knopf und die Seitentür des Wagens öffnete sich automatisch – also langsam glaubte, ich dass in diesem Bus mehr steckte, als man auf dem ersten Blick glaubte. „Wir bedanken uns, dass Sie Air Kidnapping gewählt haben und empfehlen für die Zukunft immer ein Pfefferspray griffbereit zuhaben, um solche Situationen zu vermeiden.“

Ganz ehrlich? Die hatte doch einen Vollknall.

Mehr als widerwillig, löste Raphael seine Hände, doch bevor er von mir abrückte, spürte ich noch seinen warmen Atem in Nacken. „Ich weiß dass du mir nicht glauben willst, aber …“

„Heute noch Leute!“, rief Future ungeduldig und warf einen nervösen Blick in den Rückspiegel.

Ich drehte mich zu Ryder, äh … ach scheiß drauf. Ich drehte mich halt einfach zu ihm um. „Tritt mir niemals wieder unter die Augen.“ Damit rutschte ich an ihm vorbei und sah zu, dass ich aus dem Fahrzeug herauskam.

„Hey!“, rief Future und ließ das Seitenfenster herunter. „Deine Tasche!“ Noch während sie das sagte, flog besagtes Stück bereits auf mich zu und ich schaffte es gerade noch so sie aufzufangen, bevor sie mir direkt ins Gesicht klatschte.

Das hatte sie doch mit voller Absicht getan.

„Tu mir einen Gefallen und beweg dich dort an den Häusern entlang.“ Sie zeigte eine schmale Straße hinunter. „Wenn du wirklich einen Peilsender mit dir herumträgst, wird uns das ein wenig Zeit verschaffen.“

„Warum sollte ich irgendetwas für euch tun?“

„Weil wir zuvorkommende Entführer sind. Hätte ich die Zeit gehabt, hätte ich dir einen Tee angeboten.“

Super. Bei ihrer Fahrweise wäre der vermutlich in meinem Gesicht gelandet.

„Na dann, war nett mit dir, vielleicht sieht mach sich mal wieder.“

„Hoffentlich nicht“, murmelte ich und sah dabei zu, wie das Fenster wieder hochfuhr.

Ryder/Raphael stand in der offenen Seitentür. „Pass auf dich auf“, sagte er leise und schlug sie dann hastig zu. Schon in der nächsten Sekunde trat Future das Gaspedal wieder durch. Zwanzig Meter geradeaus, dann verschwand sie in einer Seitenstraße und ich blieb mutterseelenallein zurück.

Nicht das ich mich beklagen wollte. Ich war heilfroh, aus dem Wagen heraus zu sein, doch all das was ich gerade gehört hatte, lag mir nun schwer auf der Seele.

Ich liebe dich.

„Nein“, knurrte ich mich selber an und wandte entschlossen den Blick ab. Ich würde nicht mehr auf sein Geschwafel reinfallen. Dieses Thema war erledigt. Dieser Kerl – wer auch immer er wirklich sein mochte – war für mich gestorben und ich würde keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden.

Um diesen Plan auch sofort in die Tat umzusetzen, ließ ich meinen Blick über die Straße wandern, um mich zu orientieren, doch bevor ich auch nur ein Straßenschuld ins Auge fassen konnte, bretterten ein halbes Dutzend schwarzer Fahrzeuge in die Straße ein.

Das erste raste noch an mir vorbei, das zweite jedoch hielt mit quietschenden Reifen quer auf der Fahrbahn und zwang so auch die anderen stehen zu bleiben.

Die Tür wurde aufgestoßen und dann stürmte auch schon meine Mutter auf mich zu. „Cayenne!“

Aus einem anderen Fahrzeug stiegt Diego zusammen mit drei Wächtern. Lucy sah ich nicht. Was aber auch daran liegen konnte, dass meine Mutter mich in ihre Arme riss und mich an sich drückte.

„Oh Gott Cayenne. Geht es dir gut mein Schatz?“

„Ja“, sagte ich leise und hielt sie meinerseits fest. „Mir ist nichts passiert.“ Zumindest körperlich stimmte das. Was den Rest betraf … es war wohl besser, wenn ich vorerst nicht darüber nachdachte.

 

°°°

 

„… einfach nur nett, wenn ich nicht immer erst alles auf den letzten Drücker erfahren würde und dann auch nur, weil es sich nicht länger vermeiden lässt.“

Victoria zog eine finstere Mine. „Ich bin nicht verpflichtet, dir gegenüber irgendwas preiszugeben.“

Uh. Das was meine Mutter da mit den Augen abschoss, nannte man wohl Todesblick. „Es geht hier nicht um Verpflichtung, es wäre einfach nur höflich!“, fauchte sie meinen Wachhund an und stieß die Wagentür der Limousine auf, ohne auf den Chauffeur zu warten.

Ich schaute wie bei einem Ping-Pong-Match zwischen ihnen hin und her und lutschte nebenbei an meinem Eis – das war bei dem Wetter wirklich erfrischend.

Worum es ging? Kurz nachdem wir in den wirklich unglaublich luxuriösen Privatjet der Königsfamilie gestiegen waren, hatte Victoria uns eröffnet, dass der Flug nicht wie bisher angenommen, auf dem kleinen Privatflugplatz in der Nähe von Silenda endete, sondern in München, wo wir uns vorerst in ein Fünf-Sterne-Luxushotel einnisten würden. Wie es schien, wollte der Vater meiner Mutter mich vorerst nicht im Hof haben, zumindest nicht, bevor er nicht mit mir gesprochen hatte. Keine Ahnung warum, mir war es auch egal. Wenn ich den Hof niemals betreten müsste, würde ich mich sicher nicht beklagen.

Doch seit dieses Thema aufgekommen war, stritten die beiden sich nun schon. Erst im Flugzeug, dann auf der Landebahn. Den Gangway entlang, durch die Sicherheitskontrolle hindurch und im landseitigen Bereich des Flughafenterminals. Als wir die schwarze Limousine bestiegen hatten, machten die beiden eine kurze Pause, doch sobald wir alle saßen, ging es wieder weiter. So viel streiten konnte man wohl nur mit jemanden, den man wirklich lieb hatte – nein, das war nicht sarkastisch gemeint.

Victoria regte das Kinn. „Ich habe noch genug anderes zu tun, als mich um deine verletzten Gefühle zu kümmern, Celine. Und jetzt würde ich es begrüßen, wenn wir uns in Bewegung setzten könnten.“

„Ich würde auch so einiges begrüßen“, knurrte meine Mutter noch, dann stieg sie aus.

Das hieß dann wohl, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Ich schlürfte das letzte bisschen Eis von meinem Stiel und legte ihn dann einfach auf die edle Bar, weil ich keinen Mülleimer entdecken konnte.

Diego sah es, kommentierte es aber nicht und rutschte als nächstes aus dem Wagen. Lucy folgte ihm mit einer Gewittermine.

Seit man mich nach Ryders … ich meine Raphaels Entführung wieder eingesammelt hatte, war sie äußerst wortkarg. Nicht weil sie verletzt wurde, nein. Sie hatte nicht mal einen Kratzer abbekommen. Naja, zumindest keinen körperlichen. Was allerdings ihr Ego betraf … da sah die Sache schon ganz anders aus.

Tyrone und sein Schwager hatten sie scheinbar nicht verletzten wollen, mussten sie aber schnellstmöglich ausschalten, um selber das Weite suchen zu können. Also hatten sie sie kurzerhand in einen Schrank gesperrt. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis sie sich aus eigener Kraft befreit hatte, doch ihre Gegner waren da bereits verschwunden gewesen und so hatte sie niemanden mehr gehabt, den sie hauen konnte, um sich ein wenig abzureagieren.

Ich würde wohl mal mit ihr reden müssen, sobald wir allein waren aber jetzt war ich erstmal an der Reihe, diesen wirklich supergeilen Wagen zu verlassen und fand mich dann vor einer cremefarbenen Außenfassade wieder. Drei Torbögen führten zum Haupteingang, an dem ein Portier bereitstand.

Sehr chic. Nur die drei großen Fahnen am Gebäude fand ich ein wenig übertrieben.

Nachdem Victoria den Wagen verlassen hatte, gesellte sie sich direkt an meine Seite. „Ich möchte dich darauf hinweisen, dass dies keine heruntergekommene Kellerkneipe ist und wir daher ein gewisses Benehmen an den Tag legen müssen.“

„Das heißt kein Tabeldance?“

Uh, da war wieder so ein böser Blick. „Das ist mein Ernst Cayenne. Bitte benimm dich.“

„Warum, weil ich sonst rausgeschmissen werde? Das wäre eine Schande.“ Ich setzte mich voller Tatendrang in Bewegung. „Okay, wen muss ich beleidigen, um …“

Victoria packte mir am Arm. „Um es einmal ganz deutlich zu machen, wenn du Scheiße baust, dann werden wir es sein, die den ärger bekommen.“

Interessant. „Klingt in meinem Ohren geradezu nach einer Einladung irgendwelchen Mist zu verzapfen.“

Nun trat auch meine Mutter zu uns. „Ich weiß, dass du nicht hier sein möchtest, aber Victoria hat recht. Du bist hier in einer Funktion als Prinzessin. Wenn du dich schlecht benimmst, muss ich gehen.“

Hä? „Was soll das heißen, du musst dann gehen? Was hat das denn mit dir zu tun?“

Sie tauschte mit Victoria einen seltsamen Blick. „Prinzessinnen werden niemals bestraft, sie werden erzogen und zwar mit allen Mitteln.“

Diese Erklärung war nicht gerade einleuchtend, aber da meine Mutter sich dann abwandte und auf das Gebäude zuhielt, würde ich wohl auch keine weiteren Erklärungen erhalten – vorerst.

Das gefiel mir nicht. Ich wandte mich zu Diego um, der direkt hinter mir stand. „Was hat sie damit gemeint, sie wird weggeschickt?“

„Celine ist eine Ausgestoßene. Sie wird hier nur geduldet, weil sie deine Mutter ist.“

„Das heißt, wenn ich mich schlecht benehme, wird sie weggeschickt, um mir eins reinzuwürgen?“

„Ja.“ Direkt und schlicht.

Das war doch … unglaublich. „Sie können sie nicht einfach wegschicken!“

„Genaugenommen können sie das doch.“ Er griff meine Hand, wodurch ich auf seine leichte Anspannung aufmerksam wurde. „Komm, es ist nicht sehr konziliant die Hoheiten warten zu lassen.“

„Kon- was?“

„Höflich.“

Bevor ich darauf noch etwas erwidern konnte, wurde ich im Pulk in das Luxushotel hineinmanövriert. Ein Paar der Wächter kümmerten sich um das Gepäck, Victoria und ihr Vater steuerten die Anmeldung an und ich wurde mit Mama und meinen Freuden in den Wartebereich gesetzt.

Es war nett, edel, ein wenig altmodisch. Viel Braun und Beige. Und unheimlich leise. Selbst die anderen Gäste schienen Angst davor zu haben, die Stimme auch nur ein wenig zu erheben, um diese Ruhe nicht zu stören. Da zog ich die heruntergekommene Kellerkneipe eindeutig vor.

„Bist du aufgeregt?“, fragte meine Mutter. Sie hatte rechts von mir am Tisch platz genommen.

Ich machte eine wage Bewegung mit der Hand und zog dann die Tasche auf meinem Schoß. „Eigentlich nur genervt.“ Naja, das entsprach nicht so ganz der Wahrheit. Es gefiel mir nicht. Nicht nur, dass man mir vorschrieb, was ich zu tun hatte, auch diese Ungewissheit machte mich langsam ganz kirre. Besonders seit dem Ryder – Raphael, man, merk dir das endlich mal! – das mit den Alphas und der Macht und der stärkenden Stellung gesagt hatte, musste ich ständig daran denken, was mir nun bevorstand. War das hier wirklich mehr als ein Kurzurlaub?

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Mama tätschelte mir die Hand und schaute dann zur Anmeldung rüber.

Sie hatte gut reden, an ihr nagte ja nicht die Unsicherheit. Zwar war sie nicht in jede Kleinigkeit eingeweiht, aber sie wusste mehr als ich. Das hatte sie schon immer.

Da fiel mir noch etwas ein, dass mir keine Ruhe mehr ließ, seit ich aus Futures Bus ausgestiegen war. Zwar hatte ich es bisher vermeiden könne über das zu sprechen, was bei meinem unfreiwilligen Ausflug passiert war, einfach weil ich nicht näher darüber nachdenken wollte, aber diese Kleinigkeit ließ mich einfach nicht los. Doch statt wie sonst mit der Tür ins Haus zu fallen, versuchte ich es erstmal mit einem Umweg – ich wollte hier schließlich niemand beschuldigen. „Sag mal, wie hast du mich eigentlich auf dem Flohmarkt gefunden?“

Überrascht wandte sie sich mir wieder zu. „Was?“

„Der Flohmarkt. Du, oder auch Victoria, keine Ahnung, einer von euch beiden hat ein paar Wächter dorthin geschickt. Bestreite es nicht, ich hab sie gesehen.“ Ich wich ihrem Blick nicht aus. „Oder auch heute, wie habt ihr mich so schnell gefunden?“

Ihre Lippen wurden ein kleinen wenig schmaler.

Oh Gott, hatte Future recht gehabt? „Vielleicht sollte ich mal ganz direkt fragen. Trage ich einen Peilsender bei mir?“

Sie antwortete nicht, aber das brauchte sie auch gar nicht, ihr Blick sprach Bände.

Ein Hauch von Wut köchelte in mir hoch. „Es stimmt, oder? Irgendeiner von euch hat mir einen Peilsender untergejubelt.“

„Es tut mir leid mein Schatz, aber versteh doch. Auf einmal warst du ständig verschwunden und ohne diesen Peilsender hätten wir dich am Vollmond wohl niemals gefunden.“

Vollmond? Blitzschnell schaute ich zu Diego. „Ein Helfer des Dekans, ja?“

Er zuckte nur mit den Achseln, als wollte er fragen, was genau ich nun hören wollte.

Ja, was eigentlich? Mittlerweile wusste ich doch, wie das ganze abgelaufen war. „Wo?“

„Cayenne …“

„Wo, Mama, wo ist dieser verdammte Peilsender?“ Ja ich klang verärgert, aus dem einfachen Grund, dass ich es auch war.

„Du musst das verstehen“, versuchte sie mich zu besänftigen. „Wir …“

„Oh, ich verstehe sehr gut und jetzt sag mir verdammt noch mal wo das verdammte Ding ist, bevor ich einen verdammten Wutanfall bekomme!“

Von der Anmeldung flogen ein paar Blicke zu uns rüber und das nicht nur von den Angestellten. Auch eine Gruppe von Anzugträgern, die gerade das Hotel betraten, schauten direkt an unseren Tisch.

Mama drückte die Lippen aufeinander und deutete dann auf meine Tasche.

„In der Tasche?“

„Nein.“ Sie streckte den Arm aus und tippte auf den kleinen Katzenanhänger, den sie mir vor gar nicht allzu langer Zeit geschenkt hatte.

Ich konnte es nicht glauben. „Das? Das ist der Peilsender?“ Das würde zumindest erklären, warum sie mich nach dem Unifest nicht hatten aufspüren können. Da hatte ich meine Tasche nämlich nicht bei mir gehabt.

Und dann erst wurde mir die ganze Tragweite bewusst. Sie hatte mir das Teil nicht nur geschenkt, sie hatte es auch noch selber an meiner Tasche befestigt, um sicherzugehen, dass ich es auch wirklich bei mir tragen würde. „Ihr hab mir hinterher spioniert.“

„Cayenne, so ist das nicht, wir …“

„Ach nein? Was noch? Trage ich auch noch irgendwo ein Mikro mit mir herum, damit ihr meine Gespräche belauschen könnt?“

„Würdest du dich bitte ein wenig beruhigen?“

„Beruhigen?“ Ich lachte auf. „Ihr schnüffelt mir hinterher und ich soll mich jetzt auch noch beruhigen?“

„Ja, denn das hier ist nicht der Richtige Ort für …“

„Es ist mir scheiß egal, ob das hier der Richtige Ort ist!“, unterbrach ich sie ein weiteres Mal und fuhr von meinem Stuhl auf. Ich konnte einfach nicht länger sitzen bleiben. „Das ist ein massiver eingriff in meine Privatsphäre und nichts – absolut gar nichts! – rechtfertigt so etwas!“ Ja ich wurde lauter und es war mir scheiß egal. Genauso egal wie die Anzugtypen, die auf dem Weg an uns vorbei interessiert zu unserem Tisch rüberschauten, oder auch Victoria, die mit gerunzelter Stirn eilig auf uns zu kam. „Und dass du mir das auch noch als ganz besonderes Geschenk unterjubelst, ist wirklich das Letzte!“

„Cayenne“, mahnte nun auch Lucy und warf einen Seitenblick auf die Anzugträger, die ihren Schritt nun deutlich verlangsamt hatten und nicht mal mehr so taten, als würden sie nur zufällig in unsere Richtung schauen.

„Glotz nicht so blöd, du Lackaffe!“, schnauzte ich ein besonders interessiertes Exemplar dieser Gattung an.

Alle im Raum schnappten kollektiv nach Luft.

Victoria blieb mitten im Schritt entsetzt stehen und Lucy riss ungläubig die Augen auf.

Alle starrten den Kerl mit dem karamellbraunen Haar an, als würden sie auf etwas warten – naja, alle außer dem Personal, die wirkten einfach nur ein wenig verwirrt und pikiert.

„Cayenne.“ Mama erhob sich langsam von ihrem Stuhl. „Das ist dein Cousin Prinz Kaidan, der amtierende Thronfolger.“ Den letzten Teil fügte sie hinzu, als sei er besonders wichtig.

Ach ja? Na und? „Und wenn er König Triton wäre und singend durch die Ozeane schwimmen würde, er muss mich trotzdem nicht anglotzen.“

„Vielleicht würden die Leute das auch nicht, wenn du hin und wieder mal ein wenig Zurückhaltung beweisen würdest.“

Ach, jetzt war ich auch noch schuld? Klasse. Ich drehte mich zu seiner Hoheit herum, obwohl ich eigentlich nicht fand, das er besonders königlich wirkte. Keine Krone, kein Zepter, keine seltsame Renaissanceperücke oder juwelenbesetzter Umhang. Er war ein junger Mann in einem maßgeschneiderten Anzug, der nur wenig älter als ich sein konnte. Sein Haarschnitt war ordentlich, die Haltung gerade und die braunen Augen musterten mich neugierig.

Ohne auf sein oder mein Gefolge zu achten, baute ich mich direkt vor ihm auf. „Du bist also ein Prinz.“

Ein einnehmendes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Ja.“ Seine Stimme hatte einen sanften, wohltuenden Klang.

Ich verengte Augen leicht. „Hat man dir auch einen Peilsender verpasst?“

Eine seiner Augenbrauen wanderte ein Stück nach oben – verdammt, der konnte das ja auch. „Wohl kaum.“

Das war ja so klar. „Dann ist heute dein Glückstag.“ Ich riss den Katzenanhänger mit einem Ruck von meiner Tasche, nahm seine Hand und drückte den verdammten Peilsender hinein. „Du kannst meinen haben. Jetzt kannst du den zur Abwechslung blöd anglotzen.“ Damit ließ ich ihn stehen und rauschte an ihm vorbei zu den Fahrstühlen.

„Cayenne!“, rief meine Mutter und lief mir eilig hinterher.

Auch Lucy und Diego sprangen von ihren Stühlen auf und Victoria war so schnell an meiner Seite, als hätte sie sich direkt neben mich gebeamt.

„Hast du mir vorhin eigentlich zugehört?“, flüsterte sie sehr eindringlich und warf immer wieder Blicke über die Schulter zu diesem Prinzen, der etwas irritiert auf die kleine silberne Katze in seiner Hand schaute. „Wir sind hier nicht mehr bei dir zu Hause.“

„Was wohl der einzige Grund ist, warum ich erfahren habe, dass ihr mich verwanzt habt!“, fauchte ich sie an und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich eigentlich wollte. Aber weg war für den Anfang ganz gut.

„Das haben wir getan, weil du dich wie eine …“

„Sei endlich still!“, schnauzte ich sie an, einfach weil ich genug davon hatte, mich von ihr als keine unreife Göre beschimpfen zu lassen und zu meiner Überraschung, verstummte sie tatsächlich.

Als der Fahrstuhl mit einem leisen Pling vor uns auftauchte, schob Diego mich regelrecht hinein. Lucy, Mama und Victoria drängten sich hinterher.

Mein Wachhund drückte den Knopf für die vierte Etage und kaum dass die Türen sich geschlossen hatten, ging es weiter. „Es war eine Sicherheitsmaßnahme, die benötigt wurde, weil du dich immer wieder aus unserem Handlungskreis entfernt hast.“

„Das ist deine tolle Rechtfertigung?“, fragte ich fassungslos.

„Das ist keine tolle Rechtfertigung, das ist der Grund warum wir das getan haben. Wir hatten unsere Befehle und du brauchst deswegen jetzt noch so seinen riesigen Aufstand machen! Im Moment gibt es wichtigere Dinge, mit denen wir uns beschäftigen müssen! Wie konntest du nur den Prinzen beleidigen?!“

War ja klar, dass sowas noch kommen musste. „Woher hätte ich den wissen sollen, dass der feine Pinkel ein Prinz ist? Er hatte es sich ja nicht auf die Stirn tätowiert.“

Daraufhin starrten mich alle an, als hätte ich gerade etwas äußerst Dummes von mir gegeben.

„Hast du es denn nicht gespürt?“, fragte Mama.

„Oder gerochen?“, fügte Lucy noch hinzu.

Ich konnte nur verwirrt zwischen ihnen hin und her schauen. „Was soll ich gespürt haben?“ Auf den Teil mit dem Riechen ging ich gar nicht erst ein, das war einfach zu seltsam.

Diese Frage zog eine weitere Schweigerunde nach sich.

„Das ist nicht gut“, war Diegos Kommentar dazu.

„Was ist nicht gut?“ Ich schaute zwischen ihnen hin und her. „Hallo? Wäre hier vielleicht jemand so gütig mich aufzuklären?“

„Wir sprechen von der Alpha-Aura“, erklärte meine Mutter.

Die Fahrstuhlkabine hielt mit einem neuerlichen Pling und entließ uns in die prunkvolle, vierte Etage.

„Jeder spürt sie“, fügte Lucy hinzu und drängte mich nach draußen. „Selbst Menschen können das, wenn sie auch nicht wissen, was genau sie da spüren.“

Aha. „Und dass ich sie nicht gespürt habe, ist jetzt ein Weltuntergang?“

„Es verkompliziert die Dinge“, sagte Victoria schlicht und drückte meiner Mutter eine Schlüsselkarte in die Hand. „Executiv Suite, am Ende vom Korridor. Ich werde jetzt zusehen, dass ich einen Stammbaum besorge. Mit Fotos.“ Damit verschwand sie wieder in den Fahrstuhl.

„Mit Fotos?“

Lucys Mundwinkel zuckte. „Damit du nicht noch einmal ausversehen einen Alpha als Lackaffe bezeichnen kannst. Prinz Kaidan ist da eher harmlos, er fand dich wahrscheinlich einfach nur amüsant, aber wenn du das bei Prinz Manuel, oder sogar bei König Isaac gemacht hättest, würde man dich jetzt wahrscheinlich schon den Löwen zum Fraß vorwerfen.“

„Ihr habt Löwen?“

Sie verdrehte die Augen. „Das ist nur so eine Redensart.“

Musste sie deswegen gleich so herablassend sein? Man konnte doch wohl noch fragen und ganz ehrlich, nachdem was ich in den letzten Tagen so alles erfahren hatte, war ein Kerker mit Löwen gar nichts so abwegig, oder?

Meine Mutter führte uns nach rechts zu einer eher unscheinbaren Tür. Das tat sie so zielsicher, dass ich mir sicher war, sie war nicht zum ersten Mal Gast in diesem Etablissement.

Irgendwie bekam ich es immer noch nicht richtig auf die Reihe, dass sie mal eine Prinzessin gewesen sein sollte. Dieser Gedanke war noch seltsamer, als der, dass ich eine Prinzessin sein sollte. Und doch konnte ich nicht bestreiten, dass sie sich in das Ambiente hier prima einfügte. Nicht mit ihrem Aussehen. Sie sah genauso aus wie immer. Es war ihr Verhalten. Seit wir das Flugzeug verlassen hatten, war es irgendwie … würdevoll? Hochtrabend? Ich wusste nicht genau, wie ich das beschreiben sollte. Es war einfach so.

Mit der Schlüsselkarte öffnete sie die Tür und dann befand ich mich in dem wohl luxuriösesten Zimmer, in dem ich jemals gewesen war.

Wow. Weiße, bodenlange Vorhänge, weißer Teppich. Die Einrichtung war in eleganten und offenen Linien gehalten. Sogar einen kleinen Dekokamin und ein riesiges Wandgemälde gab es. Allerdings war das nicht so ganz meins. Ein Mann in Pluderhosen und komischer Frisur? Nein danke.

Staunend ging ich von dem Wohnraum in das ordentliche Schlafzimmer mit dem indirekten Licht. Dann ging es weiter in ein kleines Arbeitszimmer. Und dann erst das Badezimmer mit der Regendusche. Das war … wow, einfach nur wow.

„Gleich fängt sie an zu sabbern“, schmunzelte Lucy grinsend von der offenen Tür.

„Wenn man so etwas zum ersten Mal gegenübersteht, kann es auch ein wenig überwältigend sein“, erklärte meine Mutter. „ Wenn man diesen Luxus jeden Tag um sich hat, lässt der Reiz allerdings schnell nach,.“

Das bezweifelte ich doch. Ich meine, das im Schlafzimmer, das war doch ein hochmodernes Kingsize-Bett, oder? „Im Moment jedenfalls reizt mich das ganze auf eine ziemlich überwältigende Art.“ Ich bewunderte eine kleine Palme in der Ecke, die sich in ihrem Topf pudelwohl zu fühlen schien.

„Hoffen wir, dass das nach dem Gespräch noch immer so ist.“

„Gespräch?“

Mama deutete mit dem Kopf in die Lounge. „Komm mal mit. Ihr beide auch.“ Ohne auf mich zu warten, ging sie vor.

Ich tauschte einen kurzen Blick mit Diego und Lucy und folgte ihr dann. Was kam denn jetzt noch? Ein Katalog voller Wörter, die ich ab jetzt nicht mehr sagen dürfte? Lackaffe stand da wahrscheinlich ganz oben auf der Liste.

Das weiße Leder der mittig gestellten Eckcouch, fühlte sich unter mein Hintern weich wie Butter an. Ich versank geradezu darin. Beim Aufstehen würde ich Hilfe brauchen.

Lucy und Diego ließen sich rechts und Links neben mir nieder wobei Lucy sich eigentlich eher in die Ecke lümmelte.

Mama saß schon auf dem längsseitigen Streifen und hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Dabei beobachtete sie, wie ich mich an Diego kuschelte und er schon ganz automatisch den Arm um mich legte.

„Das geht nicht“, sagte sie leise.

Ich zog fragend die Augenbrauen nach oben. „Was meinst du?“

„Das.“ Sie zeigte auf mich und Diego. „Darum wollte ich mit dir sprechen, bevor du offiziell vor meinen Vater und Kai trittst.“

„Kai?“

„Prinz Kaidan.“

Ach so. „Und was genau geht jetzt nicht?“

Sie schaute zwischen uns Dreien hin und her, konzentrierte sich am Ende dann aber auf mich. „Bisher habt ihr immer ein sehr ungezwungenes Verhältnis zueinander gehabt, was durchaus in Ordnung war, aber am Hof – und besonders vor den Augen der Regenten – gibt es bestimmte Regeln, die für die Umbra und ihre Schützlinge gelten.“

Die Richtung in die dieses Gespräch führte, gefiel mir schon jetzt nicht. „Was meinst du mit Regeln?“, fragte ich misstrauisch.

„Einen Verhaltenskodex, wenn du so möchtest.“ Sie nickte zu Diego. „Er ist mit diesen Regeln aufgewachsen, weswegen ich mir wegen ihm keine Sorgen mache. Er weiß wie er sich zu benehmen hat. Was euch beide allerdings angeht …“ Sie schaute von mir zu Lucy und wieder zurück. „Lucy hat bei ihren Besuchen am Hof immer wieder Einblicke erhalten und wurde auch darin unterrichtet, wie sie auftreten muss. Dies ist jedoch das erste Mal, dass sie das Gelernte wirklich anwenden muss.“ Sie schaute wieder zu der rothaarigen Venus. „Versuch dich nach Diegos Beispiel zu richten, wenn du nicht weiterweißt.“

„Ich schaff das schon.“

Mama schien nicht recht überzeugt, beließ es aber dabei und wandte sich wieder mir zu. „Und was dich angeht … ich weiß, das willst du jetzt wahrscheinlich nicht hören, aber du bist eine Prinzessin, Cayenne, und Lucy und Diego sind nichts weiter als deine Angestellten.“

Wie bitte?

„Ihr gehört verschiedenen Klassen an und auch wenn eine Freundschaft nicht unmöglich ist, ist sie doch nicht gerne gesehen. Ab sofort musst du ein vorbildliches Verhalten an den Tag legen und dazu gehört nicht, sich mit seinen Umbra über andere Leute lustig zu machen, oder herumzurangeln, oder gar unangebrachter Körperkontakt. Weder Händchenhalten, noch Küsschen auf die Wange, oder übertriebene Umarmungen. Ab sofort bist du nicht mehr Cayenne Amarok, sondern Prinzessin Cayenne Amarok, Enkelin von König Isaac Amarok und Königin Geneva Amarok, zweite in der Thronfolge des Rudels der Könige, Titel durch Blut und musst dich auch dementsprechend benehmen.“ Sie beugte sich ein wenig vor, als sei das nächste besonders wichtig. „Ab sofort dürfen die beiden nicht nicht mehr anfassen, nicht so.“

„Was?“ Ich richtete mich auf. Jetzt platzte mir aber langsam der Kragen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“

„Ich habe selten etwas ernster gemeint. Wenn du dich nicht daran hältst, kann es durchaus passieren, dass mein Vater die beiden durch andere Umbras ersetzt, einfach damit das Auftreten gewahrt bleibt.“

Okay, jetzt war aber Schluss mit lustig. „Unterm Strich willst du mir damit also sagen, dass ich meine besten Freunde ab sofort wie Dreck behandeln soll.“

„Nein.“ Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Du sollst dich bloß nicht verhalten als wärt ihr Freunde, nicht wenn andere euch sehen können, dann sind Lucy und Diego nur noch deine Leibwächter.“

„Klar, kein Problem.“ Sauer verschränkte ich meine Arme und lehnte mich ins Leder. „Ich soll so tun, als wären sie Fremde. Nichts leichter als das.“

„Nicht Fremde, Cayenne, nur eben keine Freunde.“

„Das kommt doch aufs Selbe heraus.“ Ich stand auf und begann damit unruhig vor dem Tisch hin und her zu laufen. „Ich soll die Leute verleugnen, die mir etwas bedeuten. Dass ist als würde man mich zwingen zu lügen. Und hast du mal überlegt, wie es den beiden dabei geht?“

„Wir kommen schon klar“, sagte Lucy sofort.

„Ja“, stimmte Diego ihr zu. „Das ist unser Job.“

Ich funkelte die beiden an. „Vielen Dank auch, fallt mir ruhig in den Rücken.“

Mama seufzte. „Niemand fällt dir in den Rücken. Aber das ist es, wofür die beiden ausgebildet wurden. Ob es dir nun gefällt, oder nicht, sie sind deine Umbras.“

Es gefiel mir ganz und gar nicht. Die wollten mich in ein Schlangennest werfen und das ganz ohne Sicherheitsleine. Die hatten sie doch nicht mehr alle. „Und was machen sie dann? Nutzlos hinter mir herumstehen und Löcher in die Luft starren?“

Lucy schnaubte. „Ein wenig mehr gehört schon dazu. Wir …“

Ein Klopfen an der Tür weckte unser aller Aufmerksamkeit und mit einem Mal spannten sich alle Anwesenden merklich an. Das half nicht gerade meine plötzlich aufsteigende Nervosität in den Griff zu bekommen.

Schweigend erhob sich Mama von der Couch und ging zur Tür. Sobald sie sie einen Spalt geöffnet hatte, lockerten sich ihre Schulter wieder ein wenig und sie trat zur Seite um Victoria einzulassen. Dabei bemerkte ich die beiden Wächter, die draußen vor meiner Tür Stellung bezogen hatten. O-kay. Damit war ich jetzt wohl offiziell eine Very Important Person.

Victoria huschte hinein und schloss dann eilig wieder die Tür hinter sich. Der Pöbel sollte wohl nicht mitbekommen, welch wichtige Diskussionen hier drinnen besprochen wurden. Sie musterte meine Aufmachung skeptisch. „Hast du kein Kleid, dass du dir anziehen kannst?“

Wie gesagt, äußerst wichtige Gespräche. „Du warst es, die in den letzten Jahren meine Wäsche gemacht hat, also sag du es mir, besitze ich ein Kleid?“

Da war es wieder, dieses leidliche Seufzen, das die Menschen … ähm Werwölfe, in meiner Gegenwart stets ereilte. „Da müssen wir bei Gelegenheit ändern.“

Aber sicher doch. Als wenn ich freiwillig ein Kleid anziehen würde.

„Jetzt muss das eben erstmal reichen.“ Sie musterte mich ein weiteres Mal, als sei sie sich nicht sicher, ob die weiße Sommerhose und das luftige Top bei für dieses Treffen angemessen waren.

Stur verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Ich werde mich nicht umziehen.“ Wenn man bedacht, dass mein Koffer noch nicht hier oben war, dann konnte ich das ja auch schlecht.

Das stellte sie nicht unbedingt zufrieden, aber sie beließ es dabei. „Nun gut, es wird Zeit, Cayenne, du wirst erwartet.“

Das bedeutete dann wohl, das mein werter Großvater nun bereit für mich war. Na den würde jetzt eine Überraschung erwarten, die er so schnell nicht mehr vergaß. „Dann lasst uns gehen und meinem Schicksal entgegen treten.“

„Uh“, machte Lucy und erhob sich von der Couch. „Ich hoffe das Schicksal hat sich gewappnet.“

„Was bitte soll das jetzt wieder heißen?“

„Nichts“, sagte sie völlig unschuldig. „Nur das wir dich alle sehr lieb haben.“

Mama griff noch mal nach meinem Arm. „Bitte, sei vorsichtig mit dem was du sagst.“

„Glaub mir, ich weiß ganz genau, was ich sagen muss.“ Und es würde nicht sehr höflich ausfallen. Der Mann wollte mich kontrollieren? Jetzt würde er lernen, dass ein Sturm sich von niemanden kontrollieren ließ – nicht einmal von einem König. Natürlich war ich nicht so dumm das laut zu sagen. Wozu auch? Sie würden es ja gleich selber erleben.

Victoria war die Erste, an der Tür. Sie warf noch einen letzten mahnenden Blick in meine Richtung, öffnete sie dann und trat hinaus auf den Flur.

Als ich ihr folgte, überkam mich trotz meines Entschlusses eine Welle von Unbehagen. Das musste etwas mit der Atmosphäre zu tun haben und der Anspannung, die mit einem Mal von all meinen Begleitern ausging.

Das war albern. Dieser Mann konnte mir gar nichts. Außerdem würde es nur ein kurzes Gespräch werden und dann würde ich direkt wieder nach Hause fahren. Und doch kroch die Nervosität leise und beständig an mir herauf.

Mama nahm meine Hand und führte mich hinter Victoria her, Lucy und Diego liefen direkt hinter mir, doch als ich mich einen Moment zu ihnen umwandte, hatte ich auf einmal den Eindruck zwei Fremde hinter mir zu haben. Der Ausdruck in ihren Gesichtern … er war völlig neutral. Sie schauten auch nicht mich an, sie beobachteten alles, um mich herum, aber ich selber schien auf einmal unsichtbar zu sein.

Warum nur hatte ich mich nicht einfach geweigert an diesem Gespräch teilzunehmen? Ich war volljährig, niemand hatte das Recht mir Vorschriften zu machen. Und doch war ich nun hier und folgte Victoria ans andere Ende des Korridors zu einer verzierten Flügeltür. Auch hier waren mehrere Wächter abgestellt worden, die alles und jeden aufmerksam im Auge behielten.

Victoria ging direkt auf den großen Mann zu, der uns in den Weg trat und tauschte murmelnd ein paar Worte mit ihm aus. Der Mann nickte, fasste sich dann ans Ohr und sprach in ein kleines Mirko an seinem Kragen.

Mein Gott, wo war ich hier bloß gelandet? Ich kam mir vor, als würde ich gleich dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gegenübertreten. Fehlte nur noch, dass sie mich filzten. Aber sollte das wirklich passieren, würde ich anfangen Backpfeifen zu verteilen.

Zu meinem Glück kam es jedoch gar nicht erst soweit. Der Mann unterhielt sich nur einen Moment mit seinem Mikro, sagte dann noch etwas zu Victoria und trat dann zur Seite, um uns durchzulassen.

Wieder war es meine unerwünschte Aufpasserin, die den ersten Schritt übernahm. Sie trat an die Tür, hob die Faust und klopfte ohne weiteres Zögern leise dagegen.

Drinnen musste bereits jemand an der Klinke gewartet haben, denn die Tür wurde noch in der gleichen Sekunde von einem der Anzugträger aus dem Foyer aufgezogen. Er nickte Victoria kurz zu und trat dann zur Seite, um uns alle einzulassen.

Wieder war es Victoria, die den ersten Schritt machte.

Mama drückte meine Hand. „Bereit?“

Da war ich mir nicht so ganz sicher. „Lass es uns einfach hinter uns bringen, damit wir schnell wieder nach Hause kommen.“

„Ja“, sagte sie nach einem kurzen Zögern sehr leise. „Lass es uns einfach hinter uns bringen.“

Warum klang sie auf einmal so traurig? Plötzlich hatte ich ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache, aber Mama griff meine Hand fester und zog mich einfach mit sich hinein – Diego und Lucy folgten mir weiterhin auf dem Fuße.

Hatte ich geglaubt meine Suite sei prächtig, so hatte ich mich geirrt. Was mich hier erwartete … ähm … das fand ich schon ein wenig übertrieben. Das war Glanz und Gloria in ihrer ganzen Pracht. Goldene Beschläge, Stuckverzierte Decken, edle Seidentapeten und … es gab so viel zu sehen, das konnte ich gar nicht alles aufzählen. Kurz und bündig, diese Hotelsuite war … königlich – und das war kein Kompliment. Zu viel Prunk war eben doch … naja, zu viel eben. Doch es war nicht der König, der mich hier erwartete – außer ich hatte da etwas sehr falsch verstanden, denn als wir im Pulk durch die Tür traten, war der erste den ich zu sehen bekam dieser Prinz aus dem Foyer.

Kaidan hatte es sich auf einem der schweren Ledersessel rund um den flachen Tisch in der Mitte bequem gemacht und schaute mir lächelnd entgegen. Direkt hinter ihm standen zwei Leute in braunen Lederuniformen – zwei Frauen. Sie hatten den gleichen Ausdruck in ihrem Gesicht, den auch Diego und Lucy vor ein paar Minuten aufgelegt hatten. Das waren wohl seine Umbra.

Aber die Drei waren nicht die Einzigen in diesem Raum. Da standen noch acht andere Leute stumm wie Staturen aufgereiht an den Wänden, die Arme auf dem Rücken verschränkt und taten so, als wären sie gar nicht anwesend.

„Wächterin Victoria“, begrüßte Kaidan unsere Haushaltshilfe und nickte leicht zur Begrüßung. „Ich hoffe die Anreise war nicht all zu beschwerlich.“

Victoria verbeugte sich vor ihm. Wirklich. Sie beugte den Oberkörper so weit nach vorne, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie vornüber auf die Nase geklatscht wäre. „Nein, Euer Majestät, alles verlief problemlos.“

„Problemlos?“ Wie schon unten an der Rezeption, zog er wieder leicht die Augenbraue nach oben. „Da hat mir Wächter Edward aber etwas anderes erzählt. Wie ich hörte, soll es am Flughafen einen kleinen Zwischenfall gegeben haben.“ Er schaute an ihr vorbei zu mir, ohne sie weiter zu beachten. „Aber wie ich sehe, wurde schnell wieder in Ordnung gebracht.“

In Ordnung gebracht? Das war ja mal ein Witz. Wäre der Entführer jemand anders als Raphael gewesen, wäre ich jetzt wohl verschollen.

„Verzeiht“, bat Victoria. „Ich wollte das erst später zur Sprache bringen.“

„Schon gut“, sagte er gönnerisch und winkte sie mit der Hand fort. „Aber nun tritt zur Seite, ich möchte meine Cousine kennenlernen.“

„Natürlich.“ Sie verbeugte sich ein weiteres Mal und trat dann mit einem warnenden Blick auf mich zur Seite, um ihm volle Sicht auf mich zu gewähren.

Warum bitte bekam ich denn jetzt einen warnenden Blick? Ich hatte doch noch nicht mal den Mund aufgemacht.

„Cayenne“, sagte er leise mit dieser melodischen Stimme und musterte mich einmal von oben bis unten. „Ich war sehr überrascht, als ich von deiner Existenz erfuhr. Besonders wegen ihrer … Umstände.“

Oh mein Gott, quatschte der immer so hochgestochen? „Glaub es oder lass es, aber ich war selber ein wenig überrascht, als ich erfuhr, was ich bin.“ Das Was betonte ich überdeutlich. „Und begeistert bin ich davon noch immer nicht besonders.“ Das war dann wohl die Unterreibung des Jahres.

„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Ein kleines Schmunzeln erschien auf seinem Lippen. „Erstmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass Großvater noch nicht anwesend ist, er hat es mir überlassen dich zu begrüßen und wird ein wenig später zu uns stoßen.“

Klasse. Erst triezte man mich dazu hier aufzutauchen und dann war der ach so große König sich auch noch zu fein, pünktlich zu seinem eigenen Termin zu kommen.

„Aber bitte, setzt sich doch, dann unterhält es sich gleich viel besser.“ Er zeigte auf den leeren Sessel neben sich.

Große Lust seiner Bitte nachzukommen hatte ich nicht, aber da ich mir die Nettigkeiten für mein Großvaterlein aufheben wollte, blieb ich vorerst friedlich und setzte mich in Bewegung. Doch kaum dass ich einen Schritt nach vorne machte, löste meine Mutter sich aus meinem Griff.

Irritiert schaute ich mich nach ihr um. „Was ist?“

„Ich bin nicht eingeladen.“ In ihrem Gesicht erschien etwas, dass nur mit sehr viel Phantasie als kläglicher Abklatsch eines Lächelns durchgehen konnte. „Ich werde hier warten.“

Ähm …

„Nun setzt dich.“ Sie gab mir einen leichten Schubs und wich dann wieder zurück. Dafür blieben aber Diego und Lucy bei mir. Nur waren auch die beiden gerade nicht sie selbst.

Meine Lippen wurden zu einem dünne Strich. Nein, das gefiel mir ganz und gar nicht, doch der Blick meiner Mutter bat mich darum, mich nicht quer zu stellen, also seufzte ich nur und setzte mich dann in einen der Sessel. Dabei wählte ich nicht den neben ihm, sondern den gegenüber, damit Lucy und Diego sich links und rechts neben mich setzten konnten. Doch kaum dass ich meinen Hintern geparkt hatte, musste ich feststellen, dass sie sich wie Wächter hinter meiner Rückenlehne aufgebaut hatten und stur geradeaus schauten.

Ich schaute zu ihnen auf. „Wirklich?“

„Die Etikette, Prinzessin Cayenne“, war alles was Diego sagte, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Lucy gab überhaupt keine Regung von sich.

Okay, das fand ich jetzt schon zum Kotzen, weswegen ich den interessierten Blick des Prinzen auch mit einem bösen Funkeln erwiderte. „Nun gut, dass lass uns den Blödsinn schnell hinter uns bringen. Ich wollte in meinen Semesterferien noch in den Urlaub fahren.“

Das entlockte ihm ein herzliches Lächeln. „Kann ich dir etwas anbeten? Kaffee? Tee? Oder vielleicht lieber ein Wasser?“

Dann wollen wir doch mal schauen, wie gut der Service hier so ist. „Nein danke, aber ich hätte gerne einen Acerolasaft, wenn das ginge.“ Jetzt war ich gespannt.

Kaidan nickte nur. „Natürlich“, sagte er und sofort setzte sich einer der Anzugträger in Bewegung und verließ eilends das Zimmer.

O-kay. Wussten die hier überhaupt, was eine Acerola war? Ich war mir nicht mal sicher, ob es davon Säfte gab.

Prinz Kaidan neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte mich ein weiteres mal sehr gründlich. „Die Familienähnlichkeit ist auf jeden Fall gegeben.“

Aha. „Ich hab nicht gewusst, dass ich hier bin, um mich wie eine Kuriosität anstarren zu lassen.“

„Verzeih mir. Ich bin nur immer noch ein wenig überwältigt von deiner Existenz. Deine Geburt, ja dein ganzes Leben ist ein Geheimnis, das meine – ich meine natürlich unsere – Großeltern bis vor kurzen mit niemanden aus der Familie geteilt haben. Naja, mit niemanden außer meinen Eltern.“ Sein Lächeln wurde eine Spur freundlicher. „Ich muss mich selber noch ein wenig an diesen Gedanken gewöhnen.“

„Da bist du nicht der Einzige.“

Das ließ sein Lächeln ein wenig breiter werden. „Du gefällst mir“, sagte er dann. „Mit dir wird es bestimmt amüsant werden, und das meine ich auf keinem Fall abfällig.“

Aber sicher doch. Ohne in irgendeiner Weise darauf zu reagieren, ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Die ganze Situation war seltsam. Nicht nur die ganzen Fremden, die hier stumm um uns herumstanden und uns belauschten, auch meine Mutter, die mich ruhig beobachtete. Das fand ich …

Mein Blick fiel auf einen kleinen Katzenanhänger, den Kai vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Mein Katzenanhänger.

„Möchtest du ihn wiederhaben?“

Anstatt darauf zu antworten, stellte ich eine Gegenfrage. „Möchtest du, dass man dir von morgens bis Abends hinterher spioniert und zu jeder Zeit weiß wo du bist und was du gerade tust?“

„Ich bin ein Alpha, es gibt immer jemanden, der weiß wo ich bin und was ich gerade tue.“

„Das heißt du findest das in Ordnung?“, fragte ich zweifelnd.

„Es ist egal wie ich das finde, ich bin ein Prinz des Rudels. Das bringt nicht nur Privilegien mit sich, sondern auch Verpflichtungen. Es ist wichtig, dass das Rudel weiß wo ich bin und dass es mir gut geht – denn wenn es mir gut geht, dann geht es auch dem Rudel gut.“

Ahja, alles hoch interessant. „Nun, ich fühle mich aber nicht gut, wenn ich einen Peilsender bei mir trage.“

Kaidan musterte mich einen Moment nachdenklich. „Wenn du möchtest, kann ich den Sender entfernen lassen, sodass es nichts weiter als ein Anhänger ist.“

Hm, das war … nett. Und es machte mich misstrauisch. „Warum solltest du das tun?“

„Warum sollte ich es nicht tun?“

„Vielleicht weil du mich nicht kennst und ich nach diesem Gespräch auf Nimmerwiedersehen verschwinden werde?“

Der Blick in seinen braunen Augen wurde ein kleinen wenig intensiver. „Du gehörst zur Familie Cayenne.“

Das war mir bekannt und auch der einzige Grund, warum ich gerade hier saß, anstatt mit Diego und Lucy unseren Trip durchs Land zu planen, aber was hatte das eine mit dem anderen zu tun? „Ich möchte aber nicht zu dieser Familie gehören“, sagte ich ganz direkt und ignorierte Victorias warnenden Blick. „Nicht zu diesem Teil.“

„Leider kann sich niemand von uns aussuchen, wohin er geboren wird. Wir müssen uns mit dem arrangieren, was das Schicksal für uns geplant hat. Manch einer wird frei und ungebunden sein, anderen wird die Pflicht in die Wiege gelegt.“

„Mir nicht, denn wie man mir sagte, bin ich eine Misto und als solche gehöre ich nicht ins Königshaus.“ Was ja wohl der Grund dafür war, dass mein lieber Großpapa aus meinem Leben diese abstrakte Show gemacht hatte.

Die Herausforderung in meiner Stimme schien Kaidan nicht zu beeindrucken. Er erhob sich von seinem Sessel, trat vor mich und streckte mir die offene Hand entgegen. „Würdest du mir einen kurzen Moment deine Hand reichen?“

Er wollte meine Hand? „Wozu?“

„Ich würde gerne deine Aussage überprüfen.“

„Wenn ich dir meine Hand gebe, kannst du überprüfen, ob ich ins Königshaus gehöre?“ Wie das? War er Wahrsager und wollte meine Zukunft aus meiner Hand lesen?

Seine Antwort bestand in einem herausfordernden Lächeln.

Ich schaute in sein Gesicht, dann schaute ich auf seine Hand und kam mir vor wie ein Feigling, weil ich zögerte sie zu nehmen. Was erwartete ich denn was passieren würde, sollte er mich berühren? Trotzdem warf ich noch einen Blick zu meiner Mutter und er als sie ganz leicht nickte, gab ich meine Widerstand auf und legte meine Hand in seine. Mit dem was dann kam, hätte ich allerdings nie im Leben gerechnet.

Mit einem kurzen Ruck zog er mich auf die Beine, sodass ich vor Überraschung auch noch fast gegen ihn fiel. Ich schaffte es gerade noch so auf den Beinen zu bleiben, aber dann wurde es wirklich schräg. Kaidan hob meine Hand zu seinem Gesicht.

Zuerst glaubte ich er wolle mir einen Kuss auf den Handrücken geben – was schon ziemlich befremdlich gewesen wäre. Doch das war gar nicht sein Vorhaben. Es waren nicht seine Lippen, die mich berührten. Genaugenommen berührte er mich gar nicht weiter, er begann an meiner Haut zu schnüffeln. Wirklich. Ich konnte dabei zusehen, wie sich seine Nasenflügel blähten, als er meinen Geruch tief in sich aufsog.

Unwissend was ich davon halten sollte, lehnte ich mich von ihm weg. Lieber hätte ich meine Hand weggezogen, aber auch wenn der Griff nicht fest war, so war er doch unnachgiebig.

Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu meiner Mutter, doch die wirkte nicht beunruhigt. „Ähm“, machte ich nicht sehr gescheit, doch bevor ich meinen Satz beenden konnte, sagte er „Verzeih“ und zog mich flugs näher zu sich heran. Und dann wurde es wirklich seltsam. Er zog mich nicht nur weiter zu sich heran, er strich auch noch meine Haare zur Seite und begann an meiner Halsbeuge zu schnüffeln.

Dem ging es doch wohl zu gut. „Du hast genau eine Sekunde deine Pfoten von mir zu nehmen, bevor ich dir in deinen königlichen Hintern trete.“

Ob er diese Drohung nun ernst nahm, oder sie einfach nur lustig fand, er ließ auf jeden Fall von mir ab und trat einen Schritt vor mir zurück. „Ich möchte mich entschuldigen, aber es war nötig.“

Das war mir eigentlich egal, er hatte mir trotzdem nicht so nahe zu kommen. Und damit das nicht noch ein weiteres Mal passieren konnte, tat ich das, was ich immer tat, wenn mal ein Typ auf die Idee kam, mir auf die Pelle zu rücken: Ich umrundete den Sessel und versteckte mich hinter Diego. Der hatte noch jeden Idioten verscheuchen können.

Als ich mich jedoch halb hinter ihm an seinen Arm klammerte und böse funkelnd an ihm vorbei spähte, spannte sich Diegos ganzer Körper ein wenig an. Ansonsten tat er gar nichts.

Kaidan beobachtet mich interessiert und schaute von Diego zu mir. „Du suchst Schutz bei ihm.“

„Ja. Und kommst du mir noch mal so nahe, gibt er dir eins auf die Mütze.“

Irgendwas an diesen Worten ließ Kaidan kurz auflachen, bevor er sich wieder in seinen Sessel setzte und die Beine übereinander schlug. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen. „Du bist ihm sehr zugetan, wenn ich das richtig sehe.“

Als Diego sich nach diesen Worten noch ein wenig mehr anspannte, wurde mir erst bewusst, dass ich gerade genau das tat, was Mama mir direkt vor diesem Gespräch untersagt hatte. Aber das war mir egal, denn eines stand unwiderruflich fest: „Diego ist mein Freund.“

„Dein Freund?“ Der Prinz schaute mit neuem Interesse zwischen uns hin und her. „Eine Liebesbeziehung?“

Auch wenn Diego sich keinen Millimeter bewegte, so konnte ich seine plötzliche Unruhe spüren.

Oh oh. „Nein, so einen Freund habe ich nicht, aber das heißt nicht, dass er dir nicht trotzdem den Hintern versohlen kann.“

„Ich bin mir sicher, dass er das könnte“, schmunzelte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er musterte mich nachdenklich und wurde dann etwas ernster. „Seinen Umbras zu vertrauen ist sehr wichtig. Sie sind dazu da dein Leben zu schützen, aber es gibt Vertrauen und es gibt Geneigtheit. Wenn du deinem männlichen Umbra so zugeneigt bist, könnte das schnell falsche Eindrücke erwecken.“

„Und?“ Ich nahm die Nase ein wenig höher. „Mir doch egal, welchen Eindruck das erweckt. Ich werde meinen Freund bestimmt nicht verleugnen, nur weil es da ein paar versnobte Gecks gibt, die sich daran stören könnten.“

„Das ist sehr löblich, es zeigt mir deine Loyalität und auch, dass du bereit bist für das einzustehen, was dir am Herzen liegt, aber das Protokoll muss eingehalten werden.“ Er neigte den Kopf ein kleinen wenig zur Seite. Irgendwie hatte diese Bewegung etwas sehr hündisches an sich. „Es wäre wohl besser, ein solches Verhalten gleich im Keim zu ersticken.“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lucy mir einen nervösen Blick zu warf.

„Was soll das heißen, im Keim ersticken?“, fragte ich misstrauisch und musste an das Denken, was Mama vorhin gesagt hatte.

„Das es vielleicht besser wäre Umbra Diego auf einen anderen Posten zu setzen und dir einen weiteren weiblichen Umbra an die Seite zu stellen.“

Ich stellte mich so schnell schützend vor Diego, dass die Leute um mich herum eigentlich von meiner Geschwindigkeit hätten beeindruckt sein müssten. Der hatte wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Das kannst du nicht machen.“ Das würde ich auf keinen Fall zulassen.

„Ich kann das sehr wohl tun. Pass auf. Umbra Laiko, bitte tausche deinen Posten mit Umbra Diego.“

Eine japanische Frau mit schwarzen Haaren, die ungefähr im Alter meiner Mutter sein musste, setzte sich ohne das geringste Zögern sofort in Bewegung. Und auch Diego wollte den Worten des Prinzen nachkommen.

Oh nein, das konnten sie sowas von vergessen. „Nein“, sagte ich sehr nachdrücklich und hielt Diego am Arm fest – nicht das er sich nicht hätte mit Leichtigkeit befreien können.

Er blieb sofort stehen und auch die Japanerin stoppte und schaute fragend zu dem Prinzen.

Kaidans Lächeln wurde ein wenig breiter. „Jetzt haben wir ein Problem. Zwei Alphas, zwei Befehle. Nach wem sollen sie sich nun richten?“

„Ich gebe hier niemanden Befehle, doch ich werde mir von so einem verwöhnten Muttersöhnchen doch nicht meinen Freund wegnehmen lassen, nur weil sein aufgeblasenes Ego nach einer Machtdemonstration verlangt.“ Ich konnte genau beobachten, wie Victoria sich nach diesen Worten am liebsten entsetzt die Haare gerauft hätte, doch meine Mutter blieb völlig ruhig. Und das kleine Prinzchen? Das lehnte sich nur lächelnd vor.

„Ich glaube es hat noch nie jemand gewagt, so mit mir zu sprechen.“

Mir lag etwas auf der Zunge, doch ich zwang mich ausnahmsweise einmal den Mund zu halten. Auch wenn es durchaus irritierend und dumm war, so war mir sehr wohl bewusst, dass Diego gehorchen würde. Und das war meine Schuld. Ich gab es nicht gerne zu, aber ja, ich hätte auf meine Mutter hören sollen.

„Nun gut, wenn du dazu nichts zu sagen hast und da ich hier das ranghöher Alpha bin, wird es wohl mein Wort sein, dem sie folgen.“

„Das kannst du vergessen.“ Hm, das mit dem Knurren schien ich ja schon ganz gut hinzubekommen.

Ein Stück weiter räusperte sich Victoria. „Eure Majestät, würdet Ihr mir gestatten etwas zu sagen?“

Prinz Kaidan schaute sie nicht nicht an. Es schien, als wollte er mich nicht aus den Augen lassen – warum auch immer. „Sprich.“

Victoria trat einen Schritt nach vorne. „In Anbetracht der Umstände und der Erfahrung, die ich im Umgang mit der Prinzessin habe sammeln können, halte ich es vorläufig für eine Fehlentscheidung Umbra Diego aus ihrem Umfeld zu entfernen, da Prinzessin Cayenne darauf mit Gegenwehr reagieren wird.“

„Du meinst, wenn ich etwas tue, was sie nicht möchte, wird sie sich querstellen.“

„Ja, Eure Majestät. Noch dazu möchte ich ausdrücklich betonen, dass Umbra Diego und Prinzessin Cayenne zwar eine enge Verbindung teilen, diese jedoch von beiden Seiten rein platonisch ist. Ich habe nie etwas anderes beobachten können.“

Nach diesen Worten herrschte erst einmal Stille. Aller Aufmerksamkeit war auf diesen Blödmann von Prinzen gerichtet, der mich noch immer nicht aus den Augen ließ.

Langsam fand ich das unheimlich. „Könntest du mal jemand anderen anglotzen?“ Vielleicht war das nicht unbedingt das Klügste, was ich in dieser Situation hätte sagen können, doch es störte mich wirklich. Dieser Blick … er bereitete mit Unbehagen.

„Nein“, sagte er auch ganz direkt. „Du bist ein Alpha und die sind nun einmal sehr dominant und mögen es gar nicht, wenn andere ihnen Vorschriften machen. Solltest du auf den Gedanken kommen mich in meine Schranken weisen zu wollen, möchte ich doch gerne vorgewarnt sein.“

In seine Schranken weisen? Glaubte der Trottel ich würde ihn angreifen?

„Nun gut“, sagte er schließlich und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Wächterin Victorias Argumente sind einleuchtend, also belassen wir die Konstellation so wie sie ist – vorerst. Aber“, sagte er sehr eindringlich und nahm mich fest ins Visier. „Ich bleibe bei dem was ich gesagt habe. Es ist nicht gut, wenn du eine so offene Zuneigung zu einem männlichen Umbra zeigst. Ich verstehe durchaus, dass diese ganzen Umstände noch sehr belastend für dich sind und du intuitiv dort Schutz suchst, wo du dich sicher fühlst. Doch dann solltest du vielleicht darüber nachdenken, dich in einem solchen Fall besser an Umbra Luciela zu wenden. Die anderen Mitglieder der Familie werden nämlich nicht so nachgiebig sein wie ich.“

Ich kniff meine Augen ganz leicht zusammen. „Du lässt mir Diego?“

Da war es wieder, dieses einnehmende Lächeln. Ich musste gestehen, Prinz Kaiden war schon eine Augenweide – irgendwie. Selbst die etwas zu groß geratenen Nase passte zu ihm und verlieh ihm … Charakter.

„Ich hatte nie vor ihn dir wegzunehmen. Ich wollte deinen Umbra austauschen, nicht deinen Freund.“

Die japanische Frau kehrte wieder auf ihren Posten hinter meinem Cousin zurück.

„Es ist kein Problem, dass er mein Freund ist?“ Irgendwie traute ich dem Braten nicht, einfach weil sich das eben noch ganz anders angehört hatte.

„Nein.“ Kaidan beugte sich mir ein wenig entgegen, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. „Mein bester Freund ist bei uns am Hof der Assistent des Hofschneiders. Das ist kein Geheimnis, aber es wird auch nicht an die große Glocke gehängt. Im Leben eines Prinzen und auch in dem einer Prinzessin geht es oft um Diskretion. Auch mit meinen Freunden verbringe ich eher Zeit hinter verschlossenen Türen, als in aller Öffentlichkeit, da wir ein Bild wahren müssen.“

Ich wusste nicht was genau es war, aber nach dieser Offenheit fiel die Anspannung ein wenig von mir ab. Und auch Diegos Muskel lockerten sich wieder etwas.

„Deine Freundschaften zu den niedrigeren Rängen, solltest du nicht allzu offen zeigen. Natürlich ist mir bewusst, dass dies eine Umstellung für dich sein wird, doch so funktioniert das Rudel nun einmal.“

Das waren aber ziemlich mittelalterliche Ansichten. Aber ich war schlau genug meinen Mund zu halten – ausnahmsweise einmal.

„Bitte. Cayenne, setz dich doch wieder.“

Ich zögerte. „Bleibst du mir vom Leib?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Ich hatte nie vor dir zu nahe zu treten.“

„Aber du hast es getan.“

„Ich werde hier sitze bleiben. Versprochen.“

Ich traute ihm nicht. Mit einem Mal traute ich dieser ganzen Angelegenheit nicht mehr. Das war alles so … surreal. Aber ich wusste was meine Mutter von mir erwartete und wenn ich ehrlich war, wollte ich das alles nur noch hinter mich bringen und dann schnellstens von hier verschwinden.

Ich drückte noch einmal Diegos Arm, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob ich damit ihn oder mich beruhigen wollte und setzte mich dann zurück auf meinen Platz. Allerdings lehnte ich mich dabei so weit von dem Blödmann weg, wie es mir möglich war. Dass er es bemerkte und mich deswegen belächelte, ignorierte ich einfach.

Prinz Kaidan machte es sich in seinem Sessel wieder bequem. „Erzähl mir doch bitte etwas von dir.“

Ich sollte ihm etwas erzählen? Was war das hier, eine Vorstellungsrunde auf den Posten der Prinzessin? „Ich sehne das Ende dieser Unterhaltung herbei.“

Er stieß ein kleines Lachen aus und gab mir das Gefühl ein riesiger Witz zu sein. Scheinbar war ich nur hier, damit das Prinzchen sich ein wenig amüsieren konnte. „Warum erzählst du mir nicht von deinem letzten Vollmond? Was genau ist in dieser Nacht geschehen? Berichte aus zweiter Hand sind immer so ungenau.“

Das was nach dieser Frage vor meinem inneren Auge aufblitzte, war das Gesicht von Ryder.

Nein!

Ich versuchte sofort es aus meinem Hirn zu verbannen. Er hatte dort oben nichts mehr zu suchen, doch sein Bildnis klammerte sich so fest an meine Erinnerung, dass ich mir wohl den Kopf hätte abschlagen müssen, um es loszuwerden.

Verdammt, warum nur hatte er das jetzt zur Sprache bringen müssen?

„Cayenne?“

Als ich wieder aufschaute, sah ich Kaidens interessierten Blick. Es war kein Thema das ich besprechen wollte und das nicht nur, weil ich mich an diesen Abend kaum erinnerte. „Wenn ich ehrlich bin, war ich in dieser Nacht so weggetreten, dass ich keine Ahnung habe, was genau geschehen ist.“ Hoffentlich würde er sich damit begnügen.

„Du hast keine Erinnerung daran?“

Also begnügte er sich damit nicht. War ja irgendwie klar gewesen. „Nur Bruchstücke. Ich kann dir sagen, dass diese Nacht die Hölle für mich gewesen ist und ich sowas nie wieder erleben möchte, aber wenn du es genauer wissen möchtest, dann musst du Diego oder Lucy fragen. Die können dir wahrscheinlich einen besseren Einblick geben als ich.“ Und ich würde mich nicht schon wieder damit auseinandersetzten müssen.

Ich liebe dich.

Nein! Das hatte er doch nur gesagt, weil er etwas von mir wollte. Es war eine Lüge, genau wie alles andere und ich war nicht so dumm, noch einmal auf diesen Mistkerl hereinzufallen.

Kaidan beobachtete mich einen Moment sehr genau, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber auf einem Punkt hinter mir. „Ihr ward dabei?“

„Wir sind ungefähr gegen zwei Uhr Morgens dazugestoßen“, erklärte Diego. „Der Vampir, bei dem sie sich aufgehalten hat, hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinem Joch belegt und ihr so eingeredet, dass sie keinen Schmerz spürt.“

Der Vampir. Ja, so sollte ich den Arsch ab jetzt auch nennen. Das war unpersönlich und nichtssagend. Das war als würde man über einen Fremden sprechen. Genau das war dieser Vampir ja auch – ein Fremder, ein Geschichtenerzähler, ein riesiger Mistkerl.

Meine Lippen drückten sich fest aufeinander.

„Sie hatte also schmerzen?“, versicherte Kaidan sich noch einmal.

„Sie befand sich in einer Art Fieberwahn. Der Wolf versuchte durchzubrechen“, bestätigte Diego.

„Aber er hat es nicht geschafft?“

„Nein.“ Diegos Kleidung raschelte, als würde er sein Gewicht verlagern. „Da sie aufgrund ihrer erhöhten Körpertemperatur nur in Unterwäsche war, war dies leicht zu erkennen. Es gab nicht die geringste Metamorphose.“

Wofür ich wirklich dankbar war.

„Aber sie hat in dieser Nacht nach Wolf gerochen, genau wie jeder andere von uns.“

„Hm“, machte Kaidan und nickte nachdenklich. „Ein Probelauf, wie ein müdes Gähnen.“

So würde ich diese Nacht zwar nicht beschreiben, aber ich hatte gerade kein Interesse daran mich einzumischen. Besonders wenn ich dabei an Victorias Worte denken musste und daran, dass dies wohl erst der Anfang gewesen war.

„Nun gut.“ Mein Cousin richtete sich ein wenig gerader auf. „Lass uns von etwas anderem sprechen, dieses Thema scheint dir nicht besonders zu behagen.“

Ach, das hatte er bemerkt?

„Lass uns von deinem Studium sprechen. Ich habe gehört, dass du das Studium zur Pharmatechnik begonnen hast.“

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich auch dazu sagen?

„Wie kamst du dazu?“

„Der Gedanke, anderen Menschen zu helfen, hat mir gefallen.“

Das ließ ihn aufhorchen. „Warum?“

Warum? „Was ist das denn für eine blöde Frage?“

Die Tür zur Suite wurde geöffnet und auch wenn nicht gerade Bewegung unter die Anwesenden kam, so konnte man geradezu spüren, wie die Wächter und Umbra mit einem Schlag aufmerksamer wurden. Doch es war nur der Anzugträger, der auf meinem Wunsch nach Acerolasaft hin, den Raum verlassen hatte. Auf seiner Hand balancierte er ein Tablet mit einer Kristallkaraffe und einem passenden Glas. Beides war mit einer roten Flüssigkeit befüllt.

Der hatte es doch nicht wirklich geschafft Acerolasaft zu besorgen, oder?

Kaidan beachtete ihn gar nicht weiter. „Mich interessieren deine Gründe. Hast du Mitleid mit denen die Leiden, willst du helfen, weil es dir eine Herzensangelegenheit ist, oder suchst du nur Anerkennung und Dankbarkeit. Was sind deine Beweggründe?“

Der Wächter stellte das Tablett still auf dem Tisch ab, legte noch einen Untersetzter direkt vor mich auf die Platte und stellte dort das Glas ab. Dann zog er sich diskret zurück.

O-kay.

„Cayenne?“

„Ich weiß nicht, ich habe nie darüber nachgedacht.“

Irgendwas daran ließ ihn wieder etwas breiter grinsen. „Dann ist es wohl einfach Instinkt.“

Instinkt?

Die Frage musste mir wohl ins Gesicht geschrieben stehen. „Ein Alpha versucht instinktiv Schwächere zu schützen und ihnen zu helfen.“

„Wenn du es sagst.“ Das hörte sich auf jeden Fall besser an, als zuzugeben, dass ich diesen Studiengang nur gewählt hatte, weil ich sonst nicht wusste, was ich tun sollte.

„Manchmal ist es vielleicht gar nicht so verkehrt, seine Handlungen zu hinterfragen, um sich selber …“ Kaidan unterbrach sich, richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tür und schon im nächsten Moment wurde sie von außen geöffnet.

Ich war mir nicht ganz sicher, was genau es war, aber da trat eine kleine Gruppe, angeführt von einem älteren Mann, in die Suite und ich hatte das plötzliche Bedürfnis, mich wieder hinter Diego zu verstecken – nicht das ich dem Impuls nachgegeben hätte.

Aber nicht nur mir ging es so. Alle im Raum hatten mit einem Mal ihre Aufmerksamkeit auf den alten Kerl gerichtet. Vorsichtig, aber gleichzeitig auch Erwartungsvoll. Nur Kaidan blieb völlig entspannt in seinem Sessel sitzen.

„Ich grüße dich, Großvater.“

„Mein Sohn.“ Der alte Mann hatte genau wie sein Enkel und meine Mutter karamellbraune Haare. Seine Haltung war sehr aufrecht, so als würde ihm ein Stock sehr tief im Arsch stecken und die Schultern waren doppelt so breit wie meine. Er war sehr kräftig, wobei an ihm kein Gramm fett zu finden war. Er war weder überdurchschnittlich groß, noch anderweitig auffallend. Und doch hatte er etwas an sich, das meinen Entschluss ihm auf der Nase herumzutanzen ein wenig ins Schwanken brachte.

Aber was mich wirklich aufmerken werden ließ, war seine Augenfarbe. Sie waren stahlgrau, genau wie meine eigenen. Und er war kaum in den Raum getreten, als er mich auch schon mit ihnen fixierte.

Ich versuchte mich gleichmütig zu geben, konnte es aber nicht verhindern, mich ein wenig fester in das Polster zu drücken.

Das war also der Blödmann … ich meinte natürlich der Vater, meiner Mutter. Hm, irgendwie hatte ich ihn mir ja schon ein wenig älter vorgestellt. Da waren zwar ein paar Fältchen um seine Augen und genau wie Kaiden hatte er eine etwas zu große Nase, aber eigentlich wirkte er kaum älter als Mitte vierzig. Doch das konnte nicht sein, meine Mutter war ja gerade mal so alt. Nicht mal sein Haar war angegraut. Seltsam. Aber kaum seltsamer als dieser Blick, mit dem er mich zu durchbohren schien.

„Cayenne“, sagte er sehr leise.

Irgendwo in meinem Kopf ging eine Warnsirene los, und doch hob ich die Nase ein wenig höher. Ich würde mich von diesem Mann nicht einschüchtern lassen. „Ja?“

Er schaute mich nur einen Moment an. Dann sagte er. „Hinaus, alle.“

Ähm … okay. Damit hatte ich nun nicht gerechnet, aber wenn er mich loswerden wollte, ich hatte damit sicher keine Probleme. Also erhob ich mich aus meinem Sessel, als sich außer dem alten Sack und Kaidan alle in Bewegung setzten.

Mein Cousin gab ein kleines Lachen von sich. „Nicht du“, sagte er zu mir. „Mit dir möchte er doch sprechen. Bleib sitzen.“

Hm, das fand ich nun wieder gar nicht so okay, besonders nicht, da so gut wie alle Wächter und auch die Umbras schon halb draußen waren – ja selbst Lucy und Diego. Nur meine Mutter blieb stur stehen und fing meinem Blick auf. Doch der Ausdruck in ihrem Gesicht … er gefiel mir nicht. Er wirkte vorsichtig … wachsam.

„Eure Majestät“, sprach sie den großen König dann auch direkt an. „Ich glaube …“

„Ich werde mich nicht wiederholen.“ Die Worte waren leise gesprochen worden, doch da klang nicht nur eine Warnung mit drin, sondern eindeutig auch ein Knurren.

Mama drückte einen Moment die Lippen aufeinander. „Vater, bitte, ich würde gerne …“

„Hinaus!“, fauchte er und fuhr zu ihr herum. Und egal was sie in seinem Gesicht zu sehen bekam, es veranlasste sie dazu den Kopf ein wenig einzuziehen.

Na sag mal, dem ging es wohl zu gut. Niemand – absolut niemand – hatte meine Mutter in diesem Ton anzufahren! Ich war schon dabei mich aufzuplustern, doch bevor ich den Mund auch nur öffnen konnte, schüttelte meine Mutter eilig den Kopf und schloss sich dann mit einem letzten, beinahe schon trotzigen, Blick auf ihren Vater den anderen an.

Diego und Lucy waren bereits draußen, sowie ein Großteil der Wächter. Victoria stand an der Tür und wartete darauf, dass auch noch die Letzten den Raum verließen. Erst als auch meine Mutter sich auf dem Korridor befand, folgte sie ihnen und schloss die Tür beinahe geräuschlos. Ich blieb mit dem unbekannten Teil meiner Familie zurück und wollte nichts lieber tun, als den anderen zu folgen. Diese Situation behagte mir nicht.

Die Stille die daraufhin entstand, nutzte mein Großvater, um sich mir wieder zuzuwenden und mich einer gründlichen Musterung zu unterziehen. Leider hatte ich etwas dagegen, wenn man mich so genau inspizierte und so war es gar nicht meine Schuld, als ich ihn fragte, ob er ein Passfoto haben wollte.

Er verzog keine Mine. „Sag mir deine Meinung, Kaidan.“

Das Wort Bitte, kannte er wohl nicht, aber daran schien das Prinzchen sich nicht zu stören.

„Sie kann sich nicht verwandeln, sie spürte den Wolf bisher nur ein einziges Mal, aber er kam nicht zum Vorschein. Und doch kann ich ihn an ihr riechen. Der Geruch ist noch schwach, aber unverkennbar. Wächter Edward berichtete mir, dass er seit dem letzten Vollmond immer stärker geworden sei. Sie ist ohne Zweifel ein Alpha, wenn sie etwas sagt, hören die Wölfe nicht nur zu, sie gehorchen auch.“

„Sie fühlen sich zu ihr hingezogen?“

Er nickte. „Sie spüren sie, sie wissen wer sie ist. Und trotz ihrer blonden Haare, hat sie eine ausgesprochen große Familienähnlichkeit.“

Langsam nickte der König. „Dein Rat?“

Hm, und ich hatte gedacht, er sei hier um mit und nicht über mich zu sprechen. So konnte man sich täuschen.

„Du kannst sie weiter verborgen halten, aber das würde ich nicht empfehlen.“ Kaidan richtete seinen Blick auf mich. „Der Wolf ist dabei zu erwachen und früher oder später wird jemand auf sie aufmerksam werden und auch wissen, wenn er vor sich hat.“

„Ein Irrtum ist ausgeschlossen?“

„Ich war mir selten einer Sache sicherer. Zwar kann ich dir nicht sagen, wann ihr Wolf hervorkommt, doch ich kann dir versichern, dass er es tun wird. Sie ist ein Amarok-Alpha.“

Der alte Mann nickte verstehend. „Dann werden wir auf unseren Plan zurückgreifen müssen.“

Plan?

„Soll ich meine Eltern benachrichtigen?“

„Das wäre wohl das Beste. Ich werde mich um …“

„Ähm“, machte ich, weil ich irgendwie den Eindruck bekam, dass sie meine Anwesenheit völlig vergessen hatten. Sofort hatte ich die Aufmerksamkeit der Beiden. „Dürfte ich erfahren worum es hier geht?“

„Um deine Zukunft“, sagte der alte Mann ganz direkt. „Willkommen in der Familie, Prinzessin Cayenne.“

 

°°°°°

Epilog

 

Goldene Holzböden, ein riesiger Kamin, sechs Meter hohe Decken und bequeme Möbel. Überfüllte Bücherregale säumten die hintere Wand. Davor stand ein sehr eindrucksvoller Schreibtisch aus Schwarznuss. Er wirkte genauso edel wie der rothaarige Mann dahinter, der konzentriert die Listen vor sich durchging.

Die Neue Lieferung sah recht ordentlich aus. Für einen Teil der aufgeführten Posten würde Jegor sogar den Preis etwas erhöhen können, um den Gewinn ein wenig zu steigern. Dies waren immerhin schwierige Zeiten.

Vielleicht sollte er ja mal wieder eine Auktion veranstalten, das hatte er schon lange nicht mehr getan. Zwar würde die Organisation etwas schwierig werden, aber bisher hatte er noch immer eine Lösung gefunden.

Noch während er überlegte, trat leise eine Frau zu ihm ins Büro und machte einen kleinen Knicks, sobald er den Blick hob. „Die Post“, erklärte sie.

Ungeduldig wedelte Jegor sie zu sich heran und nahm ihr die drei Briefe ab. Der erste war eine Einladung zur Geburtstagsfeier von Lady Magdalena von Friedeberg. Dem zweiten schenkte er keine weitere Beachtung, als er das Sigel auf dem dritten bemerkte. Die Krone mit dem Wolf, das Siegel des Königs.

Er griff nach dem Brieföffner und schlitzte ihn eilig auf. Die wenigen Zeilen waren schnell überflogen und mit jedem weiterem Wort steigerte sich seine Laune. „Carla?“

„Ja Sire?“

„Ist Nikolaj noch im Haus?“

„Ja Sire.“

„Dann geh und schick ihn zu mir. Sofort!“

„Wie Ihr wünscht.“ Sie verbeugte sich noch hastig und war dann auch schon wieder auf leisen Sohlen aus dem Raum gehuscht.

Jegor währenddessen lehnte sich in seinem Stuhl zurück und genoss ein Hochgefühl, wie es ihm noch nie vergönnt gewesen war. Endlich trug sein Plan Früchte, endlich ging es voran. Der König selber hatte es ihm geschrieben. Die Prinzessin, sie war erwacht.

 

°°°°°

Imprint

Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Publication Date: 12-18-2012

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