Der Blutmond
Teil 2
(aus der Blood Force Reihe, Nachfolger der Dark Craving Reihe)
© copyright Oktober 2012 T. J. Hudspeth
Unschlüssig stand Mimma vor dem Wolf’s Howl und überlegte, ob es eine gute Idee sei, den Ort zu betreten, an dem sie von Baddo zu Tode getreten worden war. Die Erinnerungen an diese Nacht lagen zwar hinter einem milchigen Schleier, doch an die Schmerzen und die Todesangst erinnerte sie sich so, als ob es erst gestern geschehen war.
Eigentlich sollte sie es besser wissen und als ein Vampir nicht einmal in Erwägung ziehen, einen potenziellen Werwolfsverschlag zu betreten. Doch nach dem nächtlichen Schrecken, der ihr widerfahren war, wollte sie ein ihr vertrautes Gesicht sehen. Das von Raven, denn ansonsten kannte sie niemanden, an den sie sich in diesem aufgewühlten Zustand hätte wenden können.
Sie streckte ihre Hand nach der Türklinke aus und spürte die Kälte des Metalls auf ihrer Haut. Für einen kurzen Moment hielt sie inne und lauschte den Geräuschen, die vom Inneren der Bar an ihr sensibles Gehör drangen. Sie vernahm das glockenhelle Klirren von Gläsern, wie wenn man sie in ein Regal stellte und sie versehentlich gegeneinander schlugen. Als Nächstes hörte sie das kratzende Geräusch eines feuchten Lappens, der über eine raue Oberfläche gezogen wurde. Demnach schien jemand den Bartresen zu putzen. Zuletzt nahm Mimma einen kräftigen Herzschlag wahr. Nur der einer einzigen Person.
Dies war für sie der Ausschlag, die Bar nun doch zu betreten, denn sie hatte eine Fünfzig-Fünfzig-Chance, dass sie entweder auf ihren Peiniger Baddo treffen würde und augenblicklich die Flucht ergreifen müsste, oder dass sie, und darauf hoffte sie, Raven begegnen würde.
Entschlossen drückte sie die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür, um die Bar zu betreten. Sofort stieg ihr der feuchtwarme, beißende Werwolfsgestank in die Nase. Geistesgegenwärtig hielt Mimma den Atem an, damit ihr nicht übel wurde. Ihr Vampirherz schlug auch ohne die für Menschen typische Atmung weiter, die sie sich nur aus Gewohnheit beibehalten hatte. Im nächsten Moment erblickte sie einen großgewachsenen, athletischen Mann, der, ihr mit dem Rücken zugewandt, hinter dem Tresen stand und Gläser polierte. Wie angewurzelt blieb die dunkelhaarige Schönheit stehen und starrte regelrecht ein Loch in den muskulösen Nacken. Sie vermochte nicht auszumachen, ob sie nun ihren Erzfeind Colin vor sich hatte oder seinen Bruder Raven, denn beide hatten in etwa dasselbe dunkle Haar und eine ähnlich kräftige Statur. Ihre Muskeln spannten sich an, bereit, in Sekundenschnelle die Flucht zu ergreifen, falls es nötig sein sollte. Jede Faser ihres Körpers sträubte sich in ihr, denn als Vampir war es gegen ihre Natur, sich freiwillig in die unmittelbare Nähe eines Werwolfes zu begeben. Ihr natürlicher Selbstschutzmechanismus arbeitete auf Hochtouren. Sämtliche Sinne waren geschärft und registrierten die kleinsten Veränderungen. Ihr unüberlegtes Handeln glich einem Selbstmordkommando.
Welcher Vampir, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war, würde sich sonst so, ohne Deckung, auf einem Silbertablett darbieten?
Sein Körper spürte ihre intensiven Blicke und reagierte mit einem kalten Schauer, der ihm über den Rücken lief.
„Wir haben geschlossen!“, sagte er forsch, ohne jedoch einen Blick auf den ungebetenen Gast zu werfen. In diesem Augenblick fiel Mimma ein Stein vom Herzen, denn sie erkannte Ravens rauchig raue Stimme wieder. Die Erinnerung an ihren Kuss mit ihm blitzte für einen kurzen Moment in ihr auf. Doch dann wurde sie von Schwermut ergriffen, denn sie wusste nicht, ob Raven sie überhaupt sehen wollte, geschweige denn, ob sie Freunde sein konnten. Auch wenn er sie damals unter Einsatz seines eigenen Lebens, vor seinem Bruder Baddo gerettet hatte, so konnte doch einiges während ihrer monatelangen Abwesenheit geschehen sein, das seine Meinung, was Vampire betraf, geändert haben konnte.
„Hören Sie nicht?
Wir haben geschlossen!“, wiederholte er, diesmal in einem energischen Tonfall, als er bemerkte, dass sie die Bar noch nicht verlassen hatte. Mimma wollte darauf etwas erwidern, doch ihr versagte die Stimme. Langsam beschlich sie das Gefühl, dass es eine dumme Idee von ihr gewesen war, ihn ohne Vorankündigung aufzusuchen.
Da er noch immer nicht hören konnte, dass seiner Aufforderung Folge geleistet wurde, warf er einen kurzen Blick über seine Schulter und sah den unfolgsamen Kunden grimmig an. Erschrocken von der Härte seines Blickes, zuckte sie zusammen und wich einige Schritte zurück. Sie war drauf und dran, das Weite zu suchen. Nur ein kleiner, innerer Impuls hielt sie zurück. Die süße Erinnerung an ihren gemeinsamen Kuss.
„Mimma?
Du bist es wirklich, oder?“, sagte er ungläubig, als er sie erkannte. Von einer Sekunde auf die andere zeigte sich ein breites Grinsen in seinem Gesicht, das bis über beide Ohren reichte. Ohne länger nachzudenken, warf er das Poliertuch aus der Hand und sprang mit einem Satz über den Tresen. Jede weitere Sekunde, die verstrich, bis er sie an sich drücken konnte, kam ihm vor wie eine Zeitverschwendung.
Als ob sie alte Sandkastenfreunde gewesen wären, umschloss er Mimmas zierlichen Körper mit seinen wohldefinierten Armen. Eine Begrüßung, die herzlicher nicht hätte ausfallen können. Er presste sie fest an sich und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Mimma war von seiner Wiedersehensfreude derart überrumpelt, dass sie Raven ohne Widerworte einfach gewähren ließ.
„Es ist so schön, dich endlich wiederzusehen!
Jeden Tag, seit dieser hochnäsige Vampir Ardric dich mit seinem protzigen Schlitten von hier weggebracht hat, habe ich gehofft, dass du dich bei mir melden würdest.
Jetzt bist du tatsächlich hier in meinen Armen.
Ich kann es fast nicht glauben!“, brummte er zufrieden. Kurz vergaß Mimma alles um sich herum und versank in seiner Umarmung. Sie spürte seine Hitze, die ihr gefiel, und unwillkürlich begann sie, seinen Duft einzuatmen. Überraschenderweise roch er überhaupt nicht so, wie sie es von einem Werwolf gewöhnt war. Zwar vermochte sie nicht zu sagen, was für ein Duft es war, aus dem sich sein körpereigener Geruch zusammensetzte, doch merkwürdigerweise fühlte sie sich von ihm wie magisch angezogen. Als sie wieder Herr über ihre Sinne wurde, wand sie sich aus Ravens greifzangenartiger Umklammerung und sah ihn mit einem verhaltenen Lächeln an. So sehr sie sich auch freute, es war ein bitteres Wiedersehen, denn noch war nicht klar, ob überhaupt so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen Bestand haben konnte. Unwillkürlich kam in ihr das Bild hoch, wie ein Vampir und ein Werwolf im Mondschein Frisbee spielten. Eine völlig surreale Vorstellung.
„Hallo Raven.
Ich wusste nicht, ob du mich noch sehen wolltest, wegen der ganzen Sache, was in dieser Nacht passiert war.
Wegen deinem Bruder und all dem…“ Mimma machte eine kleine Pause und überlegte, welche Worte sie wählen sollte.
„Es ist wegen dieser komplizierten Vampir- und Werwolfsache…
…weil wir doch eigentlich Feinde sind“, meinte sie betrübt. Raven nickte und machte dabei einen ernsten Gesichtsausdruck. Er ergriff die Hand des unsicher wirkenden Mädchens, die ihn schon als Mensch in ihren Bann gezogen hatte, und führte sie zum Tresen hin, damit sie sich auf einen der Barhocker setzen konnte.
Er wollte, dass sie sich in seiner Umgebung wohlfühlte und sie sich nicht wie zwei völlig Fremde zwischen Tür und Angel gegenüberstanden.
„Ich weiß was du damit sagen willst, aber ich gebe einen Dreck darauf, was die Anderen sagen und tun.
Wir beide haben mit deren Jahrtausende andauerndem Krieg nichts am Hut.
Du bist Mimma und ich bin Raven.
Und mir ist es völlig egal, ob du ein Vampir bist oder nicht. Ich pfeife auf die Regeln!“, entgegnete ihr Raven bestimmend.
„Aber was ist mit deinem Bruder?
Er wird mit Sicherheit etwas gegen unsere Freundschaft haben und dein Rudel bestimmt auch.
Ich will wirklich nicht zwischen euch stehen, schließlich gehört er zu deiner Familie!“, widersprach ihm Mimma energisch.
„Colin kann mich mal kreuzweise!
Mit seinem stumpfsinnigen Kodex hat er keinerlei Macht über mich. Außerdem hat er selbst Schuld daran, dass unsere Familie auseinandergebrochen ist, schließlich hat er gegen seinen heiligen Kodex verstoßen.
Seit jener Nacht ist er spurlos verschwunden und hat das Rudel entzweigerissen.
Ein paar der anderen Werwölfe aus dem Rudel sind ihm gefolgt, der Rest ist ohne Führung zurückgeblieben.
Dank ihm war das totale Chaos los!“, erzählte Raven detailliert. Betroffen sah Mimma zu Boden und schämte sich dafür, so eigennützig zu handeln und Ravens Freundschaft zu wollen, obwohl ihr Erscheinen in der Vergangenheit, in seinem Leben so Vieles durcheinander gebracht hatte.
„Das tut mir so leid.
Das ist alles meine Schuld“, stammelte sie. Es tat ihr weh zu hören, dass ihre Existenz einen Keil zwischen zwei Brüder und eine Familie getrieben hatte. Raven hob ihr Kinn an, sodass sie ihm in die Augen sehen musste.
„Du hast gar keine Schuld an dem, was passiert ist.
Bei uns daheim, hing dank Colins unberechenbaren Launen schon lange der Haussegen schief. Und im Rudel herrschte auch schon seit Längerem dicke Luft, denn er verlangte immer mehr von den Anderen ab.
Dinge, die nicht dem Wohl des Rudels zugutekamen, sondern nur zur Bestätigung seines aufgeblasenen Egos dienten“, versicherte er ihr.
„Seit seinem plötzlichen Verschwinden, hat unser Vater wieder den Platz des Alphawolfes im Rudel einnehmen müssen, was sehr ungewöhnlich ist.
Denn nachdem ein Alphawolf seinen Platz einmal abgegeben hat, kann er ihn nie wieder beanspruchen. Das besagen zumindest die Gesetze.
So hätte eigentlich ich in der Rangfolge als Nächstes kommen müssen, doch obwohl ich stetig kräftiger werde, habe ich noch nicht meine Erstverwandlung vollzogen und die ist notwendig, um ein volles Mitglied des Rudels zu werden“, fuhr Raven fort mit der Erzählung der Geschehnisse, die sich seit Mimmas Abwesenheit ereignet hatten.
„Wie du siehst, sind Gesetzte da, um gebrochen zu werden.
Da können ein Vampir und ein „halber Werwolf“ ruhig mal die Gesetzmäßigkeiten auf den Kopf stellen und den Anderen beweisen, dass eine Freundschaft unter den verfeindeten Rassen möglich ist“, scherzte er und kicherte belustigt. Doch Mimma schien nach wie vor bedrückt zu sein.
„Auch wenn ich nicht direkt Schuld daran habe, so habe ich doch indirekt Mitschuld, denn euer Streit wegen mir war definitiv der Auslöser!“, schlussfolgerte sie.
„Ich wollte bestimmt nicht, dass euer Rudel zerfällt und du dich mit deinem Bruder entzweist“, meinte sie schuldbewusst. Raven schüttelte heftig seinen Kopf.
„Nein, das hat wirklich nichts mit dir zu tun!
Es hat so kommen müssen, denn Colin führt irgendetwas im Schilde, womit die übrigen Werwölfe, die geblieben sind, nichts zu tun haben wollen.
Im Gegenteil!
Ich konnte sie sogar davon überzeugen, dass wir endlich das Kriegsbeil mit den Vampiren begraben sollten.
Schließlich gab es schon mehr als genug Tote zu beklagen, auf beiden Seiten“, erklärte er und schien nun Feuer und Flamme zu sein. Mimma sah ihn forschend an. Sie versuchte zu ergründen, was es war, was ihn von den anderen Werwölfen und auch von den Vampiren unterschied.
„Mein Vater nimmt mit allen Alphawölfen auf der ganzen Welt nach und nach Kontakt auf und versucht, sie von dieser Idee zu überzeugen.
Bis jetzt konnte er zwar noch nicht viel erreichen, doch er bleibt dran.
Aus diesem Grund haben wir die Bar sogar zu einer „neutralen Zone“ erklärt.
Jeder Werwolf, der die Bar betritt, gibt somit sein stilles Einverständnis, dass er kein Problem damit hat, falls sich einmal doch ein Vampir hierher verirren sollte!“, erläuterte er voller Stolz.
Es war eine revolutionäre Idee, die zum Umdenken anstiftete, und zwar auf beiden Seiten. Mimma staunte nicht schlecht, als sie das hörte. Eine veraltete Denkweise musste immer erst umgestürzt werden, um ein neues Zeitalter einleiten zu können.
Möglicherweise war endlich die Zeit gekommen, in der Werwölfe und Vampire in Frieden miteinander koexistieren konnten?
„Dir wird hier in meiner Bar also nie wieder etwas Schreckliches passieren.
Keiner wird dir ein Haar krümmen“, versicherte er ihr und strich zärtlich über ihren Oberschenkel. Mimma genoss seine Berührung und entspannte sich zusehends.
„Und das mit meiner verzögerten Verwandlung hat genauso wenig etwas mit dir zu tun. Wir wissen zwar nicht, woran es liegt, doch um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich froh darüber, denn die Erstverwandlung ist das Schmerzhafteste, was man sich als Werwolf überhaupt vorstellen kann.“ Man konnte ihm regelrecht ansehen, wie sehr er sich vor diesem Tag fürchtete.
„Aber genug von mir. Wie ist es dir ergangen?
Was hast du alles getrieben?“, wollte Raven wissen und sah Mimma neugierig mit seinen unergründlich dunklen Augen an. Er strahlte so viel Warmherzigkeit und Güte aus, dass es Mimma den Atem geraubt hätte, wenn sie noch normal wie ein Mensch atmen würde. Sie kniff ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen und fixierte die pulsierende Ader, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Ihre Stirn legte sich in feine Fältchen, die ihren inneren Zwiespalt zum Ausdruck brachten.
„Um ehrlich zu sein, möchte ich nicht darüber reden.
Es ist eine aufwühlende Zeit für mich gewesen und ich möchte mich im Moment nicht mehr daran erinnern müssen“, gestand ihm Mimma und hoffte, dass er das verstehen würde. Raven nickte und schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln.
Doch dann sah er plötzlich besorgt aus, als er sie näher betrachtete, denn erst jetzt war ihm ihr blutverschmiertes Dekolletee aufgefallen und das viel zu große und schlampig zugeknöpfte Herrenhemd, das sie am Leib trug.
„Warum hast du überall getrocknetes Blut an dir und was ist das für ein Hemd?“, wollte er wissen. Mimma folgte seinen kritischen Blicken und sah an sich hinunter. In der Eile hatte sie völlig vergessen, wie verstörend ihr Erscheinungsbild wohl auf andere wirken musste.
„Ach das.
Ich hatte ein unschönes Zusammentreffen mit Vampirjägern.
Stümperhafte Amateure, mit selbstgebauten Equipment, die sich einmal wie „Buffy, die Vampirjägerin“ fühlen wollten!“, erwiderte sie knapp und ließ die andere Hälfte, was der Auslöser für das Angreifen der Vampirjäger gewesen war, außen vor, denn sie wollte Raven nicht erschrecken. Doch er konnte den verächtlichen Tonfall in ihrer Stimme heraushören und war sich sicher, dass sie ihm nicht die ganze Geschichte erzählt hatte. Plötzlich begannen Ravens Augen gefährlich zu funkeln und sein Herzschlag beschleunigte sich.
„Haben sie dich verletzt? Ist das etwa dein Blut?“, fragte er besorgt und tastete Mimmas Körper nach Wunden ab.
„Wenn ich diese Vampirjäger in die Finger bekomme, werde ich ihnen jeden Knochen in ihrem Körper einzeln brechen!“, fügte er verbittert hinzu.
„Beruhige dich wieder! Mir ist nichts passiert. Und selbst wenn, bei Vampiren verheilen Verletzungen in Sekunden.
Ich bin nur mit dem Schrecken davon gekommen“, versicherte ihm Mimma und war insgeheim von seiner Reaktion geschmeichelt. Zwar kochte er innerlich wegen den Vampirjägern, jedoch lag es vielmehr daran, dass er nicht da gewesen war, um Mimma zu beschützen. Sobald er in ihre tiefblauen Augen schaute, die wie der Grund eines stillen Sees, innerhalb weniger Wimpernschläge, ihre unheimliche und zugleich mystische Anziehungskraft offenbarten, verblasste seine Wut augenblicklich.
Seit Mimma ein Vampir geworden war, schienen ihre Augen eine schier unendliche Tiefe zu besitzen, die einen in ihren Bann sog und erst dann wieder frei gab, wenn
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: copyright September 2012 T. J. Hudspeth
Images: Balt Arts
Publication Date: 09-06-2012
ISBN: 978-3-95500-121-6
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