Cover

Ciao ciao Italia

Mailand lockte wie jedes Jahr um diese Zeit viele Besucher in seinen Bann. So auch Heiner und Bernd. Die beiden Diplom-Ingenieure folgten nicht dem Lockruf der großen Modewelt, nein, ihr Interesse galt einem anderen Fachgebiet. Zumindest sollte dies der Grund für die Reise nach Italien sein. Ingenieure aus allen Ländern dieser Erde trafen sich im September in Mailand auf einer Messe, um die technischen Neuheiten aus den verschiedenen Ländern zu begutachten, und um Wissenswertes mit nach Hause zu nehmen.

Jedoch für Heiner und Bernd waren die italienischen Weine, das Essen, Schuhe, Anzüge, die Sprache, die Musik und „La bella Italia e l´amore“ der hauptsächliche Grund gewesen, diese Messe zu besuchen.

Heiner nannte mich jetzt seine „amica“ oder „la bella donna“.

Pizza, Pasta, Tiramisu, viel Salat und Pinot Grigio flaschenweise stand von nun an auf dem Speiseplan. Bernd hatte zusätzlich eine Vorliebe für „Mamma mia“, von der Gestik ganz zu schweigen. Natürlich profitierte der Italiener am Ort ebenfalls von ihrem Faible.

Die eleganten Herren im „Italo-Design“ ließen sich immer öfter in Paolos Riestorante sehen. Sie wurden bald, vor allem aber laut, mit Handschlag und Schulterklopfen vom Chef persönlich begrüßt.

Nicht nur, dass mir dieser Italien-Fimmel auf die Nerven ging, mir war die Zeremonie, die jedes Mal heftiger wurde, schon peinlich. Ein Fan vom Essen war ich zudem noch nie gewesen, und diese Albernheiten verabscheute ich mehr und mehr.

Immer öfter schloss ich mich aus. Ich verbrachte dann die Abende mit Lesen zu Hause oder wartete in Heiners Wohnung.

Die Beziehung, die ich mit Heiner führte, war zu dem Zeitpunkt schon sehr brüchig. Er lebte nach seinem Schema. Zuerst das Studium, das Diplom als Ingenieur, dann einen guten Job, neue Klamotten und den lange ersehnten Mercedes. Danach ein Häuschen im Grünen bauen, heiraten und zum Schluss die Kinder bekommen. Von dem hielt ich allerdings wenig.

Der Altersunterschied spielte vielleicht eine gewichtige Rolle, ich zählte gerade erst dreiundzwanzig Jahre, und Heiner war schon über dreißig.

Etwas vom Leben wollte ich noch genießen, bevor meine Freiheit enden sollte. Daher suchte ich hin und wieder etwas Abwechselung als Kellnerin im Bistro bei Klaus.

Das „Panorama“, wie sich das Bistro nannte, war unsere Stammkneipe.

An den Wochenenden war es mehr als gut besucht, so dass reichlich zu tun war. Klaus und seine Freundin Ute freuten sich riesig, als ich ihre Bitte nicht abschlug und das Angebot zu kellnern annahm. Neben meinem Beruf, ich arbeitete zu dieser Zeit als Radiologie-Assistentin für die Unfallchirurgie; sowie für die internistische Abteilung im Krankenhaus, erfüllte mich der Nebenjob am Wochenende, zwischen all den gesunden und gut gelaunten Menschen, mit Wohlgefühl und Zufriedenheit.

Mein Beruf nahm mir manchmal die Freude am Leben. Ständig blutige Verletzungen, Knochenbrüche, schreiende und weinende Kinder, hysterische Mütter und Ehefrauen, die sich nur schwer beruhigen ließen. Und dann war da noch der Chefarzt, der sich wie ein Gott in weiß aufführte. Dabei brachte er kein vernünftiges deutsches Wort über seine Lippen. Die armen Patienten, sie waren ihm alle so hilflos ausgeliefert. Auch unser ganzes Arzt- und Pflegepersonal kuschte und rannte, wenn er mit dem Finger schnippte. Seine arrogante, miese Art veränderte das unscheinbare Aussehen zu einem Monster. Er war klein, etwas zu dick, dunkelhaarig mit Ansatz zur Glatze und griechischer Abstammung. Seine kleinen, dunklen Schweinsaugen und die vergoldeten Zähne blitzten, wenn er den Mund zum Befehl öffnete. Die tiefe Stimme ließ einen dabei zusammenzucken.

Außerdem konnte ich das zusätzliche Geld gut. Wegen meiner Nebentätigkeit als Kellnerin lebten Heiner und ich uns auseinander.

„Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“

An diesen Spruch erinnerte ich mich jeden Samstagabend gerne.

Ich fühlte mich pudelwohl in der Kneipenatmosphäre, genoss all die vielen Komplimente und Einladungen, die ich im Laufe eines Abends erhielt. Hin und wieder ließ ich mich auf eine Einladung ein, und trank nach Feierabend ein Gläschen in Ehren. Die Disco, die bis morgens um fünf Uhr geöffnet hatte, war immer ein krönender Abschluss. Hier im „Journal“ trafen sich alle Gastwirte und Kellnerinnen auf ein Bier oder auf einem One-Night-Stand.

Ich fand es prickelnd, bekannt zu sein und in der Öffentlichkeit zu stehen, denn so war ich diejenige, die aussuchte und nicht ausgesucht wurde.

Heiner bekam von all den Aktivitäten gar nichts mit. Er saß wie jeden Samstag in Paolos Riestorante und spielte den Lebemann mit „Italo-Touch“. Den Italienern gefiel sein Getue ganz und gar nicht, aber für Geld kann sich jeder Lokalbesitzer, egal welcher Nationalität, verstellen. Zumal Angelo, der Koch, für seine Künste extra belohnt wurde. Von montags bis freitags war der Beruf das Wichtigste in seinem Leben. Außer Gesprächen per Telefon war schon lange nichts mehr zwischen uns gewesen. Es waren bestimmt schon vier Monate vergangen, seit wir das letzte Mal zusammen im Bett waren. Irgendwie war es mir egal, aber so richtig abnabeln konnte ich mich auch nicht, obwohl er sogar versuchte, meinen Tages- und Lebenslauf zu bestimmen – damit wir besser zueinander passen würden, meinte er. Er behandelte mich fast wie mein Vater, der mich ausnahmslos bevormundete.

Mein Aussehen gefiel ihm ohne jede Kritik. Ich passte ja auch momentan seht gut in sein „Italo-Design“.

Meine langen schwarzen Haare, die dunklen Augen, die ich zusätzlich mit einem schwarzen Kajal betonte, damit sie noch größter wirkten, meine extravagante Kleidung, die immer leicht gebräunte Haut, volle rote Lippen und mein schlanker Körper hätte schon eine rassige Italienerin abgeben können.

Mein Aussehen und mein Temperament verdankte ich meiner Mutter, sie war ungarischer Herkunft, mit Paprika im Blut und mit feuriger Leidenschaft, wenn ich ihren Erzählungen und den meines Vaters Glauben schenken konnte.

Heiner zeigt sich gerne mit mir in der Öffentlichkeit. Ich war immer sein Präsentchen.

Bernd, sein ehemaliger Studienkollege und guter Freund, verweilte des Öfteren in Italien. Er brauchte die Toscana, um den Stress abzubauen.

Hier lernte Bernd während seines letzten Aufenthaltes in Florenz, Giorgio kennen.

Giorgio Mario Briatore. Giorgio war neugierig, er hatte Zeit, zudem Geld, was für junge Italiener ungewöhnlich war. Sein Vater war Hotelbesitzer, gut situiert und reich. Er besaß Hotels in Bologna, in Pisa, in Siena und in Firenze (Florenz).

In diesem Hotel in Florenz hatte Bernd sich seinerzeit eingeschrieben. Sonst hätte er wohl die Bekanntschaft von Giorgio oder Gio, wie er gerufen wurde, nicht gemacht.

Als Manager des Hotels kümmerte Gio sich besonders um seine ausländischen Gäste. Nachdem Bernd von seinem „Italien-Trip“ zurückgekehrt war, ließ er sich kurz bei mir blicken, um Hallo zu sagen und um Heiner zu treffen. Sonderlich überrascht war er nicht, als er Heiner nicht in meiner Wohnung vorfand. Flüchtig küsste er meine Wange und rief im Gehen: „Ich rufe dich später an, momentan habe ich es eilig!

Ciao, Anna!“

Bernd war nicht nur ein Freund von Heiner, er auch mein bester Freund. Sein Auftreten und sein Charakter war viel angenehmer als die Art, die Heiner hatte. Bernd hatte immer einen guten Spruch parat, war charmant, lustig, und er konnte schon einmal den Alltag vergessen.

Heiner hingegen lebte mit Prinzipien, ernsthaft und trocken. Warum ich ausgerechnet auf ihn hereinfallen musste, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Vielleicht spielte seine äußere Erscheinung eine wichtige Rolle. Er war gutaussehend, groß, schlank, er hatte schöne blonde Locken und klare blaue Augen. Bernd wirkte neben Heiner total unattraktiv. Er hatte schütteres dunkelblondes Haar, Geheimratsecken, graublaue Augen, schlank zwar, trug aber einen altmodischen Schnauzer sowie langweilige Klamotten. Aber Bernd war immer gut gelaunt.

Etwas später klingelte tatsächlich das Telefon. Es war Heiner, der mich zum Essen einlud. Anscheinend spielte ich noch eine wichtige Rolle in seinem Leben. Oder weil ich irgendwie dazugehörte. Sein Vorwand: Bernds Besuch. Ich versprach zu kommen. Nach einer Stunde etwa stand ich vor seiner Haustür. Das neue Schild an der Hauswand war nicht zu übersehen:

 

Dipl. Ing. H. Mersmann

 

Doch da war noch etwas anderes. Jetzt wusste ich auch, warum er mich eingeladen hatte. Es war nicht Bernds Besuch, der ihn dazu veranlasste. Oh nein! Hier parkte sein Traum. Ein schwarzer Mercedes.

„Na ja“, dachte ich, „ nun hast du es endlich geschafft.“ Ich klingelte. Heiner hetzte die Treppe hinunter, um mir zu öffnen. Freudig strahlte er mich an und wartete auf meine Reaktion.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich und reichte ihm die Hand. Sofort zog er mich an sich. Seine Lippen berührten meinen Mund. Ich wehrte den Angriff ab, denn damit hatte ich nicht gerechnet.

„Tolles Auto, nicht wahr?“ lenkte er ein.

„Oh ja, das ist es“, erwiderte ich. „Jetzt hast du deinen Traum verwirklicht.“

„Nicht nur das“, plapperte er aufgeregt, „komm herein, dann erzähle ich dir den Rest.“

Bernd saß im Sessel, als ich eintrat, grinste mit breiter Miene und zwinkerte mir zu. „Also meine Herren, was gibt es Aufregendes?“

„Setz dich, Anna, ich habe etwas zu bereden.“ Heiner lief nervös im Wohnzimmer auf und ab.

„Zuerst ein Schlückchen“, unterbrach Bernd ihn und goss etwas Rotwein in die Gläser. „Chianti! Salute, Ragazzi!“

Wir stießen auf den neuen Mercedes an.

„Also, gut”, sagte Heiner, „es muss heraus, sonst platze ich. „ München“, stotterte er, „ich gehe nach München. Ich habe ein phantastisches Angebot bekommen.

Meine Firma schickt mich als leitenden Ingenieur nach Bayern. Mit eigenem Büro, eine tolle Wohnung an der Isar, nicht weit vom Englischen Garten.“

„Gratulation, Meister“, stieß Bernd hervor und klopfte ihm dabei auf die Schulter. Heiner hüstelte leicht. „Auf in die Küche“, befahl er, als sich seine Lunge erholt hatte. Heiner hatte ein schönes und schmackhaftes Buffet vorbereitet. Verschiedene Sorten Käse, Aufschnitt, Baguette, Salate, Dipps, Fisch und Rotwein.

„Das habe ich alles selbst gemacht“, lobte er sich.

„Hoffentlich schmeckt es auch so gut, wie es aussieht“, hänselte Bernd ihn.

„Ich habe mir alles mein Italiener abgeguckt, damit nichts schief geht.“

Während er Rotwein nachschenkte, wollte ich wissen, wann der große Umzug stattfinden würde. „Schon bald“, antwortete Heiner. „Zum nächsten Ersten.“ „Was?“, fragte Bernd erstaunt, „so bald schon? Und das noch vor Weihnachten?“ „Leider ja, aber es geht nicht anders“, entgegnete Heiner, „wegen der Wohnung. Sie muss bezogen werden, sonst wird sie anderweitig vermietet.“

„Dann ist dieses wohl auch ein Abschiedsessen“, setzte ich hinzu.

„So kann man es auffassen. Aber dafür verspreche ich euch, Silvester eine Party in meiner Wohnung in München steigen zu lassen. Kommt ihr?“

Bernd und ich versprachen zu kommen. Wir prosteten uns zu, und nach dem Essen verabschiedete ich mich rasch, mit der Ausrede, Frühdienst zu haben. Ich wollte nicht, dass Bernd vor mir ging. Heiner war noch zu sehr auf mich fixiert, so dass ich nicht ohne Probleme hätte gehen können.

„Was treibst du Samstag?“, schrie er hinter mir her.

„Wenn ich keinen Dienst im Krankenhaus habe, werde ich kellnern!“, rief ich zurück. „Blödes Hobby“, hörte ich ihn maulen.

„Ich habe es Klaus versprochen, und Ute hat schon etwas anderes vor. Außerdem, versprochen ist versprochen, basta!“

Ich ließ die Tür ins Schloss fallen und eilte nach Hause. Die Temperaturen zeigten bereits, dass der Sommer definitiv vorbei war. Ich fröstelte. Müde vom Fußweg und gesättigt fiel ich in mein Bett. In dieser Nacht schlief ich nicht besonders gut. Obwohl Heiner mir kaum noch etwas bedeutete, konnte ich mich mit dem Umzug nach München nicht anfreunden. Unter anderem, da ich Abschied nehmen als fürchterlich empfand, und Heiners Abschied stand kurz bevor.

Somit verabschiedete ich mich, wieder mit einem Vorwand Dienst schieben zu müssen und natürlich aus Feigheit, von Heiner per SMS, damit ich ihm nicht persönlich die Hand reichen musste. Meine Tränen konnte ich so besser verstecken und niemand sah mich schluchzen, denn die Trennung am Monatsende nahte.

Übermüdet trat ich am nächsten Morgen meinen Dienst an. Bea, meine Kollegin und mittlerweile beste Freundin, bemerkte sofort, dass ich mich nicht gut fühlte.

„Hast du Stress mit Heiner gehabt, gestern Abend?“

Wollte sie wissen und piekste mich dabei in den Bauch.

„Stress nicht, aber ...“. Ich erzählte ihr die Ereignisse des gestrigen Abends.

„Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“ Diesen Spruch von ihr kannte ich nur zu gut, denn damit versuchte sie sich und mich jedes Mal aufzuheitern, wenn ein Mann wieder zum Problem wurde.

„Du hast ja recht“, grinste ich, und wir stürzten uns in die Arbeit. Bis jetzt hatten wir ein paar ruhige Tage gehabt. Aber heute gab es arg viel zu tun. Ein Unfall jagte den anderen. Heilfroh war ich, als mein Dienst endete. Völlig erschöpft verließ ich die Klinik. Es war ein fieser, kalter Novembertag. Die Sonne war hinter einer dicken, grauen Wolkenwand versteckt, und dass die Uhr erst halb drei anzeigte, war bei den Lichtverhältnissen kaum fassbar. Ich schlug den Mantelkragen hoch und schlenderte durch die Straße. An der nächsten Ecke hupte ein Auto. Heiner, durchfuhr es mich. Erschrocken drehte ich mich um, doch das grelle Lachen gehörte Bernd, das unüberhörbar war, als er das Fenster hinunter kurbelte.

„Gefällt es dir im Ruhrgebiet nicht mehr?“, fragte ich. (Nach dem Studium hatte er Münster verlassen um in Dortmund eine Stelle als Ingenieur anzutreten.)

„Heiner braucht mich“, seufzte er, „all die guten Kumpel haben ihn versetzt.“

„Wieso versetzt? Mitten in der Woche?“

„Er zieht doch um; ich denke dass weißt du“, sagte er etwas verärgert. „Packen geht zu zweit besser und schneller.“

„Entschuldige, aber meine Arbeit fordert mich ganz schön.“

„Schon gut, soll ich dich nach Hause fahren?“ Ich lehnte dankend ab, da ich dringend frische Luft brauchte. Soweit man in Münsters Innenstadt von frischer Luft überhaupt reden konnte.

„Okay, dann telefonieren wir.“ Schon trat er aufs Gaspedal und raste in seinem grünen Golf GTI davon.

„Bis dann“, rief ich noch, „ und viele Grüße an Heiner!“

Die letzten Wochen im Jahr flogen nur so an mir vorbei. Es war bereits früh dunkel und nachts klirrte es vor Kälte. Heiner wohnte schon zwei Wochen in München.

Er musste sich gut eingelebt haben, denn bis jetzt hatte ich nichts von ihm gehört. Auch Bernd meldete sich nicht. Am Abend besuchte mich Bea (eigentlich war ihr richtiger Name Beate, aber Bea gefiel ihr besser, und so blieb es dabei).

Wir redeten über alles Mögliche, aber über nichts Konkretes. Bea war wirklich sehr nett. Sie konnte vor allem gut zuhören, wenn ich mir etwas von der Seele reden musste. Nur mit Männern hatte sie nichts im Sinn. Vielleicht lag es daran, dass sie kein Männertyp war. Irgendwie fehlten ihr Pep und Sex-Appeal vielleicht auch eine andere Frisur, die die dünnen, kurzen blonden Haare und das aparte, niedliche Gesicht mit der frechen Stupsnase, besser zur Geltung gebracht hätte. Etwas Make-up, dass ihre schönen, großen, blauen Augen und die langen Wimpern betonte, fetzige Klamotten, die Beas Figur, sie konnte sich ohne Zweifel sehen lassen, reizvoller geformt hätten, hin und wieder ein bisschen Alkohol, damit sie auftaute.

In Männergesellschaft wirkte sie wie auf Eis gelegt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Bea eher eine Frauenbeziehung bevorzugte. Ob sie sich vor dem männlichen Geschlechtsteil ekelte oder fürchtete, das hatte ich noch nicht herausbekommen.

Das tägliche Angebot in der Klinik ließ einen schon des Öfteren erschaudern.

In dem Moment, als Bea gehen wollte, klingelte mein Telefon, und ich bat sie, noch einen Augenblick zu bleiben. Es war Heiner.

„Hallo Anna, mein Schatz. Wie geht es dir?“

„Ganz gut soweit, danke.“ Er stellte noch eine Menge

Fragen, die ich kurz und knapp beantwortete.

„Bevor ich auflege“, sagte Heiner, „vergiss die Party nicht.“

„Warte“, unterbrach ich ihn, „kann ich Bea mitbringen?“

Der Gedanke kam ganz plötzlich. Sie schaute verwundert, lächelte und nickte.

„Für wen?“ fragte Heiner. „Für Bernd? – Warum nicht, ist gar nicht so abwegig.“ „Also, bis bald“, erwiderte ich, „und Bea kommt mit.“

„Danke für die Einladung. Gut, dass ich mir noch nichts vorgenommen habe“, sagte sie, während sie sich verabschiedete.

„Dann ist ja alles klar, schlaf gut, bis morgen.“

Gerade wollte ich ins Bett hüpfen, da klingelte das Telefon erneut.

„Hey Anna, hier ist Bernd, wie schaut es aus bei dir? Hast du schon mit Heiner telefoniert?“

„Na klar, und du?“

„Eben gerade, und warum ich anrufe“, sprudelte es aus ihm heraus, „ich dachte, wir könnten gemeinsam nach München fahren, damit du auch sicher ankommst.“

„Super Idee“, rief ich begeistert in die Muschel, „aber ich fahre nicht alleine, Bea wird mich begleiten.“

„Das trifft sich ja gut“, hörte ich vom anderen Ende, „ ich habe ebenfalls eine Begleitperson. Zurzeit ist Giorgio aus Italien zu Gast bei mir, von ihm hatte ich dir erzählt, als wir gemeinsam bei Heiner zum Abendessen waren. Er feiert Silvester mit uns und anschließend fährt er von München aus weiter nach Florenz.“

„Wir sind am dreißigsten Dezember im Laufe des Abends bei dir“, versicherte ich Bernd.

„Hast du genug Platz für zwei Frauen?“

„Je weniger, desto besser“, und sein Lachen beendete das Gespräch.

„Bis bald Bernd und gute Nacht.“

„Eine gute Nacht auch für dich und bis dann.“

Beas und mein Dienst in der Klinik endete am neunundzwanzigsten Dezember nach der Frühschicht, da wir uns den Dienst über die Weihnachtsfeiertage teilten. Es hatte auch etwas Positives, denn so konnten wir uns vor den langweiligen Stunden im Familienkreis drücken. Ist nicht jedermann Sache, und meine war es garantiert nicht.

Ich brauchte meine anstrengenden Familienmitglieder nicht, dazu dass üppige Essen und Trinken, anschließend mit Bauchweh ins Bett, und um am anderen Tag die nutzlosen Geschenke in der Wohnung zu verteilen. Sicherlich waren meine Eltern enttäuscht, aber ich hatte einen triftigen und plausiblen Grund für mein Nichterscheinen. Ein kurzer Anstandsbesuch am Heiligen Abend war das Einzige, was ich mir antun musste. Von mir aus hätte man Weihnachten vom Kalender streichen können.

Einen Abstecher ins Panorama erlaubten Bea und ich uns noch, bevor sich unsere Wege trennten. Gemeinsam tranken wir einen Kaffee im Bistro bei Klaus.

Ich wollte mich von ihm verabschieden und ihm ein frohes neues Jahr wünschen.

Über unsere Absicht, im Winter nach München zu fahren, lästerte er unzufrieden: „Mensch Mädchen, seid doch vernünftig, bei den Temperaturen. Vielleicht passiert euch unterwegs etwas, und ihr landet im Tiefschnee. Warum feiert ihr Silvester nicht hier bei mir im Bistro?“

„Wir lieben eben die Abwechslung, und neue Gesichter zu sehen, tut manchmal ganz gut“, entgegnete Bea.

„Bei unserem Beruf kennen wir schon jedes hier in der Stadt.“

„Nicht nur die Gesichter“, bemerkte ich und musste grinsen.

Bea versetzte mir einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. „Komm, lass uns gehen, ich möchte mich hier nicht verewigen.“

Klaus wünschte uns eine gute Fahrt und einen tollen Start

in das neue Jahr.

Bea und ich trennten uns vor dem Lokal, da jede von uns noch Kleinigkeiten für den Trip nach München besorgen wollte.

Am Abend telefonierte ich mit meinen Eltern, um ihnen mitzuteilen, dass ich bis zum zweiten Januar nicht erreichbar sein würde. Meine Sachen standen bereits fertig gepackt im Flur. Mit einem guten Buch und einem Glas Wein kuschelte ich mich in meine Schmusedecke, die auf der Couch lag und auf mich wartete. Es war mittlerweile richtig Winter geworden. Bald sehnte ich mich nach meinem Bett. Irgendwann schlief ich gutgelaunt ein.

Geweckt wurde ich am nächsten Morgen durch das Klingeln an der Haustür. Verschlafen tappte ich in den Flur bis zur Tür. Das helle Licht schmerzte in meinen Augen. Ich öffnete. Bea stand mit einer Tüte frischen Brötchen im Arm da und fragte leise: „Na, du Langschläfer, hast du nichts zu tun heute?“

„Jetzt schon, du Nervensäge, ich wollte eigentlich ausschlafen.“

„Warum soll es dir besser gehen als mir?“

„Hast du Reisefieber, oder was ist los mit dir?

Während Bea das Frühstück zubereitete, verschwand ich im Badezimmer. Wir frühstückten lange und ausgiebig zusammen, quatschten über dies und jenes und merkten gar nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich sprang Bea auf.

„Um Himmels Willen, ich muss noch packen.“

„Dann verschwinde mal ganz schnell und sieh zu, dass du fertig wirst. Gegen siebzehn Uhr hole ich dich ab.“

„Wenn dein Auto uns nicht wieder verlässt, oder hat es sich schon an die Minustemperaturen gewöhnt?“

„Lästermaul“, protestierte ich, „mein Polo wird es schon bis Dortmund schaffen.“ „Hoffentlich.“ „Bis später.“

Bea hatte es auf einmal furchtbar eilig und rannte die Treppe hinunter. Normalerweise nahm sie immer den Lift, obwohl ich im ersten Stock wohnte. Als ich zur Uhr schaute, war es Viertel vor drei. Etwas Zeit hatte ich noch, deshalb räumte ich zuerst in der Küche auf und anschließend duschte ich ausgiebig. Bequeme Kleidung für die Autofahrt hatte ich bereits gestern abends parat gelegt. Schwarze Leggins, den langen schwarzen Rollkragenpullover, Wadenwärmer und Boots.

Kurz vor siebzehn Uhr verließ ich die Wohnung. Heute war es nicht so kalt. Ideales Reisewetter. Ich verstaute mein Gepäck im Kofferraum.

„Bitte, verlass mich nicht“, flehte ich und klopfte auf das Autodach. Mein kleiner roter Flitzer meinte es gut mit mir, er sprang sofort an.

Bea wartete unterdessen ungeduldig vor ihrer Haustür. Sie winkte hektisch, als ich vorfuhr.

„Du hast es aber eilig“, bemerkte ich, während ich ihre Reisetasche zu meiner in den Kofferraum quetschte. Als ich den Motor startete, holte Bea tief Luft und sagte: „Endlich weg hier.“

„Was ist denn?“, wollte ich wissen.

„Ach, den Günther, den kennst du doch auch.“

„Sicherlich, und...“

„Ihm schulde ich noch eine Antwort.“

„Was für eine Antwort?“

„Halt wegen morgen, er hatte mich eingeladen. Ich habe nicht konkret abgelehnt, und heute läutete ständig das Telefon.“

„Deswegen warst du auch so früh bei mir.“

„Es war nicht zum Aushalten.“

„Ist ja irre – der Günni“, lachte ich, „Günni der liebe Pfleger von der Station fünf.“ „Mein Typ ist er auch nicht, darum fahre ich mit dir nach München.“

„Sie flüchtet wieder vor einem Mann“, dachte ich so bei mir.

Bea unterbrach meine Gedanken, indem sie das Radio aufdrehte und kräftig mitsang. „Take me home, country road ...“

Obwohl das Thermometer fünf Grad plus anzeigte, somit

die Straßen nicht glatt waren um nicht voran zu kommen, brauchten wir gut zwei Stunden bis Dortmund.

Alle Menschen in Deutschland hatten anscheinend das gleiche Ziel wie wir. Von Münster bis Dortmund waren sämtliche Straßen verstopft. Ganz schlimm war es in und um Dortmund. Zum Schluss raubte mir die Suche nach einem Parkplatz vor Bernds Wohnung den letzten Nerv. Er wohnte Dortmund-Mitte, am Westpark, in einem zweistöckigen Mehrfamilienhaus.

„Echt ätzend“, fluchte ich.

„Wer suchet der findet.“ Beas tröstende Bemerkung war hilfreich, denn schon hatten wir einen Abstellplatz gefunden.

„Bravo, jetzt ist die blöde Fahrerei um den Block vorbei.“ Ein paar Meter vom Haus entfernt war ein Parkplatz frei geworden. Hier hatte die Stadt allerdings die Laternen eingespart. Durch diese finstere Straße zu laufen, war unheimlich. Gut, dass wir zu zweit waren. Nachdem wir den Eingang des Gebäudes erreichten, hatten Bea und ich Schwierigkeiten, im Dunkeln den Klingelknopf zur Wohnung zu finden.

„Auch das noch“, rief ich genervt. Da keiner von uns beiden rauchte, hatten wir nicht einmal ein Feuerzeug, um die Namensschilder auszuleuchten.

„Beruhige dich, Anna, uns lässt bestimmt jemand herein. Drück auf einen Knopf, ist doch egal wo.“

„Wenn du meinst.“ Also betätigte ich irgendeine Klingel.

„Ja, wer ist da?“ Es ertönte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher.

„Guten Abend, wir möchten zu Herrn Waltrop.“

„Der wohnt über mir, wol, im zweiten Stock, wol, aber einen Augenblick ich lasse sie herein.“

Der Türsummer verstummte, als ich gegen die Haustür drückte. Eine etwas rundliche Frau stand bereits im Flur und starrte uns an.

„Entschuldigung, aber im Dunkeln konnten wir die Namen nicht lesen.“

„Schon gut meine Damen, wol, Herr Waltrop wohnt oben links, wol.“ Sie drehte sich um und schlurfte zurück in ihre Wohnung.

Oben angekommen, klingelte Bea Sturm. Durch die geschlossene Wohnungstür vernahmen wir Bernds Stimme.

„Ich habe nichts bestellt.“ Laut lachend öffnete er und bat uns herein, dann ging er voraus bis ins Wohnzimmer. Hier verkündete er Giorgio unsere Ankunft in einem so furchtbaren Italienisch, dass wir kichern mussten.

„Buona sera.“ Giorgio begrüßte uns mit einem charmanten Lächeln. Als er sich aus dem Sessel erhob, waren Bea und ich sichtlich überrascht. So hatten wir uns Giorgio nicht vorgestellt. Er war ein Riese. Für einen Italiener recht ungewöhnlich. Ich schätzte ihn auf circa zwei Meter. Nicht nur seine Größe, sein ganzes Aussehen hatte auf mich eine faszinierende Wirkung. Die dunklen, kurzen, gut frisierten Haare, seine tief liegenden braunen Augen, die kräftige, athletische Figur und der geschmackvolle Anzug. Er hatte Stil. Bea musterte ihn nur oberflächlich, ihre Zuwendung galt Bernd. Giorgio blickte mir frech in die Augen. Wie versteinert stand ich vor ihm, und unsere Blicke klebten lange aneinander. Plötzlich schubste mich jemand von hinten. Es war Bea, die meine Begeisterung für Giorgio längst bemerkt hatte.

„Wie lange willst du noch hier herumstehen? Setz dich endlich.“

Giorgio bot mir seinen Sessel an. Im Vorbeigehen roch ich sein herbes After Shave.

Er sah, dass ich den Duft einatmete und flüsterte leise, kaum hörbar: „Trussardi.“

Bernhard beschäftigte sich seit unserer Ankunft in der Küche mit Leckereien.

Bea verfolgte das Geschehen im Wohnzimmer mit kritischer Miene. Der Ausdruck ihres Gesichtes ließ erahnen, wie sie darüber dachte. Dieser Männertyp machte ihr Angst. Bea war durch die Ärzte der Klinik geprägt. Nicht nur unser Chefarzt, nein, über die Hälfte der Ärzte war ausländischer Abstammung, bis auf wenige Ausnahmen, abartig und selbstherrlich. Der Oberarzt war Türke, groß, dunkel, mit riesigem Oberlippenbart. Seine brauen, blutunterlaufenen Glupschaugen rissen einem fast die Kleider vom Leib, wenn man mit ihm allein in seinem Dienstzimmer war. Er hatte keinerlei Achtung und Respekt den Frauen gegenüber. Oder Dr. Djeng, der Anästhesist: Er war Koreaner, klein, zu klein für einen Mann. Wir schätzten ihn alle auf einen Meter fünfzig. Seine winzigen Schlitzaugen und der schmale Mund versprühten Gift und Geilheit. Er klebte an jedem Frauenrock, ausgenommen waren die Patientinnen. Aufgrund seiner Größe und Hinterhältigkeit wurde er „das Zäpfchen“ genannt. Die Darstellung der Ärzte hatte nichts mit einer Ausländerfeindlichkeit zu tun, und oder mit dem Klischee-Gehabe einer Frau, die sich in dieser Gesellschaft krampfhaft versuchte zu etablieren, bzw. zu emanzipieren. Auch wenn dieses den Anschein verbirgt, war ich frei von Vorurteilen, selbst wenn ich diese gehabt hätte, hätte ich sie aufgrund meiner Abstammung wahrlich nicht äußern dürfen. Und wie schon betont, waren ja nicht alle so penetrant abstoßend in ihrer Art. Bernd unterbrach die Stille im Wohnzimmer.

Pfeifend marschierte er zur Stereoanlage, wühlte ein paar Sekunden in den CDs, dann hatte er die passende Musik gefunden. Er hielt eine CD hoch, „Lucio Dalla, ein Liedermacher aus Italien, Gio hat sie mitgebracht“, erklärte er. Die Musik und die rauchige Stimme des Sängers gefielen mir auf Anhieb. Eine sehr romantische Musik. Bea bewegte sich leicht im Takt, als sie zu Bernd in die Küche schwebte. Wir nahmen in der kleinen aber gut durchdachten Küche Platz. In einem gebrochenen Deutsch fragte Gio, ob wir Vino bianco oder Vino rosso

zum Abendbrot mochten. Bea verlangte Mineralwasser. Ich passte mich den Herren an, denn eine geöffnete Flasche Chianti stand parat auf dem Tisch. Bernds Speiseplan war umfangreich: Antipasti, Spaghetti Bolognese, Insalata mista, als Nachtisch Zabaione und zum guten Schluss einen Amaro und einen Cappuccino. Wir alle, ganz besonders Gio, lobten seine Kochkünste. Bernd hatte sich wirklich Mühe gegeben und es schmeckte vorzüglich. Besser hätte ich es auch nicht machen können, oder vielleicht nicht einmal annähernd zu gut. Mein Speiseplan beinhaltete selten

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Petra Ewering
Images: Petra Ewering
Publication Date: 01-11-2014
ISBN: 978-3-7309-7501-5

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /