1. Verloschene Vergangenheit
Der Regen platschte auf die Bordsteinkante. Alles schien dunkel, leer und kalt.
Alte, prachtvoll verzierte Häuser standen dicht aneinander. Vorhänge verdeckten ihre Fenster.
Nur ein einziges Fenster erhellte die Nacht. Hinter dem Fenster war eine alte Frau zu sehen. Sie lief auf einen großen Spiegel zu. Dann blieb sie stehen. Sie schaute auf ihr faltiges Gesicht. Dieses Gesicht war einst mit so viel Schönheit und Anmut erfüllt. Doch nun prägten es Falten. Falten, die einst der Vergangenheit angehörten. Falten, die bereits in ihrer Jugendzeit entstanden waren. Nur waren sie damals nicht zu sehen.
Nun nahm sie die rechte Hand und griff nach einer goldenen Kette, welche ihren Hals verzierte. Daran hing ein kleiner herzförmiger Anhänger. Vorsichtig nahm sie die Kette ab und öffnete den Anhängerverschluss. Darin befanden sich zwei kleine Bildchen. So hatten sie also ausgesehen.- Ihre Eltern.
Sie schloss ihre müden Augen und entsinnte sich, wann sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Es war so lange her und schien doch, erst vor kurzem gewesen zu sein.
Sie war damals 18 Jahre alt gewesen.
„Komm schon, Jael! Das Channukafest beginnt gleich.“ Ihre kleine 5jährige Schwester sprang aufgeregt im Zimmer um sie herum. Aufgewühlt zog sie an ihrer Hand und meinte: „Komm, komm! Das musst du dir ansehen!“ Mit strahlendem Gesicht führte sie ihre große Schwester in ihr Kinderzimmer. „Das habe ich wegen dem Fest heute für Mama und Papa gemalt…Und dass hier ist für dich.“ Stolz streckte sie ihre kleinen, zierlichen Hände aus und übergab Jael ein selbst gebasteltes Armband. „Das ist aber hübsch.“, entgegnete Jael, aber in Wirklichkeit wusste sie schon damals, dass sie das Armband mit den großen, kindlichen Perlen nie tragen würde. Dann gingen sie zum Esstisch, wo die Familie bereits auf ihre zwei Töchter wartete. Alles war wunderschön gedeckt und große, brennende Kerzen erhellten den Raum.
Plötzlich hörte man quietschende Autoreifen. Männerstimmen waren wahr zu nehmen. Jaels Mutter sprang auf, eilte zum Fenster und sah, wie bewaffnete Männer vor fuhren. „Sie kommen, sie kommen“, rief sie panisch. „Wer kommt?“, fragte die kleine Magda. Doch keiner antwortete ihr. Alle eilten aufgeregt im Zimmer umher. „Versteck dich!“, rief ihre Mutter Jael zu. Jael kroch in den großen Kleiderschrank im Schlafzimmer. Die Soldaten waren schon im Treppenhaus zu hören. Hier in Deutschland war es noch nie einfach gewesen. Zumindest nicht für Juden. Seitdem Hitler an der Macht war, gab es für Jael hier nichts mehr, was sicher war. Die Abgrenzung des Judentums in Deutschland war deutlich spürbar. Zuerst hatte man ihnen ihre Arbeit genommen. Danach zwang man sie einen gelben Stern an ihrer Kleidung zu tragen, der ihre „Rasse“ kennzeichnete und selbst das Gehen auf dem Fußweg war mittlerweile nicht mehr für sie erlaubt. Sie waren anders. Sie waren Juden.
Soldaten hingegen waren die Hoffnung der Nation. Für jede grausame Tat, die sie an einem Juden verübten, wurden sie ehrenvollen Blickes gewürdigt. Zumindest von den meisten Deutschen. Und nun waren sie hier. Diese grausamen Soldaten, die es liebten, wenn Blut eines Juden unter ihren Stiefeln floss. Man hörte sie immer näher kommen. Plötzlich wurde die Wohnungstür aufgerissen: „Ihr habt drei Minuten Zeit! Packt eure Sachen und geht auf den Innenhof!“ Jael hockte im Kleiderschrank und wagte kaum zu atmen. Sie wollte schreien, aber ihr Verstand hielt sie zurück. „Kommt jetzt! Drei Minuten sind vorbei!“ Einer der Soldaten ging auf Jaels Mutter zu, packte sie am Kleid und schuppte sie in Richtung Ausgangstür. Ihre Mutter schrie kurz auf und viel mit dem Koffer, den sie in ihrer Hand hielt, zu Boden. „Steh auf du Judenschwein!“, brüllte der Soldat sie an. „Kommt schon! Alle raus hier!“, schrie ein anderer. Jael hörte noch, wie die Nazis ihre Familie das Treppengeländer herunter hetzten. Dann war Ruhe. Aber sie wusste, dass sich noch Soldaten in ihrer Wohnung befanden.
Auf einmal brüllte wieder einer: „Was steht ihr hier so faul rum!? Durchsucht die Wohnung!“ Das festlich gedeckte Tischtuch wurde vom Tisch gezogen. Die Weingläser zerschellten auf dem Boden. Die Nazis zerstörten ein Möbelstück nach dem anderen, in der Hoffnung, doch noch irgendwo einen Juden zu finden. In diesem Moment riss jemand die Tür des großen Kleiderschranks auf. Jael kauerte sich noch mehr zusammen und hoffte, dass die Kleider sie verdeckten. Doch eine starke Hand ergriff blitzartig ihre Schulter. Jael zuckte zusammen. Sie zitterte am ganzen Körper. Man hatte sie entdeckt. Die Hand zerrte sie aus ihrem Versteck.
Und da stand sie nun. Vor fünf bewaffneten Männern. Sie hatte schreckliche Angst. „Na? Wer hat sich denn hier verlaufen?“, sagte einer gehässig. Er wandte sich ganz dicht an ihr Ohr und zischte, wie eine Schlange: „Keine Sorge. Du wirst schon noch erleben, was man mit Untermenschen, wie dir, anstellt. Hoffentlich wird man dich noch richtig quälen, bevor du sterben darfst.“ Er und seine Kameraden verfielen in schadenfrohes Gelächter. Dann packte man sie, um sie zu den anderen in den Innenhof zu bringen. Jael wollte sich wehren und weglaufen, aber sie wusste, dass das ihren Tod bedeutete.
Auf dem Weg aus ihrer Wohnung, griff sie noch schnell nach einer Jacke und einem Bild ihrer Eltern. Wenn sie schon nichts mitnehmen konnte, dann sollte wenigstens das ihr Eigentum bleiben. Als sie den Hof betrat, waren bereits alle Juden ihres Wohnblocks auf Hängern zusammengefurcht worden. Sie erkannte Nachbarn, ehemalige jüdische Klassenkameraden, ja selbst ihren jüdischen Hausarzt. Die ängstlichen Blicke ließen sie erschüttern. Wo wollte man sie hinbringen? „Was machst du noch hier, du Judensau! Mach, dass du dich auf den Hänger dort scherst!“, schrie man sie erneut an. Widerstandslos gehorchte sie und stieg auf einen der überfüllten Hänger. In der Menschenmenge klammerte sie das Bild ihrer Eltern immer fester an sich und steckte es schließlich in ihre Jackentasche.
„Jael!“, schrie es plötzlich von einem anderen Hänger. Es war ihre Mutter. Sie war im falschen Hänger! Da drüben war ihre Familie! „Ich muss dort rüber!“, rief Jael verzweifelt. Doch es half nichts. Genau in diesem Moment wurden die Hängertüren verriegelt und das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Sie sah noch ihre kleine Schwester, wie sie mit Tränen in den Augen schluchzte: „Jael. Geh nicht weg!“ Doch Jael konnte nichts tun. Sie war eingesperrt. Eingesperrt in einem Hänger, fern von ihrer Familie.
2. - Pflicht ist Pflicht
Henrik schaute seiner Mutter tief in die Augen. Sie war echt wunderschön. Er hatte gerade sein 24tes Lebensjahr vollendet und sollte nun im KZ Auschwitz stationiert werden. Bereits früher bekam er zahlreiche Auszeichnungen, für seine Erfolge beim Töten der Staatsfeinde. Als er vor sechs Jahren in den Krieg zog, hatte er noch keine Ahnung, was ihn erwartete. Damals sah er es als Ehre, für sein Volk zu kämpfen. Heute wusste er, was ein Leben, wie seines, Hitler wirklich wert war. Mindestens 200 Menschen waren mit seiner Waffe umgebracht worden. Doch er tötete nicht, weil es seine Pflicht war. Er tat es um selbst der Kugel des anderen zu entgehen.
In Gegenwart seiner deutschen Familie ließ er sich feiern, doch war er allein, so flossen ihm Tränen über seine Wangen. Er durfte weinen. Er hatte seine Gründe dafür. Solange ihn keiner dabei erwischte, schien alles in Ordnung.
Die deutschen Frauen rannten ihm nur so hinterher. Doch er wollte keine von ihnen. Zugegeben: Er mochte vielleicht ganz gut aussehen. Aber trotz seiner blauen Augen, waren seine Haare braun, was eher untypisch für einen „reinrassigen“ Mann war. Schließlich war er Arier. Ganz gleich, ob er es sein wollte, oder nicht.
Er hatte schon oft versucht, bei einer deutschen Dame sein Liebesglück zu versuchen, doch erfolglos. Irgendwie fand er bei Keiner so richtig, was er suchte. Die meisten deutschen Frauen sahen Hitler als ihren Erlöser und ihr Leben als Spaß an. Doch er hatte gelernt erwachsen zu werden. Ernst zu sein. Spaß gab es in dieser Welt für ihn keinen mehr.
„Pass auf dich auf, mein Schatz“, riss Henriks Mutter ihn aus seinen Gedanken. Sie legte ihre zärtlichen Hände an seine Wangen und küsste ihm auf die Stirn. „Ich will nicht wieder weg.“, wollte Henrik sagen, doch er verabschiedete sich mit den Worten: „Werde ich tun. Ich hab dich lieb.“ Dann umarmte er sie, griff nach seinen großen Rücksack und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Haus.
* * *
In der Zwischenzeit erreichten die Nazis den Weimarer Bahnhof. Jael und die anderen wurden von den Hängern gezogen. Der Bahnhof war völlig überfüllt. Überall tummelten sich Menschen. Jael ging auf ihre Zehenspitzen und versuchte über die Köpfe der anderen zu blicken. Überall schaute sie nach ihrer Familie, aber sie waren in der Menschenmenge untergetaucht. Dafür sah sie etwas, was sie erschrecken ließ. Eine Frau hinter ihr fasste ihre Gedanken in Worte. „ Das sind doch keine Züge!“, rief sie aufgeregt. „Man will uns doch nicht in diese Viehwagons stecken!“, beschwerte sich ein anderer.
Viehwagons – dachte Jael: Klar. Das waren sie doch. Tiere. Untermenschen. Judenschweine.
„Los rein da!“, brüllte plötzlich ein Offizier. Widerstandslos gehorchten die Menschen.
Nein. Das können sie nicht mit uns machen. So etwas ist unmenschlich, dachte Jael. Aber es nützte nichts. Bald würde auch sie in diesen Tierzügen stecken.
„Nein! Nein! Nein!“, schrie eine Mutter, als zwei Soldaten sie in den Wagon zu zerren versuchten. Die Frau strampelte und wehrte sich mit allem, was sie hatte. Da zögerte der eine Soldat nicht lange, zog seine Waffe und richtete sie auf den Kopf der Frau. Sofort war sie still und starrte den Nazi mit ängstlichen Augen an. „Mami!!!“, rief plötzlich ein ca. zehnjähriger Junge. In diesem Moment fiel der Schuss. Die Leiche der Frau blieb noch einige Sekunden stehen, bis sie in sich zusammensackte. Ein Mann eilte zu dem weinenden Jungen, nahm ihn in die Arme, hielt ihm die Augen zu und sprach: „Schau weg, mein Junge! Schau weg!“ Mit noch völlig erstarrtem Gesicht, drehte der Zehnjährige sich um und stieg mit seinem Vater ebenfalls in einen der Viehwagons.
* * *
Sie waren nun bereits sechs Tage eingesperrt. Eingesperrt in diesen Viehtransporten. Überall war es stickig und die Menschen waren abgemagert und erschöpft. Man hatte ihnen genau einen Eimer Wasser zur Verfügung gestellt, welcher für über 200 Personen reichen sollte. Jael wusste schon kurz nachdem sie in dem Wagon gestiegen war, dass diese Menge Wasser niemals reichen würde. Für einige war es jetzt schon zu spät. Der stinkende Geruch von Leichen lag in der Luft. Aber wo sollte man sie hinbringen? Man war ja selber eingesperrt. Eine Frau neben Jael hatte den Verstand verloren. Sie drehte völlig durch und ermordete sogar ihr eigenes Baby. Ständig kratzt sie an der Wand und schlug ihren Kopf gegen den Fußboden. Doch das würde auch nichts für sie ändern, außer dass sie dadurch vielleicht schneller sterben konnte, dachte Jael. Das Schlimmste war jedoch die Ungewissheit. Die Ungewissheit, wo man sie hinbringen wollte. Was hatte man mit ihnen vor? War diese Zugfahrt nicht schon Strafe genug? Was würde man noch mit ihnen anstellen? Wofür hatte sie das alles verdient? Dafür, dass sie Jüdin war? Jael richtete sich auf. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie verstand nicht, wieso sie überhaupt noch am Leben war. Konnte sie nicht einfach auch sterben? Nein, dachte sie sich und verwarf schnell wieder diesen Gedanken. Sie war nicht geboren um zu sterben.
Nun zog sie das Bild ihrer Eltern aus der Hosentasche und sagte im Stillen zu sich selbst: Ich werde leben. Für meine Familie werde ich leben. Für Mama, Papa und die kleine Magda. Dann ließ sie langsam den Kopf sinken, schloss die Augen und erinnerte sich an die schönen Familienmomente der Vergangenheit.
* * *
„Na endlich du alter Halunke.“, begrüßte Max seinen Freund Henrik, als dieser hinter dem Gartentor hervortrat. „Komm schon. Schwing endlich dein Gepäck auf die Hinterbank meiner edlen Karosse und dann lass und nach Polen fahren. Der Führer zählt auf uns und ich verspreche dir: Ich werde neben dir der beste Lageroffizier in Auschwitz sein. Heil Hitler!“
„Mach sachte.“, bremste ihn Henrik. „Wir sind ja noch nicht mal losgefahren. Und wer weiß: vielleicht wird die Arbeit härter, als wir sie uns jetzt vorstellen.“ Er warf seinen großen Rucksack auf die Rückbank und schwang sich galant über die Autotür des Cabriolets - Genau auf den Beifahrersitz neben Max. „So kenne ich dich. Sportlich und geschickt.“, beneidete ihn Max „Kein Wunder, dass alle Frauen auf dich stehen. Und glaube mir.- Die Besten gibt es in Polen“.
„Jetzt schwing keine Reden. Drück endlich auf die Tube.“, entgegnete Henrik leicht genervt. „Die Frauen können warten. Jetzt ruft erstmal die Pflicht.“
„Du armseliger Spielverderber.“, sagte Max und ließ den Motor seines Wagens anspringen, „Ich frage mich echt, warum du noch keine Kleine hast. Aber wahrscheinlich träumst du immer noch von deiner perfekten Prinzessin, die du nie finden wirst.“
„Perfekt sollte sie nicht sein.“, korrigierte ihn Henrik „aber eine kleine Prinzessin schon.“
„Hach.“, seufzte Max verzweifelt und schüttelte den Kopf: „Dich soll mal jemand verstehen.“
Gemeinsam fuhren sie die Landstraße entlang, die aus Henriks kleinen Heimatort heraus führte.
* * *
„Halt! Warte mal kurz!“, stoppte Henrik Max während der Autofahrt. „Was ist denn?“, fragte dieser überrascht, während er langsam auf sein Bremspedal trat und an einer Waldeinfahrt zum halten kam. „Weißt du noch. Als wir genau hier als kleine Jungen im Wald herumgetobt sind. Damals träumten wir davon starke Kämpfer zu sein und rannten mit unseren selbst gebastelten Holzpistolen umher.“
„Ja. Und was ist damit?“, fragte Max leicht verdutzt.
„Genau das.“, antwortete Henrik, während er vom Auto sprang, einen Stock vom Waldboden hob, auf Max zielte und tat als würde er ihn erschießen.
„Du spinnst doch. Was soll das? Drehst du nun völlig durch? Schau uns an. Wir sind erwachsene Männer!“
„Ja na und? Ach und übrigens: du musst du tot umfallen. Ich habe dich getroffen.“ Henrik schmunzelte.
„Was?! Ich zeige dir gleich mal, wer hier tot umfallen muss, damit er beim Erwachen wieder zur Vernunft kommt.“ Jetzt stieg auch Max aus seinem Wagen, schnappte sich einen Stock und tat dasselbe. Diese Seite mochte er an Henrik. Seine lockere, humorvolle und völlig überraschende Art. Ja bei seinem Freund konnte er auch mal den kleinen Jungen aus sich herauslassen und dass sein, was er sonst nirgendwo sein konnte. Undiszipliniert und frei.
„Was tust du?“, fragte nun Henrik. „Ich dacht wir sind erwachsene Männer.“
„Ach ja?“
„Jawohl, Herr Max Meier. Legen Sie ab sofort Ihre Pistole aus der Hand und Kämpfen Sie gefälligst wie ein echter deutscher Mann.“, imitierte Henrik die Stimme Hitlers.
„Heil Hitler!“, prustete Max heraus, während er verstand, worauf Henrik in Wirklichkeit hinaus wollte. Also zögerte er nicht lange, ging auf Henrik zu und boxte ihm auf die Schulter.
Dieser schlug heftig zurück und lachend kampelten sich die beiden Männer, bis sie völlig erschöpft nebeneinander auf dem Waldboden lagen.
„Ach wie ich das vermisst habe.“, keuchte Max außer Atem.
„Oh ja.“, bestätigte ihn Henrik. „Das letzte mal, wo ich so etwas gemacht habe war, als Br-.“ Henrik konnte nicht weiter sprechen. Die Worte waren ihm wie im Hals stecken geblieben.
Nein. Bloß nicht dran denken, sagte er sich selbst. Was auch immer damals war. Er wollte vergessen. Einfach nur vergessen.
„Ist schon gut.“, versuchte Max, der sofort wusste was Henrik bewegte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Scherzhaft sagte er: „Lass uns weiterfahren. Sonst laufen uns noch die polnischen Weiber davon.“
Aber Henrik konnte nicht lachen.
* * *
Es zischte laut, als eine Eisenbahn mit Viehwagons auf den Gleisen mitten in der Natur zum stehen kam.
Jael hatte jeden Tag in diesen stickigen Tierhängern gezählt. Es war mittlerweile Tag 8.
Mit aller Kraft versuchte sie an eine kleine Fensterluke dieses Wagons zu gelangen um zu sehen, warum der Zug angehalten hatte. Sie sah deutsche Soldaten, wie sie auf einer Wiese eine Rast einlegten. Wahrscheinlich war auch der Schaffner unter ihnen.
Wie sehr wollte auch sie nun dort sitzen. Sehnsuchtsvoll starrte sie auf das saftige Gras und die Gänseblümchen, welche auf ihr blühten. „Was siehst du Mädchen?“, hechelte ein Mann im mittleren Alter unter ihren Füßen. „Soldaten. Sie essen und trinken und tragen Gewehre. Und ich sehe eine Wiese mit Gänseblümchen.“
„Was siehst du noch.“, fragte der Mann.
„Hinter der Wiese erstreckt sich ein kleiner Wald. Außerdem plätschert ein kleiner Bach in der Nähe. Ich sehe Vögel, wie sie in der Luft fliegen und zwitschern.“
„Hilf mir auf!“, forderte der schwache Mann sie nun auf, wobei er seinen Kopf langsam zu ihr herauf drehte und sie mit seinen ausgetrockneten Augen anstarrte.
„Ich kann nicht.“, entgegnete Jael. „Ich bin zu schwach dafür.“
„Ich weiß.“, sagte er „aber wenn du mir hilfst, so wirst du-.“, nun verstand sie seine leisen Worte nicht mehr. Zitternd setze sie sich runter zu dem Mann und hielt ihr Ohr an seine Lippen. „So wirst du überleben.“, wiederholte er seine Worte.
Überleben? , fragte sie sich. Wie wollte ein Mensch in diesem Zustand ihr Überleben sichern?
„Wie soll das gehen?“, schaute sie ihn fragend an. „Wir haben schon seit Tagen nichts mehr zu trinken. Es ist unmöglich zu überleben.“
„Nein.“, röchelte der Mann. „In meinem Rucksack befindet sich eine kleine Thermoskanne mit Wein. Wenn du heimlich trinkst, so wirst du nicht verdursten.“
Sie verstand diesen Mann nicht. Wie konnte er zusehen, wie andere vor seinen Augen verdurstet waren und nichts tun? Wieso lag er so ausgetrocknet neben ihr, wenn er doch etwas Flüssigkeit besaß. Warum wollte er es ausgerechnet ihr geben?
„Warum trinkst du nicht selbst bzw. gabst denjenigen etwas, die durch Wassermangel hier sterben mussten?“, flüsterte nun Jael in sein Ohr, damit die anderen noch Lebenden im Zug nichts davon mitbekamen und sich nicht um den Wein prügelten. „Weil ich bereits beim Einsteigen in diesen Wagon wusste, dass ich sterben werde. Ich bin Krebskrank. Also habe ich gewartet und den Alkohol für jemanden aufgehoben, der diese Fahrt überleben könnte und nicht gleich nach ein paar Tagen ohne Flüssigkeit stirbt. Ich habe geschaut, wer robust und stark ist.“
„Aber ich bin nicht stark.“, entgegnete Jael.
„Du hast es geschafft dich bis hier her zu schleppen, um aus dem Fenster zu schauen. Glaube mir, du bist es. Und deshalb werde ich dir dieses Wasser übergeben, doch erfülle mir meinen letzten Wunsch und hilf mir ein letztes Mal hinaus zu blicken.“
Jael schaute an ihrem Körper herab. Sie war dünner als je zuvor und sie wusste, dass ihre schwachen Arme den Mann nicht lange halten konnten. Dennoch wollte sie es versuchen. Es war sein letzter Wunsch. Was wäre dein letzter Wunsch? , fragte sie sich im Stillen. Doch ganz gleich welcher es wäre. Sie wusste, dass sie alles versuchen sollte, um diesen Mann seine Bitte zu erfüllen. Also packte sie ihn und hievte den Mann mit aller Kraft herauf. Wie ein nasser Sack lag er in ihren Armen und das, obwohl er völlig ausgetrocknet war. Er schaute hinaus und flüsterte mit letzter Kraft ein leises: „Danke.“ Dann starb er lächelnd in ihren Armen.
Nun erhoben sich zwei Soldaten von der Wiese und gingen auf Jaels Wagon zu. Jael duckte sich und griff nach dem Rucksack. Sie kauerte sich damit an die Wagonwand und griff nach der Thermoskanne. Während sie heimlich trank, hörte sie die beiden Soldaten draußen reden:
„Was tun wir hier eigentlich? Wir genießen unser Leben, während die dort drinnen sterben.“
„Was wir hier tun?! Wir kämpfen. Wir sind im Krieg und in diesen Wagons stecken unsere Feinde. Die Ratten der Menschheit. Die Läuse der Nation!“
„Läuse, Krieg, Kampf. Was hat das schon mit Kämpfen zu tun? Diese Leute haben nicht mal eine Chance sich zu wehren! Es ist Morden. Einfach nur Morden. Und wofür das alles?“
„Da fragst du noch? Es sind Juden. Und glaube mir, durch sie haben wir alles verloren. Sie nahmen den Deutschen ihre Arbeitsplätze. Sie kreuzigten Jesus. Und sie sind verantwortlich für alles, was wir bisher ertragen mussten. Ich sehe es als meine Pflicht diese Parasiten zu beseitigen. Glaube mir, sie haben es nicht anders verdient. Heil Hitler!“
„Aber-.“
„Kein aber Paul! Sei froh, dass ich dein Freund bin und nicht Hitler. Glaube mir: er hätte dich für diese Worte umbringen lassen. Zu Recht, wenn du mich fragst. Ein Deutscher sollte kein Mitleid für Schädlinge haben! Pass auf, dass keiner von deinem jämmerlichen Gerede hört! Sonst liegst du bald neben diesen Juden und wirst dich nach dem wohl verdienten Tod sehnen.“ Nach dieser Ermahnung verließ er seinen Freund und gesellte sich wieder zu den restlichen Soldaten.
Jael traute ihren Ohren nicht. Vielleicht war dieser Paul ihre Rettung. Immerhin hatte er Mitleid. Ob sie ihm vertrauen konnte? Vielleicht konnte er ihnen helfen. Sollte sie ihn ansprechen? Es war riskant es zu versuchen. Auf der anderen Seite: Was hatte sie schon zu verlieren mal ganz abgesehen von ihrem Leben, was eh keinen Wert mehr zu haben schien?
Sie griff in ihre Jackentasche. Tastete nach dem Bild ihrer Eltern. Spürte das Papier zwischen ihren Händen. Nahm all ihren Mut zusammen und sprach durch die vergitterte Fensterluke: „Hey Paul!“
Er drehte sich blitzartig um und griff nach seinem Gewehr: „Wer war das?“
„I-I-Ich.“, stotterte Jael. Er drehte seinen Kopf langsam nach oben, erblickte ihr Gesicht und ließ die Pistole wieder sinken. Sie schaute ihm tief in die Augen. Dann packte sie wieder der Mut: „Sagen Sie.“ sprach sie nun mit selbstsicher Stimme„Wo bringen Sie uns hin? Sie schicken und nicht in ein Arbeitslager, wie behauptet wird, nicht wahr?“
Paul flüsterte, in der Hoffnung nicht beobachtet zu werden: „Ich darf nicht mit euch reden.“ Dann wandte er sich zum Gehen um.
„Bitte.“, floh Jael ihn an. “Geh nicht weg!“ Sie fühlte, dass etwas nicht stimmte. Paul Füße stockten. Innerlich verspürte er einen Kampf. Sollte er ihr die Wahrheit verraten? Sollte er ganz locker sagen: ‚Man schickt euch in den Tod.’? Sollte er weiter gehen? Ausreißen. So, wie er es immer tat in solch einer Situation? Oder ihr doch sagen, was er zu sagen hatte?
„Ihr kommt in ein Arbeitslager.“, log er schließlich, bevor er endgültig verschwand.
Paul verkroch sich in seine Zugkabine und starrte auf den Boden. Er hatte wieder versagt. Er hatte wieder nur das getan, was seine Pflicht war. Er hatte gelogen. Lüge war das einzige, worauf Hitler sich berufen hatte. Lüge war es, die das Deutsche Volk so wachsen ließ. Lüge war es, was man der Welt über die Juden erzählte. Lüge war das Mittel um Krieg zu führen.
Auch wenn seine Kameraden anderer Meinung waren, verspürte Paul dieses unangenehme Gefühl etwas falsch zu machen. Das Gefühl des Versagens. Als kleiner Junge wollte er immer die Welt retten und stark sein. Aber war denn nicht bereits dabei es zu tun? Schließlich kämpfte er für das Deutsch Volk. Sein Heimat. Tat er damit nicht etwas Gutes? Paul war nun völlig verwirrt.
Publication Date: 05-17-2011
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