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»The beginning

 



Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.

                         - Abraham Lincoln

 






»Prolog

 

 

Heute hatte Laura Geburtstag, eine ihrer besten Freundinnen. Sie schnappte sich ein grünes Tank Top, eine schwarze Hot Pants und schwarze Flip Flops. Lauras Partys waren eigentlich immer der Hammer, da ihre Eltern ihr einfach alles durchgehen ließen, was vielleicht auch daran lag, dass sie jede Woche auf einer anderen Karibikinsel waren.

Apryls fester Freund, Ryan, würde sie heute abholen und dann mit seinem schicken, protzigen Wagen zu Lauras Party fahren.

Sarah von nebenan würden sie auch noch gleich mitnehmen. Schnell warf sie einen Blick aus dem Fenster, um zu sehen, ob die beiden schon da waren. Und das, was sie sah, war mehr als nur aufschlussreich. Eigentlich hatte sie schon immer etwas gegen Sarah gehabt. Sarah war nicht eine von diesen hohlköpfigen, wasserstoffblonden Barbies, sie war noch viel schlimmer. Sie war eine wasserstoffblonde Barbie, und hatte dazu noch etwas im Köpfchen, auch wenn sie das nicht gerade gerne zugab. Auf jeden Fall so viel, dass sie alles unternahm, um sie leiden zu lassen. In der Schule hatte sie Apryl schon ganz „aus Versehen“ einen Joghurt über die Haare geklatscht. Aber das hier, das ging zu weit. Unten auf der Straße knutschte Barbie, alias Sarah, mit Ryan, ihrem Freund, rum.

In ihrer Magengegend ballte sich eine eigenartige Wut zusammen und verteilte sich in ihrem ganzen Körper.

Vor Wut ballte sie die Hände zu Fäusten und starrte die beiden zornig an. Doch plötzlich zersprang das Glas in den Fenstern neben Apryl. Sarah hatte sich inzwischen unsanft von Ryan gelöst und griff sich nun mit der Hand an die Kehle und röchelte. Besorgt stürzte er zu ihr und klopfte ihr auf den Rücken, doch das machte das Ganze nur noch schlimmer. Barbie lief rot an, ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Sie erinnerte Apryl ein wenig an eine Tomate, die gleich platzen würde. Hinter ihr ging die Türe auf und ihr Vater stürzte ins Zimmer. Erst starrte er auf den Boden zu den Glasscherben und wollte wohl schon eine Schimpftirade halten, da sah er Apryl an. Apryl hatte einen genießerischen Blick aufgesetzt und labte sich an dem Leid der Blondine. Ihr Vater eilte zum Fenster, um zu sehen, auf was sie so hinunterstarrte und stellte sich schnell zwischen Apryl und Sarah. Sofort kam Barbie wieder zu Atem. Sie rang nach Luft und hielt sich, um nicht umzukippen, an Ryan fest. Langsam wich das tiefe Rot wieder einer normalen, gesunden Hautfarbe.

Erst jetzt nahm Apryl wahr, was gerade geschehen ist. Wie zum Henker war das passiert?

Ihr Vater drehte sich wieder zu ihr um und sah sie fragend und schon fast anschuldigend an.

"Wie ist das passiert?", fragte er sie direkt.

"Ich weiß es nicht", meinte sie und schüttelte den Kopf.

Doch eigenartigerweise wusste sie ganz genau, wie das passiert war. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Noch nicht. 

»Kapitel 1

 

„Oh mein Gott! Schatz, lebst du noch? Verlass mich nicht, du bist das Wichtigste in meinem Leben!", kreischte ich, lief die Treppen hinunter und beugte mich zu meinem Schatz hinunter.

Mein Heiligtum lag am Boden, das Display war komplett zersprungen. Keine Chance auf Wiederbelebung.

Nach diesem hier, würde mir mein Dad nicht noch ein Neues kaufen. So dusselig, wie ich war, zerstörte ich leider ziemlich oft meine Handys.

Frustriert und mit einem theatralischen Seufzer setzte ich mich einsam auf die letzte Treppenstufe.     

Heute hatte sich die übliche Sommerhitze über die Umgebung gelegt; die Sonne glühte und das Einzige, das man bei dieser Hitze unternehmen konnte, war sich im Haus zu verkriechen oder in den Pool zu springen, wobei mir das Letztere deutlich besser gefiel.

Als mich Langweile überkam, überlegte ich nicht lange, wen ich anrufen könnte und  ging deshalb zielsicher zu unserem Festnetz Telefon hinunter. Dort wählte ich Laceys Nummer.

"Jaaaa?", murrte eine entnervte Stimme aus dem Hörer am anderen Ende der Leitung.

"Ich bin‘s", sagte ich und verzog den Mund zu einem Grinsen, ihre Stimme hörte sich immer wie ein Quaken an, wenn man sie aus dem Bett klingelte. Sie schien auch die Tatsache zu ignorieren, dass es schon 11. 37 Uhr war.

"Oh, Apryl!“, quietschte sie nun deutlich freundlicher,“ Ich komm schnell rüber! Gehen wir gleich in den Pool?"

"Das wollte ich eigentlich gerade dich fragen", erwiderte ich schmunzelnd.

Wie schön, dass sie sich immer selbst und ohne mich zu fragen, einlud. Aber ich war wohl machtlos gegen meine sogenannte „beste Freundin“.

"Na dann ist gut, ich bin in fünf Minuten da", rief sie gehetzt in den Hörer und legte auf. Ich konnte mich noch entspannen, da ihre „fünf Minuten“ meistens eine Stunde oder länger dauerten.

Deshalb ging ich gemütlich in die Küche hinunter und wollte mir gerade ein Kaffee machen, als mir mein Vater entgegenkam.

"Wir müssen reden", sagte mein Dad in einem ernsten Tonfall, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Immer wenn ein Gespräch so anfing, sollte man sich schnell aus dem Staub machen, denn dann kamen meistens die „Ich-weiß-was-in-deinem-Alter-so-los-ist Tiraden“ und die hatte ich mittlerweile satt.

"Ohhh...Das geht leider gerade gar nicht, da Lacey gleich da sein wird und ich muss mich noch umziehen", faselte ich hektisch und hetzte hoch in mein Zimmer. Meinen Kaffee hatte ich zu meinem Bedauern nicht mehr mitnehmen können.

Mein Zimmer war harmonisch eingerichtet; weiße Möbel, blaue Vorhänge. Als Deko hatte ich Muscheln, die ich im Laufe der Jahre gesammelt habe, auf meine Kommode gelegt.

Die Frage, was ich anziehen könnte, erledigte sich von selbst, da ich gerade mal eine Handvoll von Bikinis hatte. Ich fischte mir einfach irgendeinen heraus und zog mich schnell um. Meine Haare band ich zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen; wobei mir mehrere meiner dunkelbraunen Haarsträhnen ins Gesicht fielen.

Als es klingelte, lief ich die Treppe hinunter. Unten angekommen, riss ich auch schon die Türe auf.

"Lacey! Nur 10 Minuten? Das ist ja total untypisch für dich", begrüßte ich sie überschwänglich und tat so, als wäre ich ernsthaft überrascht.

"Auch dir einen schönen Tag", brummte Lacey gespielt genervt.

Sie wohnte gegenüber und hatte sich deswegen nicht die Mühe gemacht, sich über den Bikini noch irgendetwas drüber zu ziehen. Warum auch?

Ein Handtuch hatte sie über ihre Schulter geworfen und ging mit großen Schritten auf unseren Pool zu. Ich tat es ihr gleich, warf mein Handtuch auf eine Liege und sprang mit einem halbwegs eleganten Kopfsprung ins Wasser.

Als ich wieder auftauchte, sah ich mich nach Lacey um. Plötzlich wurde auch schon mein Kopf unter Wasser getaucht und ich musste überrascht aufschreien. Das war wohl ein Fehler, denn ich spürte wie mir das Wasser in die Lunge floss.

Nach schier endlosen Sekunden, ließ mich Lacey wieder los und ich durchbrach hastig die Wasseroberfläche. Da ich unter Wasser aus Versehen fast den ganzen Pool verschluckt hatte, hustete ich mir sprichwörtlich die Seele aus dem Leib und keuchte verzweifelt nach Luft.

Trotz der Wut, die wegen dieser Aktion in mir aufstieg, musste ich bei Laceys diabolischem Grinsen automatisch zurück grinsen.

"Rache!", schrie ich knurrend und warf mich auf sie und versuchte ihren Kopf ebenfalls unter Wasser zu tauchen. Sie hatte jedoch im Gegensatz zu mir ein wenig mitgedacht und die Luft zuvor angehalten, weshalb sie jetzt aussah wie ein aufgeblähter Kugelfisch.

Mein Vergleich schien gar nicht mal so übel zu sein und ich prustete los, als ich sie mir wie einen wahrhaftigen, lebendigen, runden und stacheligen Fisch vorstellte. Lacey tauchte wieder auf und wollte sich schon wieder auf mich stürzen, da machte ich das Peacezeichen; ein Zeichen für Frieden und als Ersatz für eine weiße Flagge.

"Na gut. Gehen wir raus", meinte sie gnädig und schwang sich geschickt aus dem Pool, ich tat es ihr gleich.

Ich schnappte mir ein Handtuch von der Liege und rieb mir damit die Haare trocken. Danach legte ich mir es wie eine Bademeisterin lässig um den Hals. Ich ging in unsere großflächige Küche und holte für uns beide zwei Magnum am Stiel aus dem Gefrierschrank. Fünf Minuten später lagen wir auf unseren Sonnenliegen und knabberten eifrig daran herum. Lacey hatte die Augen geschlossen und ich schlussfolgerte daraus, dass sie ihre Ruhe haben wollte.

Also schloss ich ebenfalls die Augen und genoss die Wärme die Sonne, die nach einer gewissen Zeit eindeutig zu warm wurde.

Meine Gedanken wanderten in meine Vergangenheit zurück. Ich dachte an meine Mom, sie starb vor drei Jahren bei einem Autounfall, genau wie mein Bruder Matt. Er war damals gerade einmal 14 Jahre alt gewesen. Matt und ich hatten uns immer recht gut verstanden. Das schien zwar unüblich unter Geschwister zu sein, aber unser geringer Altersunterschied musste uns wohl zusammengeschweißt haben. Er war immerhin nur zehn Monate älter als ich und wir hatten deswegen auch fast alles zusammen unternommen.

Nach dem Verlust meiner Mutter und dem meines Bruders, wollten weder mein Dad noch ich in unserem alten Haus bleiben. Wir hatten uns deshalb entschieden von Seattle nach Kalifornien zu ziehen und waren froh über den gewonnen Abstand.

In Kalifornien war es viel wärmer als in Seattle, was mir persönlich eigentlich recht gut gefiel. Hier war das Wetter viel schöner und man merkte auch, dass sich das ein wenig auf die Leute in der Umgebung abfärbte. Sie waren viel lebensfroher und spontaner, als meine alten Nachbarn in Seattle.

Meine Gedanken schweiften zurück zu Lacey, die sozusagen die Schuldiva war und alles und jeden herumkommandierte, außer mir natürlich. Ich kannte Lacey schon von Kindesbeinen an, und früher waren wir noch zusammen auf Bäume geklettert und haben Sandburgen erobert. Vermutlich waren wir auch deswegen immer noch so gut befreundet, auch wenn unsere Interessen an vielen Punkten auseinander gingen und wir uns längst nicht mehr so nahe standen wie früher.

In Gesellschaft anderer war sie ein wirkliches Biest und war so tiefgründig wie ein Planschbecken. Wenn man jedoch mit ihr alleine war, konnte man wirklich richtig Spaß haben. Leider konnte man ihr nicht alles sagen, was einem auf den Herzen lag. Manchmal war sie einfach zu unsensibel und gesprächsfreudig dafür.

Als mir jemand, wahrscheinlich Lacey, an den Kopf klopfte, war ich gezwungen meine Augen zu öffnen und sie anzusehen.

"Aufwachen, Süße", schnurrte sie.

"Hm", grummelte ich nur.

"Ich geh jetzt. Es ist schon sechs Uhr! Bei mir gibt's gleich Abendessen. Du weißt ja wie stinkig meine Mutter wird, wenn ich zu spät komme."

"Jaja, geh nur", murmelte ich.

"Willst du mich nicht noch bis zur Tür begleiten?", fragte sie und zog einen Schmollmund. Für diesen Schmollmund würde vermutlich jeder Mann in die Knie gehen. Nur gut das ich kein Mann war, bei mir zog so etwas nämlich nicht.

"Hast ja Recht. Schließlich könnte auf dem Weg zur Tür jemand vorbei kommen, der dich entführen könnte oder jemand, der dich ausbeuten will", witzelte ich mit übertriebenen Sarkasmus.

"Genau das meinte ich", sagte sie und nickte bekräftigend.

Sie schien meine Ironie vollkommen ignoriert oder gar nicht erst bemerkt zu haben. Wie sagte man so schön? „Blond und blauäugig“?  

Da ich jetzt nicht weiter herumdiskutieren wollte, begleitete ich sie schweigend zu Tür. Lacey huschte über die Straße und winkte mir noch einmal zu, bevor sie ihre eigene Wohnungstüre hinter sich zuknallte. Ich seufzte genervt. Sie würde sich wirklich nie ändern.

Es war schon kurz nach sechs Uhr, als die Frage aufkam, was ich heute noch unternehmen könnte. Doch das erledigte sich von selbst, als mein Vater zu mir kam, zusammen mit seiner ernsten Miene.

"Okay, jetzt hast du Zeit. Wir müssen wirklich sprechen, es ist wichtig", meinte mein Dad. Es schien so, als hätte er auf diesen Moment regelrecht gelauert.

Hinter seinem Rücken verdrehte ich nur genervt die Augen und fragte mich schon, was ich diesmal angestellt hatte. Vielleicht hatte ich irgendetwas vergessen?

Also ließ ich mich in den großen Polstersessel fallen, so dass ich nun gegenüber von meinem Vater saß, der es sich schon auf der weißen Spießer-Couch bequem gemacht hatte.

"Also gut. Die Sommerferien enden ja morgen und ursprünglich wolltest du ja auf die Hochschule in Phoenix, aber die ist nur etwas…nun ja… „gewöhnliches“ und du verdienst meiner Meinung nach etwas viel..."

"Komm endlich auf den Punkt, Dad. Ich geh nach Phoenix, weil da meine Freunde sind und weil die Schule etwas „gehobener“ ist."

"Genau um das geht es mir! Du wirst auf eine andere Hochschule gehen. Ich-“

"WAS?“, unterbrach ich ihn kreischend. “Was soll das heißen?"

"Du wirst auf die Hochschule in Montana gehen oder eher gesagt in der Nähe von Montana. Die Hochschule heißt Rosewood, diese Schule ist etwas Besonderes und nur für außergewöhnliche Schüler gedacht.

"Außergewöhnlich? Aha, außergewöhnlich intelligent, außergewöhnlich dumm, außergewöhnlich anders? Hört sich für mich nicht gerade nett an!"

"Apryl. Bitte, hör mir doch wenigstens eine Sekunde zu. Wir wissen beide, dass du auf einer normalen Schule nichts verloren hast", meinte mein Dad.

"Deswegen schickst du mich jetzt auf so ein Internat für Vollidioten und Psychos?"

"Apryl, jetzt kommt mal wieder runter. Du bist nun mal anders als die anderen."

Anders? Ich wusste, dass ich einfach 'anders' war als die andere. Nun ja, manchmal hatte es sich für mich so angefühlt. Es war schwer zu beschreiben. Oder war es überhaupt zu beschreiben? Ich wusste es nicht.

"Warte mal…Hat mich irgendjemand gefragt, ob ich da überhaupt hin möchte?“, fragte ich rhetorisch und mit gereizter Stimme. „Nein", beantwortete ich meine eigene Frage.

Die Gesichtszüge meines Vaters zeigten erst Sanftmut, dann Gutmütigkeit und zum Ende nur noch Entschlossenheit.

 

"Keine Widerrede, Apryl. Du wirst am Montag abgeholt und nach Rosewood gefahren. Hier in dem Karton sind Unterlagen die du dir mal durchlesen solltest. Auch Bilder von der Schule sind dabei."

Wortlos nahm ich den Karton entgegen und ging hocherhobenen Hauptes die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Ehrlich gesagt fand ich es gar nicht mal so schlimm nach Montana zu reisen. Neue Freunde, neue Feinde. Wenn ich darüber nachdachte war es gar nicht mal so schlecht, trotzdem wollte ich meinen Vater noch ein wenig hängen lassen. Schließlich hatte er mich nicht in seine Entscheidung miteinbezogen, obwohl sie allein mich betraf.

Wenn es mir dort nicht gefiel, würde ich wieder gehen, oder einfach alles tun, um mich von der Schule werfen zu lassen. An dieser Stelle möchte ich gerne Emma Roberts danken, die mich mit ihrem Film „Wild Child“ ja wirklich inspiriert hat, abgesehen von den blonden Haaren und den Extension, die ich wirklich nicht nötig hatte.

Ich schloss die Türe hinter mir und knallte den Pappkarton auf mein Bett. Neugierig öffnete ich ihn und nahm einen ganzen Stapel Unterlagen in die Hand.

Mit einem uneleganten Plumps ließ ich mich auf mein Bett fallen und blätterte den Stapel durch, bis ich zu den Bildern kam. Die Bilder waren für mich auf jeden Fall schon um einiges interessanter, weshalb ich meine Aufmerksamkeit auch erst mal ihnen widmete.

Schon fast hatte ich damit gerechnet, eine Schule zu sehen, die mit Stacheldraht und einem Elektrozaun umzäunt war. Ein fetter Bauklotz ohne Fenster, wie man sich eben eine Psychiatrische Anstalt vorstellte.

Die Hochschule Rosewood sah einfach gigantisch aus, da sie mit hohen Mauern umgeben war und die Landschaft aus einem Bilderbuch zu stammen schien. Es hatte etwas Pompöses und Mächtiges an sich, und irgendwie auch eine königliche Ausstrahlung, wie aus einem Mittelalterfilm. Um die Hochschule herum konnte ich einen Burggraben erkennen, in dem sogar noch Wasser war. Jetzt fehlten nur noch die Zugbrücke und ein paar Ritter auf hohen Rössern.

Den Rest von diesem Internat würde ich morgen schon sehen. Scheiße, schon morgen?

Irgendwie war mir noch nicht so bewusst geworden, dass das schon Morgen sein würde.

Da ich morgen in der Früh nicht in den totalen Stress geraten wollte, zauberte ich vier Reisekoffer hervor und fing schon einmal an zu packen. Vier Reisekoffer waren vielleicht für einen Urlaub übertrieben, aber wenn ich dort vielleicht wirklich länger bleiben würde, dann sollte ich ordentlich einpacken. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie das Wetter dort sein würde. Vielleicht würde ich mir nachher noch die Mühe machen, und Google damit belästigen.

Nachdem ich meine Koffer geholt, entstaubt und geöffnet hatte, ging ich in meinen luxuriösen, begehbaren Kleiderschrank.

Kleidung, Schuhe, Schmuck und alles andere hatte ich nach Farben geordnet, ich hatte definitiv zu viel Freizeit. Ich nahm mir einen Stapel Tops, einen Stapel Kleider, mehrere Jeanshosen, Jeansröcke und naja das ganze andere Zeugs eben und packte es in die Koffer. Als ich alles in die Koffer reingestopft hatte kam jetzt am Schluss noch das Schwerste.

Irgendwie musste ich den Koffer noch zubekommen, oh mein Gott. Wie ich ja immer sagte, Gewalt war keine Lösung, aber ein Weg. Also trampelte ich auf meinem Koffer herum und ließ mich drauf fallen, um das ganze Zeug zusammen zu pressen, damit ich den Reisverschluss zu bekam.

Das war eine wirklich todsichere Methode, die ich auch bei den restlichen drei Koffern anwendete. Nebenbei schaute ich schnell auf die Uhr. Schock! Es war bereist 22.30 Uhr! Wenn ich meinen Schönheitsschlaf nicht bekam, war ich am Morgen mies drauf und hatte schreckliche, dunkle Augenringe die man nur schwer mit Make-Up kaschieren konnte.

Schnell lief ich ins Bad und putzte mir die Zähne, zog mein Nachthemd an und sprang regelrecht ins Bett. Dabei quietschte es bedrohlich, doch dieses Bett war stabil und würde auf jeden Fall noch diesen Abend überleben.

Nachdem ich noch schnell den Wecker gestellt hatte, war ich auch schon gleich eingeschlafen. Sorgen würde ich mir morgen machen, falls ich dazu überhaupt noch kam.

»Kapitel 2

 

 

 

Unsanft wurde ich aus dem Schlaf gerissen, als mein Wecker plötzlich anfing schrill zu klingeln. Natürlich, es war doch wirklich immer der Wecker.

Noch im Halbschlaf suchte ich nach dem Wecker und schmiss ihn geräuschvoll an die Wand. Da das Klingeln aufgehört hatte, ging ich davon aus, dass er kaputt war. Der Wecker war sowieso nicht sehr teuer gewesen.

Endlich, Ruhe. Ich wollte schon wieder einschlafen, da fiel mir ein, dass ich heute nach Montana umziehen würde. Nicht unbedingt die größte Motivation, aus meinem gemütlichen Bett zu kriechen.

Als ich die Augen öffnete, musste ich erst mal eine halbe Ewigkeit angestrengt blinzeln, da das Licht einfach zu grell war.

Ein paar Minuten später stand ich auf, und ging ins Bad, wo ich mir erst einmal eine ordentliche Ladung Wasser ins Gesicht klatschte, um richtig wach zu werden. Als ich einen Blick in den Spiegel wagte, sah ich in ein total verschlafenes Gesicht, das noch nicht bereit war, sich den Torturen des Tages zu stellen.

"Essen!", rief mein Vater gut gelaunt aus der Küche.

Schnell suchte ich mir etwas halbwegs Bequemes zum Anziehen heraus, da ich schließlich eine lange Autofahrt vor mir hatte. Warum ich nicht das Flugzeug nach Montana nahm? Mein Vater hatte Angst vor dem Fliegen, weshalb er es so gut es ging vermied, zu fliegen. Deswegen hatte er mir auch verboten, zu fliegen. Ich fand das eigentlich ziemlich ungerecht, warum sollte ich nicht fliegen dürfen, nur weil mein Vater Flugangst hatte? Jedes Mal, wenn ich noch einmal danach fragte, zeigte er mir eine Statistik, wo gezeigt wurde, wie viele Flugzeuge im Jahr abstürzten. Seit meine Mutter und mein kleiner Bruder Matt gestorben waren, war er übervorsichtig geworden.

Da ich mein Frühstück nicht verpassen wollte, beeilte ich mich und war in Rekordzeit unten in der Küche angekommen. Dort setzte ich mich auf einen Stuhl gegenüber vom Tresen, nahm mir einen Teller und einen von diesen unglaublich leckeren, und duftenden Pancakes. Da der Pfannkuchen alleine noch nicht süß genug war, schnappte ich mir den Puderzucker und streute davon so viel darauf, dass es aussah, wie eine zuckersüße Schneelandschaft. Meine Geschmacksnerven waren schon derartig abgestumpft, dass ich einfach von allem mehr nahm, egal ob Zucker oder Salz. Den Pancake verschlang ich gierig in einem Stück und vergaß dabei, zu kauen.

"Das Auto fährt in einer halben Stunde vor, du solltest dich langsam fertig machen", erinnerte mich mein Vater, der sich einen ganzen Haufen, dieser süßen Verlockung auf den Teller geladen hatte.

Ich brummte nur mies gelaunt, stand auf und ließ den Teller dort stehen, wo er war. Sollte doch mein Dad ihn wegräumen, ich war schließlich nicht die, die so einen Ordnungsfimmel hatte.

Erst jetzt fiel mir auf, das ich in die Falle meines Dads getappt war: die Pancakes. Er versuchte sich mit einem herrlichen Frühstück dafür zu entschuldigen, das er mich einfach nach Montana schickte, ohne mich überhaupt mit einzubeziehen. Und leider war dieser Plan aufgegangen, mein Vater war wirklich gemeingefährlich. Wenn mein Vater sich wegen etwas schuldig fühlte, setzte er alle Hebel in Bewegung und tat alles für mich. Hauptsache, er hatte kein schlechtes Gewissen mehr. Das war seine Schwachstelle, das ich hatte ich natürlich sofort erkannt, und hatte es natürlich schon oft für meine Zwecke ausgenutzt. Zum Beispiel hatten wir vor einem Jahr, im Sommer, auf die Bahamas fliegen wollen. Meinem Vater war jedoch etwas Geschäftliches dazwischengekommen, und musste den gesamten Urlaub leider absagen. Natürlich hatte er dann ein schlechtes Gewissen gehabt, da gewusst hatte, dass ich mich schon riesig auf den Urlaub mit ihm gefreut hatte. Kurz darauf hatte er mir eine ganze neue Reihe mit Schuhen und Taschen spendiert, und damit meine ich die wirklich teuren Dinger. Das war natürlich nicht das einzige Mal gewesen, schon oft hatte ich ihm das Geld aus den Taschen gezogen, wenn er mal keine Zeit hatte und etwas absagen musste.

Da das Auto bald vorfahren würde, musste ich mich noch schnell im Bad fertig machen. Dort rupfte ich meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Anschließend schminkte ich mich dezent, ich wollte schließlich nicht aussehen wie ein Waschbär.

Als ich endlich aus dem Bad kam, holte mein Vater gerade meine vier Koffer aus meinem Zimmer und stellte sie vor der Haustüre ab. Genau in diesem Moment, fuhr ein blitzblanker, schwarzer BMW bis vor unserer Türe vor und hielt schließlich an.

Ein seriös gekleideter Mann stieg aus dem Auto, er trug einen schwarzen Anzug, Jeans und ein lockeres, weißes T-Shirt. Ich schätzte ihn auf ungefähr 40 Jahre, aber nicht älter. Dad hatte mir erzählt, das dieser Chauffeur immer die neuen Schüler nach Rosewood brachte. Das war doch mal ein Service.

"Hey, ich bin Steve, der Chauffeur. Kann ich die Koffer ins Auto bringen?", fragte Steve freundlich.

"Ich bin Apryl und ja, gerne", erwiderte ich und lächelte.  

Der Mann nickte mir und meinem Dad kurz zu, und verstaute dann mein Gepäck im Kofferraum.  

Zwar war ich immer noch sauer auf meinen Vater, aber verabschieden würde ich mich trotzdem von ihm. Wir würden uns schließlich eine ganze Weile nicht mehr sehen.

Mein Dad umarmte mich, wiegte mich hin und her wie ein Kleinkind und ließ mich schließlich los. Beinahe hätte ich schon befürchtet, er würde mich gar nicht mehr loslassen. Väter eben.

"Viel Spaß, und streng dich an", meinte mein Dad noch.

Viel Spaß? Hatte er mir gerade wirklich viel Spaß gewünscht? Der lebte wohl in seiner eigenen Welt, denn in meiner, hatte Schule rein gar nichts mit Spaß zu tun. Jedoch hielt ich meine Klappe, und nickte einfach nur brav.

"Bis dann, Dad“, verabschiedete ich mich und setzte mich eilig auf den Rücksitz des BMWs.

Abschiede hasste ich generell, also versuchte ich es immer so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Es war ja nicht so, dass ich ihn nie wieder sehen würde, auch wenn ich fast bis ans andere Ende der Welt kutschiert wurde. Okay, eigentlich lag nur ein einzelner Staat  zwischen Kalifornien und Montana, aber für mich war es jedenfalls sehr weit weg.

Als wir losfuhren, winkte er, wobei er leicht auf und ab hüpfte, und dabei wirkte, wie ein aufgeregtes Kleinkind. Etwas dezenter winkte ich zurück, ich wollte es ja nicht übertreiben. Außerdem waren meine Möglichkeiten hier im Auto etwas beschränkt. Er hatte bestimmt ein schlechtes Gewissen, bei seinem weichen Herz, aber das hatte er meiner Meinung nach voll und ganz verdient.

Auf dem Rücksitz machte ich es mir bequem, stopfte mir ein Kissen unter meinen Kopf und gönnte mir ein paar Stunden Schlaf, schließlich würde das hier eine recht lange Fahrt werden.

Als ich wieder aufwachte, waren bereits einige Stunden vergangen, und wir hielten kurz an einer Raststätte, wo ich etwas aß und trank. Danach fuhren wir gleich weiter.

Da mir recht langweilig war, und ich nicht so genau wusste, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte, zückte ich mein Handy und rief meine 'beste' Freundin Lacey an, die nach dem vierten Klingeln auch endlich ran ging.

"Apryl?"

"Hey, Lacey."

"Wo zum Teufel bist du gerade? Du solltest schon längst  auf dem Weg nach Phoenix zusammen mit mir sein. Gab es Schwierigkeiten?"

"Nein, das Problem ist nur, das ich nicht nach Phoenix kommen werde, weil ich..."

"WAS? Du kommst nicht nach Phoenix? Warum?", unterbrach sie mich aufgebracht.

"Das wollte ich gerade eben sagen. Ich fahre nach Montana, auf eine andere Hochschule, sie heißt Rosewood und soll ganz gut sein."

Am anderen Ende war es ganz still geworden. Hatte sie etwa aufgelegt? Es war wirklich unheimlich still. Das war unüblich für sie, da sie sonst ununterbrochen vor sich hinschnatterte.

"Noch da?", fragte ich nach zwei Minuten.

"Rosewood?", krächzte sie schließlich und klang dabei wie eine alte Frau, die kurz vor dem Verdursten war.

"Ja, wieso?"

„Weil ich mich selbst bei dieser Hochschule beworben habe, bevor ich überhaupt an Phoenix gedacht hatte, ich wurde nur nicht angenommen. Die wissen eben einfach nicht, was gut ist."

"Oh“, meinte ich nur, was sollte ich sonst sagen? Das es mir leid tat? Das hätte nicht der Wahrheit entsprochen.

"Kann ich jetzt auflegen?", fragte Lacey schließlich genervt.

"Ähh...ja", ein wenig verwundert darüber, dass sie so schnell wieder auflegen wollte.

Und schon hörte ich nur noch das Piepen am anderen Ende, und legte mein Handy beiseite. Echt schön zu wissen, das Lacey, kaum dass sie erfuhr, dass wir uns erst einmal nicht mehr sehen würden, einfach auflegte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nach Phoenix nachzukommen, aber da ich außer Lacey dort sowieso niemanden kannte, konnte ich genauso gut auch auf Rosewood High bleiben. Mein Fluchtplan wäre wahrscheinlich sowieso in die Hose gegangen.

Nach einer weiteren, halben Ewigkeit, veränderte sich die Landschaft und wurde etwas hügeliger, die Bäume standen näher zusammen und die Blätter schillerten in herbstlichen Farben.

Vereinzelt sah man ein paar Hütten, oder meinetwegen auch Häuser. Aber so etwas wie eine Stadt, oder ein Dorf, war gar nicht mehr zu sehen.

 

Mehrere Stunden später, kam Rosewood endlich in Sicht. Es sah genauso aus wie auf dem Bild, nur das jetzt eine andere Jahreszeit herrschte.

Wir fuhren über die Zugbrücke, die es wirklich gab, durch ein großes Tor und dann in einen kleinen Innenhof. Nun fuhren wir weiter an einem großen Gebäude vorbei, bis wir zu vielen kleinen Häuschen kamen, die eng nebeneinander standen. Vermutlich waren das die Unterkünfte, wo die Schüler untergebracht wurden.

Das Auto hielt vor einem der weißen, kleinen Häuser an, Steve stieg aus und knallte die Türe zu. Er ging zu meiner Autotür und öffnete sie. Wie die Queen stieg ich aus und musterte meine neue Umgebung, es sah aus wie in einem Märchen. Man hatte hier einfach dieses Mittelalter-Feeling, das irgendwie etwas ganz besonderes war.

Steve nahm meine Koffer, schleppte sie zu dem kleinen Häuschen und stellte sie vor der Türe ab. Ich folgte ihm und sah ihn erwartungsvoll an.

Aus seiner Hosentasche zog er einen Art Generalschlüssel, öffnete die Haustüre und ging zusammen mit meinen Koffern hinein, wo er sie abstellte. Das war dann wohl mein kleines Häuschen, und wie ich schon erwartet hatte, war es bereits mit einer Mitbewohnerin besetzt.

"Hey, ich bin June, und du?", vor mir stand ein schlankes, mittelgroßes Mädchen, mit blonden, kurzen Locken.

"Ich bin Apryl", stellte ich mich ebenfalls vor und versuchte einen netten Eindruck zu erwecken, schließlich würde ich mit ihr für eine ganze Weile dieses Häuschen teilen. Diese June kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und musterte mich neugierig. Wie hatte sie sich wohl ihre zukünftige Mitbewohnerin vorgestellt?

"Komm mit, ich zeig dir alles", mit diesen Worten verschleppte sie mich auch schon in das erste Zimmer.

Eigentlich war sie mir auf Anhieb sympathisch, man konnte ihr einfach ansehen, dass sie nett war. Manchen Leuten sah man das nun mal an. Sie wurde bestimmt von den Lehrern geliebt, die liebten nämlich solche sympathischen Gesichter.

"Also, das hier ist das Wohnzimmer", sie zeigte auf den großen Raum, der gemütlich eingerichtet war.

Der Wohnbereich war mit einem Flachbildfernseher, einer großzügigen Ledercouch, einem indischen Teppich und sehr vielen Pflanzen ausgestattet. Auf dem Fenstersims standen überall Kakteen. Auf den Lautsprechern, die jeweils in den Ecken der Räume standen, waren zwei blühende, sehr außergewöhnliche Pflanzen platziert und auch sonst hatte June nicht mit Zimmerpflanzen, Blumen und Kräuterpflanzen gespart.  

Persönlich hatte ich nichts gegen Pflanzen, nur würde ich mir nicht die Arbeit machen und sie gießen. Die kleinen Häuschen die zu der Rosewood High dazugehörten, waren alle genauso groß. Dementsprechend kostete die Schule monatlich auch mehr. Trotzdem hatte ich nicht gedacht, dass unser Wohnbereich wirklich so groß war. Ich fragte mich, wie viele Schüler Rosewood besuchten.

„Weißt du, ich bin zwar auch noch nicht sehr lange hier, aber ich habe mich schon sehr gründlich informiert und weiß bereits eine Menge und…Was ich eigentlich sagen wollte war, das ich dir gerne weiterhelfen kann, wenn du etwas brauchst oder wissen willst“, bot sie mir ihre Helfe an und kaute wieder auf ihrer Unterlippe herum. Und schon zog June mich gleich weiter, in den nächsten Raum.

"Und das ist unser Zimmer, also das müssen wir uns teilen. Das ist dein Bett, und das hier ist meins", sie deutete auf die zwei Betten, die im Zimmer standen.

Eins davon war schon bezogen mit einer dunkelblauen Bettwäsche, das andere war noch leer. Das war dann wohl mein Bett.

An der Wand, über Junes Bett, waren zwei lange Bretter befestigt, die ihr als Bücherregal dienten. Die Bücher hatte sie unordentlich übereinander gestapelt und in alle möglichen Ecken gestopft, da wo eben noch Platz war. Die Regale bogen sich schon durch, dank des ganzen Gewichts der Bücher.

Sonst wirkte das Zimmer sehr freundlich, da es zwei Fenster gab, durch dass das Licht hineinflutete.

Als nächstes führte mich meine neue Mitbewohnerin mich in den letzten Raum, das Badezimmer.

"Und das ist das Badezimmer, das wir uns ebenfalls teilen werden. Ach ja, im Wohnzimmer gibt es, wenn man um die Ecke geht noch eine Küchenzeile, wo wir kochen können. Eigentlich gibt’s auch einen Art Gemeinschaftsraum, wo eine kleine Kantine ist, da geht aber jedoch niemand hin, da das Essen einfach nur grauenvoll ist. Außerdem macht das Kochen einfach total Spaß", erzählte sie mir.

"Unterricht fängt erst morgen an, also kannst du dein ganzes Zeug schon einräumen. Du musst aber heute um 17:00 Uhr zum Direktor, der erklärt dir dann noch ein bisschen was und gibt dir deinen Stundenplan."

"Ähh, okay. Dann fange ich mal an mein Zeug auszupacken."

„Ich helfe dir mit den Koffern“, meinte sie bereitwillig und lächelte mich etwas unsicher an.

Zusammen mit June gingen wir wieder zurück zum Eingang, wo noch meine Koffer standen. Jeder nahm zwei Koffer, die wir im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank abstellten. Der Kleiderschrank war weiß, schlicht und fast unsichtbar da er in die Wand versenkt worden war.

„Was hast du denn da alles drinnen? Steine? Wozu brauchst du überhaupt vier Koffer?“, fragte meine neue Mitbewohnerin mich verständnislos.

„Ich möchte nur gegen alles gewappnet sein.“

Ich öffnete die Schranktüre und stellte meine Koffer darin ab. Fertig. So schnell ging das Auspacken bei mir. Aus meinem Koffer kramte ich ein paar Bücher heraus, die ich in das Bücherregal über meinem Bett abstellte. Im Prinzip las ich nur Schnulzen und Science Fiction, am liebsten die richtig alten Wälzer. Abgegriffen und verstaubt, so mochte ich sie am liebsten. Das ich wirklich in meiner Freizeit Bücher las, und nicht nur den üblichen Twilight-Kitsch, passte eigentlich überhaupt nicht zu mir. Übrigens habe ich nichts gegen Twilight, die Handlung und Romanze darin ist nur recht eintönig, genau wie die schauspielerischen Leistungen.

Als Nächstes holte ich mein Bettzeug heraus und machte mein Bett. Weißer Flanell. Kuschlig, weich und warm. Vielleicht sollte ich mal für Bettwäsche Werbung machen? Möglicherweise waren das meine verborgenen Talente: Werbung machen.

Danach war ich meiner Meinung nach fertig. Ich warf einen Blick auf die Uhr, 16.40 Uhr.

"Okay. Ich werde mich jetzt auf die Socken machen. Wo ist gleich noch mal das Direktorat?", fragte ich June, die extrem konzentriert an einen unbestimmten Punkt der Wand starrte. Träumte sie etwa?

"Hm? Ach so, also das ist im Schulgebäude. Wenn du rein gehst dann gleich rechts. Du kannst es eigentlich gar nicht verfehlen", meinte sie und kaute wieder auf ihrer Unterlippe herum.

Also schnappte ich mir schnell meine Weste und ging hinaus, in die frische Herbstluft und steuerte auf das Schulgebäude zu.

Keine Minuten später war ich drinnen und klopfte an die Tür, an der ein großes Schild mit der Aufschrift „Direktorat“ hing. June hatte also recht gehabt, man konnte es eigentlich gar nicht verfehlen.

"Komm ruhig rein, Apryl", ertönte eine freundliche Stimme auf der anderen Seite der Türe. Ich fragte mich gar nicht erst, woher er wusste, dass ich vor der Tür gestanden hatte.

Die Tür öffnete sich quietschend und ich trat ein. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet, aber vielleicht einen Tick zu altmodisch für meinen Geschmack.

"Setz dich doch", meinte der Direktor freundlich und ich kam seiner Bitte nur allzu gerne nach.

"Ich bin Direktor Roan", stellte er sich vor.

Es brachte wohl nur wenig Sinn, wenn ich mich auch vorstellen würde, oder? Anscheinend wusste er ja schon ganz genau, mit wem oder was er es hier zu tun bekam.

"Dir ist vielleicht manchmal schon etwas Ungewöhnliches an dir aufgefallen, oder? Du bist einfach 'anders' als die anderen. Doch das ist nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Du bist etwas Besonderes. Hier auf dieser Schule sind alle so wie du, wenn auch auf eine andere Art und Weise."

"Ahha. Und was genau sollte ich mir darunter vorstellen?", fragte ich ein wenig schnippisch.

"Jeder hier hat eine Fähigkeit, etwas Besonderes eben. Ein bisschen so wie bei X-Men vielleicht."

Ich lachte humorlos und ungläubig. X-Men? Der hatte ja eine ganz tolle Art zu erklären was er mit „außergewöhnlich“ und „besonders“ meinte.

"Schon gut. Wo sind die Kameras?", fragte ich und sah mich suchend um.

Das der Direktor noch nicht grinste oder auch lachte, ließ mich irgendwie ein wenig zweifeln. Es stimmte, ich war schon immer anders gewesen. Aber so anders? Das lag irgendwie außerhalb meiner Vorstellungskraft. Vor etwa zwei Jahren im Chemieunterricht war mir ein Becherglas in der Hand zersprungen, nachdem Sarah mich wieder gepiesackt hatte. Jeder hatte gedacht, dass das Becherglas mir heruntergefallen war. Ich jedoch hatte ganz genau gewusst, dass ich in irgendeiner Weise die Ursache gewesen war. In meinem Inneren hatte es angefangen zu brodeln, wie ein kleiner Vulkan der kurz davor war auszubrechen. Eine Kamera hatte ich übrigens immer noch nicht entdeckt.

"Nehmen wir mal an, dass das stimmt. Was für eine Fähigkeit soll ich dann haben? Gedanken lesen oder so etwas in der Art?"

"Du musst wissen, dass jede Begabung etwas Besonderes ist. Die Gabe Gedanken zu lesen gab es schon. Mir fällt sein Name nicht ein, aber ich bin mir sicher dass er ein berühmter Physiker seiner Zeit war", überlegte er.

"Welche Fähigkeit haben denn Sie?", fragte ich.

"Meine Begabung ist die Anpassungsfähigkeit.", meinte er, was mich gleich erneut ins Grübeln brachte. Anpassungsfähigkeit? Etwa so wie ein Chamäleon?

"Können Sie mir das beweisen?", fragte ich frech, aber schließlich wollte ich hier auch ein paar handfeste Beweise haben.

Der Direktor nickte verständnisvoll und ging zu seinem Aquarium, das in der Ecke des Raumes stand. Nur zwei dicke Goldfische schwammen darin ihre Runden. Er steckte seinen Kopf einfach in das Wasser und anstatt von Ohren wuchsen ihm Kiemen an den Seiten. Kleine, schillernde Schuppen erschienen auf seiner Haut. Die Kiemen öffneten und schlossen sich. Er konnte tatsächlich unter Wasser atmen?

Fasziniert beobachtete ich ihn, wie er sich wirklich anpasste,

Als er seinen Kopf wieder aus dem Aquarium zog, verschwanden die Kiemen und Schuppen augenblicklich. Er griff sich ein Handtuch, das er sich über seinen Schreibtischstuhl gelegt hatte, und trocknete sich damit die Haare ab.

Erst langsam realisierte ich, was da überhaupt gerade geschehen war. Eingebildet hatte ich mir das nicht, der Direktor hatte schließlich gewusst dass das passieren würde. War das vielleicht ein schlechter Scherz? Vielleicht war das auch ein Teil der Sendung von „Verstehen Sie Spaß?“. Der Schulleiter setzte sich wieder seelenruhig auf seinen Sessel und sah mich nun abwartend an. Wieso hatte ich das Gefühl, dass er das schon hundert anderen armen Seelen erzählt hatte? Und was wäre, wenn er Recht hatte? War dann die ganze Schule vollgestopft mit Jugendlichen, die Superkräfte hatten? Dann wäre June auch eine von ihnen. Für solche Sachen war ich eigentlich sehr offen. Ich war schon immer etwas abergläubisch gewesen, hatte Angst vor Freitag dem dreizehnten und glaubte an den Teufel und die Hölle. Warum sollte es dann nicht auch Freaks mit Fähigkeiten geben?

"Würden Sie denn dann wissen welche Fähigkeit ich habe?", fragte ich vorsichtig.

Ehrlich gesagt hatte ich wirklich geglaubt, das er jeden Moment in schallendes Gelächter ausbrechen und mit dem Finger auf mich zeigen würde.

"Nein, leider nicht. Das musst du selber herausfinden“, erklärte er mir völlig ernst.

Als nächstes kramte er aus seinen unzähligen Mappen ein Blatt Papier hervor. Das bedruckte Papier war fein säuberlich in eine Klarsichtfolie gesteckt worden, das er mir nun überreichte.

"Das ist dein Stundenplan. June hat einen fast Identischen, sie wird dir sicher etwas weiterhelfen können.“

"Danke“, meinte ich und nahm meinen Stundenplan entgegen.

„Du weißt ja wo die Türe ist, Apryl“, verabschiedete er sich.

Das war dann wohl der Wink mit dem Zaunpfahl. Noch deutlicher ging es wohl nicht. Es wunderte mich außerdem, dass er meinen und Junes Namen auswendig wusste. Kannte er etwas jeden Schüler an seiner Schule? Wohl kaum. 

 

(….Stundeplan – eine Grafik…)

 

Endlich war ich wieder draußen. Die Luft im Direktorat war ziemlich stickig gewesen, was ich jedoch erst jetzt bemerkte.

Eine sanfte Windbrise strich durch meine Haare und ich lächelte leicht. Irgendwie gefiel es mir hier, obwohl ich nicht genau sagen konnte, was mir genau gefiel. Es war wirklich unglaublich gewesen, was ich da drinnen gesehen hatte!

Die Schülertrakte kamen in Sicht, die Einheit von June und mir war zentral, man kam überall leicht hin. Zum Schulgebäude und zu den anderen Trakten.

Da Rosewood auf einem Berg gebaut war, hatte man einen herrlichen Ausblick, obwohl alles von großen Mauern umgeben war.

Von außen wirkte Rosewood fast wie eine Festung, wie eine uneinnehmbare Festung, was einem das Gefühl von Sicherheit gab.

Es war Ende Sommer, Anfang Herbst. Von den Bäumen fielen schon die ersten Blätter und die überhaupt ganze Landschaft nahm schon herbstliche, warme Farben an.

Mittlerweile war ich schon an unserem kleinen Häuschen angelangt. Ich kramte den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche und sperrte die Türe auf.

Hinter mir, schloss ich die Türe wieder und wechselte meine Schuhe.

Als ich in unserem Zimmer war, sah ich, dass June immer noch ihr Buch las. Nur eine Minute später schlug sie das Buch zu und seufzte.

"Mir ist gerade eingefallen, das ich dir eigentlich die ganze Schule zeigen sollte. Aber das machen wir dann einfach morgen, ja?", schlug sie vor und sah mich entschuldigend an.

"Hm“, machte ich. „Kennst du deine Fähigkeit schon?“, fragte ich sie neugierig.

Junes Augen leuchteten auf und sie grinste vielsagend.

"Empathie. Ich weiß was andere Leute fühlen und ich kann sie beeinflussen. Also das heißt nur bis zu einem bestimmten Grad. John, unser Lehrer, hat mir erzählt, dass man seine Fähigkeit im Laufe der Jahre und mit viel Übung immer mehr steigern kann“, erzählte sie mir begeistert.

"Du weißt also was ich fühle? Gerade in diesem Moment?", fragte ich sie ungläubig.

June nickte eifrig.  

" Na gut, und was empfinde ich im Moment?"

"Naja...“, zögernd sah sie mich an. „Du bist ein wenig unsicher und aufgebracht. Außerdem nimmst du es überhaupt nicht ernst.“

So genau hatte ich es gar nicht wissen wollen!

"Das könnte mir auch mein Vater erzählen, oder jeder andere Mensch der sich nur halbwegs in mich hineinversetzen könnte.“

June zuckte gleichgültig mit den Schultern.

"Im Gemeinschaftsraum gibt es bald Essen. Kohlsuppe.“

Angewidert verzog sie das Gesicht. Gut, sie hatte also nicht vor diesen Vitaminbrei wirklich zu essen, ich auch nicht.

"Wir können uns hier auch einfach ein Brot machen, wenn das für dich okay ist?", schlug sie vor.

"Alles, nur nicht Kohlsuppe", murmelte ich.

Daraufhin kicherte June und sah das wohl als ein 'Ja' an.

Also beschmierten wir unsere Brote mit Frischkäse, holten Chips und verbrachten dann den restlichen Abend auf der Couch, wo wir uns einen Horrorfilm ansahen. Natürlich saßen wir nicht nur vor der Glotze, sondern unterhielten uns auch ein wenig. Sie erzählte mir ein wenig über sich, seit wann sie auf der Schule war und welche Weise sie erfahren hatte, dass sie „anders“ war. 

»Kapitel 3

 

 

 

Piep, piep, piep, piep, piep…

"Wo ist dieser gottverdammte Wecker?", knurrte ich im Halbschlaf.

Ruhe, endlich. June hatte den Wecker ausgestellt. Warum begannen meine Morgen nur immer mit dem schrillen Klingeln eines Weckers?

"Scheiße! Es ist schon fast halb acht!", rief sie erschrocken und sprang förmlich aus ihrem Bett.

Jetzt kam auch mein fauler Hintern in Bewegung, ich schlug die Bettdecke zurück und zog meine pinken Plüschpantoffeln an.

Ich schlurfte ins Bad und sah in den Spiegel. Man konnte mich durchaus als Vogelscheuche bezeichnen, meine Haare waren total verknotet und ich hatte dunkle Augenringe.

Die Augenringe hatte ich den Horrorfilmen gestern Abend - oder eher gesagt heute in der Früh - zu verdanken.

Mit meiner Bürste kämpfte ich mich durch meine Haare und hatte sie nach gefühlten Stunden entknotet. Etwas geschockt betrachtete ich meine Bürste. Ich haarte wie ein Hund, oder irgendein anderes Viech.

Ich klatschte mir noch ein bisschen Puder ins Gesicht, eher gesagt auf die Augenringe und verwischte die Ränder mit dem Zeigefinger.

Meine Haare band ich zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und eilte zurück in mein Zimmer, zum Kleiderschrank

Die Kleiderschranktür wurde aufgerissen und ich suchte mir ein passendes Outfit heraus. Wenn mir langweilig war, legte ich meine Klamotten schon so zusammen, das ich sie in der Früh einfach nur noch anziehen und nicht mehr lange überlegen musste. Da ich mich nun auch schon etwas länger kannte, wusste ich, dass ich immer etwas zu spät aufstand.

An der Wohnungstüre wartete June schon ungeduldig auf mich und musterte mein Outfit prüfend.

"Sehr schick, aber beeil dich mal", meinte sie und warf alle paar Sekunden einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Schnell angelte ich mir noch meine gesteppte, rote Jacke vom Kleiderhacken und ging dann mit June zur Schule, wenn man es überhaupt als solche bezeichnen konnte.

Als wir endlich vor dem Klassenzimmer standen, grinste mich June verschwörerisch an und öffnete die Tür des besagten Raums.

Niemand unterbrach seine Gespräche mit seinem Nachbarn als wir herein kamen und uns einen Platz suchten und nur ein paar wenige schauten auf. Alles klar, ich hatte ehrlich gesagt auch keine Willkommensreden erwartet.

June zog mich in die letzte Reihe an einen leeren Platz und ließ sich dann wie ein Kartoffelsack auf ihren Stuhl fallen. Ich ließ mich auf dem leeren Platz neben June nieder, nur etwas eleganter und geräuschloser.

Die Türe wurde erneut aufgerissen und ein Lehrer spazierte herein. Er sah aus wie ein begossener Pudel, da seine dunklen Haare, die von einigen weißen Strähnen durchzogen wurden, an seiner Stirn klebten. Die große Hornbrille verlieh ihm das klischeehafte Lehreraussehen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn für einen Mathelehrer halten.

"Der sieht immer so aus", raunte mir meine Mitbewohnerin ins Ohr.

Gerade wollte ich etwas sagen, da rief der Lehrer schon ein unmotiviertes 'Guten Morgen' in die Klasse und wartete gar nicht darauf, dass die Klasse ihm ein ebenso freundliches ‚Guten Morgen‘ zurückrief.

"Für alle, die mich noch nicht kennen, ich bin Mr.Hops", stellte er sich vor und rückte seine Brille etwas zurecht.

Laut meinem Stundenplan musste das mein neuer Spanischlehrer sein. Die Begeisterung war wie immer ganz auf meiner Seite.

Den Unterricht verfolgte ich nur mit einem Ohr, das andere wurde schon von June zugetextet.

Sie nannte mir die Namen meiner Mitschüler, wer doof und wer besonders doof war, welche Typen auf der Schule heiß waren und welche nicht. Das ganze übliche Programm eben.

Irgendwie beruhigte mich die Tatsache, dass es hier genauso Tussen, Zicken und Arschlöcher gab wie auf jeder anderen Schule auch.

Das gab einem den Halt an der Realität und eine gewisse Normalität war auch ab und zu ganz schön.

Als die Stunde vorbei war, ertönte ein lauter Gong, der sich ein wenig so anhörte, als würde gerade irgendjemand ein paar Gongschalen herunterwerfen. Einfach ein wenig unkoordiniert.

June redete nach wie vor ohne Punkt und Komma weiter. Als wir den Gang betraten, mussten wir uns erst einmal durch das Getümmel der Schüler kämpfen, die langsam zu ihrem nächsten Kurs schlenderten.

Ich beamte mich geistlich ganz weit weg und fragte mich, ob wirklich jeder Schüler hier eine besondere Fähigkeit hatte, eine Mutation. Ich verglich das gerne mit X-Men, da hatten sie doch auch besondere Fähigkeiten, konnten Gedanken lesen und Sachen durch Gedankenkraft durch den Raum teleportieren.

Eigentlich unterschied uns doch gar nichts von diesen Mutanten, außer vielleicht die Tatsache, dass es ein Film war und die Meisten von denen Ausreißer waren. Jedoch fehlte mir Hugh Jackman, vielleicht war er ja auch einer von uns ‚Besonderen‘?

Immer noch völlig in Gedanken versunken rannte ich geradewegs in jemanden hinein. Als ich den Kopf hob, sah ich in ein smaragdgrünes Augenpaar, das mich etwas abschätzend musterte. Seine unfassbar grünen Augen zogen mich in seinen Bann und ich war nur noch imstande zu glotzen.  

Er hatte schwarze, verwuschelte Haare, wunderschöne Augen und unter seinem Shirt konnte ich einen tollen Oberkörper erahnen. Mmmmhhhhhhhhh...

"Wie sagt man da?", fragte er mich auf so eine unausstehliche, arrogante Art.

Diese vier einfachen Worte rissen mich aus meinen Träumereien und ich landete in der knallharten Realität. Wie bitte? Hatte ich mich gerade verhört? Verlangte dieser eingebildete, arrogante Schnösel wirklich gerade dass ich mich bei ihm entschuldigte.

Anscheinend hatte der Typ ernsthaft auf eine Antwort gehofft, denn er runzelte kurz die Stirn und sah mich nun abwartend an. Dann ging er einfach wortlos weiter.

"Arschloch", murmelte ich noch am Vorbeigehen.

Obwohl ich mir eigentlich ziemlich sicher gewesen war, dass er mich nicht mehr gehört hatte, wirbelte er herum.

"Was hast du gerade gesagt?", zischte er leise und wütend.

"Du hast schon richtig gehört, Arschloch", ich funkelte ihn meinerseits auch wütend an.

Kurz starrten wir uns beide zornig an, ehe ich kehrt machte und June mit mir zog. Sobald wir außer Sicht- und Hörweite waren, blieb June stehen und starrte mich entgeistert an.  

"Spinnst du? Das war Damien van de Camp, der mit Abstand heißeste Typ der ganzen Schule, ausgeschlossen sein Bruder und -"

"Der hat einen Bruder?“

"Ja...der ist genauso heiß wie Damien. Ich würde sagen, dass das eine Geschmacksfrage ist", meinte June und war mit ihren Gedanken wahrscheinlich schon ganz wo anders.

"Wohl eher eine Geschmacksverirrung. Da hat sein Ego echt mal dringend eine Abreibung nötig, so wie der drauf ist. Wahrscheinlich erwartet er von jedem weiblichem Wesen, das es ihn anhimmelt und -"

"Es ist immerhin Damien. Ich meine...es ist Damien!"

Ein paar Leute drehten sich zu uns um und grinsten wissend, ehe sie wieder weitergingen.

"June, ich glaub wir müssen in den Unterricht zurück", meinte ich, da der Gang sich nun immer schneller leerte.

"So ein Mist, als nächstes haben wir Fähigkeiten. Komm jetzt!", meinte June plötzlich ungeduldig zu mir und tat ja gerade so, als würde ich sie die ganze Zeit zutexten.

Wir gingen im Eiltempo zu dem besagten Unterrichtsfach. Erleichtert stellte ich fest, dass der Lehrer noch nicht da war. Wir befanden uns in einer Turnhalle, oder etwas in der Art.

Die gesamte Turnhalle bestand aus Metall, abgesehen vom Fußboden und den Fenstern, und Sicherheitsvorkehrungen die herumstanden. Erste Hilfe Koffer waren alle zwei Meter an einer Wand angebracht, unnormal viele Feuerlöscher standen herum und einfach alles war brandsicher, außer wir. Auf mich wirkte das nicht unbedingt sehr Vertrauenerweckend.

June und ich hatten unsere Taschen, genau wie der Rest der Klasse, in die Ecke gepfeffert, so dass sie jetzt unordentlich auf einem Haufen lagen.

Ehrlich gesagt war ich aufgeregt, ich sollte schließlich meine Fähigkeit zum ersten Mal benutzen. Wer weiß, vielleicht konnte ich Elektroschocks verteilen oder irgendetwas in Brand setzen, vielleicht konnte ich auch Gedanken lesen...oder noch besser: manipulieren? Also das wäre schon ein Ding, wenn ich mir vorstellte, was ich damit alles anstellen könnte.

Die Türen gingen auf und unser Lehrer für Fähigkeiten spazierte hinein. Er hatte also doch noch vor, sich am Unterricht zu beteiligen. Der besagte Lehrer hatte kurze, abstehende, hellbraune Haare und dazu eine Nerdbrille. Er war etwas legerer gekleidet als Mr.Hops und sah auch um einiges jünger aus. Keine engen Cordhosen, keine grauen oder schwarzen Anzüge oder dergleichen. Einfach nur völlig normal. Eigentlich sah er recht gut aus, aber so ganz meinen Geschmack traf er auch nicht ganz, abgesehen davon war er überhaupt nicht mein Typ.

"Ich bin John ", stellte er sich vor und lächelte freundlich.

"Da wir ja doch einige Neue haben, werden wir heute den Schwerpunkt darauf legen, eure Fähigkeiten heraus zu finden. Die anderen, die schon wissen, was sie alles drauf haben, können sich derweil einen Partner suchen und abwechselnd ihre Fähigkeit bei ihm ausprobieren. Bitte diesmal keine Toten", meinte er scherzend und man vernahm auch hier und da den ein oder anderen Lacher.

"Damien wird mich heute bei den Neuen unterstützen", fügte John noch hinzu, was bei der weiblichen Hälfte der Klasse recht gut ankam.

Jetzt wurde mir erst klar, wer diese Gestalt hinter John war, die ich davor irgendwie übersehen hatte. Wie konnte man ihn überhaupt übersehen, ich meine, er sah echt verboten gut aus. Und dessen war er sich wohl auch vollkommen bewusst, denn er lächelte süffisant, als er in die Gesichter der Mädchen blickte, die alle schon wieder hin und weg von ihm waren. Damien sah sich die einzelnen Gesichter an und betrachtete sie alle so, als würde er gerade seinen Fanclub betrachten. Schließlich kam er bei mir an.

Er schaute mich mit seinen smaragdgrünen Augen direkt an und ich erwiderte seinen Blick stur. Der Typ verengte seine wunderschönen Augen zu Schlitzen und wandte sich dann wieder John zu. Dieser klatschte begeistert in die Hände.

"Die Neuen kommen einfach erst mal zu mir und Damien", rief John und lächelte wieder.

Mir fiel auf, dass John recht häufig lächelte. Er erschlug mich ja fast mit seiner positiven Art, das war ja echt fürchterlich. Wie konnte jemand die ganze Zeit so gut gelaunt sein? Und dann noch ein Lehrer.

Ich schaute mich kurz nach June um, aber die hatte sich längst an einen Typen rangemacht und schmachtete ihn eher an, als das sie mit ihm übte.

Ein leiser, ergebener Seufzer entfuhr mir, dann ging ich auf John und Damien zu. Außer mir waren noch vier andere Neulinge anwesend, die auch schon recht neugierig aussahen.

"Du und du kommen mit mir, und du und du kommen mit Damien mit", meinte mein Lehrer und deutete jeweils auf zwei Mädchen.

Natürlich musste ich zu Damien, das war so klar gewesen. Ich war mir sicher, dass sich hier eine höhere Macht ans Werk machte.

Während die anderen zwei mit John gingen, blieb ich wo ich war, bei Damien.

Das Mädchen, das mit mir bei Damien bleiben sollte, hatte hellbraune, langweilige Haare, eine fette Zahnspange und zwei Glasbausteine auf der Nase. War ja nicht so, dass ich oberflächlich war, nein, ich ganz bestimmt nicht. Aber das neben mir, war definitiv ein klassischer Vollstreber. Sie starrte Damien an und seufzte laut, so als gäbe es nur sie in diesem Raum. Meine Mundwinkel zuckten verdächtig nach oben, als Damien entnervt die Augen verdrehte.

"Also ihr wisst beide nicht, was für eine Fähigkeit ihr habt? Gut, dann fangen wir gleich mal an. Eure Fähigkeiten könnt ihr mit starken Gefühlen kontrollieren. Also mit Hass, Neid, Eifersucht und -"

"- und Liebe?", fragte das Mädchen neben mir strahlend, dabei sah sie aus wie eine Fünfjährige die gerade einen riesigen Lutscher anstarrte und ihn gleich auffressen will

Ich würde es wirklich verstehen, wenn Damien es jetzt mit der Angst zu tun bekäme, da dieses Mädchen wirklich eine Nummer für sich war.

"Ja, oder Liebe", Damien räusperte sich und sprach weiter.

"Am besten funktioniert das jedoch mit Provokation, und so werden wir jetzt eure Fähigkeiten ein wenig hervorlocken", erklärte er zu Ende.

Er konnte wirklich gut Sachen erklären, wirklich gut...sehr gut und - Stopp! Meine Gedanken gingen schon wieder in die völlig falsche Richtung.

"Willst du uns jetzt provozieren, oder was?", fragte ich neugierig.

"Ganz genau", meinte er und betrachtete desinteressiert seine Fingernägel.

"Dazu haben wir eine Art Maschine entwickelt, die die Nerven so weit reizt, bis der Kern deiner Fähigkeit sichtbar wird. Das kommt dann auch drauf an, ob du eine mentale Fähigkeit hast, die nur du dann weißt. Oder irgendetwas anderes, das auf dein Umfeld eine Auswirkung haben könnte. Kommt jetzt", meinte er etwas ungeduldig.

Also ging ich auf die kleine metallene Türe zu, in der sich dann wohl der Raum befand. Jemand tippte mir auf die Schulter und ich wirbelte herum, sodass meine Haare durch die Luft flogen. Ja, ich machte das natürlich extra, schließlich wollte ich wie eins der Mädchen in der Shampoo Werbung aussehen, die auch die ganze Zeit ihre Haare durch die Gegend warfen.

"Was?", fragte ich genervt.

Ich musste den Kopf in den Nacken legen, als ich zu Damien hoch sah. Er war bestimmt einen ganzen Kopf größer als ich, obwohl ich eigentlich schon ziemlich groß war. Ich war stolze 1,79 groß und überragte damit die meisten Mädchen, und auch einige Jungs, aus meinem Jahrgang.

"Du läufst in die falsche Richtung, Schätzchen", meinte er und lächelte genießerisch.

Sein Lächeln regte mich auf eine Art und Weise tierisch auf. Ohne ein weiteres Wort, drehte ich mich um und ging der Streberin nach, die auf eine andere Tür zuging, die ebenfalls aus Metall war.

Mr.-Ich-bin-so-toll-kniet-alle-nieder überholte uns und öffnete ganz Gentlemen-Like die Türe.

"Hm. Wer will zuerst? Du vielleicht, Apryl?"

Anscheinend beantwortete er seine Fragen immer gleich selbst, eine schlimme Angewohnheit. Als wir den Raum betraten, kam mir ein Geruch von abgestandenem Schweiß entgegen und ich verzog angewidert das Gesicht. Na toll, hoffentlich hat hier nicht schon jemand seine Blase entleert, vor Angst.

Der Raum war komplett leer, außer ein paar Geräten und der großen Liege, die sehr unbequem zu sein schien.

Damien bedeutete mir, dass ich mich auf diese Liege legen sollte, die wirklich aussah, als hätte sie jemand aus dem Krankenhaus mitgehen lassen.  

Zögernd legte ich mich auf diese Liege und starrte automatisch nach oben an die makellos weiße Decke. Neben mir befand sich ein seltsames Gerät, das total verkabelt mit anderen, kleineren Geräten war. Langsam bewegte sich dieses Gerät auf mein Gesicht zu, bis es schließlich ganz dicht vor meiner Nase anhielt.

Damien zog das metallene Ding vor meinem Gesicht noch ein kleines Stück herunter und setzte es mir dann wie eine Art Brille auf. Es hatte sogar solche Brillenbügel und ich wurde quasi gezwungen, hindurch zu schauen.

Danach schnallte er meine Arme und Beine mit Ledergurten fest und testete sie noch einmal extra, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich eng genug saßen.  

"Wie lange dauert das denn üblicherweise?", fragte ich ihn.

Dieses Gerät hatte mich doch ein wenig eingeschüchtert. Vor allem aber bereitete es mir Sorgen, das ich angeschnallt wurde wie ein Sträfling. Bewegen konnte ich mich auch nicht mehr, das hatte ich bereits versucht.

"Kommt drauf an", murmelte Damien.

„Und worauf?“

„Das wirst du schon sehen.“

Damien ging zu der Türe und verriegelte sie, sodass es nun stockdunkel wurde. Fenster oder Lampen hatte dieser Raum nicht und es wurde jede Sekunde nur noch unheimlicher.

Die Streberin, deren Namen ich immer noch nicht wusste, quietschte wie ein Meerschweinchen auf, das in die Enge getrieben wurde. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie sich immer noch im Raum befand. Was machte sie hier noch? Das war kein Kino.

"Okay, jetzt geht's los“, mit diesen Worten betätigte er einen Schalter, der leise klickte und dann ging’s auch wirklich los.

Zuerst hörte ich ein leises, nerviges Surren in meinen Ohren. Vor meinen Augen flogen Bilder an mir vorbei. Es waren tausende Bilder, und sie flogen so schnell vor meinem inneren Auge vorbei, dass ich sie gar nicht aufnehmen konnte. Sie waren bunt, mal wieder etwas düstere, manchmal konnte ich sogar ganze Bruchstücke von Erinnerungen sehen, die abgespielt wurden wie ein Video.

Das Surren in meinen Ohren wurde immer lauter und nahm ein wirklich nervtötendes Geräusch an. Es kam mir vor wie ein ganzer Mückenschwarm, der neben meinen Ohren seine Runden drehte. Am liebsten würde ich meine Hände nehmen, und um meinen Kopf herum fuchteln, um eines dieser imaginären Viecher zu erwischen.

Aber nicht einmal ein Herumfuchteln, um imaginäre Mücken zu vertreiben, war mir vergönnt. Damien hatte mich ja an dieser Liege fest gekettet.

Das Summen in meinen Ohren wurde langsam mehr als ein Nerven, irgendetwas in mir machte mich rasend wütend. Der Ton wurde immer höher und lauter und schwoll stetig an. Vor meinen inneren Augen flogen die ganzen Bilder noch schneller und wirrer durch die Gegend. Ein heftiger Windstoß fegte durch den Raum und meine Haare wurden durch die Luft gewirbelt.

Mit Armen und Beinen versuchte ich mich los zu machen, denn jetzt wurde es mir eindeutig zu viel. Genau ab dem Punkt, an dem ich glaubte in meinem Kopf würde gleich irgendetwas zerspringen, hörte es schlagartig auf.

Die Bilder waren verschwunden, das Summen in meinen Ohren hatte aufgehört. Um mich herum verspürte ich einen halben Tornado. Alles, was keinen festen Platz hatte, wurde umhergewirbelt. Auf meiner Liege, immer noch angeschnallt, hatte ich jedoch einen sicheren Halt.

Langsam ebbte meine Wut ab, und genauso schnell wie dieser kleine Tornado gekommen war, verschwand er auch wieder. 

»Kapitel 4

 

 

 

Es kam mir vor, als wäre ich kilometerweit entfernt und würde alles durch Watte hören. Ich hörte noch wie jemand die Türen aufriss und hereingetrampelt kam, dann wurden die Ledergurte gelöst. Alles um mich herum wurde schwarz. Eine angenehme Stille breitete sich aus, und ich glitt in das Reich der Träume. Ich merkte, wie mich jemand in die Arme nahm und irgendwo hin trug. Wie lange gingen wir? Stunden, Tage oder Wochen? Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren. Jeder Schritt fühlte sich so an, als würde ein Elefant auf mir herum trampeln. Nicht gerade angenehm.

Irgendwann wurde ich vorsichtig auf eine Liege gelegt, so behutsam, als hätte man Angst, ich würde zerbrechen wie eine Porzellanpuppe. Es roch nach Krankenhaus, dieser sterile, mit Desinfektionsspray geschwängerte Geruch, der einem ewig in der Nase hängen bleibt.

 

Als ich wieder langsam zu mir kam, hörte ich wie aus der Ferne Stimmen, die leise über irgendetwas diskutierten. Warte! Wo war ich noch mal? Ach ja, in diesem Krankenhauszimmer, oder so etwas in der Art. Mühsam ordnete ich meine Gedanken. Was war noch einmal geschehen? Ich bin ohnmächtig geworden, wegen...einem dröhnenden Summen und diesen ganzen Bildern und Erinnerungen. Ich versuchte das Gröbste, was ich noch wusste zusammen zu kratzen, aber das bereitete mir nur Kopfschmerzen.  

Noch immer diskutierten drei oder vier Personen angeregt über ein mir unbekanntes Thema. Ich war mir sicher, das eine der Stimmen June gehörte, die anderen Stimmen kannte ich noch nicht.

Vorsichtig blinzelnd schlug ich meine Augen auf, und schloss sie jedoch gleich wieder, als mir das grelle Licht entgegen kam. Nach einigen Minuten hatte ich mich an das Licht gewöhnt und öffnete die Augen nun ganz. Ich konnte einzelne Schemen erkennen. Irgendwer murmelte 'Sie wacht auf' und ein oder zwei Personen verließen den Raum.

Meine Sicht schärfte sich endlich und ich konnte meine Umgebung besser sehen. Links von mir saß June, und tätschelte besorgt meine Hand. Rechts stand ein Engel. Nein, so etwas gab es ja nicht, oder? Konnte June ihn auch sehen? June warf kurz einen Blick auf den Engel und wandte sich dann wieder mir zu. Sie sah mich an, als wüsste sie nicht, ob ich vielleicht Halluzinationen hatte, oder langsam verrückt wurde.

Da June ihn auch sehen konnte, stand da wohl einfach nur ein unglaublich heißer Typ. Er hatte Kinnlange, goldblonde Haare die aussahen wie flüssiges Gold. Dazu noch seine ozeanblauen Augen, die von dunklen Wimpern umrahmt waren. Wo verdammt noch mal waren die Flügel? Ach ja, er war ja gar kein Engel. Der engelsgleiche Typ sah mich fragend an und hob eine Augenbraue, worauf ich automatisch rot anlief.

Oh Mann! Ich hatte ihn die ganze Zeit über angeglotzt, als wäre er eine Erscheinung in Form eines Engels und das nicht gerade unauffällig. 

"Ich bin Lucian, der Vertrauensschüler hier an der Schule", stellte er sich vor und lächelte mich an, wie ein Halbgott.

Man sah ihm an, dass er sich dessen voll und ganz bewusst war. Er hatte auch diese gewisse Arroganz an sich, genau wie Damien. Nur bei Lucian hatte das irgendwie mehr Stil, er war auf eine elegantere Weise arrogant.  

"Hast du einen Bruder?", fragte ich gerade heraus.

Meine Stimme hörte sich an, wie die eines Toten. So, als hätte mir jemand ganz viel Laub in den Mund gestopft, sodass ich daran erstickte.

Bei der Erwähnung seines Bruders, verdüsterte sich der Gesichtsausdruck von Lucian und er nickte nur. Da er nichts sagte, ging ich nicht weiter darauf ein, es ging mich ja schließlich auch nichts an.

"Was ist eigentlich passiert? Ich weiß nur noch, wie sämtliche Geräte durch die Luft geflogen sind“, meinte ich und dachte dabei an den kleinen Tornado, der durch das Zimmer gefegt war.

"Das war nicht die Maschine, Süße. Das warst du", erklärte mir Lucian.

Das 'Süße' überging ich mal eben, auf Streitereien hatte gerade wirklich keine Lust, und vor allem keine Energie. Sollte ich jetzt Schadenersatz betreiben, oder was wollte er jetzt genau damit sagen? Ich war schließlich nicht Bruce Allmächtig, oder? Vielleicht gehörten die Tornados zu meinen Fähigkeiten?

"Wir glauben, dass deine Fähigkeit das Element Luft ist. Jedes Jahrtausend werden genau vier von uns mit Elementen geboren. Das ist eigentlich ziemlich ungewöhnlich, da jede Fähigkeit von uns einmalig ist. Die Fähigkeiten der anderen werden manchmal wiederholt im Laufe der Jahrtausende, aber es ist nie exakt das Gleiche, sondern vielmehr eine Facette davon. Die Elemente jedoch werden mehr oder wenig regelmäßig wiederholt und diejenigen, die diese Fähigkeiten besitzen, vollbringen meistens irgendwelche Wunder. Caesar war auch einer von uns Begabten. Er beherrschte das Element Erde, das wurde in Stein gemeißelt und auf Papier, oder Pergament, geschrieben. Die Menschen haben es meistens nur falsch übersetzt, oder dachten, dass es eine Art Metapher für etwas war. In unserem Besitz befinden sich natürlich noch weitere Aufzeichnungen, die für die Menschen unbekannt sind. Um wieder auf deine Fähigkeit zurückzukommen, es ist extrem ungewöhnlich, dass jetzt, in diesem Jahrhundert bereits drei Leute gleichzeitig eine Fähigkeit haben. Normalerweise verteilt sich das mit der Gabenverteilung auf das ganze Jahrtausend. Ich meine, du musst dir mal die Wahrscheinlichkeit davon ausrechnen, das ist vielleicht erst einmal in der gesamten Besonderen-Geschichte passiert. Und du bist die Dritte, Apryl“, erzählte mir Lucian. Man merkte, dass er sich mit diesem Thema sehr auseinandergesetzt hatte und sich auch sehr dafür interessierte.

Aber leider kam ich nicht so ganz mit. Ich war die Dritte? Also musste das ja heißen, dass außer mir, bereits zwei andere ein Element beherrschten. Und ich war eine davon. Als ich erfahren hatte, dass ich das Element Luft beherrschte, war ich in erster Linie froh, dass es nicht etwas total Langweiliges oder Unnützes war. Element Luft, das hörte sich doch schon ganz gut an, oder?

"Und was für eine Fähigkeit hast du?", fragte ich, und schaute in seine atemberaubenden schönen blauen Augen. Wieso hatten hier alle so tolle Augen?

"Element Wasser", sagte er, während sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

"Und wer ist der Dritte im Bunde?", fragte ich immer noch neugierig.

Lucian seufzte genervt, so, als wüsste er schon, dass diese Frage kommen würde.

"Mein Bruder Damien. Er hat das Element Feuer."

"Damien ist dein Bruder?", rutschte es mir raus.

Dass er einen Bruder hatte, wusste ich ja schon, aber dass es Damien war. Puhh. Zwar sahen beide hinreißend aus, hatten jedoch äußerlich nicht viele Ähnlichkeiten. Die beiden hatten also wirklich in der genetischen Lotterie gewonnen.

"Ja.“

June kicherte kurz, verstummte aber sofort unter Lucians scharfen Blick. Fragend sah ich meine Freundin an, doch die schüttelte nur den Kopf.

"Ich geh dann mal. Vor dem Unterricht hab ich mich sowieso schon viel zu lange gedrückt", seufzte er und verschwand dann durch die Türe.

Da ich mich schon wieder pudelwohl fühlte, schlug ich die weiße, dünne Decke zurück und stand schwungvoll auf. Kurz schwankte ich unsicher auf meinen Füßen, dann fand ich mein Gleichgewicht wieder und machte vorsichtig testweise einen Schritt. June stand schon neben mir und hatte sich bei mir untergehakt.

"Jetzt gehen wir erst mal nach Hause", meinte sie und grinste.

Vom Unterricht waren wir beide dann wohl für den Rest des Tages befreit.

Als June und ich schließlich wieder zu Hause waren, machten wir uns zuerst einmal vor dem Fernseher breit. Es war für mich immer noch seltsam, das hier schon alles als Zuhause zu betrachten, wo ich doch gerade meinen ersten Schultag hinter mir hatte. Jedoch fühlte ich mich hier aufgehoben und ich passte auch irgendwie rein. Zwar würde ich mich selbst nicht unbedingt als Freak bezeichnen, aber bei den anderen Schulen hatte ich noch nie dieses Feeling gehabt, das ich wirklich hineinpasste und dazugehörte.

Aus irgendeinem Grund, schauten wir uns jetzt schon zum dritten Mal Titanic an. Ich schob June die Taschentuchbox hinüber, da in ihren Augen schon die ersten Tränen glitzerten. Es ist noch nicht einmal jemand gestorben, wie konnte man da schon anfangen zu heulen? Seltsamerweise ging es allen Freunden von mir so, die Ausnahme bildete ich.

June spulte ein wenig vor, um zu den traurigen Stellen zu kommen. Die Titanic ging gerade unter und Rose lag auf diesem Brett. Sie schwor Jack, dass sie ihn niemals los lassen würde. Dann lässt sie ihn eiskalt los und er geht unter wie ein Eis am Stiel. Ich meine, was hätte diese blöde Kuh Rose daran gehindert, einen paar Zentimeter nach rechts zu rutschen, damit für meinen geliebten Jack genügend Platz war. Jack hätte sich natürlich auch so ein Brettdings holen können oder sie hätten sich auch einfach abwechseln können, bis die Rettung kam. Natürlich kam nur ein paar Szenen weiter schon die Rettung, hätte Jack also noch zwei Minuten länger durchgehalten, wäre er nicht gestorben. Aber nein, er musste natürlich einen dramatischen Abgang hinlegen und dann abtauchen, beziehungsweise der Regisseur machte das. Na super.

Langsam näherten wir uns dem Ende des Films. Die alte Rose stand in ihrem dünnen Nachthemd auf dem Steg, der aufs Meer hinaus führte und schmiss diesen fetten Klunker das 'Herz des Ozeans' einfach ins Meer! Die gute Frau ist echt neben der Spur, mit diesem Stein hätte sie sich sonst was kaufen können. Der Klunker war schließlich mehr wert als jeder andere auf der Welt. Damit hätte sie auch armen Leuten helfen oder vielleicht sichere Schiffe bauen können.

Wie mich dieser Film schon wieder aufregte! Trotzdem musste ich ihn mir immer, und immer wieder anschauen. Nachdem der Film zu Ende war, brauchte ich noch irgendetwas Humorvolles. Also schauten wir uns noch einen blutigen Horrorfilm an. June schrie jedes Mal erschrocken auf, als irgendein Körperteil durch die Gegend flog. Der Film war total schlecht gemacht, es spritzte einfach viel zu viel Blut und dieses Kunstblut war mindestens zwei Stufen zu hell und zu flüssig. Als der Film, oder eher gesagt das Massaker, zu Ende war, saß June einfach nur noch stocksteif auf ihrem Sessel neben mir und starrte mir weit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm.

Als die Glotze aus war, putzten wir uns noch schnell die Zähne und zogen uns um. Ich schmiss mich völlig fertig in mein Bett und deckte mich zu. Sofort war ich im Reich der Träume, und träumte von gar nichts. Das war auch gut.

 

Ein nerviges, und mir sehr bekanntes Piepen holte mich aus meinem traumlosen Schlaf.

"Aufwachen! Es gibt Pancakes!", rief June in bester Laune aus dem Wohnzimmer.

Das war wenigstens mal ein Grund zum Aufstehen. Motiviert durch die Pfannkuchen, schlug ich die Decke zurück und stand mühsam auf. Mit meinen Füßen angelte ich mir meine pinken, flauschigen Plüschpantoffel und schlüpfte hinein. Als ich in das Wohnzimmer schlurfte, hörte ich mich an wie ein Zombie, der zu faul war, seine Beine zu heben. Der Geruch von den herrlichen Pancakes schlug mir entgegen und ich grinste. Ich ließ mich auf den Stuhl plumpsen und schnappte mir einen von den leckeren Pancakes. Auf den Pfannkuchen schmierte ich eine dicke Schicht Nutella und biss dann herzhaft hinein. Mir gegenüber saß June, die ihren Pancake genauso verschlang wie ich und sich dann gleich noch einen nahm

Nachdem ich dann noch zwei weitere Pancakes gegessen hatte, ging ich ins Bad um schnell zu duschen. Es war jetzt ungefähr halb sieben, für meine Verhältnisse stand ich heute recht früh auf. Um genau zu sein, war das meine Rekordzeit. Als ich meine morgendliche Dusche beendet hatte, schlüpfte ich in meine Röhrenjeans und zog mir noch einen roten, dünnen Pulli über.

Danach bewaffnete ich mich mit einem Föhn und trocknete meine dunklen Haare, was ungefähr zehn Minuten in Anspruch nahm. Jetzt war es bereits sieben Uhr.

Meine dunkelbraunen Haare bändigte ich mit Hilfe eines Haargummis und einer Bürste und band sie zu einem hohen, lockeren Pferdeschwanz zusammen. Da ich zur Abwechslung ausgeschlafen war, trotz der langen Filmnacht, hatte ich keine Augenringe und musste deswegen auch kein Make-Up verwenden.

Bevor wir losgingen, gammelte ich noch ein wenig auf dem Sofa herum und guckte June gespannt beim Abwasch zu, das machte sie wirklich toll. Anderen Leuten beim Arbeiten zu zuschauen, war sehr entspannend. Ungefähr eine halbe Stunde später, machten wir uns auf den Weg zur Schule.

 

Heute war Donnerstag, was für mich bedeutete, dass wir gleich in der ersten Stunde Literatur hatten. Für mich war das die reinste Hölle. Aber Literatur war mir immer noch lieber als Mathe. Mathe war hier nur ein Wahlfach, und kein gut besuchtes. Einige Schulstunden später, die June dazu nutzte um mich mit Informationen über weitere Schüler zu versorgen, hatten wir wieder Fähigkeiten, das Unterrichtsfach, das mich hier am Meisten interessierte. Und vor dem ich jetzt auch ein wenig Bammel hatte, aber mit gutem Grund, schließlich hatte ich mich gestern selbst ins Krankenzimmer der Schule befördert.

Nachdem ebenfalls die Pause vorbei war, gingen June und ich zusammen hinunter in diesen Raum, der fast nur aus Metall bestand. Ich taufte diesen Raum jetzt auf den Namen Blechbox, das passte schließlich mehr oder weniger.

Als wir den Raum betraten, richteten sich nun einige neugierige Blicke auf uns. Viele schauten sofort weg, als ich ihren Blick erwiderte, aber manche starrten mich trotzdem noch mit unverhohlener Neugierde an.

Die Taschen schmissen wir wieder auf den Haufen in der Ecke und gesellten uns zum Rest der Klasse, die alle in einem unordentlichen Halbkreis um John, unseren Lehrer, herumstanden.  

"Wir machen es genau wie gestern, nur das die Neuen jetzt mit euch trainieren werden. Ach ja, Damien wird mit Apryl üben, wenn du nichts dagegen hast, Apryl? Ihr habt bestimmt schon gestern dieses gewisse Band des Vertrauens gestern gefunden", er sah kurz in meine Richtung, fuhr dann aber schon wieder mit seiner Ansage fort und wartete meine Antwort gar nicht ab. Ich war mir nicht ganz sicher, ob der letzte Satz ironisch gemeint war.

Damien stand neben John, den man leider nur schwer übersehen konnte. Die Mädchen warfen ihm sehnsüchtige, die anderen Jungs teils neidische oder auch bewundernde Blicke zu.

"Hopp, hopp meine Damen. Nicht träumen", holte John die Mädchen aus ihren Träumen. Manche liefen sogar so knallrot an, dass sie einer reifen Tomate wirklich ähnlich sahen.

Die Menge zerstreute sich, und sie suchten sich wieder ihre Partner und stellten sich dann immer mit einem gewissen Abstand zu den anderen irgendwo hin. Sie alle wirkten damit schon sehr vertraut und ich kam mir irgendwie immer noch ein wenig verloren vor.

Ich ging zu Damien hinüber, und das nicht unbedingt im Eiltempo, ich hatte es ja auch nicht wirklich eilig. Als ich vor ihm stand, starrte ich herausfordern zu ihm hoch. Aus seiner Sicht musste das wirklich sehr witzig aussehen. Damien betrachtete mich schmunzelnd.

"Und was jetzt?", fragte ich etwas pampig, da wir uns geschlagene fünf Minuten nur anstarrten und gegenseitig musterten.

Damien lächelte arrogant und versuchte nicht einmal dieses Lächeln zu verstecken, nein, er machte das mit Absicht um mich zu provozieren. Am liebsten hätte ich ihm dieses  Lächeln aus dem Gesicht gewischt.

"Gib mir deine Hände", forderte er mich schließlich auf.

Zögernd streckte ich ihm meine Hände entgegen. Er streckte mir seine Hände mir ebenfalls entgegen und schloss dann seine Hände um meine. Da wo sich unsere Hände berührten, kribbelte es angenehm. Ein warmer Schauer lief mir über den Rücken.

Anscheinend wusste er, was er bei mir bewirkte, denn er lächelte selbstsicher. Vielleicht bildete ich mir das  ja auch nur ein.

"Schließ deine Augen", meinte er dann beinahe...sanft? Nein, das sicherlich nicht. Das würde ja überhaupt nicht zu seiner Arschlochnummer passen, also musste ich mich wohl verhört haben.

Ich schloss meine Augen, und fragte mich, ob das eine Taktik war mich rumzukriegen oder ob das einfach nur der Konzentration diente.

"Okay, was fühlst du gerade?"

Neugierig horchte ich in mich hinein und versuchte heraus zu finden, was ich fühlte. Da war einfach...nichts.

"Gar nichts."

Ich konnte förmlich hören wie er wieder so ein selbstgefälliges Lächeln aufsetzte, jaja, richtig gelesen, gehört! Plötzlich spürte ich einen warmen Atem auf meiner Haut und kurz darauf warme, weiche Lippen auf meinen. Mein Hirn war wie abgeschaltet, ich hatte aufgehört zu denken, das war anscheinend für mich nicht all zu schwer.

Zuerst versteifte ich mich, dann erwiderte ich den Kuss. Denken war hier gerade keine Option. Er löste sich wieder von mir und ich schlug die Augen auf. Ich war geschockt, aufgeregt, wütend - stinkwütend - und naja, es brodelte richtig in mir.

"Und was fühlst du jetzt?", fragte er mich und grinste mich an.

Am liebsten hätte ich mich geohrfeigt, war ich doch tatsächlich auf ihn reingefallen. Dieser Hornochse. Dem musste ich wohl erst noch zeigen wo der Hammer hing, dieser eingebildete, arrogante, selbstverliebte Schnösel. Grrr.

In erster Linie war ich wütend auf mich, ich meine ich hatte den Kuss auch noch erwidert und - ja, Damien war ein verdammt guter Küsser. Natürlich gab es noch einen besseren Küsser, nur hatte ich den eben noch nicht kennengelernt.

"Wut?"

Damien verzog den Mund spöttisch.

"Mehr nicht?"

"Du etwa?", entgegnete ich und funkelte ihn wütend an.

Ich bemerkte gar nicht wie mein Lehrer John kam, er schaute mir über die Schulter.

"Und? Wie weit seid ihr schon?", fragte er an mich gerichtet.

Ich fragte mich, ob er gerade gesehen hatte, wie Damien mich geküsst hatte. Das wäre jetzt wirklich ein wenig peinlich, mehr als nur ein wenig peinlich.

"Ich kann mit Damien einfach nicht lernen. Irgendwie ist er nicht ganz bei der Sache", meinte ich und tat so als wäre ich ernsthaft enttäuscht. Komischerweise entsprach es auch der Wahrheit, schließlich waren wir hier noch kein Stückchen weitergekommen. Oh Gott! Wie konnte ich jetzt gerade überhaupt an den Unterricht denken? Ich hatte definitiv eine oder mehrere Schrauben locker.

Damien knurrte bedrohlich, wie ein tollwütiges Tier. Und ein Grinsen konnte ich mir nun wirklich nicht verkneifen. John runzelte irritiert die Stirn, er schien wohl nicht ganz zu verstehen, was hier gerade zwischen uns ablief.

"Wenn du meinst. Nächste Stunde kommt Lucian als Unterstützung dazu. Vielleicht kann er dir mehr beibringen. Du hast ihn schon kennengelernt, glaube ich, oder?“

"Oh, ja. Lucian ist echt nett. Ich bin mir sicher, dass ich bei ihm mehr lernen kann", erzählte ich John und mein böses Ich, rieb sich die Hände und grinste.

Eigentlich war es wirklich gemein von mir, Damien gegen Lucian aufzustacheln, das ging mich schließlich gar nichts an.

Damien sah nicht sehr begeistert aus, sein Gesicht hatte sich verfinstert, wie eine heiße Gewitterwolke. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, sodass die Haare wieder total verwuschelt waren.

Am liebsten würde ich mit meiner Hand durch seine dunklen Haare fahren und...wow. Meine Gedanken wanderten mal wieder in die entgegen gesetzte Richtung.

Der Gong rettete mich regelrecht, bevor die Situation noch unangenehmer werden konnte. Die meisten Schüler hatten sich schon ihren Krempel geschnappt, und waren durch die Tür verschwunden, genau wie June.

Ich war dann wohl so ziemlich die Letzte, ausgeschlossen von Damien. Als ich mir meine Tasche geholt hatte und auf den Ausgang zusteuerte, packte mich jemand am Handgelenk, sodass ich gezwungen war, mich  umzudrehen. Es war Damien. Natürlich war es Damien.

"Lass. Mich. Los. Sofort", fauchte ich ihn an.

Doch der dachte gar nicht daran, mich loszulassen. Sich aus seinem Griff zu befreien war hoffnungslos, er hatte quasi Stahlhände.  

"Pfoten weg!“, fuhr ich ihn wieder an.

Langsam bekam ich Panik, schließlich war die Blechbox wie leergefegt und nur noch wir zwei hielten uns hier auf.

"Man, Apryl. Warte mal. Es tut mir leid...ich...ich hätte dich vorhin einfach nicht küssen dürfen, das war...falsch von mir", druckste er rum.

Wow. Entschuldigte der sich etwa gerade bei mir? Ich muss mich wohl verhört haben. V

"Was?", fragte ich noch mal, um sicher zu gehen, dass ich mich verhört hatte.

Damien seufzte nur, und ließ mich dann los. Schnell schob ich mich an ihm vorbei und ließ die Blechbox und Damien hinter mir und steuerte direkt das Klassenzimmer an. Kein einziges Mal drehte ich mich zu ihm, als ich ging. Jedoch spürte ich seine bohrende Blicke in meinem Rücken.

Erst als ich an der Klassenzimmertüre angekommen war und gerade die Türklinke runterdrücken wollte, fiel mir ein, dass wir schon längst Schulschluss hatten.

 

»Kapitel 5

 

 

 

„Hast du mir eigentlich zugehört?", ertönte es aus Junes Richtung.

"Hm?", machte ich geistesabwesend. Da ich mit meinen Gedanken mal wieder ganz wo anders gewesen war, hatte ich ihr leider nicht ganz zuhören können.

"Der Ball...", sagte June ausgedehnt und sah mich ungläubig an.

"Du willst mir etwa sagen, dass du die letzten zwei Stunden überhaupt nicht zugehört hast? Dann muss ich ja alles noch mal erklären", stöhnte June genervt.

"Also es ging um diese Halloween Party, oder?"

"Genau. Wir brauchen richtige Kostüme, etwas Originelles. Keinen Twilight-Quatsch und keine Discounterfetzen.“

"Okay, okay", meinte ich und hob beschwichtigend die Hände.  

Sie erzählte noch einmal ganz von vorne, ließ keine Details aus, und berichtete mir, was sie alles von der Party im vergangenen Jahr gehört hatte. Natürlich war sie da noch gar nicht an der Schule gewesen, jedoch hatte sie sich ein wenig umgehört, wie sie mir ebenfalls berichtete. Einiges davon, was sie mir erzählte, blendete ich irgendwann aus, da sie ohne Punkt und Komma redete.

"Jippie!", jubelte sie aufgeregt, und ich fragte mich wirklich mit welchem Übel ich gerade einen Pakt geschlossen hatte. "Und nun gehen wir unsere Kostüme einkaufen! Nur um etwas klarzustellen das hier hat nichts mit Shoppen zu tun, das ist einfach ein Teil der Vorbereitung auf Halloween.

Voller Vorfreude hopste meine Mitbewohnerin von einem Raum zum anderen. Dabei erinnerte sie mich ein wenig an einen Osterhasen, mit ihrer quirligen und aufgedrehten Art. Nach etwa einer halben Stunde, fuhren wir mit ihrer roten, aber ihr heiligen, Schrottkiste in die Stadt. Das was man hier als „Stadt“ bezeichnete, kam mir vielmehr wir ein kleines Dörfchen vor. Drei Stunden später waren wir wieder auf dem Heimweg. Meine Füße taten mir wirklich leid. Der Abstand zwischen den wenigen Läden war riesig und dummerweise waren wir natürlich nicht auf die Idee gekommen, das Auto zu nehmen.

Mein Kostüm war das einer Vampirlady, originell und nicht zu nuttig. Es war tiefschwarz, altmodisch und hat ein schwarzes Korsett. Dazu kam noch ein schwarzer, hoher Kragen wie man ihn aus den Dracula Filmen kannte. Schwarze High Heels dienten mir als Schuhe, auch wenn ich ehrlich gesagt keine Lust hatte in diesen Mörderschuhen herumzulaufen.

Mit einem dunkelroten Lippenstift, schwarzer Mascara, dick aufgetragenem Kajal, weißem Puder und meinen verlängerten Eckzähnen verschwand ich im Bad und kam als glaubwürdiger Vampir wieder heraus.

In weniger als einer Stunde würde die Halloween Party auf dem Schulgelände steigen. Wie ich gehört hatte, sollte es sogar ein Spiegelhaus und ein Gruselkabinett geben.

June steckte mir am Ende noch meine Haare am Ende kunstvoll und im altmodischen Stil hoch, sodass mir einige künstliche Locken über die Schulter fielen. Als ich in den Spiegel blickte, war ich angenehm überrascht. Das Kostüm sah keineswegs billig aus, wie ich am Anfang schon fast befürchtet hatte. Das Kleid war sexy, nicht nuttig und hatte den klassischen Vampir-Style getroffen  aus den Dracula-Jahren. June ging als überzeugte Hexe. Ihr Kostüm bestand hauptsächlich aus violetten Fetzen, einem schwarzen Hut und einem Besen.  

 

Es war bereits dunkel und man konnte die laut aufgedrehte Musik, das Lachen und das Gerede schon von Weitem hören. Die frische Luft am Abend war immer wunderbar sauber, und eine angenehme Abwechslung zu dem ganzen Haarspraygeruch in unserer Wohnung. Da ich keine einzige mir bekannte Person auf der Tanzfläche sah, beschlossen June und ich erst einmal ins Spiegelhaus zu gehen, wo noch fast gar keine Leute anstanden. Von außen konnte man fast gar nichts erkennen, keine Spiegel, keine Fenster, rein gar nichts. Diese Tatsache fand ich fast schon gruseliger, als irgendwelche blutverschmierten Clowns, Plastikspinnen oder Pseudogeister.

Am Eingang wurden wir von einem seriös gekleideten Mann gestoppt, der wohl so etwas wie der Türsteher war.

„Der Eintritt ist für Frauen frei, vor allem für scharfe Hexen“, dabei warf er einen Blick auf June, die ihm ein verlegenes Lächeln zuwarf. Aha, so war das also.

Am Ende warnte er uns noch vor ein paar kleinen ‚Extras‘ und trat dann beiseite, damit wir hindurch gehen konnten. Da June meinte, ich solle zuerst gehen, ging ich ohne jegliches Zögern voran.

In einem Raum, der an den anschloss in dem noch Jun stand, erwarteten mich hunderte von Spiegeln. Wenn man in die Spiegel sah, blickte einem sein verändertes Spiegelbild entgegen. Man sah entweder total dick, oder spindeldürr aus. Ich bahnte mir einen Weg durch das Spiegellabyrinth und kam schließlich in einem Treppenhaus an. Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf die Treppe. Mit meinen Mörderheels war das gar nicht mal so leicht, vor allem wenn man die ganze Zeit Angst haben musste, dass ein Absatz plötzlich abbrach, weil man blöd umknickte. Ich überlegte mir bereits ernsthaft, ob ich die Schuhe einfach ausziehen und so hoch laufen sollte. Da die Stufen jedoch mit Staub, Dreck und noch etwas anderem übersät waren, nahm ich den Schmerz und die Angst um die Schuhe lieber in Kauf. Endlich war ich im ersten Stock. Bei dem Gedanken alles wieder herunter laufen zu müssen, verzog ich das Gesicht.

Plötzlich öffnete sich neben mir knarrend eine versteckte Tür und ein großer Mann mit Frankensteinmaske knurrte mich an wie ein tollwütiges Tier. Eine Maske? Konnten die sich etwa kein gescheites Make-Up leisten? Also das hätte man wirklich besser hinbekommen können.

"War das schon das kleine 'Extra'?", fragte ich etwas enttäuscht.

Langsam zog der Frankensteintyp ein Messer hervor und zeigte damit auf mich. So, als würde er mich gleich aufspießen wie ein Schwein am Spieß. Das konnte kein echtes Messer sein, die Gefahr sich selbst oder jemand anderen zu verletzen war viel zu groß.

Die wenigen Schritte Abstand zwischen uns verringerte er schnell. Er war vermutlich sogar noch größer als die Brüder. Mit seiner Größe hatte er sicherlich gute Chancen, Basketballer zu werden. Das Messer hielt er immer noch so, dass es in meine Richtung zeigte. Wow, das wirkte wirklich überzeugend. Wo war eigentlich June? Bei dem Gedanken, dass ich hier ganz alleine war wurde mir etwas mulmig zumute.

"Okay, okay. Ich geh weiter, gut?", meinte ich und hob die Hände abwehrend hoch.

Da Frankenstein sich keinen Meter bewegte, und mich einfach nur anstarrte, machte ich einen kleinen Schritt nach hinten. Mit High Heels war das gar nicht so leicht, also ein wenig Respekt, wenn ich bitten darf!

Die Tatsache, dass er nicht schrie, wild mit dem Fake-Messer herumfuchtelte oder röchelte, war schon ein wenig beunruhigend. Er stand einfach nur da und beobachtete mich eingehend, wie ein Jäger seine Beute. Warum lief er nicht einfach kreischend, mit einer Platzwunde am Kopf und einem Messer in der Brust, auf mich los und schrie "Buuuh!"?

Wieder machte ich einen Schritt nach hinten, dieses Mal ein wenig hektischer. Ich musste darauf achten, weder mein Kleid noch meine Frisur zu ruinieren, mal ganz abgesehen von meinen Schuhen. Bei dem Lärm, der draußen veranstaltet wurde, würde mich niemand schreien hören. June war bestimmt noch beim Eingang, dieser kleine Angsthase!

Dieser Freak machte einen großen Schritt auf mich zu und lächelte. Plötzlich wurde ich krachend an die nächstliegende Wand geschleudert. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und das Pochen in meinem Schädel. Meine Glieder schmerzten, als ich mich langsam aufrichtete. Einige lose Strähnen fielen mir ins Gesicht und ich musste feststellen, dass sich ein langer Riss im Kleidersaum befand. Ganz toll. Das nannte man Sachbeschädigung! Wo war er? Wo war Frankenstein? Dieses Arschloch! Schwankend stand ich auf. Den Ausgang fand ich Gott sei Dank schnell, und ohne dass mir irgendjemand dazwischenfunkte. Wer war das gerade eben gewesen? Oder gehörte das alles nur zu Show? Wenn ja, dann war selbst ich geschockt, und das musste etwas heißen!

Der Türsteher, der mit June vorhin geflirtet hatte, unterhielt sich mit einem Kollegen oder einem Freund, wie ich vermutete.  Als ich gerade durch die Türe kam, schnappte ich ein paar Gesprächsfetzen auf.

"Ich kann auch nicht verstehen, wieso Logan vor einer Stunde gegangen ist. Die Party hat doch gerade erst angefangen!

Oh mein Gott! Wenn niemand da war, der für die Schreckszenen zuständig war, wer zum Teufel war dann der Frankenstein da drinnen gewesen?

Bevor ich mir noch groß Gedanken machen konnte, tippte mir jemand auf die Schulter. Ich wirbelte herum und stellte fest, dass ein Vampir hinter mir stand. Damien.

"Apryl, schön dich zu sehen. Anscheinend haben wir einen ähnlichen Geschmack.", raunte er und grinste, wobei er zwei lange Eckzähne entblößte.

Damien musterte mich mit seinem Röntgenblick von oben bis unten und blieb schließlich an meinem großzügig ausgeschnittenem Dekolleté hingen.

Huhu? Ich war auch noch da?

Ich räusperte mich und Damiens Augen huschten schnell zu meinen Augen. Aha. Doch überhaupt nicht beschämt, eher belustigt, grinste er mich an.

"Viel Spaß noch", meinte er dann trocken und drückte mir ein Glas Champagner in die Hand.

Champagner? Die durften Alkohol an Jugendliche ausgeben? Das war für mich eine eher positive Überraschung. Vermutlich gaben sie den nur an Volljährige aus. Schnell stürzte ich den Champagner runter, bevor noch irgendeine Aufsichtsperson mich mit dem Alkohol erwischte. Das leere Glas stellte ich auf ein Tablett, das auf einem Tisch stand, und auf dem sich bereits einige leere Gläser angesammelte hatten.

Auf einer Tribüne stand eine unbekannte Rockband und machte ziemlich laute Musik. Es hörte sich so an, als würden sie alles geben um möglichst laut zu sein. Was dabei herauskam war ein durchgemischter Salat von unkoordinierten Tönen. Die anderen Schüler, die ebenfalls maskiert auf der Tanzfläche herumtobten, schien das eher weniger zu stören.

June hatte sich ohne mich davon gemacht. Sie hier in der großen Menge zu finden war hoffnungslos, deswegen fing ich gar nicht erst an sie zu suchen. Als ich meinen Blick schweifen ließ, entdeckte ich Damien am Rand der Tanzfläche, der mit einer Blondine verschwand. Sollte er sich ruhig austoben. Seltsamerweise versetzte mir dieser Gedanke einen Seitenhieb, und ich wollte wirklich nicht wissen, warum das so war. 

Zu meinem großen Glück, entdeckte ich Lucien, der an der Bar stand und wohl schon ein paar Gläser getrunken hatte. Als er mich entdeckte, winkte er mich zu sich..

Lucien sah sogar als Zombie umwerfend aus, die blonden Haare hatte er mit Gel nach hinten strichen, sein Gesicht war bleich und blutverschmiert. Bei seinem schwarzen Hemd, das ebenfalls mit Blut beschmiert war, hatte er die obersten Knöpfe offen gelassen. Ich hatte noch nie einen so heißen Zombie gesehen!

Bevor es noch peinlich wurde und ich anfing zu sabbern, schlenderte ich zu ihm herüber und lehnte mich an die Bar. 

Lucien bestellte sich selbst und mir ein Martini. Der Barkeeper sah uns stirnrunzelnd an, und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern.

Während ich meinen Drink langsam ausschlürfte schlürfte schielte ich kurz zu ihm herüber. Er sah wirklich zum Anbeißen aus. Mein Martini war schon fast halbleer. Wenn ich so weitermachte, würde man mich noch für eine Alkoholikerin halten, die ihren nächsten Drink gar nicht mehr abwarten konnte.

"Und, wie findest du das Spiegelhaus?“, erkundigte er sich. Sein Getränk hatte noch gar nicht angerührt.

"Naja...Es wirkt überraschend echt", meinte ich stockend bei dem Gedanken an Frankenstein.

Ich rätselte immer noch, ob das zu der Show dazugehört hatte. Vielleicht war der Angestellte, Logan, noch gar nicht gegangen. Wer sonst hatte das Bedürfnis mir derartig einen Schreck einzujagen? Als ich an die Wand geworfen worden war, hatte ich nicht unbedingt den Eindruck gehabt, dass das nur Spaß gewesen war. Ich fand es nicht besonders lustig. Mein Körper würde morgen in der Früh mit vielen blauen Flecken übersät sein. Genau wie mein Kleid, hatte Junes mühevoll geflochtene Frisur gelitten.  

"Wirklich? Ich habe gehört, dass es recht langweilig sein sollte“, er zuckte mit den Schultern.

Plötzlich erklang der Schrei einer Frau. Es war ein Schrei der Verzweiflung und des Todes. Dann war alles still, die Band hatte aufgehört zu spielen, niemand sagte ein Wort. Es war, als hätte man die Zeit angehalten. Nach ungefähr einer halben Minute, löste ich mich aus der Starre, sprang auf und lief dorthin, wo ich den Schrei vermute gehört zu haben. Lucian erhob sich ebenfalls und folgte mir. Es bildete sich bereits eine große Traube von Schülern und Lehrern, die alle auf den Boden starrten. Ich drängte mich zwischen zwei Elfen und erhaschte einen Blick auf die Leiche.

Eine junge Frau lag unnatürlich verrenkt unter einem großen Baum. Sie war ebenfalls als Vampir verkleidet gewesen. Ein altmodischer Dolch mit einem blutroten Edelstein steckte in ihrer Brust an der Stelle wo ihr Herz war. Persönlich kannte ich sie nicht, und deswegen war ich auch unheimlich erleichtert.

Dann kam endlich Direktor Roan und kniete sich neben der Toten nieder. Irgendein Typ ordnete an, dass wir abhauen sollten und scheuchte die geschockten Schüler davon. Nur zu gerne verließ ich diesen grausigen Schauplatz.

Lucien stand hinter mir und sah genauso bestürzt aus wie der Rest. Seine Hand lag sanft in meinem Rücken, und brachte mich zu unserem kleinen Häuschen zurück. Ich war froh, dass er mich begleitete, vor allem nach dem Tod der Schülerin.

 

»Kapitel 6

 

 

 

 

Zu Hause angekommen, verriegelte ich erst einmal ordentlich die Türe. Das hieß, dass ich die Türe zuschloss, diese komische Kette einhängte und drei große Riegel vorschob. Anscheinend waren hier alle darauf eingestellt, sich gut zu schützen. Sogar die Fenster schloss ich ab, nur um sicher zu gehen. Als ich schließlich in unserem Schlafzimmer ankam, entdeckte ich meine Mitbewohnerin.

June lag mit dem Rücken auf dem Bett und starrte an die Decke. Erst als sie mich sah, richtete sie sich auf.

„Das war nicht das erste Mal, dass hier jemand ermordet wurde, weißt du? Das Mädchen, das vor dir hier gewohnt hat, Lilly, wurde ebenfalls umgebracht. An meinem ersten Tag an der Schule, fand ich ihre Leiche. Sie wurde einfach von jemandem niedergestochen, auch mit einem Dolch. Ich glaube, dass sie wirklich nett gewesen war. Jedes Mal, wenn ich in die Wohnung komme sehe ich ihren leblosen Körper vor Augen, wie sie mitten auf dem Teppich…“, sie schluckte einmal heftig und blinzelte angestrengt die Tränen weg. „Eigentlich ist es nicht so, dass hier ständig Leute abgestochen werden. Es gibt sogenannte Jäger, die es sich zum Ziel gesetzt haben uns alle zu beseitigen. Wir alle gehen davon aus, das es jemand ist der auf diese Schule geht. Einmal wurde sogar schon einmal eine Bombe gefunden, die nur nicht hochgegangen ist, weil zwei Begabte es verhindert haben“, June seufzte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. „Die sind alle so versessen darauf, das wir böse sind und irgendwann auf die Idee kommen, unser Potenziell auszuschöpfen und eine Armee aufzustellen. Davor haben sie wirklich Angst. Und dann gibt es da noch die anderen, die von unserer Existenz wissen. Ein paar Leute beim Militär heuern immer öfters Begabte an und setzen sie im Krieg ein und hoffen vermutlich auch insgeheim, das unsere Sorte dabei draufgeht.“

Ich runzelte die Stirn.

„Woher weißt du das alles? Du bist doch auch nur einige Tage länger hier, als ich.“

„Ich bekomme hier und da etwas mit und einmal habe ich ein Gespräch mitbekommen, das Direktor Roan und ein Schüler von Rosewood gehalten haben. Die versuchen uns damit nicht zu belasten.“

„Und woher erkennen die, dass wir die Begabten sind? Es steht uns ja auch nicht auf die Stirn geschrieben, oder?“, erkundigte ich mich weiter bei June.

"Vom Aussehen unterscheiden wir uns überhaupt nicht. Das Militär greift manchmal Telepathen auf, die uns dann schließlich finden können. Wenn die dann schließlich ein paar Besondere auf einem Haufen finden, entdecken sie gleich mal eine Schule. Du weißt, dass das hier nicht die einzige Schule ist, die vollgestopft mit unserer Art ist, oder? Die Schulen sind verteilt über den ganzen Planeten. Mit unseren gerade mal zweihundert Schülern ist das damit noch eine richtig große Schule. Das liegt auch daran, dass es nur ein einziges weiteres Internat in Amerika gibt. Außerdem vermute ich, dass es irgendjemanden gibt der so etwas wie der Chef von allen Schulen ist“, erklärte mir June sachlich.

Mein Mund klappte erstaunt auf. Das waren so viele Informationen auf einen Haufen. Und das hatte sie alles erfahren, weil sie ein einziges Gespräch belauscht hatte? Ungläubig starrte ich sie.

„Als ich einiges mitbekommen hatte, habe ich Nachforschungen angestellt. Mein Ex, Stephen, war ebenfalls ein Begabter gewesen. Er wurde zum Militär geschickt, um dort Spione zu entlarven. Stephen war ein Lügenfinder. Vor drei Monaten wurde er dann von ihnen beseitigt. Er hat mir einen Brief hinterlassen, in dem er mir alles erklärt hatte. Aus irgendeinem Grund hat er gewusst, dass er sterben würde. Und als ich dann hierher gekommen bin, wusste ich bereits von den ganzen Fähigkeiten, und hatte gehofft das es hier besser wäre“, sie schüttelte den Kopf und schniefte herzzerreißend.

Schnell ging ich zu ihr hin, und nahm sie in die Arme. Der Geruch von Alkohol wehte mir entgegen. Sie hatte getrunken. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken, als sie wieder anfing zu weinen. Ich bekam ein ganz schlechtes Gewissen, wenn ich daran dachte, dass sie jetzt weinte, weil sie ich sie daran erinnert hatte. Ganz toll, Apryl, wirklich ganz toll. Ich konnte gleich ins nächste Fettnäpfchen treten, falls es überhaupt noch eines gab. Schließlich löste sich June aus unserer Umarmung und erklärte mir, dass sie jetzt eine heiße Dusche nötig hatte.

Im Wohnzimmer, wo ebenfalls ein Spiegel stand, fing ich an langsam meine Halloween Schminke zu beseitigen. Eine halbe Taschentuchbox später, war ich endlich damit fertig und zog mir dann noch schnell meinen Schlafanzug an und schlüpfte in meine Plüschpantoffeln. Ich holte mein Handy und rief meinen Vater an. Wusste er von uns Besonderen? Das würde auch erklären, dass er mich unbedingt auf diese Schule schicken wollte! Vielleicht war er ja auch selbst einer! Nein, das glaubte ich nicht. Mein Vater war ein gutmütiger und wahnsinnig ehrlicher Mensch. Mir könnte er so etwas niemals 17 Jahre lang verheimlichen. Niemand ging dran, außer der Mailbox. Es war schließlich auch schon Mitternacht, vielleicht würde ich morgen dazu kommen und ihn anrufen. Wir hatten noch kein einziges Mal telefoniert, seit ich hier war.

Irgendwann ging ich ins Bett, genau wie June die sich inzwischen auch schon abgeschminkt hatte. Noch eine Ewigkeit lag ich wach im Bett und dachte darüber nach, was June mir alles erzählt hatte. Das war doch Wahnsinn. Vor kurzem war ich noch in der Sonne gelegen, zusammen mit Lacey, und hatte mich gesonnt. Und jetzt waren Jäger hinter meiner „Art“her. Wie das klang, als wären wir irgendwelche Wesen aus dem All und supergefährlich. Nicht jeder hatte doch das Bedürfnis, gleich die Weltherrschaft an sich zu reißen, oder? Schließlich schlief auch ich ein und glitt über in das Land der Träume.

 

Das Erste was ich in der Früh machte, war unter die Dusche zu gehen und den Dreck von gestern noch runter zu bekommen. Langsam sickerte bei mir wieder durch, was gestern alles geschehen war. Vor allem das, was June mir erzählt hatte schien mir einfach nicht mehr aus dem Kopf zu gehen. Vermutlich würde ich es übermorgen wieder vergessen haben, hoffentlich. Mit so etwas wollte ich mich nicht die ganze Zeit beschäftigen. Das klang egoistisch, was es ja auch war.

Nach der Dusche, beschloss ich nach draußen zu gehen. Auf dem Weg holte ich mir noch meinen warmen Mantel und zog ihn über. Im Freien war alles wie leer gefegt da bei dem Wetter bestimmt jeder lieber drinnen war. Meine Hände steckte ich in die Jackentasche und ging einfach los, ohne ein bestimmtes Ziel.

Um mich herum verspürte ich die Luftströme ganz deutlich, auch die ganz feinen die kaum spürbar waren. Irgendwann kam ich bei einer alten Parkbank an und fegte das Laub von der Sitzfläche. Ich ließ mich auf die Bank plumpsen und seufzte. Als nächstes schloss ich meine Augen und konzentrierte mich darauf, meinen Kopf von unnützen Gedanken zu leeren.  

Nun machte ich mich meiner Umgebung bewusst, genau wie es mir im Unterricht erklärt worden war. Die Luft um mich herum lag mir plötzlich wie zu Füßen und ich fühlte mich seltsam frei. Als ich die Augen öffnete, tanzte auf meiner rechten Zeigefingerspitze ein kleiner Tornado, der immer schneller wurde und auch größer wurde. Schnell schloss ich die Hand zu einer Faust und der kleine Tornado verschwand. Fasziniert betrachtete ich meine Hand. Das was ich schon seit Monaten angestrengt versucht hatte, hatte ich endlich in den Griff bekommen. Ich versuchte noch mal genau dieses Gefühl von Gelassenheit und Ausgeglichenheit heraufzubeschwören und tada: ein kleiner Tornado entstand auf meiner Fingerspitze. Ich ließ den kleinen Tornado etwas größer werden, ungefähr ein Viertelmeter. Er breitete sich in meiner rechten Handfläche aus. Ich gestattete mir ein zufriedenes Lächeln. Endlich hatte ich es geschafft! Es war so einfach und natürlich gewesen, diesen Tornado zu erschaffen! Einfach unglaublich! Vor meinen Füßen lag eine durchsichtige Plastiktüte, die vom Wind immer weiter weggeweht wurde. Ich fühlte die ganzen feinen Luftströme um mich herum und verlangsamte die Luftbewegungen bis schließlich gar kein Wind mehr ging. Es war windstill und die Plastiktüte, die zuvor noch durch die Luft gewirbelt wurde, bewegte sich nun keinen Millimeter von der Stelle. Wahnsinn. Da es mir jedoch trotz des warmen Mantels langsam kälter wurde, beschloss ich wieder nach Hause zu gehen. In der Wohnung angekommen lauschte ich angespannt. Meine Mitbewohnerin summte leise vor sich her. Spiel mir das Lied vom Tod. Sie hatte wirklich Geschmack.

"June!", rief ich in einem Singsang und hopste wortwörtlich ins Schlafzimmer.

"Mein Gott. Was ist denn mit dir passiert?", fragte mich June argwöhnisch und hob fragend eine Augenbraue. Sie saß in einem Schneidersitz auf ihrem Bett. Nichts deutete darauf hin, dass sie gestern noch völlig fertig gewesen war, ganz im Gegenteil.

"Es hat geklappt!"

"Was hat geklappt?", hakte sie nach verwirrt nach.

"Warte kurz, ich zeige es dir.“

Wie vorhin in der Kälte, schloss ich die Augen und wurde mir meiner Umgebung bewusst. Da es hier so gut wie gar keine Luftbewegungen gab, war es um einiges schwieriger einen Tornado zu erzeugen.

„Ist das, was du mir zeigen willst vielleicht unsichtbar?“, stichelte sie.

„Shh“, zischte ich genervt, schließlich musste ich mich konzentrieren.

Ein sanfter Windhauch zog an mir vorbei und auf meine Handfläche zu, bis sich der Wind an einem Punkt sammelte und immer größer und größer wurde. Langsam öffnete ich wieder die Augen und beäugte meinen kleinen Tornado, der wieder auf meinem Handteller tanzte.

Junes Augen wurden riesig und sie nickte schließlich anerkennend.  

"Du lernst wirklich schnell. Manche können ihre Fähigkeit nach ein oder zwei Jahren Unterricht noch nicht anwenden und manche schon nach wenigen Stunden oder Tagen. Das ist wirklich bemerkenswert", lobte sie mich.

"Und? Kannst du deine Fähigkeit schon anwenden?"

"Ja. Aber ich arbeite noch dran. Soll ich's dir mal zeigen?", fragte sie mich grinste verschwörerisch.

„Auf jeden Fall!“, meinte ich und musterte sie neugierig.

June schloss die Augen und sah extrem konzentriert aus. So musste ich wohl auch vorhin ausgesehen haben. Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn und sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum.

Es war als würde mich das pure Glück durchströmen und lächelte selig. Als June die Augen wieder aufmachte und meinen Gesichtsausdruck bemerkte, grinste sie.

"Das ist wirklich cool.“

´“Diese Schule ist wirklich toll, abgesehen von den Morden. Die machen sich hier wirklich alle Mühe, die können schließlich nichts dafür, wenn hier ein Irrer rumläuft und Leute absticht. Wusstest du, dass es insgesamt drei Bälle und viele Partys im Jahr gibt? Also es gibt einmal den Winterball, den Maskenball und den Frühlingsball. Der Winterball findet vor Weihnachten statt, der Maskenball irgendwann im Februar und der Frühlingsball im Mai. Und was ich so gehört habe, klingt wirklich einmalig. Bei dem Winterball soll Männerwahl sein, beim Maskenball geht man anscheinend ohne Partner und beim Frühlingsball gibt’s dann noch die Damenwahl. Anfang November beginnen die Tanzkurse, da geht wirklich jeder hin! Genau wie wir zwei, ich hab uns bereits eingetragen“, erzählte sie mir aufgeregt.

Sie klang und wirkte wieder so wie an dem ersten Tag, an dem wir uns kennengelernt hatten. Es war keine Spur von Trauer oder Verzweiflung zu sehen, wie gestern Abend. Hatte sie den Abend etwa wieder vergessen?

„Apryl, alles okay?“

„Ja, klar“, meinte ich schnell, vielleicht etwas zu schnell.

Ich würde sie auf jeden Fall nicht an gestern Abend erinnern und es einfach auf sich beruhen lassen. Das Beste wäre wirklich, wenn sie es tatsächlich vergessen hatte. In dieses Fettnäpfchen würde ich sicherlich nicht treten.

„Du gehst also mit mir Tanzen?“, erkundigte sich June noch einmal.

„Natürlich“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

So einen Ball malte ich mir wirklich märchenhaft aus. Bisher war ich noch auf keinem gewesen und kannte diese Bälle nur aus Filmen und Büchern. Warum das so war? Meistens war das immer nur eine kitschig eingerichtete Turnhalle gewesen, in denen die Schüler selbstgebastelte Plastiksterne aufhängten. Auf einen richtigen Ball hatte ich schon immer Lust gehabt. Ich hatte mir ihn immer wie aus einem Märchenbuch ausgemalt, mit tollen Kleidern, attraktiver Gesellschaft und wo eine tolle Atmosphäre herrschte. Aber wer wollte das schon nicht? Tanzen lag mir nicht unbedingt. Ich besaß weder Taktgefühl, noch konnte ich mir merken wo ich meinen Fuß als nächstes hintun sollte.

"Hast du Literatur eigentlich schon gelernt?", fragte mich June beiläufig.

Scheiße! Das hatte ich total vergessen, wir schrieben ja morgen eine Arbeit. Die durfte ich nicht verhauen. Wir machten gerade irgendetwas auf Mittelhochdeutsch oder so. Ein wahrhaftiger Alptraum.

Ich lief zu meiner Tasche und angelte mir schnell mein Literaturbuch und schlug es auf. Die nächsten drei bis vier Stunden saß ich nur da und versuchte mir möglichst viel schnell einzuprägen. Irgendwann schlief ich jedoch im Sitzen ein und fiel schließlich auf mein Bett.

 

 

 

Am nächsten Morgen wurde ich von June wachgerüttelt.

"Süße, aufstehen. Es ist bereits 7.00 Uhr, wir haben bald Schule", informierte sie mich.

Gähnend stand ich auf und marschierte ins Bad wo ich schnell unter die Dusche sprang. Zehn Minuten später stand ich geduscht und angezogen im Bad vor dem Spiegel und schminkte mich dezent. Danach ging ich in die Küche und stopfte mir zwei Toastbrotscheiben ungetoastet in den Mund. Himmlisch. Ich machte mir noch einen Kaffee Latte und stürzte diesen hinunter. Ohne Koffein in der Früh konnte ich wirklich unausstehlich sein.  

Schnell nahm ich meine Tasche vom Tisch und lief in das Schulgebäude. Nebenbei ließ ich einen Minitornado auf dem Boden kreisen. Jetzt wo ich den Dreh heraus hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören meine Fähigkeit die ganze Zeit einzusetzen. Es machte einfach total viel Spaß. June hatte eine Stunde später Unterricht als ich und konnte deswegen noch eine Stunde in ihrem Bett liegen und lesen.

Im Gebäude angekommen begegnete ich Damien auf dem Gang. Seit er mich geküsst hatte, ging ich ihm aber aus dem Weg. Außerdem hatte dieser Macho Arsch gerade irgendein Flittchen am Start und turtelte mit ihr herum. In ein paar Tagen würde er sie bestimmt wieder eiskalt fallen lassen. In ihrer Haut würde ich dann nicht gerne stecken wollen. Mein Blick war geradewegs an einen unbestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet. Aus den Augenwinkeln nahm ich war, wie er meinen vermiedenen Blickkontakt mit einem Stirnrunzeln quittierte. 

Lucien hingegen unterschied sich von Damien in den grundlegendsten Sachen, und war ihm doch wieder in manchen Dingen unheimlich ähnlich. Er war mir wirklich um einiges sympathischer, nur konnte ich ihn noch nicht wirklich irgendwo einordnen und kannte ihn kaum.

Als ich die Türe zu unserem Klassenzimmer öffnete, richteten sich alle Blicke auf mich. Meinen kleinen Tornado hatte ich bereits draußen losgeworden. Zuerst hatte ich noch Geschichte, danach stand der Test in Literatur an.

Unser Lehrer saß bereits auf seinem Schreibtischstuhl und hatte sich der Klasse zugewandt. Dunkelbraunes Haar, hager und ernst. Aber was einem vor allem auffiel, war die Autorität die er ausstrahlte. Alle saßen bereits auf ihrem Plätzen und unterhielten sich noch leise. Es war ungewohnt die bisher immer recht laute Klasse so ruhig zu erleben. Als der Gong den Unterricht ankündigte, standen alle gehorsam auf und begrüßten den Lehrer. Ich schloss mich dem Rest der Klasse an, stand auf und begrüßte den Lehrer förmlich.

„Setzt euch“, wies er uns an und ließ seinen scharfen Blick durch die Reihen schweifen.

Kurz verharrten seine dunklen Augen bei mir, dann wanderten sie weiter. Es kam mir so vor, als würde er versuchen sich jedes einzelne Gesicht einzuprägen.

„Mein Name ist Mr.Smith, ich bin die Vertretung für euren Geschichtslehrer. Er ist auf Reisen und wird vorrausichtlich erst in einigen Wochen zurückkehren. Solange bin ich euer Lehrer“, nun schlug er ein dünnes Buch auf und begann zu lesen. „1701. Dorothee Tretschlaf wurde mit dem Teufel gesehen und kurz darauf enthauptet, in Deutschland. 1713. Elizabeth Fairchild wurde als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem man sie beim Kräutersammeln im Wald entdeckt hatte. 1721. Lucy Norrington wurde als schuldig befunden und verbrannt, zusammen mit ihren zwei Schwestern. 1738. Helena Curtens wurde durch Verbrennung hingerichtet“, er sah von dem Buch auf und studierte die Reaktionen meiner Mitschüler. „Das waren einige Hexen, von denen wir wissen, dass sie Begabte waren. Natürlich wurden noch viel mehr von ihnen verbrannt, doch in diesem Jahr gab es einen Telepathen. Für unsere Geschichte war er eine der wichtigsten Quellen überhaupt. Sein Namen war Charles McAllister, ein Schotte, der alle wichtigen Daten in diesem Buch niederschrieb. Außerdem ist er ein entfernter Verwandte von mir“, bei dem letzten Satz merkte ich, wie seine Stimmte mit Stolz erfüllt war.

Ein Schotte also, soso. Wie kam man dann überhaupt auf den Namen „Smith“. War das überhaupt sein richtiger Name? Möglicherweise war es auch ein Deckname. Er erzählte uns noch mehr von den Hexenverfolgungen damals, und wie viele Begabte damals hingerichtet worden waren, weil ihre Fähigkeiten entdeckt worden war. Mr.Smith machte uns auch klar, dass wahrscheinlich noch viel mehr unserer Art verbrannt worden waren. Sollte das etwas eine Art Lektion für uns sein? Sollte das bedeuten, dass wir etwas auch sterben würden, wenn wir anderen unsere Geheimnisse preisgeben würden?

Als es gongte, bemerkte ich, dass ich es schon fast schade fand, das die Stunde vorbei war. Noch nie hatte mich der Unterricht so sehr interessiert, abgesehen von unserem Unterrichtsfach „Fähigkeiten“. Bei unserem neuen Geschichtslehrer hatten alle wie gebannt zugehört. Vielleicht war das ja seine Fähigkeit? Leute in seinen Bann zu ziehen und auf irgendeine Weise zu beeinflussen.

 

Jetzt hatten wir Literatur und schrieben den Test. June hatte mittlerweile auch den Weg in die Schule gefunden und saß bereits neben mir. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte und knirschte ununterbrochen mit den Zähnen.

„June!“, brauste ich schließlich aufgebracht. „Du machst mich schon ganz verrückt!“

„Tschuldige‘“, meinte sie und machte ein betretenes Gesicht.

Mr.Hops betrat den Raum und hatte sich seine Tasche unter den Arm geklemmt. Als unser neuer Geschichtslehrer gerade an ihm vorbei kam, warfen die beiden sich feindselige Blicke zu, ehe sie wortlos ihre Wege gingen.

Nachdem alle auf ihren Plätzen saßen und Ruhe in das Klassenzimmer einkehrte, wurden die Arbeiten ausgeteilt. Zuerst hatte ich überhaupt keine Ahnung, was ich schreiben sollte. Erst in den letzten fünf Minuten bekam ich einen Geistesblitz und fing plötzlich an wie verrückt mein Blatt vollzukritzeln. Mein Kugelschreiber kratzte unaufhörlich auf das Blatt, bis meine Hand schmerzte. Ich hatte gerade einmal die Hälfte geschrieben, da sollten wir unsere Stifte beiseitelegen. Na super, dann war das stundenlange Lernen gestern völlig umsonst gewesen, wenn ich trotzdem eine schlechte Note bekam. Zählten die Noten hier eigentlich genauso wie auf den normalen Hochschulen?

Genervt von mir selbst rauschte ich aus dem Klassenzimmer, zusammen mit June. Jedoch zierte ihr Gesicht ein zufriedenes Lächeln. Nun gut, sie hatte sich schließlich auf viel mehr auf den Test vorbereitet. Als wir den Gang entlang schlenderten, blieb June plötzlich vor dem schwarzen Brett der Schule stehen.

Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich um die Tanzkurse handelte, von denen mir June schon ganz begeistert erzählt hatte. Es gab ungefähr zehn Kurse, die sich nur von den Zeiten unterschieden. June und ich trugen uns gemeinsam für einen Kurs spätnachmittags ein. Alle anderen Personen auf der Liste kannte ich nicht. Kein Wunder, ich ging schließlich noch nicht allzu lange auf die Rosewood-High.

"Na, freust du dich schon auf das Tanzen?", raunte mir jemand von hinten zu. Diese Person war niemand geringeres als Lucien, der mich anzüglich angrinste.

"Es hält sich in Grenzen. In welchem Kurs bist du?", fragte ich ihn und drehte mich zu ihm um. Viele Mitschüler warfen mir eifersüchtige Blicke zu, vor allem die Mädchen und ein paar Schwule. Wahrscheinlich sank ich gerade auf der Beliebtheitsskala ganz weit nach unten. So etwas hatte es tatsächlich auf meiner alten Schule gegeben. Da die Liste damals immer von den Leuten geschrieben wurde, mit denen ich befreundet war, hatte ich natürlich immer weit oben gestanden.

"In dem gleichem wie du. Gerade eben habe ich mich eingetragen", antwortete er mir und deutete auf die Liste von unserem Kurs. Sein Name stand in elegant geschwungenen Buchstaben auf dem Papier. Schick.

"Dann sehen wir jetzt wohl öfters“, meinte er und grinste frech. „Man sieht sich“, mit diesen Worten verschwand er im nächsten Klassenzimmer ohne sich noch einmal umzudrehen.

"Oh mein Gott! Apryl, du hast mir gar nicht erzählt, dass du Lucien kennst“, sagte June mit einem anklagenden Unterton.

„Jap, und dadurch habe ich mich bereits sehrunsympathischbei meinen Mitschülern gemacht.“

 

 

 

Gleich würde meine erste Tanzstunde anfangen und ich freute mich schon wie ein kleines Kind, aber nicht auf das Tanzen, sondern auf Lucien.

Zum Tanzen sollte man eine enge Hose oder ein Kleid anziehen. Gut, das ich vier Koffer mitgenommen und damit die richtige Ausstattung hatte. Das schwarze Kleid, für das ich mich entschieden hatte, bauschte sich auf wenn ich mich drehte. Dazu zog ich noch eine schwarze Seidenstrumpfhose und Ballerinas an. Meine braunen, glatten Haare band ich wieder zu einem Pferdeschwanz nach hinten, da sie mir sonst nur ins Gesicht hängen würden.

Zusammen mit June ging ich kurz vor Beginn der Tanzstunde los. Die „kleine“ Turnhalle war im Vergleich zu normalen Turnhalle riesig. Etwa 40 weitere Schüler und ein paar Lehrer, die das Ganze leiteten, hielten sich hier bereits auf.

"Wenn jetzt alle so weit sind, sucht sich jeder einen Tanzpartner aus. Mit eurem Partner werdet ihr die nächsten Stunden zusammen üben. Natürlich seit ihr nicht dazu verpflichtet, mit ihnen auf dem Ball zu tanzen“, verkündete eine zierliche Frau, mit einer erstaunlich lauten Stimme.

Suchend schaute ich mich nach einem geeigneten Tanzpartner um. Aber alle hatten anscheinend schon im Voraus ausgemacht, mit wem sie tanzen würden.

"Na, schon jemanden gefunden?"

"Schleichst du dich eigentlich immer so von hinten an?", fragte ich Lucien schmunzelnd und drehte mich zu ihm um. Dieser lachte leise.

"Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du Lust hast meine Tanzpartnerin zu sein?", fragte er mich und streckte mir die Handfläche entgegen.

„Du hast noch niemanden, mit dem du tanzt?“

„Nein, ich habe auf dich gewartet“, meinte er und lächelte charmant.

"Na dann. Mit Vergnügen."

Ich legte meine Hand in seine und zusammen stellten wir uns neben die anderen Tanzpärchen, die sich ebenfalls schon gefunden hatten.  

Aufs Neue wurde ich mir bewusst, wie sexy Lucien aussah. Er trug eine lockere, graue Jogginghose und ein schwarzes, normales T-Shirt. Mit der Hand fuhr er sich durch seine kinnlangen, blonden Haare. Seine Haut war recht blass, was ihm nicht dieses Sunny-Surfer-Boy-Aussehen verlieh. Außerdem war genauso groß wie sein Bruder Damien. Ich stellte mir Lucien ein wenig wie meinen edlen Prinz mit seinem weißen Ross vor. Er war einfach charmant, witzig und anmutig. Es war so einfach sich mit ihm normal zu unterhalten und immer recht entspannt.

Kurze Zeit später ging es mit dem Tanzen los. Die Tanzlehrerin machte immer irgendwelche Schritte vor, die wir nachmachen mussten. Und nach einer Stunde hatte ich das Konzept einigermaßen begriffen. Trotzdem trat ich Lucien dauernd auf die Zehen, jedes Mal grinste er nur frech und musste das ein oder andere Mal auch ein Lachen unterdrücken. Nach dem Tanzen, als schon alle gegangen waren, ging ich noch schnell auf die Frauentoilette um meine zerrupften Haare neu zu ordnen und sie zu einem neuen Zopf nach oben band.  

Die Türe ging auf und Lucian kam herein. Was machte der hier bitteschön in der Frauentoilette!? Ich wollte ihn also gerade fragen, was er hier machte, da bemerkte ich seinen lüsternen Blick.

Er ging mit drei großen Schritten auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen.

"Darf ich?", fragte er mich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich war nur zu einem kurzen Nicken imstande.

Lucien beugte sich leicht zu mir herunter und küsste mich. Seine Lippen waren unheimlich weich und mein Hirn war komplett abgeschaltet. Ich erwiderte den Kuss und fuhr mit der Hand durch seine blonden Haare, was ich schon immer einmal hatte machen wollen. Seine Hand streichelte meinen Nacken und ich drückte mich noch etwas näher an ihn. Lucians Zunge verlangte Einlass in meinen Mund und ich öffnete ihn bereitwillig. Seine Hände krallten sich in meinen Hintern und er hob mich auf die kalte Waschbeckenplatte. Ich schlang meine Beine um seine Hüfte fuhr mit der anderen Hand unter sein Shirt.

"June hat mir gesagt, dass du hier drin sein musst und ich wollte mich noch ent-", stockend hörte er auf zu reden.

Wie vom Blitz getroffen fuhren Lucien und ich auseinander und starrten auf Damien, der in der Tür stand. Damien sah geschockt aus und stocksauer. Das traf es gar nicht, eher fuchsteufelswild. 

»The awakening


"Erst treten die Menschen in dein Leben, dann treten sie in deinen Hintern."

                - Therese Giehse

»Kapitel 1




"Ja ne. Und jetzt sind sie beide sauer auf mich. Damien, weil ich mit seinem Bruder rum geknutscht habe. Und Lucien, weil ich Schuldgefühle dabei hatte, als Damien gekommen ist. Es hat sich mit Lucien so...richtig angefühlt und doch falsch. Außerdem hat Damien mich ja auch einmal geküsst. Du weißt schon, in der Blechbox. Und das war ja auch nicht unbedingt schlecht, auch wenn ich wütend war. Wieso muss das Leben immer so schrecklich kompliziert sein? Ich habe das Gefühl im Selbstmitleid zu versinken. Und niemand ist da um mich raus zuziehen!"

Und schon wieder flennte ich los. Ich war ja eigentlich nicht so nah am Wasser gebaut, aber das hatte sich in den vergangenen Wochen einfach so angestaut. Hoffnungslos. Es kam mir so vor, als wäre jetzt irgendein Damm gebrochen, der verhinderte, dass ich endlich aufhörte zu heulen. Natürlich ging es hierbei nicht nur um die beiden Brüder, sondern auch um das was mir June erzählt hatte, das ich in Rosewood ungeplant gelandet war und die Leiche bei Halloween. Dieses ganze Drama war ich nicht gewöhnt.

Mein Kumpel – der Badezimmerspiegel - hörte mir zu, ohne mich nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Wenigstens er hörte mich an. Und wieder kamen die Tränen. Aus einer pinkfarbenen Taschentuchbox, zog ich ein Tuch heraus und trompetete lautstark hinein.

Erst jetzt bemerkte ich, dass June im Türrahmen stand. Wie lange sie mir wohl schon zugehört hatte? Aber heute würde mir nichts mehr peinlich sein – ha! Ich schniefte noch einmal mitleiderregend.

Als ich wieder in den Spiegel sah, blickten mir gerötete Augen entgegen. Schon wieder war mir einfach nur zum Heulen zumute! Obwohl der Tag doch eigentlich so schön angefangen hatte.

June seufzte.

"Komm in meine Arme, mein Kind", meinte sie theatralisch und breitete ihre Arme aus.  

Zwar war sie jünger als ich, aber in vielen Dingen um einiges vernünftiger.

Sofort warf ich mich in ihre Arme und hieß die Umarmung wirklich sehr willkommen. Dabei kam ich mir vor wie eines von diesen verblödeten Mädchen, die Tagelang einem Jungen hinterherweinte. 

"Die Welt ist so ungerecht", jammerte ich wieder, und kam mir dabei vor wie eine 5-Jährige.

June tätschelte mütterlich meinen Kopf und erklärte mir, dass Jungs, eben einfach unverbesserlich seien. Da konnte ich ihr nur zustimmen.

"Ich glaub ich geh jetzt ins Bett.“

Das verbrauchte Taschentuch warf ich in den kleinen Mülleimer, der unter dem Waschbecken stand, und zog ein Neues heraus und schnäuzte wieder geräuschvoll hinein. Meine Tränen strich ich mit dem Handrücken weg.

"Alles klar. Schlaf gut, Süße. Ich mach mich jetzt auch fertig."

Mit ungeputzten Zähnen und in Straßenkleidung schmiss ich mich regelrecht ins Bett und drehte mich zur Wandseite.

 

 

 

 

Gelangweilt spielte ich mit meinen Bleistift herum, bis er schließlich auf den Boden hinunter fiel. Kurz überlegte ich, ob ich ihn aufheben sollte, aber dafür war ich viel zu erledigt. Also ließ ich den Stift einfach dort liegen, wo er war.

Literatur war einfach zum Einschlafen. Da das hier eine Elite-Schule für Schüler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten war, sollte man meinen, dass man manche unwichtigen Fächer auch einfach weglassen könnte.

In der nächsten Stunde hatten wir 'FK', eine Abkürzung für ‚Fähigkeiten‘, ein Unterrichtsfach. Vor dieser Stunde hatte ich ehrlich gesagt ein wenig Schiss, da ich vermutlich wieder mit Damien proben würde. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich ihm unter die Augen treten sollte. Mir war die gesamte Angelegenheit total peinlich. Obwohl man eigentlich meinen sollte, das es ihn überhaupt nichts anging.

Aber vielleicht würde er auch einfach nicht kommen? Das wäre natürlich auch möglich, und für beide Seiten wohl das Einfachste.

Endlich läutete die Schulglocke und ich packte meinen karierten Collegeblock eilig in meine Tasche und düste dann in die Blechbox, die Turnhalle.

Als ich die Blechbox betrat, stach mir sofort Damiens hochgewachsene und schlanke Gestalt ins Auge. Er stand etwas abseits von den anderen und sah nicht gerade gutgelaunt aus. Wenn ich Glück hatte, würde er mich vielleicht gar nicht bemerken oder am besten einfach ignorieren.

Schnell schmiss ich meine Tasche zu dem Taschenhaufen in die Ecke und gesellte mich zu meinen Mitschülern, die bereits um John eine Traube gebildet hatten. Einige hatten die Köpfe bereits zusammen gesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. Als ich mich den Schülern genähert hatte, hatten sie gleich aufgehört zu reden und mich einfach nur stumm angestarrt.

In den wenigen Wochen, in denen ich hier war, hatte ich mir bereits einen Ruf gemacht. Naja, eigentlich nicht nur einen.

Einmal hatte ich ein paar Tussis aus der  Oberstufe näseln hören, das in etwa so klang: "Macht einen auf elegant und arrogant. Die hält sich wohl für etwas Besseres."

Auf solche Sticheleien ging ich gar nicht erst darauf ein, die waren doch sowieso nur eifersüchtig. Warum genau sie so neidisch waren, wusste ich nicht. Da gab es schließlich so viele Möglichkeiten!

Zum einen natürlich meine Fähigkeit das Element Luft zu beherrschen, mit dem ich mich jetzt auch schon mehr angefreundet hatte und auf das ich auch recht stolz war. Außerdem hatte ich Kontakt mit Lucien und Damien, besaß Geld, sah meistens nicht schlecht aus,... Und das Beste an mir war immer noch meine unglaubliche Bescheidenheit.

Für mein Verhalten konnte ich nichts. Wie würdet ihr euch verhalten, wenn ihr mit viel Geld und Luxus aufgewachsen wäret? Genauso wie ich eben, nur nicht ganz so toll.

Dass ich eine schlechte Kindheit hatte, konnte ich wirklich nicht von mir behaupten. Abgesehen davon, dass ich meine Mutter und meinen kleinen Bruder Matt bei einem Autounfall verloren hatte. Das war die sogenannte tragische Wendung in meinem Leben gewesen.

Die meiste Zeit war ich ohne Mutter aufgewachsen. Das Schlimmste war, das ich nicht einmal mehr wusste, wie sie aussah! Klar, wir hatten überall Fotos von ihr herum stehen. Eine richtige Erinnerung an sie hatte ich aber nicht mehr und das war bitter, wirklich bitter.

 

Der Couch riss mich aus meinen Träumereien, als er mich zu sich rief.

Also lief ich wie ein Schoßhündchen zu ihm und machte Sitz. Nein, das machte ich natürlich nicht, dafür war mir der Boden zu ungemütlich.

Fragend hob ich eine Augenbraue und sah ihn abwartend an. Schließlich hatte er mich hierher bestellt.

"Damien hat darum gebeten, einen neuen Schützling zugeteilt zu bekommen. Das heißt für dich, dass du jetzt einen neuen Lernpartner hast. Da wir jemanden benötigen, der an dein Talent heran reicht, steht da nur noch Lucien zur Verfügung", teilte mir John mit.

Damien stand übrigens neben ihm und hatte seinen Ich-starre-alles-und-jeden-nieder Blick aufgesetzt. Am liebsten wäre ich unter seinem scharfen Blick im Boden versunken. Als sein Bruder, Lucien, erwähnt wurde, verfinsterte sich sein Blick sogar noch mehr, falls das überhaupt möglich war.

Die Türe ging auf und Lucien kam hereinstolziert. Alle Blicke richteten sich nun auf ihn und glotzten ihn Treu-doof an. Er schien sich dieser Tatsache wohl bewusst zu sein, denn er hatte mal wieder sein übliches, überhebliches Grinsen aufgesetzt.

Sein Grinsen wurde noch breiter, als er mich entdeckte. Das Grinsen erwiderte ich, nur nicht ganz so breit wie Lucien. Damien sah jetzt sogar noch angepisster aus und hatte seinen Blick an einen unbestimmten Punkt geheftet. Aha. Ich war ihm keine Rechenschaft schuldig. Das war bestimmt so eine Sache zwischen Brüdern. Da würde ich mich ganz sicherlich nicht einmischen.

Damien drehte sich um und steuerte auf den Ausgang zu. Als er an seinem Bruder vorbeikam, rempelte er diesen, ganz aus Versehen natürlich, an und verließ die Blechbox.

Lucien tat so, als würde es seinen Bruder gar nicht sehen und grinste immer noch genauso selbstgefällig. Falls Damien ihn in irgendeiner Weise provoziert hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

Als er bei uns ankam, stellte er sich neben mich und legte mir ganz unauffällig seinen Arm um die Taille.

Kurz hielt ich den Atem an, genau wie alle anderen Mädchen auch, und stieß die Luft dann wieder aus.

Die Mädchen glotzten mich und Lucien so unverfroren und unverständlich an, als würden sie nicht ganz verstehen, was da gerade abging.  

Bald würden ihnen die Augen aus dem Kopf fallen, wenn sie sich noch etwas weiter vorbeugen und noch etwas auffälliger gaffen würden. Lucien und ich dienten nicht als allgemeine Unterhaltung, wir waren hier ja schließlich nicht beim Fernsehen.

"Hey", begrüßte ich ihn, legte ein hochmütiges Lächeln auf und hatte große Lust, hier eine Show abzuziehen.

Aber da man danach nur noch mehr über mich lästern würde, und Damien es sicherlich auch irgendwie rausfinden würde, ließ ich es einfach sein. Ich hatte jetzt keine Lust hier irgendjemanden zu provozieren.

"Hi", entgegnete er und grinste verschwörerisch.

"Du also wegen gestern-."

"Wir müssen reden", unterbrach er mich einfach und guckte jetzt total ernst drein.

"Okay", meinte ich gedehnt.

Wer weiß, was jetzt auf mich zukam?

"Nicht hier, sondern später. Gut?"

Zustimmend nickte ich, und wandte mich wieder von ihm ab. Ich wollte nicht, dass er auch noch glaubte, dass ich ihn anhimmelte wie irgendeinen Rockstar. Der genauso eingebildet wie sein Bruder Damien, obwohl das eigentlich nicht immer etwas Schlechtes war.

"Okay, dann lass und mal anfangen“, mit diesen Worten brachte er ein paar Meter Abstand zwischen uns.

Erst jetzt fiel mir auf, dass alle anderen sich bereits in Position gegangen waren und mit den Übungen anfingen. Hin und wieder warfen uns einige Mädchen verstohlene Blicke zu, hielten aber Gott sei Dank ihren Schnabel.

Lucien formte währenddessen eine große Wasserkugel, die ihn gänzlich umschloss. Trotzdem konnte ich ihn noch gut erkennen, da die Wasserschicht dünn und klar war.

"Und jetzt machst du das Gleiche mit deinem Element", forderte er mich auf.

So schwer hatte es bei ihm jedenfalls nicht ausgesehen, eher wie ein Klacks.

Also schloss ich die Augen und stellte mir vor, wie mich eine leichte Brise Luft umgab, die sich dann langsam zu einer Kugel formte.

Alle was in der Nähe stand, wurde unsanft beiseitegeschoben. Mittlerweile hatte ich das Prinzip verstanden und den Dreh raus bekommen, wie ich mein Element ungefähr beherrschen konnte.

Da Luft immer um einen herum vorhanden war, war es um einiges leichter es zu kontrollieren. Die Elemente konnte man nämlich nicht nur kontrollieren, sondern auch erschaffen. Nur war es viel leichter etwas zu kontrollieren, als es aus dem Nichts zu erschaffen.

Theoretisch könnte ich mir unter Wasser eine Luftblase erschaffen, in der genügend Sauerstoff zum Atmen war. Bei Gelegenheit musste ich das unbedingt einmal ausprobieren!

"Das war gar nicht mal so schlecht, Apryl. Aber jetzt versuchen wir etwas Komplizierteres“, lobte er mich.

Kurz warf ich einen Blick zu ihm herüber und nickte dann. Die mit Luft gefüllte Kuppel löste ich wieder auf und blickte nun fragend Lucien an.

"Versuche dein Element, die Luft, zu einer Kugel zu formen. Stell es dir hier vor", er tippte sich an die Stirn. "Und lass sie dann mit geballter Kraft auf mich los."

"Bist du dir sicher, dass du das überlebst?", fragte ich überheblich und grinste.

Lucien verschränkte die Arme vor der Brust und grinste ebenfalls.

"Aber sicher doch, so etwas haut mich nicht gleich um. Also mach jetzt."

Zuerst bündelte ich die Luft um mich herum und ließ die Strömungen auf einen Punkt zielen, sodass sich eine unsichtbare Kugel bildete. Nur an dem Wind, der seine Runden um die Kugel drehte, zeigte, dass sich etwas tat. Natürlich konnte ich es auch fühlen, es war nun auch ein Teil von mir. Ich ließ die Luftkugel einfach los und in seine Richtung fliegen, mit beachtlicher Geschwindigkeit.

Lucien flog einige Meter durch die Luft und kam krachend auf dem Boden auf. Mist! War das zu heftig gewesen? Hatte ich es übertrieben? Leblos lag er am Boden.

Die anderen waren wohl noch ziemlich vertieft in ihren Übungen, und bekamen nichts mit. Hatten die was an den Ohren? So leise war das eigentlich nicht gewesen.

Hastig rannte ich zu Lucien, ließ mich neben ihn auf den Boden fallen und rüttelte ihn unsanft an den Schultern.

"Steh auf, du Memme", sagte ich freundlich zu ihm und sah ihn besorgt an.

Sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, aber wenigstens lebte er noch. Die Augenlieder öffneten sich flatternd.

"Es...tut...mir leid. Sag meiner Familie, dass ich sie liebe", flüsterte er stockend und ich musste mein Ohr an seinen Mund halten, um etwas zu verstehen.

Oh Gott! Er hatte doch nicht etwa vor, hier vor meinen Augen abzukratzen.

"Scheiße! Lucien!“, rief ich nun etwas lauter und mindestens eine Oktave höher.

Lucien hustete rau, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Dieses miese Arschloch.

Immer noch lachend richtete er sich langsam auf und versuchte erfolglos sein Gelächter als ein Hüsteln zu tarnen.

"Mistkerl."

"Du hast nicht einmal geheult! Du bist wirklich herzlos", meinte er scherzend und stand auf. "Uhh. Das wird schöne, blaue Flecken geben und sie werden in allen Tönen schimmern", sagte ich fröhlich und grinste fies.

„Wirst du mich dann wenigstens verarzten, gütigste Apryl?“

„Das kannst du vergessen.“

Lucien zog eine Grimasse und klopfte sich den imaginären Staub von der Hose. Das Läuten erlöste mich von dieser äußerst belustigenden Unterrichtsstunde.

Eilig verabschiedete ich mich von ihm, schnappte mir meine Tasche und ging zur Fechtstunde, mein absolutes Lieblingsfach neben Fähigkeiten.

Nach kurzer Zeit hatte ich festgestellt, dass ich gerne mit einem Degen auf Leute einschlug. Natürlich nur solange sie gut geschützt waren. Wir wollten hier schließlich keine Toten.

Was das Fechten anging hatte ich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt. Noch nie wollte ich in einem Fach wirklich gut oder überragend sein. Rosewood färbte wohl positiv auf mich ab. Das Aufwärmtraining war zwar immer ziemlich anstrengend und die Schutzkleidung war schwer und warm. Aber es machte Spaß, und man bekam das Gefühl, sich jederzeit verteidigen zu können und Sicherheit.

Meine Mitschüler waren allesamt Memmen und Angsthasen, die bei jedem kleinem Wehwehchen zu ihrer Mama liefen. Mit ihnen konnte ich also nicht viel anfangen. June bildete damit also die Ausnahme. Natürlich gab es noch ein paar andere Klassen, in denen sich vielleicht die ein oder andere nette Person befinden konnte, aber ich war wohl einfach ein wenig zu faul um neue Leute kennen zu lernen.

Abgesehen von den Unterrichtsfächern und den speziellen Begabungen der Schüler und Lehrer, unterschied sich diese Schule nicht viel von anderen, amerikanischen Schulen. Klar, das war hier alles viel nobler. Die Leute hier waren so bunt gemischt, wie eine ganze Farbpalette.

Es gab hier und da ein paar Terrorzicken, Nerds, Streber, Kiffer, Grufties, Punks und meine persönlichen Lieblinge: Die Hippies. Can you feel the love in the air? Das meinte ich selbstverständlich ironisch. Diese dauergutgelaunten Personen gingen einem nach einer gewissen Zeit dermaßen auf den Keks. Die Kiffer waren eigentlich alle recht gechillt und friedlich, genau wie die Grufties und Punks. Die Nerds hier auf der Schule waren eigentlich kein echten Nerds, so wie man sie eigentlich kannte, sondern sogenannte „Hipster“. Die große Hornbrille trugen sie also nur als Accessoire, und nicht da sie eine Sehschwäche hatten.

Als nun endlich - irgendwann - die Schule für mich zu Ende war, ging ich erst einmal völlig erledigt zurück zu unserem kleinen Häuschen.

Dort angekommen, hängte ich Jacke und Tasche über einen Stuhl und schmiss mich auf unsere gemütliche Couch. Ich hielt gerade Ausschau nach der Fernbedienung, da entdeckte ich einen dunklen Schatten, der am Fenster vorbeihuschte.

Den typischen Krimifilmen zufolge, war das bestimmt der Killer und ich war das Opfer. Diese Schatten entpuppten sich am Ende immer als Mörder, das kannte ich doch schon aus unzähligen, schlechtgemachten Filmen. Vielleicht hatte ich aber auch einfach einen kleinen Hang zum Übertreiben.

Ich schlich in die Küche, schnappte mir ein langes Brotmesser und huschte dann in den Flur, Richtung Eingangstüre.

Gespannt öffnete ich die Türe, wobei ich sie erst einmal nur einen kleinen Spalt öffnete und bereit war, sie gleich wieder zu schließen.

Und wer stand da? Niemand geringeres als Lucien. Tja, noch mal Schwein gehabt.

Schnell ließ ich das Messer hinter meinem Rücken verschwinden - sonst hielt man mich am Ende noch für paranoid, ha! - und grinste ihn an.

"Darf ich reinkommen?", fragte er und lächelte charmant.

Kurz fragte ich mich ob er ein Vampir war, die brauchten schließlich auch immer eine persönliche Einladung, um das Haus betreten zu dürfen und um anschließend alle auszusaugen. Ich wischte den Gedanken beiseite, Vampire gab es bestimmt nicht, oder? Wenn es sie gäbe, würden sie dann etwa auch wie Edward wie eine schwule Fee glitzern?

"Klar", meinte ich und erwiderte sein Lächeln, bedacht darauf ihm nicht gleich zu verfallen und dämlich zu grinsen, und machte die Tür weiter auf, damit er hinein gehen konnte.

Unauffällig ging ich ein kleines Stückchen rückwärts, sodass er das große Brotmesser nicht sehen konnte. Nein, keine Angst. Ich hatte nicht vor ihn hier in meiner Wohnung abzustechen, vor allem nicht auf dem weißen Fusselteppich von June. Das wäre vermutlich ein wenig zu auffällig gewesen.

Als ich Lucien wieder in die Augen blickte, warf mich der Anblick glatt um. Seine Augen waren einfach unbeschreiblich schön und unbeschreiblich blau. Sie strahlten mich förmlich an und es fiel mir schwer meinen Blick von ihnen loszureißen.

Da June bald kommen würde, hatte ich keine Lust hier eine flotte Nummer mit Lucien abzuziehen, vor ihren Augen. Das wäre dann ein wenig peinlich gewesen.

"Also ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass das Tanzen morgen eine Stunde länger dauert. Der Ball ist ja bald."

Ach ja, der Ball. Ich freute mich darauf schon wie eine Fünfjährige auf Weihnachten. Bezaubernde Kleider, tolle Haare und attraktive Begleitung. Diese Träume klangen sicherlich etwas unreif, da ich selbst wusste, dass die wirkliche Welt nicht in pinken und rosa Tönen gemalt war, sondern unverblümt und gemein.

"Ich habe den langen, weiten Weg auf mich genommen, um dich zu fragen, ob du mich zum Winterball begleiten möchtest.“

Lucien war wirklich charmant, süß und zum dahin schmelzen heiß. Er war mein Ritter in weißer Rüstung. Natürlich kam es nicht immer nur auf das Aussehen an, aber ob man es zugeben will, oder nicht, das Äußere spielte doch meistens eine Rolle.

"Apryl?"

"Ja?", fragte ich etwas geistesabwesend.

"Nun...begleitest du mich jetzt?", er klang nun sichtlich nervöser und ich hörte ihn mit den Zähnen knirschen. Seine Mundwinkel gingen ein wenig nach unten und seine Augen wurden ein wenig größer.

Stimmt, ich schuldete ihm ja noch eine Antwort. Wie peinlich. Da wurde ich einmal gefragt, ob man zusammen mit dem „Traumprinzen“ auf einen Ball gehen will, und ich verpasste ernsthaft, ihm zu antworten.

"Es wäre mir ein Vergnügen", antwortete ich ihm schließlich und versuchte ein ebenso charmantes Lächeln aufzusetzen.  

Sofort erschien wieder sein einnehmendes Lächeln, das seine Augen erreichte und sie zum Strahlen brachte.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits“, erwiderte er.

Nun beugte er sich leicht vor, deutete eine Verbeugung an und legte meine Hand in seine. Meine Hand hob er leicht hoch und küsste meine Hand, wobei er mir die ganze Zeit in die Augen blickte. Etwas konfus beobachtete ich Lucien und musste ein Lachen unterdrücken. War ich hier etwa in einem mittelalterlichen Märchen gelandet? Naja, irgendwie hatte das etwas und ich fühlte mich seltsam geschmeichelt.

Luciens Lächeln war stets aufrichtig, ehrlich und ich hatte das Gefühl, das er es wirklich ernst meinte.

Schließlich ließ er meine Hand wieder los und trat einen Schritt nach hinten.

„Bis dann, Apryl“, verabschiedete er sich und drückte mir noch einen Kuss auf die Wange.

Die Situation war insgesamt ein wenig peinlich, da wir beide nicht genau wussten, wie wir uns verabschieden sollten? Hände schütteln? Umarmen? Küssen? Oder einfach nur einen Kuss auf die Wange drücken, wie er es getan hatte?

Wenn ich daran dachte, dass wir am Ende der letzten Tanzstunde wild herumgemacht hatten, war es schon etwas seltsam.

"Ciao, Lucien.“

Nachdem er gegangen war, machte ich es mir erst einmal auf der Couch mit einer Tüte Sesamstangen bequem, schaltete den Fernseher an und legte die Füße auf den kleinen Tisch.

Irgendwann kam dann schließlich auch meine Mitbewohnerin zuhause an. Hatte sie etwa so lange Unterricht gehabt? Seitdem Lucien wieder verschwunden war, waren mit Sicherheit ein, zwei Stunden vergangen.

"Und June, wo warst du denn so lange?", fragte ich sie, als sie herein kam und erst einmal ihre Jacke auszog und an den Kleiderhacken hängte.

"Ehm…“, augenblicklich wurde sie rot und lächelte etwas verlegen, wobei sie den Blick auf den Boden richtete.

"Oder sollte ich lieber fragen, bei wem?", hakte ich nach und grinste verschwörerisch.

Sehr gut, Apryl. Das machte ich ja fast schon wie in einem Kreuzverhör. Taktgefühl zählte ich auf jeden Fall nicht zu meinen Stärken.

"Er heißt Tyler!", platzte sie schließlich heraus und wurde nun noch eine Stufe röter im Gesicht. „Ich zieh mich nur rasch um, dann erzähl ich dir alles!“

Oh ja, das würde sie. Sonst würde ich sie nämlich ausquetschen wie eine reife Zitrone.

 

»Kapitel 2

 



June schwirrte schon seit einer Stunde um mich herum wie eine fleißige Biene. Sie schminkte mich, machte mir die Haare und half mir ins Kleid rein. June war ebenfalls schon fertig gemacht, nur ihr Kleid fehlte noch. Ich trug ein bodenlanges Kleid, das hauptsächlich aus Tüll und ganz vielen,aufwendigen Stickereien bestand. Das Kleid war in grau, silber und blau Tönen gehalten und hatte etwas winterliches an sich, etwas kaltes und unnahbares. Passend zum Thema Winterball. Es war einfach nur umwerfend. Es war schulterfrei und tailliert. Meine Haare waren aufwendig hochgesteckt worden von June und nur ein paar einzelne, gelockte Strähnen fielen mir über die nackte Schulter.  Nach einer weiteren halben Stunden dürfte ich endlich zum Spiegel ins Bad latschen. Und als ich in den Spiegel blickte, konnte ich mir nur 'wow' denken. Denn es war ja auch 'wow'. Die Farben des Kleids passten perfekt zu meinen grauen Augen. Doch alles in allem wirkte ich seltsam kalt und distanziert. Ich versuchte ein Lächeln im Spiegel, aber ich drückte diese arrogante Kälte aus, die ich sonst nur von den selbsternannten Schulzicken kannte.  June hatte ganze Arbeit geleistet, aber als ich in meine Augen sah, war diese Kälte da und die ging beim besten Willen nicht weg. Seltsam, wirklich seltsam. Ich half June noch schnell in ihr silbernes, langes Kleid hinein und da klingelte es auch schon an der Türe. Meine Füße taten mir jetzt schon Leid, da sie in diesen hochhackigen Tretern steckten. Diese Treter hatten mordsmäßige 9 Centimeter und machten mich damit größer als einige Jungs. Aber das war mir jetzt scheißegal.  Der Typ der an unserer Haustüre stand, war natürlich niemand geringerer als Lucian. Auch er sah umwerfend aus. Aber wer tat das heute nicht? Wir passten farblich gut zusammen, und das blau unterstrich Lucians blaue Augen.  Ich hakte mich bei Lucian unter und zusammen gingen wir dann zum Winterball, der in der riesigen Halle stattfand. Den man hier als Turnhalle bezeichnete.  June wurde etwas verspätet von ihrer Begleitung abgeholt, aber wir würden uns sich auf dem Ball begegnen.  Der Weg zur Halle kam mir viel weiter vor, als sonst. Es war scheinekalt hier draußen und da ich dummerweise auf eine Jacke verzichtet hatte, musste ich nun mal zwei Minuten bibbern. Lucian hatte mir natürlich seine Anzugjacke angeboten, aber ich hatte dankend verneint. Wie würde das denn aussehen? Na, auf jeden Fall bescheuert hoch zehn. Als wir in die Halle traten, kam uns erst mal eine ziemlich altmodische Musik entgegen, das war bestimmt Bach oder Beethoven, zum einschlafen eben. Die Luft hier drinnen war zusätzlich noch ziemlich dick, jeder hier hatte sich einparfümiert, und das nicht zu wenig. Die Halle war wunderschön geschmückt worden, überall hingen 3D Schneeflocken und alles hatte so eine etwas winterliche Aura. Heute Abend sollte es noch schneien, dann wäre es vermutlich perfekt.  Es gab in der Mitte eine große Tanzfläche, auf der schon ein paar Pärchen die Hüfte schwangen, dann am Rand eine Bar und dann gabs da noch diese stillen Örtchen, wohin sich die Turteltauben dann verziehen konnten.  "Komm, wir holen uns erst mal was von der Bowle.", sagte Lucian und lächelte anzüglich. Er schlang mir seinen Arm um die Taille und zog mich dann mit sich zur Bar. Ehrlich gesagt kam ich mir hier ein bisschen verloren vor, ich kannte fast niemanden und alle taxierten mich mit giftigen Blicken. Aber so schnell lies ich mich nicht einschüchtern - eigentlich gar nicht. Also erwiderte ich die neidvollen und eifersüchtigen Blicke schadenfroh und musste dem Drang unterstehen, allen die Zunge rauszustrecken. Endlich waren wir an der Bar angekommen. Lucian besorgte uns schnell zwei Gläser mit dieser blauen Bowle. Aber Alkohol war da bestimmt nicht drinnen, das war hier schließlich immer noch die Schule.  Lucian reichte mir das Glas und ich nippte neugierig daran.  Es schmeckte total exotisch, irgendetwas mit Ananas, Marakuja, Kokosnuss und noch anderem Zeugs. Doch das was ich als Erstes rausschmeckte? Alkohol. Aha.  Jaja, das musste ich doch gleich mal den guten Lucian fragen.  "Wieso ist da Alkohol drinnen?", fragte ich ihn wie ein Kleinkind, man war ich schrecklich.  Doch Lucian hatte für mich nur ein hinreißendes Grinsen übrig.  "Das ist hochprozentiger Wodka. Hat wohl irgendein Engel da rein gekippt." Naja, da hätte ich aber auch drauf kommen können.  Es kamen immer mehr schicke Leute rein, und ein paar 'verschwanden' mal eben. Ich konnte aus der Menge heraus sofort Damien ausmachen. Er sah wirklich unbeschreiblich sexy aus. Aus jeder Pore strahlte er Arroganz, Macht, Stolz und Sex aus.  Aus der Halle erklang ein allgemeines Seufzen und die Mädchen sabberten schon wie eine Armee Hunde. Hatten die nicht so was wie Würde? Mit viel Anstrengung riss ich mich von Damiens Anblick, denn hey! Hier neben mir saß Lucian, sein Bruder und der strahlte das Gleiche aus. Auch wenn da noch so eine Ruhe war, die sich mit sofortiger Wirkung auf mich übertrug.  "Willst du tanzen, Apryl?"  Na endlich. Wäre ich hier noch länger rum gehockt, wäre ich vermutlich versauert. Und da war sie wieder, meine .... äh ... Charakterstärke? Ich war eben eine richtige Prinzessin, und das zu noch eine Verwöhnte. "Klar." Lucian hielt mir lächeln die Hand hin und ich ergriff sie. Ich warf ihm ein anzügliches Grinsen zu - ja, ich konnte das auch - und lies mich von ihm zur Tanzfläche führen.  Das war hier ja wie auf der High School, überall hormongeschwängerte Teenies die mit irgendwelchen Traumtypen ankamen und dazu noch Prinzessininenkleider trugen. Manchmal vergas ich wirklich für eine Zeit, dass das hier keine normale Hochschule war. Rosewood war etwas für Überntürliche tolle, schöne, nette, aufmerksame, temperamentvolle, gutherzige und überaus kluge Mädchen - wie mich.  Ich schob Damien in meine geistige Tabu Schublade und konzentrierte mich auf Lucian, was ja nicht schwer war. Anmutig wirbelte er mich zu einem etwas schnellerem Lied über die Tanzfläche, und ich machte selber so gut wie gar nichts, das überließ ich lieber Lucian.  Als der Tanz zu Ende war, mischten wir uns zu zweit unter die Anderen. Irgendwann nervte diese ganze Aufmerksamkeit auf mal, man musste es ja schließlich nicht übertreiben.  Ich spürte die eifersüchtigen und mordlüstigen Blicke in meinem Rücken - aber scheiß drauf! Lucians warme Hand lag plötzlich in meinem Nacken und er zog mich näher an sich ran. Und da passierte es schon wieder! Mein Hirn verabschiedete sich mal wieder.  Er beugte sich leicht zu mir herunter und küsste mich sanft. Ein allgemeines Seufzen ging wahrscheinlich gerade durch die Reihen der Mädchen, hallo? Ich dachte wir hätten hier am Rande der Turnhalle mal ein wenig mehr Privatsphäre. Ich schloss die Augen und erwiderte den Kuss. Meine Hand lag auf seiner Brust und ich bemerkte fast gar nicht mehr, wie ich ihn am Kragen zu mehr noch näher herzog.  Irgendwann mussten wir aber auch mal eine Pause einlegen, ich bekam langsam keine Luft mehr. Obwohl ... so schlimm war das gar nicht. Atemlos sahen wir uns in die Augen, und dieser Blick war so intim. Oh Mann. In meinem Bauch kribbelte es leicht. Schmetterlinge? Echt jetzt? Naja, so wundern konnte mich das jetzt auch nicht, ich meine bei Lucian!  "Ähm ... ich glaub ich muss mal kurz aufs stille Örtchen!" Ich presste mich an den ganzen Leuten vorbei und kam - endlich - bei der Toilette an. Plötzlich zog mich jemand am Handgelenk in die Männertoilette. Wehren konnte ich mich nicht, darunter würde letztendlich das Kleid leiden. Na toll, ich schweife schon wieder ab. "Was zur Hölle ...?" Niemand geringeres als Damien drückte mir gerade seine Lippen auf meinen Mund. Meine Hände waren zu Fäusten geballt und ich hämmerte unsanft auf Damiens Brust. Dieser Gorilla sollte mich in drei Teufels Namen sofort los lassen! Was fiel diesem Spinner eigentlich ein?  Irgendwann gab ich es schließlich auf und lies die Hände sinken. Damien küsste mich drängender und irgendwie gab ich ihm nach. Ich erwiderte den Kuss und ich weiß wirklich nicht mehr, wie meine Hand zu seinen Haaren kam. Seine Hand vergrub sich in meinen Haaren - die schöne Steck Frisur!  Zu meiner Überraschung beendete Damien den Kuss. Shit! Erst jetzt fiel mir auf, was ich hier gerade trieb, oder mit wem! Das war Damien, Lucians Bruder! Lucian. Heftige Schuldgefühle überkamen mich.  "Mist.", murmelte ich gedankenverloren und fuhr mit den Finger durch meine verwuschelten Haare. "Also so schlecht was es jetzt auch nicht.", sagte Mr. Arrogant überheblich betrachtete gelangweilt seine Fingernägel. Dieser Arsch. "Naja, es gibt Besseres.", sagte ich in dem gleichen, überheblichen Ton.  Der Kuss gehörte auf jeden Fall zu Top 3, nur waren die Umstände nicht so entsprechend. Aber das würde ich ihm nicht auch noch unter die Nase reiben.  Ich warf einen Blick in den Spiegel und stöhnte auf. Meine Haare sahen so aus, als hätte ein Vogelpärchen darin genistet. Ich löste die Steckfrisur auf und kämmte sie mit den Finger. Da June meine Haare davor ja gelockt hatte, fielen mir diesen jetzt wie Schokolade über den Rücken. Schon viel besser. An mir rauschte Damien vorbei und knallte die Türe zu.  Diese Brüder taten mir einfach nicht gut. Vielleicht sollte ich mich mal entscheiden? Oder lieber einfach eine Pause einlegen? Ich entschied mich für Zweiteres und verließ die Herrentoilette und konnte von Glück sprechen, das niemand vorbei geschaut hatte.  Wo sollte ich jetzt hin gehen? Lucian konnte ich erst mal nicht mehr unter die Augen treten. Schamgefühl sag ich nur.  Also beschloss ich nach Hause zu gehen. Klar, das war mies von mir, Lucian einfach so stehen zu lassen, aber so war ich nun mal. Vielleicht hatte er sich ja schon eine Andere geschnappt? Ich wusste ja nicht einmal was zwischen mir und Lucian und Damien genau läuft. Aber das konnte man ja noch wann anders klar stellen. Ich schlängelte mir einen Weg durch die tanzende Masse und verließ eilig die Halle. Gerade wollte ich die Halle verlassen, da tippte mir jemand auf die Schulter. Genervt drehte ich mich um. "Was?", blaffte ich und musterte die Barbie vor mir. Blonde Haare, knallpinke Lippen, blaue Augen, tolles Kleid, tolle Figur und eine Arroganz die man ihr sofort ansah. Das wusste ich alles, ohne genau hinzusehen. Ich sag ja nur: Mein wahres Talent! "Unglaublich das du dich an Lucian ranmachst! Aber das ist schon okay, der lässt dich früher oder später sowieso fallen! Aber Damien!? Reicht dir einer von denen nicht? Musst du gleich beide haben, du eingebildete Schnepfe? Du hältst wohl ziemlich viel von dir, reich, hübsch, tolles Talent und jemand der ohne schlechtes Gewissen sich an jeden Typen ranmacht! Ja, ich hab dich durchschaut. Da wunderst du dich jetzt, hm? Aber ich kann dir versichern, ich bin nicht die Einzige die so denkt! Der Großteil der Schule denkt so!", rief sie wütend aus. Aber von so was lies ich mich gar nicht beeindrucken. "Aha. Und wieso sagt der Großteil der Schule dann nichts?", fragte ich gelassen. "Weil sie Angst vor dir haben! Vor dem was du ohne jegliches Gewissen machen würdest! Du bist herzlos, kalt und ohne Güte!" Autsch. Das warf mich jetzt schon ein wenig aus der Bahn. Wieso sollten sie Angst vor mir haben? Sah ich aus wie ein Serienkiller? War ich wirklich herzlos, kalt und ohne Güte, wie Barbie es sagte?  Aber dass das gerade aus ihrem Mund kam, ha! "Dein Wort in Gottes Mund.", meinte ich nur und warf ihr einen herablassenden Blick von oben zu. Auf dem Absatz machte ich kehrt, warf die Haare zurück und stöckelte zurück. Es war immer noch kalt, aber mit Hilfe meiner Gabe, hüllte ich mich in eine warme Luftschicht, die meine Körpertemperatur wiedergab. Wieso war mir das nicht auf dem Hinweg schon eingefallen?  Seltsamerweise trafen mich die Worte dieser Barbie, vielleicht weil sie Recht hatte?! In unserer kleinen Wohnung brannte ihm Wohnzimmer ein Licht, also war June wohl auch schon zu Hause und guckte einen Film. Am Fenster entdeckte ich einen dunklen Schatten. Nein, kein Schatten. Ein Mann, der unter dem Fenstersims kauerte und ab und zu einen Blick in die Wohnung warf. Oh mein Gott! Der beobachtete June und mich! Wie lange schon? Machte er das schon seit mehreren Tagen so, oder seit Wochen. Verfolgte er jede unserer Bewegung genau? Waren die Zimmer verwanzt und waren heimlich Videokameras eingebaut worden?  Sah dieser Perversling uns beim duschen zu? Oder beim Schlafen? War er pädophil und geistesgestört oder wurde er von jemandem geschickt, der uns beobachten wollte.  Das war sicher diesmal nicht Lucian, denn Lucian war in der Halle und Lucian hatte keine roten Haare! Ja, das erkannte ich aus der Entfernung.  Panik machte sich in mir breit. Was sollte ich jetzt machen? Zum Direktor laufen und alles berichten? Oder den Kerl kaltmachen? Ich wägte ernsthaft die beiden Möglichkeiten ab und entschied mich letztendlich für keine von beiden. Würde ich zum Direktor laufen, wäre June ihm dort allein ausgeliefert und er könnte sonst was mit ihr machen! Wenn ich ihn kaltblütig umbringen würde, würde ich von der Schule fliegen.  Und wenn ich überreagierte und das einfach nur ein "normaler" Perverser war oder ein Pedo oder so? Andererseits, wenn es ein erprobter Killer war, der nur darauf aus war den richtigen Moment abwartete um mich ins Jenseits zu schicken.  Doch die Entscheidung wurde mir genommen, als der Typ einfach verschwand. Er lief in unglaublicher Geschwindigkeit zur Rosewood Mauer, bis er außer Sicht war. Ein schwerer Wassertropfen traf mich genau auf der Nasenspitze. Dann noch einer. Plopp. Plopp. Plopp

. Es fing an zu regnen was das Zeug hielt. Schwarze Wolken versperrten die schöne Aussicht auf den klaren Nachthimmel. Und ich stand einfach nur da und wurde tropfnass. Ich kam mir vor wie ein begossener Pudel, im wahrsten Sinne des Wortes.  Doch irgendwie tat es gut, es erleichterte mich einfach nur dazustehen, mein Kleid zu ruinieren und meine Schminke verlaufen zu lassen. Das klingt verrückt, aber es tat einfach nur richtig, richtig gut. Ich warf den Kopf in den Nacken, streckte die Zunge raus und fing jeden einzelnen Wassertropfen auf. Die Arme streckte ich aus und die Handflächen nach oben. Ein leises Kichern entfuhr mir. Ich benahm mich wie eine Wahnsinnige, und wie ein Kleinkind.  Die Luft war so angenehm frisch und naja - luftig eben. Das klingt vielleicht komisch und noch verrückter, aber ich spürte eine mentale Verbindung zu diesen schwarzen Wolken. Ich starrte zu den Wolken hinauf und plötzlich fuhr ein greller Blitz hinunter. Genau neben mich. Ich konnte den Schwefel riechen und den Geruch von Verbranntem. Neben mir ist ein Stück Weg verkohlt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich das gemacht hatte. Das ich diesen Blitz ausgelöst hatte. Egal.  Genug Wahnsinn für die nächsten 20 Jahre. Jetzt musste ich erstmal aus diesen klatschnassen Klamotten raus.  Also ging ich nach Hause, zu June. Mittlerweile sah ich es auch als mein Zuhause an, ich fühlte mich wohl dort. Wie zu Hause eben.

»Kapitel 3

 

 


Ich hatte mich entschieden! Jetzt würde ich erst einmal eine Pause einlegen was Damien und Lucian anging. Das war einfach viel zu viel Stress auf einmal. Am Ende bekam ich noch einen Stresspickel. Ihr wisst schon, so richtig große, eitrige und eklige Pickel. Ich hielt mich jetzt schon seit einer guten Woche von den beiden fern, und ich muss sagen es tut einfach nur gut. Man macht sich immer viel zu viel Stress was die "Liebe" anging. Aber irgendwie vermisste ich sie auch richtig, auch wenn ich fast jeden Tag an ihnen vorbei ging. Sie schienen es zu verstehen, oder waren richtig angepisst. Auch egal. Die Lehrer mussten fest stellen das ist eigentlich richtig intelligent war - was ich natürlich schon wusste - und hatte mich in eine höhere Klasse geschickt. Das beste daran war, das ich die ganzen langweiligen Fächer los war. Dafür wurde jetzt Fähigkeiten und Fechten richtig trainiert. Und ich musste mich noch für ein Wahlfach entscheiden. Oh Manno Mann! Mr. Davids, mein neuer Lehrer in Sachen Fähigkeiten, erklärte mir was ziemlich interessantes gestern. Es ging um Edelsteine, die nur besonders Mächtige und Wichtige Leute bekamen die eine Gabe besaßen. Die Edelsteine suchten anscheinend uns aus, und nicht wir sie. Es war verdammt selten das jemand so einen Klunker bekam, insgesamt hatten nur sechs Leute an der ganzen Schule einen. Aber das der Edelstein aussuchte, und nicht man selbst konnte ich ehrlich gesagt nicht so wirklich glauben.  Während einer Fechtstunde nahm er mich mit in den Keller, wo ich noch auf einen anderen Lehrer und auf den Direktor traf, die anscheinen ein Auge auf das Ganze werfen sollte. Mr. Davids erzählte mir noch ein wenig mehr, als ich ihn danach fragte. Diese Steine beschreiben genau drei herausstechende Charaktereigenschaften des Besitzers, also von mir. Es war nicht nur ein Symbol von Macht, sondern man konnte darin auch einen kleinen Teil seiner Energie darin speichern und wann anders benützen.  Als ich unten mit diesen drei Lehrern Schrägstrich Direktor war, wurde ich schon ein wenig nervös. "Und woher erkenne ich, das der Edelstein mich auserwählt hat, wenn er es denn tut? Winkt der dann und ruft 'Hallo' ?", den letzten Teil hatte ich mir leider nicht verkneifen können.  "Nein, es gleicht eher einem Summen in deinem Kopf.", erklärte der Direktor geduldig und tippte sich an die Schläfe.  "Na dann, auf ins Verderben.", murmelte ich leise und zog die Augenbrauen zusammen. Man hatte sich mit dem Raum hier nicht viel Mühe gegeben. Nirgends stand irgendetwas was es gemütlich wirken lies oder so. Die Tapeten war schwarz und an manchen Stellen schimmelte es schon. Es gab keine Fenster, was das ganze noch düsterer wirken lies. Allein die sterilen Lampen an der Decke sorgten für Licht.  Vor befanden sich unzählige Vitrinen mit Edelsteinen, in denen vielleicht einer auf mich wartete. Nervös und neugierig steuerte ich auf die Vitrinen an und versuchte mich zu konzentrieren, aber das war gar nicht mal so leicht. "Konzentriere dich, Apryl. Horche in dich hinein und folge deinem Herzen, nicht deinem Verstand.", hörte ich die leise Stimme des Direktors. Die Luft wurde schwerer hier drinnen und ein tiefes Brummen erfüllte die Luft. Von wegen Summen! Das hörte sich eher nach einem tollwütigem Bären an. Ich zog das Ganze mal wieder ins Lächerliche. Seufz. Wie eine Marionette steuerte ich in eine Richtung. Ich hatte die komplette Beherrschung über meinen Körper verloren. Aber ich versuchte nicht mich zu wehren, ich wusste ja was auf mich wartete.  Endlich blieb ich stehen und öffnete die Augen. Ich musste kurz blinzeln, das Licht war immer noch total grell.  Ich stand vor einer großen, gläsernen Vitrine und sah gespannt zu dem Edelstein der sich darin befand.  Lucian und Damien hatten einen Rubin, das hatte mir Mr. Davids erzählt.  Der Edelstein in der Vitrine war eindeutig ein Diamant. Der passte farblich zu allem. Fantastisch!  Der Direktor beugte sich vor und rückte seine Brille zurecht. Zischend sog er die Luft ein. Das war kein gutes Zeichen! "Und?", fragte ich nervös und fing an auf meinen Fingernägeln zu kauen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was mich so nervös machte, das war ja schon fast gruselig.  "Nun ja. Der Diamant steht für drei Charaktereigenschaften, genau wie alle anderen. Er steht für Stolz, Macht und Kaltherzigkeit." Hupps. Da war er doch genau an der richtigen Adresse. Erst letzte Woche hatte Blondie mich als kaltherzig bezeichnet. Und jetzt noch dieser Stein. Ich meinte: Hallo!?  So schlimm war ich doch auch nicht oder?  Das schockierte mich schon ein wenig, sonst konnte mich ja nichts und niemand vom Hocker hauen, aber erst Blondie und jetzt dieser Klunker! Das war zu fiel. Der Direktor räusperte sich. "Also Apryl, das mit der Kaltherzigkeit solltest du dir nicht zu sehr zu Herzen nehmen. In welcher Form willst du diesen Diamanten eigentlich? Als Kette, Armband oder Ring? Du kannst ihn auch ungeschliffen in seiner natürlichen Form haben, aber das ist ziemlich unhandlich." Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, das ich diesen verdammten Diamanten gar nicht wollte, andererseits: Klunker bleibt Klunker.

"Als Ring.", nuschelte ich. Ein Ring war wohl die beste Entscheidung. Er passte optisch zu jeder Art von Kleidung und war natürlich auch am praktischsten. Und auch am unauffälligsten. Naja, unauffällig war es ja eigentlich so und so nicht. 

Und wieder fragte ich mich ob ich wirklich kaltherzig war? Klar, ich war nicht immer die Netteste und Tollste, aber Kaltherzig? Das war doch eigentlich total übertrieben! Oder mutierte ich gerade zu einer kaltblütigen Zicke. Eigentlich sollte ich mich ganz andere Dinge fragen. Zum Beispiel was oder wer dieser komische, rothaarige, pedophile Typ war! Eine hatte garantiert auch so eine Fähigkeit, da war ich mir hundert pro sicher! Aber auf welcher Seite war er? Gabs überhaupt so etwas wie eine Seite? So etwas wie die 'Bösen' und die 'Guten'? Hah! Das war dann doch zu Science-Fiction-mäßig. Nicht das ich nicht Star Wars und so nicht mag, schließlich war R2D2 der Hammer, ja!? Gott, ich schweif mal wieder völlig ab. 

"Kann ich jetzt gehen?", fragte ich kalt. Und musterte die Gestalten gleichgültig. Ich bemerkte, wie der Direktor kritisch die Stirn runzelte und dann zögerlich nickte.                                                  

"Wir werden dir den Ring zukommen lassen." 

Ich rauschte aus dem Raum und verlies das Gebäude. Endlich war ich wieder an der frischen Luft. Wenn ich draußen war, überkam mich oft das Gefühl von Macht. Von Macht, Unbezwingbarkeit und einer seltsamen Bessesenheit. Ich spürte um mich herum die Luftbahnen und Wirbelungen. Jede noch so kleine Windböe konnte ich fühlen. Schon oft hatte ich mich gefragt ob ich vielleicht fliegen könnte. Rein theoretisch müsste das ja möglich sein. Ich konnte mit meinem Element auch manchmal Dinge bewegen und wohin fliegen lassen. Das fiel mir jedoch richtig schwer. Ich hatte nicht dieses Telekinese Zeugs, ich musste immer eine visuelle Luftscheibe unter einen Gegenstand schieben und konnte ich dann mit ein wenig Kraftaufwand bewegen. Ich stiefelte auf eine Bank zu und setzte mich. Mit einem Seufzer legte ich den Kopf in den Nacken und blickte gen Himmel. Dunkle, schwere Wolken schoben sich über den Himmel. Bald würde es regnen. Ich konnte es fühlen, ich konnte es richtig spüren wie die Wolken sich bewegten, und wie schwer sie waren. Um mich herum konnte ich alles viel klarer wahr nehmen. Ich fühlte mich frei wie ein Vogel. Als es anfing zu regnen, ging ich zurück nach Hause. Um mich herum verstärkte ich ein wenig den Sturm und konzentrierte mich völlig darauf. 

»Kapitel 4

 

 

Die Erinnerungen vom vergangenen Tag holten mich rasend schnell ein, als ich erwachte. Meine Zunge fühlte sich an wie betäubt und war bleischwer. Im Mund hatte ich noch den eigenartigen Nachgeschmack des Betäubungsmittels. Chloroform. Ich war mir bewusst, dass ich vermutlich nicht allein war und es wahrscheinlich am klügsten war, wenn ich für eine Weile noch meine Klappe halten würde. Also spitzte ich angespannt meine Ohren, anstatt meine Augen zu öffnen.

Schwere Schritte näherten sich und blieben stehen. Eine Klinke wurde herunter gedrückt und die Türe wurden mit einem Quietschen geöffnet. Gespannt hielt ich den Atem an. Gott sei Dank fiel mir wieder rechtzeitig ein, dass ich ja den Anschein, dass ich noch schlief, aufrechterhalten wollte und ich bemühte mich wieder gleichmäßig und rhythmisch ein- und aus zu atmen.

Es kam mir so vor, als wäre die Spannung in der Luft zum Greifen nahe. Mein Herz klopfte immer noch etwas zu schnell. In meinen Zehen kribbelte es nach Tatendrang und ich wollte am liebsten aufspringen und irgendetwas unternehmen. Ich fühlte mich alles andere als müde und erschöpft, was man ja eigentlich vermuten müsste.

 "Sollte sie nicht langsam wieder aufwachen? Sie ist jetzt schon seit fast einem ganzen Tag bewusstlos", erklang nun eine unbekannte, tiefe Stimme links neben meinem Bett. Oh mein Gott! Ich hatte einen gesamten Tag lang durchgeschlafen? June machte sich bestimmt schon sorgen und hatte mein Fehlen bereits bei der Schule gemeldet. Der Direktor wiederrum würde dann natürlich meinen Vater Bescheid geben und der würde komplett ausflippen. Seit dem Tod meiner Mutter war er zwar sehr spendabel gewesen, aber vor allem machte er sich rund um die Uhr sorgen, auch wenn ich nur die Straße überquerte.

Ich fragte mich, wie vollidiotisch man sein musste, um in so eine Festung wie Rosewood einzudringen. Die Schüler waren übernatürliche Teenies, die gerade in der Pubertät steckten und bestimmt keine Problem damit hätten, mal ihre Wut an jemandem auslassen zu können. Damit könnte man bestimmt gut Stress abbauen. Hatten diese Genies von Entführern etwa gedacht, dass man mein Verschwinden nicht bemerken würde? Es war ja nicht so, dass ich überhaupt keine Freunde hatte, die sich fragen würden, wo ich steckte. Aber vor allem eine Frage beschäftigte mich schon die ganze Zeit: Warum eigentlich immer ich?

"Die Kleine wird schon wieder zu sich kommen, mach dir mal da keine Sorgen“, meinte der Zweite entspannt und lachte dreckig.

"Und was ist, wenn wir die Falsche erwischt haben?"

"Tja, dann hätten wir richtig Scheiße gebaut", beruhigte ihn der andere wieder.

Zu meiner großen Überraschung musste ich ihm Recht geben, er hatte wirklich richtige Scheiße gebaut. Und zum ersten Mal in meinem ganzen Leben wünschte ich mir,  in der Schule zu sein. Man, ich hatte gar nicht gewusst, dass die Situation wirklich so verzweifelt war. Früher hatte immer gedacht, dass die Schule das Schlimmste war! Und jetzt lag ich in so einem, nicht unbedingt gemütlichen Bett, und durfte mir das Gespräch von zwei vermutlich geistig verwirrten Kidnappern anhören.

Vermutlich wollten sie mich zuerst vergewaltigen, danach qualvoll foltern und letztendlich wurde ich dann in einer schmutzigen Gosse ermordet aufgefunden. Aber um erst einmal herausfinden zu können, wer diese bezaubernde Leiche war, musste man mich erst einmal identifizieren, was mehrere Wochen in Anspruch nehmen könnte.

Oder sie würden mir vielleicht eine Kurzhaarfrisur verpassen, natürlich könnten sie mir auch gleich die Haare komplett abrasieren. Meine geliebten Haare würden dann teuer verkauft werden und als Perücke enden, die von irgendeiner Frau getragen werden würde, die sich vermutlich die Haare abrasieren musste, da sie zu viele Läuse auf ihrem Kopf beherbergt hatte. Oh Mano Mann. Ich hatte wirklich nicht viel Glück im Leben. Wie würde ich hier nur je wieder herauskommen? Schließlich war es ja nicht so, dass ich Superwoman oder Batman oder irgendein anderer Superheld war! Obwohl…Wenn ich so darüber nachdachte, war ich im Grunde eigentlich ein Superheld, nur das ich noch nicht irgendetwas Gutes vollbracht hatte und sich mir noch keine große Fangemeinde angeschlossen hatte. Wobei das auch nicht ganz stimmte. Auf Twitter hatte ich bereits einige, die mir folgten, genau wie auf Instagram. Worauf ich jedoch hinauswollte war meine übernatürliche Fähigkeit, die jetzt endlich mal wirklich zum Einsatz kam. Also: Es gab eine kleine Planänderung. Zuerst werde ich noch ein wenig lauschen und dann würde ich spontan entscheiden, was das Richtige war.

Da hatten sie sich ganz eindeutig mit der Falschen angelegt! Hah! Die würden noch alle ihr blaues Wunder erleben, aber hallo! Eine kleine, brünette Barbie die intelligent frei war und aussah als würde sie sich jeden Abend ein Kilo Spülung in die Haare kleben. Okay, okay. Das mit der Spülung stimmte vielleicht, aber mein Oberstübchen war alles andere als leer. Natürlich waren das nicht meine einzigen Gaben, die mir auf den Weg mitgegeben worden war. Ich war außer außerordentlich intelligent zu sein und gutes Aussehen zu besitzen auch noch sehr nett, freundlich, sozial und kreativ. Vor allem aber war ich bescheiden. Na gut, das Letzte konnte man wieder streichen.

"Sie hat Isaacs Augen, sag ich dir. Graue Augen, wie ein herrliches Sommergewitter. Außerdem ist sie groß, müsste das richtige Alter haben und besitzt eine Fähigkeit. Wie willst du das noch weiter einschränken!?“, er seufzte. „Ich glaube, sie wacht langsam auf.“

Hilfe! Wer zur Hölle war bitte Isaac? Ich hatte seine Augen? War ich etwa verwandt mit einem von diesem Raudies. Hoffentlich hatte ich nur seine Augenfarbe geerbt und nichts anderes. Wow, Blitzmerker, ich war schließlich schon die ganze Zeit wach. Man sollte meinen, dass zwei Typen, die nichts anderes machen sollten als mich zu entführen und hier zu bewachen, das eigentlich irgendwie schon bemerkt haben sollten.

"Öffne deine Augen für uns, Püppchen", säuselte dieser Mistkerl in mein Ohr.

Meine Härchen stellten sich auf und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich musste mich zusammennehmen um nicht irgendetwas Dummes anzustellen. Also versuchte ich es einfach zu überspielen, das war schließlich meine Spezialität.

Püppchen? Er bezeichnete mich als Püppchen? Ich geb‘ dir gleich Püppchen, Kollege. Mir fiel es wirklich schwer in dieser ernsten Lage konzentriert zu bleiben. Ich war es eben gewohnt, immer alles mit Humor zu nehmen - oder Sarkasmus. Das war eben meine Art. 

"Ähm...Hi!", begrüßte ich meinen Entführer als ich die Augen aufschlug.

Ich verpasste meinem inneren Ich ein High-Five ins Gesicht. Wieso in aller Welt sagte ich „Hi“ zu meinen Entführern? War ich eigentlich noch zu retten? Als ich die beiden musterte, stellte ich fest, dass die ehrlich gesagt nicht aussahen wie Supergauner, sondern eher wie der verrückte Nachbar von nebenan. Der eine hatte graue Haare, die schon von weißen Strähnen durchzogen waren und ein väterliches, nettes Gesicht. Der zweite war der Rothaarige, den ich letztens beim Spannen ertappt hatte. Ach ja, er hatte übrigens tatsächlich Pickel und zwar in allen Varianten und Formen. Nun sahen mich meine Entführer wie ein hoch interessantes Forschungsobjekt an.

"Glaubst du sie hat das Chloroform vertragen? Vermutlich ist sie noch nicht ganz zu sich gekommen", überlegte der Rothaarige.

"Hm...Das kann man jetzt noch nicht genau sagen, vielleicht reagiert sie ja allergisch?", mutmaßte der andere Gauner.

"Okay, was wollt ihr von mir? Ihr seht nicht aus wie zwei Schwerverbrecher die sich zweimal in der Woche irgendein Ex-Knacki-Tattoo stechen lassen und auf ihren Harleys ein paar Runden drehen um ein paar neue Kokslieferungen abzuholen. Mein Vater hat Geld. Ihr könntet Lösegeld für mich fordern", überlegte ich.

Sie platt zu machen war meine letzte Option. Doch zuerst einmal wollte ich Antworten haben. Wer war Isaac? Für wen arbeiteten sie? Hatten sie auch Fähigkeiten oder waren sie nur Menschen? Ich würde sicherlich einen guten Polizisten abgeben.

"Geld?“, der Rothaarige lachte humorlos. „Süße, von dir wollen wir kein Geld, sondern von ihm.“

„Ihm? Wer zur Hölle ist ihm? Meint ihr etwa diesen Issac?“, hakte ich nach.

"Ähm“, er stutzte kurz. „Das ist leider geheim, das dürfen wir dir nicht sagen. Aber keine Sorge, Püppchen, früher oder später erfährst du es sowieso.“

„Also ihr wollt kein Geld von mir? Ihr lasst euch auch nicht irgendwie bestechen, oder?“ „Glaub mir, niemand will ihn hintergehen. Auf jeden Fall nicht, wenn man nicht vollkommen lebensmüde ist“, antwortete mir der Grauhaarige.

Na toll, dann eben nicht. Jetzt kam Plan B an die Reihe: Meine Gabe. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich jemandem die Luft in den Lungen nehmen. Ich hatte bereits einmal aus Versehen an einer Katze herumexperimentiert. Das war natürlich nichts, worauf ich besonders stolz gewesen bin. Tiere zu töten oder zu quälen war für mich natürlich auch ein absolutes Tabu. Irgendwie hatte ich ihr die Luft zum atmen genommen und wusste nicht mehr, wie ich damit aufhören sollte. Gott sei Dank wusste ich jetzt, wie das ging, glaubte ich jedenfalls.

Nur leicht hob ich die Hand - es half, sich besser vorstellen zu können, was man gerade machen wollte und es ließ es auch dramatischer wirken - und entzog ihm beinahe die gesamte Luft in seinen Lungen. Der Rothaarige versuchte verzweifelt nach Luft zu ringen und umklammerte mit seinen Händen den Hals. Sein Gesicht lief nun rot an und passte damit perfekt zu seiner Haarfarbe. Als ich die Hand wieder senkte, fiel er sofort zu Boden und keuchte nach Atem ringend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Grauhaarige starrte mich entsetzt an und stürzte dann zu dem Rothaarigen um ihm zu Hilfe zu eilen. Abermals hob ich die Hand und sog die Luft aus seinem Hals, bis er schließlich mit tränenden Augen bewusstlos umfiel.

Kurz blieb ich zögernd stehen und betrachtete die beiden. Sie würden keine schweren Schäden mit sich herumschleppen müssen und sich einfach nur eine Weile kräftig auskurieren lassen. Zu meiner großen Überraschung meldete sich mein Gewissen kein einziges Mal. Hatte ich überhaupt noch so etwas?

Schwankend ging ich nun zu der Türe und steckte den Kopf heraus, um sicher zu gehen, dass sich auf dem Flur sonst niemand befand. Vom Schnellen aufstehen war mir schwindelig und mein Schädel brummte unaufhörlich. Wie sehr ich mich gerade nach einem warmen Bett und ein paar starken Armen sehnte! Mindestens genauso sehr wie nach Pancakes.

Als ich dort niemanden entdeckte, huschte ich auf den Gang hinaus und sah mich nun nach einer Fluchtmöglichkeit um. Insgesamt gab es vier Türen. Ein flackerndes Licht am Ende des Flurs sorgte für ein spärliches Licht. Plötzlich hörte ich Schritte, die immer lauter wurden und ein paar Stimmen. Schnell presste ich mich gegen den nächsten Türrahmen. Dabei kam ich mir vor wie in einem James Bond Film, nur das der wirklich alles überlebte, viel mehr Glück hatte und immer von irgendjemandem Hilfe bekam. Nun waren die Schritte verklungen. Ich atmete tief ein und wieder tief aus.

Welche Türe sollte ich nun nehmen? Eine konnte  ich schon einmal ausschließen: Die, aus der ich gekommen war. Also wählte ich einfach eine auf gut Glück aus und öffnete die Türe, die mir am nächsten war.

"…Ja, das mit ihren Emotionen…Das wird sie vermutlich bald bemerkbar machen, falls es nicht schon so weit ist. Wenn Isaac erst einmal hier ist, geht der Stress erst richtig los…ja, du hast vollkommen Recht, so machen wir es!“

Drei Männer diskutierten, alle mit einem Scotch in der Hand, eifrig und gestikulierten dabei wild. Leider hatte ich nur ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen, da die anderen zwei nuschelten und zu weit weg standen. Sehr aufschlussreich waren die Wortfetzen jedenfalls nicht gewesen. Erst jetzt schienen mich die Männer zu bemerken.

„Was machst du hier? Hast du etwa gelauscht, du neugierige Göre?“, fragte mich einer der Männer aufgebracht.

"Nein, überhaupt nicht! Ich bin eigentlich nur die neue Putzfrau. Da es wohl gerade nicht so gut passt und der Raum noch belegt ist, werde ich einfach später nochmal vorbei kommen. Also bis dann -", log ich schnell und setzte eine völlig unschuldige Miene auf.

Leider wurde ich von einem von ihnen mitten im Satz unterbrochen.

"Warte noch einen Moment! Du kommst mir bekannt vor…Wie ist dein Name gleich nochmal?", fragte er mich.

Ich konnte förmlich sehen, wie es in seinem Hirn ratterte und er angestrengt überlegte.

"Ich glaube, ich sagte keinen Namen. Ich bin nur die Putzfrau, tut mir wirklich leid, wenn ich gestört habe", erwiderte ich schnell.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und meine Hände wurden kalt und klamm. Ich musste mich anstrengen, damit ich nicht gleich hyperventilierte und in hysterisches Kichern ausbrach. Der alte Mann nickte nur nachdenklich und machte eine Geste mit den Händen, so als würde er sagen: "Husch, husch. Hinfort mit dir!"

Eilig kam ich seiner Bitte nach und knallte die Türe regelrecht wieder zu. Puh! Mit der Handfläche wischte ich mir über meine Stirn, um meinen imaginären Schweiß wegzuwischen. Jetzt gab es nur noch eine Türe, die Türe die zur Freiheit führte.

Vorsichtig öffnete ich die Türe einen Spalt und spähte hinaus. Das hier war die richtige Türe, endlich! Schnell verschwand ich nach draußen. Fröstelnd rieb ich meine Arme und bemerkte erst jetzt, dass ich nichts als ein übergroßes, graues Big Shirt trug. Als ich mich umsah, stellte ich erleichtert fest, dass ich diese Gegend kannte. Es war nicht weit entfernt von Rosewood. Wenn ich mich beeilte, würde ich es vielleicht noch schaffen, bevor ich erfror oder erwischt wurde. Zwar war es schon recht dunkel geworden, doch die Straßenlaternen spendeten genügend Licht um etwas erkennen zu können. Unheimlich war es trotzdem.

Um mich herum manipulierte ich die Luft, um so nicht von dem kalten Wind gestreift zu werden und damit es von der Temperatur einigermaßen ertragbar war. Jedoch merkte ich, wie viel Energie mich das eigentlich kostete und ich schleppte mich mit meinen letzten Energiereserven zu dem Tor von Rosewood und klingelte. Die moderne Klingel passte so gar nicht zu dem sonst zu eher altmodischen Gebäude.

"Hallo? Wer ist da?", ertönte die Stimme von einer genervten Person.

Ich wäre sicherlich auch genervt, wenn ich der Typ wäre, der in einem kleinen Zimmer sitzen und bei jedem Klingeln antworten musste.

"Mein Name ist Apryl Summer, kann bitte jemand kommen", flüsterte ich mit rauer, zitternder Stimme.

Es grenzte an ein Wunder, dass ich überhaupt noch sprechen konnte. Ich hatte schon seit langem nichts mehr getrunken und meine Kehle fühlte sich staubtrocken an.

„Alles klar, Miss Summers. Jemand ist unterwegs“, informierte mich die Stimme aus der Klingelanlage und klang nun viel freundlicher.

Ein paar Minuten später strich eine wohltuende, warme Hand behutsam über meinen Rücken. Als ich den Kopf leicht anhob, erkannte ich Damien. Na endlich, wurde aber auch echt Zeit. Erschöpft schmiegte ich mich in seine Arme und schlief sofort ein. Hoffentlich schnarchte ich nicht oder sagte peinlich Sachen.

»Kapitel 5




Das Erste was ich bemerkte als ich auf wachte, war der süße Geruch von meinen heißgeliebten Pancakes.  Das Zweite, das ich an eine warme Brust gedrückt worden war. Ich schnupperte. Mhmm, der Typ roch aber ganz schön gut. Jedes andere - normale - Mädchen wären schimpfend und schreiend davon gerannt, gut das ich nicht normal war. Das Einzige was mich störte, war die Hand die auf meinem Hinter ruhte. Grummelnd nahm ich die Hand und warf sie schwungvoll zurück zu seinem Besitzer. Doch die Hand lag im nächsten Moment gleich wieder dort. Das gibt’s doch nicht!


"Nimm deine Griffel von meinem Hinter, wer auch immer du sein mögest.", sagte ich trocken. Ich spürte wie die warme Brust vibrierte, als er lachte.

"Dir geht's also wieder gut, Apryl?"

"Ja, danke der Nachfrage, Damien.", brummte ich.

Ich drehte mich um und kuschelte mir an Damien ran und fragte mich gar nicht erst, wieso er kein T-Shirt trug. Grimmig sah ich zu ihm hoch. Damiens Mundwinkel zuckten verräterisch und seine Augen funkelten amüsiert. Ich konnte dem Drang nicht widerstehen ihm durch die schwarzen Haare zu wuscheln und sie noch mehr zu zerzausen. Seine Haare standen in alle vier Himmelsrichtungen ab und sahen tierisch sexy aus. Also wenn bei mir die Haare abstehen, sieht das alles andere als sexy aus. Ich konnte mir gerade gut vorstellen wie ich aussah. Blass, dunkle Augenringe, eingetrocknete Lippen und elektrisierte Haare. Aber grade im Moment war mir das richtig, richtig egal.

 

"Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen wir uns gemacht haben. Und dein Vater? Mach das ja nicht wieder, Prinzessin.", sagte er ernst und sah mir eindringlich in die Augen.

Hallo? Also es war ja jetzt nicht so, dass ich weg gelaufen war ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Und wenn ich weg gelaufen wäre, wäre ich eher geflogen, mit einem Privatjet. Wenn ich einen hätte. Seufz. Schon interessant, wie schnell ich mit meinen Gedanken wegschweife. Damien nahm meine Hand und verflocht unsere Finger ineinander und strich mit dem Daumen über meine Hand. Vielleicht fragt sich ja jetzt jemand ob ich ein schlechtes Gewissen hab wegen Lucian. Aber, nein! Das hatte ich nicht, dafür war ich einfach zu egoistisch. Ich würde Egoismus als Charakterstärke bezeichnen, andre als Schwäche. Standpunkt, sag ich nur. Es waren doch immer die in den Filmen, die nicht egoistisch sind, tot am Ende, da sie auch auf die anderen geachtete haben und nicht nur einschließlich auf sich selbst. Tja, das sah ich eben anders. Wo war eigentlich Lucian? Gott, wie peinlich wäre es wenn er rein kommen würde, mich und Damien im Bett erwischen würde und natürlich auf die Zweideutigkeit tippen würde. Wohnten die Brüder nicht zusammen? Hm.

 

"Duhuu ... Wo ist eigentlich Lucian?", fragte ich und versuchte dabei meine Stimme gleichgültig wirken zu lassen. Mit Erfolg. Damien seufzte kurz und sah dann aus dem Fenster.

 

"Er ist für mindestens eine Woche außer Landes. Ein Auftrag.", sagte er knapp und klang ein wenig angepisst. Aha. Lucian war also weg, für eine Woche! Und er hatte es wohl nicht nötig mich anzurufen? Dieser Arsch.

 

"Ach so.", meinte ich und zuckte mit den Schultern. Am liebsten würde ich im Selbstmitleid versinken, es war ja genügend davon da.

 

"Meine Güte. Ich hab echt nur Pech in meinem Leben, also fast. Erst krepiert meine Mom und so, dann stelle ich fest das ich übernatürliches Bling - Bling besitze und muss auf eine Schule für Freaks. Auf der Schule für Freaks gibts noch freakigere Leute, die die Freaks jagen - worum auch immer. Dann gibt’s da noch dich und Lucian. Beide sexy und scheiß arrogant und so. Es gibt die blondierten Vollbarbies die so viel EQ haben wie eine gedüngte Kartoffel. Mir wird gesagt das ich Stolz, Mächtig und Kaltherzig bin und bekomme eine weißen Klunker. Irgendwelche Hiernis schlagen mich gewaltvoll nieder - davor habe ich mich natürlich sehr gewehrt - bringe zwei Menschen, oder eher gesagt Freaks, um und hab kein schlechtes Gewissen und dann als wäre das alles nicht schlimm genug, ist mir auch noch ein Fingernagel abgebrochen! Schau!", legte ich ihm mein komplettes Leben vor Füßen und wedelte mit meinem Zeigefinger vor seiner Nase rum. Jap. Mein Fingernagel war doch tatsächlich abgebrochen, da konnte ich doch ewig warten bis der wieder heil war! Der Maskenball war ja auch bald. Scheibe! Erwartungsvoll sah ich Damien an, er sollte hier schließlich auch seinen Senf dazugeben und irgendetwas nettes und gefühlvolles sagen.

 

"Du findest mich sexy?", fragte er und warf mir einen anzüglichen Blick zu.

 

Mit einem vernichtenden Blick sah ich ihn finster an. Das war ja mal wieder typisch! Wahrscheinlich hatte er mir keine einzige Sekunde lang zugehört.

 

"Hm ... willst du Mitleid?"

 

"Nö. Ich will Mitgefühl!", erklärte ich ihm gefasst.

 

"Und wo ist da bitte der Unterschied?", fragte er und sah mich abschätzend an.

 

"Also man schreibt es auf jeden Fall anders und ähm ... Man leidet nicht mit sondern FÜHLT mit. Das ist ein entscheidender Punkt!", meinte ich altklug. Meine Mundwinkel zuckten schon verräterisch. Jetzt bloß nicht lachen! Der nahm mich doch sonst nie wieder ernst. Doch Damien verdrehte einfach nur die Augen.

 

"Also ... findest du mich jetzt sexy, oder nicht?", fragte er mich und fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare und zerzauste sie mal wieder nur noch mehr. Mhmmm. Bei dem Anblick könnte ich glatt dahinschmelzen. Alles was mir außer sexy zu ihm einfiel war: hoffnungslos!

 

"Hmm...schwer zu sagen.", meinte ich. Ich musste es ihm ja nicht noch unter die Nase reiben, das er tierisch sexy war, das wusste er auch selber und noch mehr musste ich sein Ego ja nicht aufpolieren! Aber hallo! Plötzlich umschlangen mich zwei starke Arme von hinten. Damien. Mhmm, und er riecht wieder so gut, nach Orange und noch irgendwas! Vanille? Hm, ist ja jetzt auch egal. Ich merkte, wie meine Sinne sich langsam vernebelten. Nein! Das konnte ich nicht zulassen, einer muss hier ja doch noch mitdenken. Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken und ...Nein! Das war ja unmöglich. Ich wollte nicht eins von diesen Mädchen sein die sich von einem Jungen so benebeln, kontrollieren, verarschen und umgarnen lies! Ich nicht! Ich bin ja nicht blond. Okay, also das mit dem blond stimmt jetzt nicht unbedingt immer. Lucian war ja schließlich auch blond. Oh Gott, wie konnte ich jetzt nur wieder an Lucian denken? Ich hatte doch Damien? Man, das war echt schlimmer als ich gedachte hatte. Ich wollte nicht so eine Dreiecksbeziehung wie bei Vampire Diaries. Ich meine, es ist doch glasklar, das Damon derjenige ist, der besser aussieht und das Stefan total langweilig ist da er immer der "Gute" ist. Da würde mir wahrscheinlich so ziemlich jeder zustimmen. Jaja, und ich schweife schon wieder ab. Das ist echt eine richtig schlimme Angewohnheit. Nie konnte ich bei der Sache bleiben und mich mal auf irgendetwas gezielt konzentrieren. Aber was soll ich machen? Da fällt mir ein ... Der Maskenball! Ich brauchte nur Kleid und Maske! Hoffentlich war der Maskenball besser als der Winterball. Der war zwar schon toll gewesen, aber das war viel zu viel Walzer und Mozart für meinen Geschmack. Wer hätte das gedacht?

Zum Maskenball ging man alleine und traf erst dort seinen Tanzpartner, obwohl es da eigentlich keinen offiziellen gab. Also man ist eigentlich den ganzen Abend ohne richtige, offizielle Gesellschaft aus. Das heißt natürlich nicht, das man nur mit einem Typen ausgehen würde. Aber da Lucian nicht da war, und die anderen Typen alle uninteressant waren – und ich wirklich nicht mein Flittchen Image aufpolieren musste – würde ich allein hingehen. Mitternacht würden dann die Masken fallen und dann wäre es zu Ende. Hört sich irgendwie simple und cool an. Und ich musste definitiv demnächst mit June shoppen gehen.

„Ich habe das Gefühl das du mit deinen Gedanken weit bist.“, raunte er schmunzelnd in meinen Nacken. Mein Herz begann wie wild zu klopfen und ich hoffte wirklich inständig das er das nicht hörte. Wie peinlich wäre das denn?

„Ach ja? Woher willst du das denn wissen?“, fragte ich, wobei ein leises Lächeln meine Lippen umspielte.

„Du bekommst dann immer so einen nachdenklichen, abwesenden Ausdruck, du lässt dich ziemlich leicht ablenken, hmm?“

Ich drehte meinen Kopf leicht zu ihm hinter und starrte auf seinen vollen Lippen. Seine Unterlippe war ein wenig voller als die Oberlippe, welche sanft geschwungen war.

„Was?“, fragte ich etwas zerstreut. Man, ich hörte ihm aber echt gar nicht zu. Damien hatte den Kopf auch leicht geneigt. Unsere Lippen berührten sich fast. Nur Millimeter waren wir noch voneinander getrennt. Ich konnte seinen warmen, süßen Atem spüren. Seine Augen waren leicht gesenkt, und erst jetzt fiel mir auf, was für dunkle und dichte Wimpern der eigentlich hatte. Die waren aber natürlich, das sah man sofort. Jede Frau wäre neidisch auf ihn. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig am Riemen reißen und machte mich schleunigst von ihm los. Ich machte einen kleinen Schritt von ihm weg und ging dann rückwärts zur Türe. June musste sich schon wahnsinnige Sorgen machen…

Damien hatte den Kopf schief auf seine Schulter gelegt – was wahnsinnig gut aus sah – und blickte mich mit einem nachdenklichen Blick an. Dieser Blick wich einem hochnäsigen, arroganten Mistkerlblick.

„Na dann bis zum nächsten Mal, Prinzessin.“, verabschiedete er sich spöttisch und drehte sich dann um und ging in Richtung Terrassenfenster.

Schnell wirbelte ich herum und machte mich schleunigst aus dem Staub. Meine Kniegelenke knirschten ein wenig und ich konnte überall an meinem Körper blaue Flecken von den Prellungen spüre. Meine Güte. Ich sah bestimmt aus wie ein bunter Hund der in einen Farbtopf gefallen war.

Als ich endlich bei June war drückte ich zitternd die Klingel. Kaum war die Türe einen Spalt offen, fiel mir sie mir in die Arme und presste mich so fest an sie, das ich dachte sie wollte mich zerquetschen.

„Gott! Wo warst du, Apryl? Wir haben uns alle totaaaal Sorgen gemacht! Wo warst? Warte? Echt jetzt? Du bist abgehauen, mit nem Typen in die Kiste gesprungen und hast nicht mal angerufen? War es wenigstens schön?!“

Eilig wischte June sich die Tränen aus den Augenwinkeln mit der Handfläche ab und schniefte herzzerreißend. Einen kleinen Seufzer konnte ich mir nicht verkneifen.

„Gehen wir erst mal rein, ich hol mir noch den Tod. Jung zu sterben ist doof.“

June nickte hastig und zog mich in die Wohnung, danach knallte sie diese wieder schwungvoll zu.

„Also?“, bemerkte June ungeduldig und wippte mit dem rechten Fuß auf und ab, die Hand hatte sie in die Hüfte gestemmt und sah mindestens zehn Jahre älter aus. Sie hatte ein richtig strenges Gesicht aufgesetzt. Manchmal kam ich mir bei ihr vor wie ein kleines Kind, doch war doch sie diejenige die jünger war als ich.

„Ich würde von einem rothaarigen Kotzbrocken entführt und so einem grauhaarigen Klugscheißer. Sie haben mich gefesselt und gefoltert. Aber ich habe natürlich nichts preis gegeben. Bei einer guten Gelegenheit hab ich sie beseitigt und bin abgehauen. Damien hat mich dann gefunden.“, erzählte ich und schmückte das Ganze noch ein wenig aus.

June klatschte einmal in die Hände und setzte einen träumerischen Blick auf.

„Wie romantiiisch! Du warst am Ende deiner Kräfte und bist traumatisiert von deinen Erlebnissen in seine Arme gefallen. Er hat  dich aufgefangen und dich zu deinem pinken Himmelbett getragen.“

Meine Liebe hatte wohl eine etwas andere Vorstellung von Romantik.

„Ja, genau.“, bemerkte ich nur. Ich hatte Hunger und konnte mal dringend wieder eine Dusche vertragen.

„Was wollten die eigentlich von dir wissen?“

„Sie dachten ich wäre die Tochter eines Atomwissenschaftlers, aber so genau weiß ich das auch nicht.“, meinte ich nur.

Das war meine Geschichte, und ich glaube ich habe das gute Recht dazu sie umzuändern wie es mir gefällt! Es schadet ja auch niemandem.

„Wir müssen dann noch die Kleider und Masken für den Ball besorgen. Am besten morgen?“, fragte ich schnell, bevor mir June zuvor kam und mich noch weiter mit Fragen bombardierte. June war für mich wie eine kleine Schwester, sie hatte mir diesen süßen, treuherzigen Dackelblick aufgesetzt und man musste sie einfach lieb haben. Für mich gehörte das Lügen zum Leben, ich musste in Übung bleiben. Am Ende verlernte ich es noch! Also schob ich mir zwei trockene, ungetoastete Toastscheiben in den Mund, spülte mit einem Glas Wasser alles runter und sprang unter die Dusche. Es tat echt verdammt gut mal wieder eine eiskalte Dusche zu nehmen. Ich nehme eigentlich immer kalte Duschen, ich bin eben kein Warmduscher.

»Kapitel 6

 


„Ms.Summers!“, rief Mrs. Fletsch mich auf.

„Ja?“, fragte ich frech und lächelte boshaft.

Heute war ich schlecht gelaunt, und niemand konnte das ändern, niemand! Nicht mal meine verhasste Lehrerin. Doch heute war sie wohl nicht auf Krieg aus und schnaubte nur erzürnt und widmete ihre volle Aufmerksamkeit wieder ihren Streberlingen. Ich legte meinen Kopf wieder auf meine Unterarme und schloss die Augen. Ein wenig Entspannen hatte schließlich noch niemandem geschadet. Ich brauchte mal wieder unbedingt eine Massage, ich war ja total verspannt! Eine Maniküre würde natürlich auch nicht schaden. Und wenn wir gerade dabei sind, bräuchte ich mal wieder einen Friseurtermin. Ach ja, und stundenlanges Shoppen natürlich. Für den Maskenball benötigte ich noch ein Kleid und eine Maske. Böse wie ich war, würde ich June wieder quer durch die Innenstadt schleifen bis wir Blasen an den Füßen hätten. June hasste es, shoppen zu gehen. Es war für sie die reinste Hölle. Aber für mich war es der Himmel, das Paradies, das Tor in alle Welten. Seufz. Immer wenn ich von der Schule nach Hause ging, fühlte ich mich beobachtet und erwartete schon fast dass jeden Moment irgendjemand versuchte mich zu kidnappen. Deswegen hatte ich immer ein langes, japanisches Küchenmesser dabei, Pfefferspray und Schuhe mit Stahlspitzen. Für andere mag das vielleicht übertrieben wirken, aber die hatten dann vermutlich noch nie einen abgebrochenen Fingernagel gehabt. Zusätzlich hatte ich ein Schutzschild um mich geschlungen das alles abhielt, absolut kugelsicher. Das hatte natürlich auch den Vorteil dass keine Tusse mich „ausversehen“ anrempeln konnte und dergleichen. Also sehr praktisch. Ich hatte sogar schon meine ersten Flugversuche gestartet. Naja, jetzt hatte ich ein paar Prellungen, aber ich bin in die Luft gekommen. Jetzt musste ich es nur noch schaffen dort zu bleiben. Irgend so ein verrückter Physiker, der mit dem Leiter unserer Schule befreundet war, hatte Überlegungen angestellt, das ich vielleicht sogar mit Hilfe der Luft die Sonneneinstrahlung so manipulieren könnte, das ich unsichtbar wurde. Das wäre richtig cool. Ich könnte mich heimlich aus der Schule stehlen, in irgendwelche Boutiquen einbrechen, ohne Eintritt ins Kino kommen und so weiter. Aber leider hatte dieses Physikgenie noch keinen klugen Einfall gehabt, wie mir das gelingen könnte. Wirklich zu schade.

„…und werden denen die Bedeutung Kunst zugesprochen werden könnte. Seit etwa dem 19.Jahrhundert gab es…“

Es war ein langweiliges Thema und ihrer monotonen Stimme zu folgen war nicht unbedingt leicht. Zum Einschlafen. Also schaltete ich wieder ab und konzentrierte mich darauf, zu entspannen.

Als ich dann noch die restlichen paar Unterrichtsstunden hinter mich gebracht hatte, gongte es und ich war mal wieder die Erste die den Unterrichtsraum verlies. Auf dem Gang wartete Damien schon auf mich und schmunzelte ein wenig als er mich sah.

„Bist du immer so langsam?“

Der hatte mir ja gerade noch gefehlt. Heute war ich schlecht gelaunt, da hatte ich ganz bestimmt keine Lust auf Damien, auch wenn er noch so gut aussah.

„Hau ab.“, meinte ich nur genervt, ich war einfach mies drauf. Nein, ich hatte nicht meine Tage. Aber ich glaube das dass hier alles mir ein bisschen zu viel wird. Es unheimlich stressig hier, mein Blutdruck ist gestiegen wie eine Tsunamiwelle und mein Fingernagel war abgebrochen! Da sieht man einmal wo dass alles hinführt. Doch mein lieber Damien ließ sich leider nicht so schnell abschütteln.

„Wart mal, Apryl. Was ist los? Ist jemand gestorben?“

„Ja.“, meinte ich nur mürrisch.

„Was? Wer?“, fragte er entsetzt. Wenn wirklich jemand gestorben wäre, dann hätte er damit voll ins Schwarze getroffen. Nur gut, dass niemand gestorben war.

„Niemand. Man, ich brauch jetzt mal Ruhe! Okaaaay?“, schnauzte ich ihn an und dehnte das ‚okaaaay‘ extra lang, damit er es auch wirklich kapierte.

„Hast du deine Tage?“, fragte er belustigt.

Sehr witzig. Dem musste ich nicht antworten, das war unter meiner Würde. Tzz. Oh Gott, wie peinlich. Fast die halbe Schule hatte und gespannt gelauscht. Wir waren eben wir großes Kino. An den Wänden klebten viele Zettel und alle waren gleich bedruckt. Überall stand drauf:

„Evernora ist wieder da! Stimmt für sie als neue Schulsprecherin!“, darunter war noch ein Bild von einer dunkelblonden Schönheit abgedruckt. Ihr denkt jetzt vermutlich blond, dumm und zickig. Aber so sah dir gar nicht aus. Ja, blond und zickig vielleicht. Aber einen außergewöhnlich dummen Gesichtsausdruck hatte die jedenfalls nicht. Es war ja nicht so das den Leuten, die dumm waren, in Großbuchstaben auf dem Hirnkasten „suche Gehirn“ oder so drauf stand.

„Wer ist das?“, fragte ich an Damien gewandt. Dieser schnaubte verächtlich.

„Das ist Evernora. Sie kann durch Körperkontakt Leute manipulieren oder hypnotisieren, meiner Meinung nach ist das alles das Gleiche. Also berühre sie ja nicht! Ich habe es noch rechtzeitig gemerkt, bevor sie mich hypnotisiert hat. Sie ist ziemlich schlau.“, erzählte er mir und in seiner Stimme lag etwas total Verächtliches. Die verstanden sich wohl nicht so gut. Guut. Konkurrenz konnte ich nämlich nicht allzu gut vertragen.  

„Aha.“, bemerkte ich nur trocken und huschte schnell davon, bevor Damien mitbekam das ich mich aus dem Staub machte. Ich ächzte als ich mich durch die Menschenmenge von Schülern schlängelte. Irgendwer hatte einen total ekligen Kaugummi oder ähnliches im Mund und schmatzte ganz laut an meinem Ohr herum. Das war echt widerlich. Als ich das Schulgebäude endlich hinter mir hatte, verstärkte ich mein Schild noch ein wenig. Sicherheit ging eben vor. Da fiel mir doch gerade ein, dass ich noch ein Wahlfach belegen musste. Das hatte ich doch total verpennt und morgen war der letzte Tag, na super! Es gab immer eine Kombination. Zur Auswahl gab es also folgendes: Mathe und Physik, Mathe und Informatik, Literatur und Naturwissenschaften, Spanisch, Spanisch und Italienisch, Schwimmen und Laufen, Überleben und die Auswahl zwischen verschiedenen Kampfarten/Techniken. Ich hatte mich im Vorfeld schon über dieses ‚Überleben‘ informiert, da ich es irgendwie lustig fand. Bei dem Wahlfach „Überleben und Kampf“ lernte man wie man ein Feuer machte ohne Feuerzeug und Streichhölzer, Spurenlesen, wie man die nächste Wasserquelle fand, wie ein Satellitentelefon funktionierte, welche Wurzeln man essen konnte, Tarnung und so weiter. Bei ‚Kampf‘ konnte man sich zwischen Kampftraining mit Waffen und Kampftraining ohne Waffen entscheiden. Ich nehme mal schwer an das dieses „Kampftraining ohne Waffen“ dann so etwa war wie Judo. Gott, da musste man sich total verrenken. Da nahm ich doch lieber Pfeil und Bogen und schoss entspannt ein paar Leute ab, als ein paar Leuten sauber das Genick brechen zu können und dann Wochen lang Muskelkater haben würde. Also stand das schon einmal fest, ich würde „Überleben mit Kampf/ Kampftraining mit Waffen“ nehmen. Außerdem hatte ich schon ein wenig Erfahrung, da ich schließlich täglich Fechten hatte. Wachsam sah ich mich auf dem Heimweg um, noch einmal wollte ich nicht entführt werden. Mein Pfefferspray ruhte griffbereit in meiner Jackentasche und das Küchenmesser lag leider in der Küche. Ich hatte gestern Reis mit Hühnchen und einer fantastischen Kokosnussmilch – Ananas Soße gemacht. Das war das Einzige was ich kochen konnte, aber dafür auch mit Abstand das Leckerste. Zu Hause angekommen – in einem Stück – öffnete ich die Türe und lief singend ins Wohnzimmer. Ich sang das Lied aus `Der Hobbit´.

„Üüüüüber die Nebelberge weit. Zu Höhlen tief, aus alter Zeit. Nananaaanananananananaaa...“, trällerte ich vor mich hin und machte dabei die tiefe Stimme von Thorin nach. Der sah übrigens ganz schön gut aus, ohne Bart.

„Ohh, bitte! Nicht singen!“, rief June und hielt sich mit den Händen die Ohren zu.

Meine Singstimme war wohl einfach zu außergewöhnlich für diese Welt, egal. Moment mal, ich hatte ja total vergessen dass ich heute schlecht gelaunt war. Sofort sank meine Laune und ich setzte eine grimmige Miene auf.

„June! Wir gehen shoppen!“, ordnete ich an und holte schon mal meinen Geldbeutel.

„Vergiss es. Diesmal kannst du schön alleine gehen!“, meinte sie und lachte böse.

Bewaffnet mit meinem Geldbeutel stand ich vor ihr. Dann machte ich riesige Kulleraugen und schob die Unterlippe vor.

„Das zieht bei mir nicht, Apryl. Vielleicht klappt das ja bei Damien oder bei deinem anderen Lover, aber bei mir zieht das eben nicht.“, mitleidslos schüttelte sie den Kopf.

„Bitte! Für den Maskenball, du brauchst schließlich auch noch ein Kleid!“

„Stimmt, hast ja Recht. Warte noch kurz ich zieh mir schnell noch was anderes an!“, sagte sie seufzend. Am Ende bekam ich doch immer was ich will, gut so.

Während June sich noch etwas anderes anzog, schob ich mir mal wieder zwei ungetoastete Brotscheiben in den Mund und spülte es mit Orangensaft runter. Als June sah was ich da schon wieder aß, schüttelte sie einfach nur missbilligend den Kopf.

„Komm, wir gehen.“, meinte sie.

Zusammen fuhren wir mit einem Bus – der hier doch tatsächlich im Nirgendwo – manchmal vorbei fuhr in die Stadt. Dort besuchten wir zig Läden bis wir endlich beide das richtige Kleid gefunden hatten. Bei meinem musste so eine Näherin etwas noch enger machen. Bis das Kleid fertig war, gingen wir noch in die Schuhläden, bis ich irgendwann aufgab. Ich würde einfach schlichte High Heels nehmen, die gingen immer.

Wir holten noch eben mein Kleid ab und fuhren dann wieder zurück zur Schule. Morgen Abend war schon der große Ball und ich freute mich ehrlich gesagt schon wie ein kleines Kind.

 

„Ahhh! Sei mal ein wenig vorsichtiger oder willst du das ich vor dem Ball krepiere?“, blaffte ich June an, die gerade mein Korsett schnürte bis ich nach Luft schnappte, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Danach flocht sie meine Haare an der einen Seite nach hinten und kämmte den Rest nach vorne. Jetzt waren meine Augen an der Reihe. Sie machte mir schlichte Smokey Eyes mit einem grünen Highlight auf und puderte mein Gesicht noch ein wenig ein, bis ich hustete. Kritisch musterte June ihr Werk.

„Perfekt! Du siehst wunderschön aus. Aber für wen zum Henker machst du dich so schick? Für Damien? Den hast du doch eh schon an der Angel!“

Ich zuckte mit den Schultern. So genau wusste ich das selbst nicht. Eigentlich putzte ich mich gerne heraus, einfach weil es auch Spaß machte. Ich stand auf und lief ins Bad wo ich mich eingehend betrachtete. Passt. Mit den Fingerspitzen fuhr ich über mein Kleid. Es war einfach wunderschön. Ich ging als Black Swan. Das Kleid ging mir bis über die Knie und bestand aus schwarzen Federn, die so dicht beieinander waren das sie wirklich aussahen wie ein Federkleid. Meine Maske war ebenfalls mit Federn bestückt. Um die Taille herum wurde das Kleid etwas enger und war obenherum ebenfalls eng Dank des Korsetts. Ach ja, es war schulterfrei. Meine High Heels würde ich als letztes anziehen, sonst brach ich mir noch etwas. Ich musste sowieso die nächsten zwei bis drei Stunden in den High Heels verweilen, da konnte ich mir ja noch ein wenig Ruhe und Entspannung gönnen, oder?

»Kapitel 7




Da June keine Lust hatte zum Ball zu gehen, wo sie doch schon alles eingekauft hatte, ging ich alleine dort hin. Es war anscheinend so üblich das man alleine hinging und sich erst vor Ort mit seinen Freunden traf. Ich war gespannt ob Damien mich erkannte, wenn ich die Maske trug. Als ich die riesige Halle betrat, wo wieder einmal der Ball war, kam mir schon mal fetzige Musik entgegen. Gut, dass es keine Mozartmusik diesmal war, da wäre ich doch dann glatt eingeschlafen. Die Halle war überfühlt mit kostümierten Leuten und hier hatte wohl jeder genügend Geld um sich ein richtiges Kleid zu kaufen mit einer Maske. Die meisten Mädchen ahmten Julia nach und hatten so ziemlich das Das gleiche an. Und ich hatte mal wieder etwas Außergewöhnliches an, aber Außergewöhnlich war gut. Ich fand es immer langweilig in der Masse mit zu schwimmen, deswegen hob ich mich gerne mal von anderen ab. Zum Beispiel mit abgebrochenen Fingernägeln. Okay, lassen wir das Thema, langsam wird’s nervig. Aber abgebrochene Fingernägel blieben eben abgebrochene Fingernägel. Das konnte man gerne schön reden. Aber nun gut. Ein hochgewachsener Typ mit dunklen Haaren und dunkelblauen Augen kam auf mich zu. Hm, wer könnte das wohl sein? Ach ja genau, Damien zum Beispiel. Er trug einen schwarzen Anzug und eine silberne Maske, die sehr modern geschnitten war aber einfach perfekt zu ihm passte.

„Apryl! Woow, du siehst fantastisch aus.“, meinte er und legte mir wie selbstverständlich den Arm um die Schulter und zog mich zu ihm.

„Ja, du auch.“, sagte ich und schmollte ein wenig, das er mich so schnell erkannt hatte. Obwohl es natürlich auch schön war.

„Du musst Apryl sein. Du siehst bezaubernd aus in deinem Kleid. Ich bin Evernora.“, stellte sich diese Schönheit mir vor und ignorierte Damien völlig.

„Ja, die bin. Schön dich kennen zu lernen.“, sagte ich und lächelte etwas gespielt.

„Du musst mir verraten von wo du dein Kleid hast! Aber nun komm erst mal.“, sagte sie fröhlich und zog mich irgendwohin mit, weg von Damien.

Auf der Schleimspur, die sie mit sich zog, rutschte man ja beinahe aus. Das war echt nicht mein Ding. Nett sein, zickig sein und sich aufspielen, das war alles im grünen Bereich. Das machte ich schließlich auch alles. Aber rumschleimen und einen auf Best-Friends-Forever machen, das ging zu weit. Doch da ich nicht völlig Gehirn amputiert war, ließ ich es mir gefallen. Gute Beziehungen waren eben wichtig, und man durfte nie die Beliebtheit einer Person unterschätzen! Das konnte mir schließlich noch irgendwann zugutekommen. Evernora trug ein wunderschönes bordeauxrotes, bodenlanges Kleid und dazu eine schwarze Maske. Wie zum Teufel hatte sie mich eigentlich erkannt? Sie hatte mich in eine ruhige Ecke gezehrt und reichte mir ein Glas Champagner. Sie gab einer Minderjährigen Alkohol? Da bekam sie bei mir gleich einen Pluspunkt.

„Nun gut. Es ist wirklich bedauerlich dass ich nicht früher da war, dann hätte ich dich aus schlechter Gesellschaft retten können. Aber es ist ja noch nicht zu spät.“

„Meinst du die Brüder?“, fragte ich neugierig.

Sie lachte bitter.

„Ja, die meine ich. Sie sind hohle Teenie Stars, von ihnen kann man nicht viel erwarten. Aber wir zwei, wir haben etwas gemeinsam, wir sind skrupellos.“

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an Damiens Worte. „Das ist Evernora. Sie kann durch Körperkontakt Leute manipulieren oder hypnotisieren, meiner Meinung nach ist das alles das Gleiche. Also berühre sie ja nicht! Ich habe es noch rechtzeitig gemerkt, bevor sie mich hypnotisiert hat. Sie ist ziemlich schlau.“, das hatte er gesagt. Schnell zog ich meine Hand aus ihrer Reichweite, ich hatte keine große Lust mich von so einer Schlange manipulieren zu lassen. Darauf konnte ich getrost verzichten.

„Nun gut. Amüsiere dich, wir sehen uns am Montag wieder in der Schule.“, sie zwinkerte mir noch zu und verschwand in der tanzenden Masse. Die Musik dröhnte so laut, das es richtig wummerte in meinen Ohren und der Boden leicht vibrierte von der Musik. Plötzlich kribbelte es in meinem Magen und schlich sich hoch zu meiner Hals. Nein, das war keine Kotze. Ich musste plötzlich anfangen zu lachen. Ehrlich, ich sag es euch, ich hatte noch nie so gelacht. Vor Lachen krümmte ich mich leicht und ich hatte Lachtränen in den Augen. Ich konnte einfach nicht aufhören zu lachen. Den Grund dafür kannte ich auch nicht, es kam einfach so und egal wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte einfach nicht damit aufhören. Dann war es schlagartig vorbei und eine unechte Trauer überkam mich. So als wäre meine große Liebe tragisch verstorben. Ich kauerte mich auf dem Boden zusammen und heulte was das Zeug hielt. Nach ein paar Minuten konnte ich mich ein wenig beruhigen und schluchzte einfach nur noch. Mein Herz fühlte sich so an, als würde es jeden Moment zerspringen. Gott! Ich hielt das nicht mehr aus! Was war nur los mit mir? Evernora hatte ich nicht berührt und hatte nicht einmal ihre Hand geschüttelt, also konnte sie mich nicht manipulieren? Von June konnte es auch nicht kommen, das spürte ich. Es war etwas völlig Neues, etwas Fremdes. Aber andererseits Etwas das zu mir gehörte. Als ich mich beruhigt hatte, stand ich auf und ging im Laufschritt ins Bad. Mit High Heels war das eben nicht so einfach wie es in den Filmen immer aussah. Das Mädchenklo war Gott sei Dank verlassen. Tapfer stellte ich mich meinem Spiegelbild entgegen. Wieso musste ich immer auf Bällen heulen? Nur gut dass diesmal nicht die Schminke verlaufen war.

Zum Tanzen oder Trinken hatte ich heute keine Lust mehr. Obwohl ich mir doch ganz fest vorgenommen hatte heute Abend Spaß zu haben. Wieso hatte ich so extreme Stimmungsschwankungen? Ich war nicht schwanger und irgendwelche Drogen hatte ich auch nicht genommen. Geraucht und getrunken hatte ich auch nichts. Als was zur Höhle war bloß los mit mir? Wo war eigentlich Damien? Egal, den konnte ich morgen auch noch sprechen. Oder er machte sich vielleicht schon an die Nächste ran. Autsch. Der Gedanke daran war abstoßend. Aber eigentlich hatten wir ja gar nichts Festes. Oder?

Ich stieß die Toilettentüre auf und verschwand in der tanzenden Masse. Wieder einmal schlängelte ich mich durch das Gedränge bis ich endlich den rettenden Ausgang erreichte. Die Luft war wunderbar erfrischend und leicht kühl. Doch irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es war fast greifbar in der Luft, aber ich kam einfach nicht drauf. Ich spannte meine Muskeln an. Mein Herz schlug so laut das ich dachte jeder könnte es hören. Plötzlich wurde ich nach hinten gerissen und jemand hielt mir mit seinen Pfoten den Mund zu. Automatisch schrie ich und wehrte mich mit Händen und Füßen. Ich vergaß alles was ich in den letzten Monaten gelernt hatte. Vor allem aber vergaß ich völlig mein Talent Luft.

„Pscht, Apryl. Ich bin’s.“, raunte Damien mir ins Ohr. Dieser Vollidiot. Was sollte das?

„Ich werde jetzt meine Hand von deinem Mund nehmen, und du wirst keinen Laut von dir geben, verstanden?“, flüsterte er. Ich nickte brav. Der konnte noch sein blaues Wunder erleben! Langsam nahm er seine Hand von meinem Mund.

„Was soll das, Damien?“, fragte ich ihn, ebenfalls im Flüsterton. Ich war noch immer total angespannt, bis aufs Äußerste. Das würde Muskelkater geben. In der Dunkelheit konnte ich nur seine funkelnden Augen erkennen.

„Ich liebe dich, Apryl. So wie du bist, und nur dich.“, sagte er und spielte mit einer Haarsträhne von mir. Als er mir wieder in die Augen sah, fesselten mich seine Augen – wie jedes mal. Ich presste die Lippen aufeinander und legte meinen Kopf an seine Brust. Seine Arme umschlangen mich und diese Umarmung tat tausendmal besser als irgendeine Shoppingtour.

„Hier ist jemand. Er will dich holen, aber keine Sorge, Apryl. Das werde ich nicht zulassen.“

Hä? Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Klar war hier jemand, so ziemlich die ganze Schule. Aber wer zum Henker war er? Wie konnte der nur so schnell von einem Thema ins nächste springen? Einfach unfassbar. Aber ich glaubte, ich liebte ihn auch.

„Das hört sich ja wirklich nett an, aber wer ist er?“

„Isaac.“, und die Art wie er den Namen aussprach ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken. Der Name kam mir bekannt vor.

"Sie hat Isaac's Augen, sag ich dir. Graue Augen, wie ein Sommergewitter. Ich glaub sie wacht auf!", das hatte einer von den Kerlen gesagt, die mich entführt hatten.

„Und wer ist Isaac?“, fragte ich jetzt ein wenig genervt. Meinem lieben Damien musste man wohl wirklich alles aus der Nase ziehen. Aber aus einer wirklich schönen Nase. Gott! Ich musste wirklich ein wenig übergeschnappt sein, wer bezeichnete schon die Nase von einem Typen als schön? Ganz klar: nur ich.

„Isaac ist ebenfalls ein Jäger, ihr Anführer. Er hat ebenfalls ein Talent und man munkelt, das er verflucht sein sollte.“

Na das hörte sich doch total sympathisch an. Zusammen mit Damien entfernten wir uns ein wenig von der Halle. Wo man doch eigentlich aus den ganzen Horrorfilmen lernen sollte, das man immer zusammenbleiben sollte, sich im Wald nicht aufteilen sollte, den gruseligen Geräuschen nicht nachgehen sollte und sich am besten bei den Entführern nicht unbeliebt machen sollte. Und ich schweifte schon wieder ab. Ich sollte mal so ein Anti-Abschweifungs-Training machen. Vielleicht half das ja. Was wollten die Jäger überhaupt von mir? Meine neuen Guccis von der nächsten Saison? Ein paar Schminktipps? Oder vielleicht eher einen heißen Anmachspruch? Wie ein einziger Schatten huschten wir zwischen den kleinen Wohnungen vorbei in die Nähe von unserem Schultor. So dumm war das eigentlich gar nicht. Wenn man mich suchte, dann vermutlich beim Schultor. Oder bei mir zu Hause. Scheiße! June war doch noch zu Hause. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

„Damien, wir müssen nochmal zurück und June holen! Wenn sie bei mir zu Hause vorbeischauen, dann werden sie June etwas antun!“, sagte ich aufgebracht. Zum ersten Mal in meinem Leben, fühlte ich mich für etwas oder jemanden verantwortlich. Meine ganzen Tiere, die ich bekommen hatte, sind letztendlich krepiert oder wurden von Tierpflegern ins Tierheim gebracht da ich mich nie um sie kümmerte.

„Das geht nicht. Sie werden ihr schon nichts tun, schließlich können sie so etwas nicht riskieren da sie nicht wissen was für ein Talent June besitzt. Sie könnte damit eine Gefahr für das ganze Projekt werden!“, redete er mir zuversichtlich zu und es brachte auch etwas. Einigermaßen überzeugt huschten wir weiter zum Tor, immer darauf bedacht unauffällig zu sein und nach jeder lauernden Gefahr aus Schau zu halten. Damiens Anwesenheit gab mir irgendwie Kraft. Nichts übernatürliches, eher etwa im emotionalen Sinne gemeint, damit wir uns hier nicht falsch verstehen. Das Tor war geöffnet, da wir während dem Ball auch „normale“ Besucher hatten. Also liefen wir weiter aus dem Tor. Was unser Ziel war wusste ich nicht und ich war mir nicht einmal sicher ob Damien es wusste.

„Warte mal kurz, Damien.“

„Was denn, Apryl? Für so etwas haben wir jetzt keine Zeit!“

Irgendetwas war mit der Luft. Sie war nicht mehr so frisch und leicht, sie war viel dicker und dichter geworden obwohl wir uns ja praktisch mitten in der Natur befanden.

„Die Luft…“, meinte ich abwesend und schnupperte in der Luft.

Eine leichte Prise kam uns entgegen und veränderte die Richtung. Da kam jemand.

„Damien, wir bekommen Besuch.“, sagte ich laut und filmreif. Das hatte ich aus irgendeinem Film, mir fiel nur gerade einfach nicht ein, was für ein Film es gleich noch einmal war. Ein tiefes Lachen erklang hinter uns. Aber leider konnte man nichts sehen. Wirklich null. Es war stockfinster und ich konnte gerade noch so meine eigene Hand mit Mühe erkennen, ganz zu Schweigen von Damien. Damien schob mich hinter sich, wie ein kleines Kind.

„Was willst du?“, fragte er kalt.

„Ich will nur die Kleine.“, meinte der Unbekannte höhnisch.

„Vergiss es.“, murmelte Damien.

Er hob leicht die Hand und eine riesige Flamme schlängelte sich durch die Nacht. Ich hatte Damien noch nie wirklich…zaubern gesehen. Es sah einfach richtig cool aus. Endlich konnte man wieder etwas sehen. Der Unbekannte trug eine Jeans und ein blutrotes Hemd und lief barfuß. Auch er hob leicht die Hand und entfesselte dadurch riesige Erdbrocken aus der Erde.

„Oh. Du kannst das Element Feuer nicht nur kontrollieren sondern auch erschaffen. Bemerkenswert.“, sagte er immer noch höhnisch.

Ein riesiger Erdbrocken flog auf uns zu und erst in letzter Sekunde zerfiel er zu Staub vor unseren Füßen. Ich kam mir mehr wie eine Zuschauerin vor, als wie eine Mitspielerin oder dergleichen. So, wie die großen Jungs Krieg spielen wollten, dann wollte ich mitspielen. Mit höchster Konzentration wirbelte ich die Luft um uns herum auf und ließ sie auf diesen Erdtypen los. Dieser taumelte nur ein wenig. Normalerweise hätte ihn das mindestens zehn Meter nach hinten schleudern müssen. Aber bevor es richtig zur Sache kommen konnte, haute jemand von hinten Damien eine riesige Spritze in die Schulter.

„Scheiße!“, war alles was ich dazu sagen konnte.

Damien ging zu Boden wie ein gefallener Krieger, wie aus Herr der Ringe. Ich musste aussehen wir ein verschrecktes Kaninchen. Meine Muskeln waren aufs Äußerste angespannt und mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Wir wollen dir nichts tun. Nimm die Hände runter und knie die auf den Boden, dann wird alles gut.“, sagte so ein großer, bulliger Typ.

Ich hatte gar nicht bemerkt wie ich die Hände gehoben hatte.

„Und was macht ihr dann mit mir?“, fragte ich und genau jetzt zitterte meine Stimme ein wenig. Na super.

„Wir müssen nur ein paar…Tests mit dir durchmachen.“, sagte er zögernd und suchte anscheinend nach den richtigen Worten. Vermutlich wollten sie mich brutal foltern oder dergleichen und darauf hatte ich nun wirklich keine Lust mehr.

Ich sog die gesamte Luft aus dem Körper des Kerls der gerade gesprochen hatte. Dieser ging röchelnd zu Boden und hielt mit den Fingern seine Kehle umklammert. Die restlichen Männer, es waren drei Männer und dieser Erdtyp, wichen einen Schritt zurück, verschwanden aber leider nicht. Ich merkte schon wie das an meinen Kraftreserven zog. Da ich noch immer High Heels trug schlüpfte ich schnell aus ihnen heraus und brachte mich in Kampfstellung. Darf ich vorstellen? Lara Croft Nummero zwei. Da fiel mir auf, das alle Vier irgendeinen Punkt hinter mir fixierten. Ich bekam noch gerade somit wie irgendjemand seine Handfläche an irgendeinen wunden Punkt bei meinem Nacken hin klatschte und ich dann bewusstlos zu Boden sank. Da Damien mit mir zusammen verschleppt worden war, gab es nur noch einen der uns retten konnte: Lucian. Das hörte sich verdammt tragisch an. Mano Mann. 

»The final

 





 "Kann ich mal durch? Ich suche den Weg ins Wunderland"

 

 

»Kapitel 1

 

Puhh. Hier stinkt‘s aber vielleicht, wie in einem Krankenhaus.  Ich hasse Krankenhäuser, alles war weiß und steril und dieser Defektionsgeruch, den bekam man schon gar nicht mehr aus der Nase. Blinzelnd stellte ich mich der Helligkeit und öffnete die Augen. Tatsächlich, ich befand mich in einem Krankenhaus, oder eher gesagt in einem Krankenzimmer. Ich lag auf einem Krankenhausbett und es gab nur ein kleines Fenster, das mit Gitterstäben versehen war. An der Decke befand sich ein steriles, grelles Licht. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich an das Bett fixiert wurde und meine beiden Arme in Kanülen geschlaucht waren.

Die Türe wurde aufgestoßen und eine Frau im mittleren Alter betrat das Zimmer, hinter ihr befanden sich zwei Bodyguards, oder so etwas Ähnliches. Sah ich wirklich so gefährlich aus? Schade, das in der Nähe kein Spiegel war.

„Ich bin Doktor Meyden. Wissen Sie wer sie sind?“, sagte sie monoton.

Was war das denn für eine Frage?

„Wissen Sie wer sie sind?“, äffte ich sie nach doch Doc ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ganz im Gegenteil, sie schien die Ruhe selbst zu sein. Vielleicht machte sie ja Yoga oder so?

„Nun, wissen Sie es?“, hakte sie gleich nochmal ruhig nach.

„Ja. Ich bin Apryl Summers.“, sagte ich stolz und reckte das Kinn ein wenig, um etwas größer zu wirken.

„Nun, wissen Sie auch wo Sie sind?“, nervte mich Doc weiter.

„Nicht in Narnia.“

Doktor Meyden stieß einen genervten Seufzer aus, so als würde das jeder sagen, der hier gefangen gehalten wurde.

„Wenn Sie nicht kooperieren, haben wir auch andere Mittel zur Verfügung.“, meinte sie gelangweilt. Okay, okay, ich musste es ja nicht zu weit treiben.

„Schön.“, sagte ich miesgelaunt.

Moment!  Das war eine berechtigte Frage! Wo zum Teufel war ich, und wie bin ich hier hergekommen!? Dann erinnerte ich mich wieder an den letzten Abend. War es überhaupt der letzte Abend gewesen? Mein Fingernagel war abgebrochen, ich war entführt worden, ich war auf einem Ball und Damien hatte mir eine Art Liebesgeständnis gesagt. Das kam bei mir erst jetzt so richtig an. Was wollten die von mir? Nein, was wollte Isaac von mir? Teufel nochmal.

„Nein, ich weiß nicht wo ich bin.“, antwortete ich dann doch noch brav.

Doc kritzelte irgendetwas auf ihrer Block und nickte.

„Gut. Wir haben uns ihre Blutwerte angesehen und eine gründliche Untersuchung überhaupt gemacht und müssen ihnen leider mitteilen das es positiv ist.“

„Hä?“, fragte ich äußerst geistreich.

„Das heißt `Wie bitte´! Näheres werden sie dann schon noch erfahren, Ms. Summers.“, meinte sie kühl und nickte ihren Bodyguards zu, die sie bis zur Türe begleiteten. Die machte Tests mit mir? War ich ein Versuchskaninchen oder was? Wo war ich da nur wieder reingeraten. Manometer, jetzt fiel mir erst auf was für einen Hunger ich hatte! Hoffentlich konnte einer von denen Etwas Essbares in die Röhre schieben. Am liebsten hätte ich mir mit der flachen Handfläche gegen die Stirn geklatscht. Viele graue Zellen konnte ich nicht haben. Ich wurde hier gefangen gehalten und fragte mich allen Ernstes, was ich zu Essen bekam!? Okay, diese Leute hatten also Tests mit mir gemacht und diese waren positiv ausgefallen, also gut, oder hatten das bestätigt was sie glaubten zu finden in meinem Blut? Hm. Das Zweitere hörte sich auf jeden Fall realistischer an.

Es war schrecklich hier. Ich wollte hier raus. Das Schlimmste hier war die Ungewissheit und die Langweile. Wenn du in einem Raum liegst, mit weißen Wänden und einer Ahnung von gar nichts, fängt es eben an mich zu langweilen. Mittlerweile summte ich alle möglichen Lieder. Erst die Hits aus den Neunzigern – zum Beispiel Bacardi Feeling – und dann eben so das Zeug von heute. In der Ecke des Zimmers hing eine Überwachsungskamera die sich manchmal bewegte. Man, war das gruselig! Wo war Damien überhaupt? Nie war er da wenn ich ihn mal brauchte! Klar, wahrscheinlich saß er eingekerkert in irgendeiner Zelle, so ähnlich wie ich, aber sein Bruder machte grade bestimmt einen auf High – Live, während wir hier drinnen verreckten, im Nirgendwo! Nach Stunden der Langweile, bequemte sich ein Mann mittleren Alters hier zu mir. Er war groß und schlank und sah relativ gut aus, für sein Alter. Seine Haare waren dunkelbraun, mit einem leichten Graustich, seine Augen waren grau, wie ein aufbrausendes Gewitter. Seine ganze Präsenz machte mich gleich ein paar Zentimeter kleiner und ich drückte mich unbewusst ein wenig in meine Kissen.

„Mein Name ist Isaac.“, stellte er sich vor, seine Stimme war glasklar und ohne ein Zeichen von Gefühl. Zu spät. Jetzt hatte ich schon einen anderen, passenderen Namen für ihn: Eisklotz. Sein Gesicht war frei von Gefühlen, genau wie seine Augen. Er wirkte desinteressiert und gelangweilt. Wie der geborene Folterknecht.

„Ich hab nicht vor dich zu foltern, zu töten oder andere unschöne Dinge mit dir anzustellen.“

Konnte der Gedanken lesen? Oh mein Gott! Wahrscheinlich war das sein Talent. Also versuchte ich an etwas Banales zu denken. Aber wenn du angestrengt versuchst nicht an ein paar Dinge zu denken, dann fallen dir eben diese ein.

„Sie besitzen ein Talent.“, stellte ich altklug fest.

Er wirkte keineswegs überrascht, eher ein wenig gelangweilt. Entfernt erinnerte er mich an einen Eisberg, der war genauso unterkühlt.

„Ja. Bringen wir die Sache auf den Punkt. Mein Talent hat damit aber nichts zu tun.“

„Können Sie Gedanken lesen?“, platzte es aus mir heraus.

Fragend und ein wenig missbilligend hob er eine Augenbraue.

„Nein, und ich frage gar nicht wie du darauf kommst. Um deine Neugier zu stillen …. Das ist meine Gabe.“, sein Gesicht und seine Hände funkelten plötzlich, wie tausende Diamanten. Das Licht reflektierte die unzähligen Diamanten. Ich kam mir vor als würde ich gerade mitten beim Juwelier stehen, die Sonne würde hineinscheinen und ich würde doof glotzen. Das sah einfach richtig cool aus, und megaschick. Wow.

„Eine Haut, bestehend aus unzähligen Diamanten.“, sagte er zu mir, wobei seine Stimme etwas Trauriges annahm,und bestätigte damit das, was ich bereits vermutet hatte. Seine Haut wurde wieder normal, leider. Erst jetzt machte es bei mir Klick. In seiner diamantenen Gestalt musste er unverwundbar sein, da Diamanten ja so ziemlich das Härteste überhaupt waren.

„Gut. Also dann bringen wir es jetzt auf den Punkt.“, er holte tief Luft.

„Du bist meine Tochter. Ich wurde verflucht – in jungen Jahren – und dieser Fluch hat sich auf dich übertragen, da du meine Tochter bist.“, sagte er so gleichgültig, also würden wir hier gerade von ein paar schlechten Filmen sprechen. Wenn es stimmte, was er sagte, und ich wirklich seine Tochter war – dann war mein Dad nicht mehr mein Dad! Das konnte einfach nicht stimmen. Der Kerl da vor mir war verrückt, das musste es sein!

„Hä?“, machte ich einfach total bescheuert. Das war wohl doch noch nicht richtig angekommen.

„Das heißt nicht ‚Hä? ‘, das heißt ‚Wie bitte? ‘“, hat dir deine Mutter keine Manieren beigebracht. Nun, bleiben wir doch erst einmal beim Fluch. Der Fluch lässt dich Gefühle vergessen und die wirst letztendlich verlernen zu fühlen.“

„Einfach so jetzt?“

„Einfach so. Meine Arbeit ist hier getan, ich geh dann mal wieder an die Arbeit.“, verabschiedete er sich und ging einfach aus der Tür. So was konnte nicht mein Vater sein, er war viel zu unfreundlich und ich konnte es einfach nicht fassen, dass er nicht mein Vater war. Ich war einfach total schockiert. Angestrengt horchte ich in mein Inneres hinein. Da war nichts, ich fühlte nichts außer Schock. Aber Schock war kein richtiges Gefühl, eher ein Zustand. Am liebsten hätte ich mir die Seele aus dem Leib geschrien, es war grausam was dieser Mann mir gerade vor die Nase geklatscht hatte! Aber ich fühlte nichts, einfach null. Ich war einfach nur leer, gefühllos. Kalt, kaltherzig. Meine Veränderung, Damien hatte es gemerkt, und andere Leute auch. Aber was sollte ich dagegen unternehmen? Konnte man dagegen überhaupt was unternehmen? War ich jetzt so etwas wie ein hoffnungsloser Fall. Wurde ich so wie mein Vater, kalt und emotionslos wie ein Stein? Ohne Taktgefühl? Was für ein Fluch war das überhaupt gewesen? Bestimmt auch irgendetwas paranormales, von dem ich mal wieder nichts verstand. Aber jetzt musste ich hier erst einmal raus! Einfach nur weg hier, mit Damien am besten. Aber wie? So leicht kam ich hier bestimmt nicht raus, oder eher gesagt gar nicht. Ach, Lucien würde schon bald kommen. Irgendwer rettet doch immer das Mädchen in Not. Obwohl, eigentlich bin ich doch unabhängig genug, oder? Genau! Ich war eine unabhängige, selbstbewusste und stolze Frau, die keine Hilfe braucht! Außer in Mathe vielleicht. Aber Mathe war ja sowieso unwichtig, kein Schwein brauchte das später. Außer natürlich du wurdest Mathelehrer, Genie oder irgendein Forscher, aber da brauchte man meines Wissen nach nur Physik und Biologie. Schön, dass ich immer so bei der Sache war. Gerade wollte ich einen genialen Fluchtplan aushecken, da ging die Türe auf und ein hochgewachsener junger Mann kam herein, oder wohl eher ein Junge. Er war mindestens zwei Meter groß und hatte dunkelbraune, schulterlange fettige Haare, die ihm in Strähnen vor dem Gesicht hingen. Besonders gut sah er also nicht aus. Seine Augen waren einfach nur braun und waren eigentlich von der Farbe her sehr langweilig, wäre nicht dieses ausgefuchste Glitzern in seinen Augen, die mir sagten das er alles andere als dumm war.

„Ich bin Harry und ich werde dafür sorgen das du nicht abhaust.“, stellte er sich vor, wobei er nicht gerade sonderlich sympathisch rüber kam.

„Ja, ich bin Apryl, das Mädchen das hier gefangen gehalten wird.“, stellte ich mich ebenfalls vor, aber meinen Namen kannte er vermutlich bereits. Dennoch war ich der Meinung das man immer schön höflich bleiben sollte, vielleicht konnte ich ihn ja bestechen, mit Geld oder anderem.

„Das weiß ich. Nun, ich rate dir es gar nicht erst zu versuchen zu entkommen. Das gelingt dir nicht. Selbst wenn ich nicht wäre, sind überall im Gebäude und außerhalb Begabte positioniert, und selbst wenn du es so weit schaffen würdest, im Umkreis von 20 Meilen wirst du nirgends ein Stück Zivilisation finden. Aber schließlich bin ich hier, also wäre das sowieso schon unlogisch. Also wie schon gesagt, solange du nicht fliegen lernst oder dich in Luft auflöst, hast du keine Chance.“

Gut, das gab auf jeden Fall ein paar Sympathiepunkte Abzug, mindestens vier.

„Ich hatte niemals vor, wegzulaufen.“, log ich und lächelte unschuldig und engelsgleich.

„Das ist mir natürlich bewusst.“, meinte Harry sarkastisch, lächelte dabei aber nicht.

„Was für eine Begabung hast du eigentlich?“, fragte ich ihn neugierig, obwohl er mir wahrscheinlich gar nichts preisgeben durfte. Zu meiner großen Überraschung, antwortete er jedoch.

„Ich kann Energie aufnehmen und umwandeln. Das heißt, ich spüre wenn du die Luft manipulierst und kann dich aufhalten.“, erzählte er mir ohne zu zögern.

Ich war mir ganz sicher, dass er bluffte. Vielleicht konnte er es ja wirklich spüren, aber wie wollte er mich dann aufhalten. Aber wenn er Recht hatte, dann saß ich ziemlich tief in der Scheiße. Wahrscheinlich würde ich auch noch den Frühlingsball verpassen, das hieß wenn ich das Ganze überhaupt überlebte. Was dachte ich da nur? Ich hatte gerade erfahren das mein Vater nicht mein Vater war, sondern das mein leiblicher Vater ein Verfluchter war, mit einem Talent. Aber was sollte ich machen? Weinen? Schreien? Ausflippen? Ich war weder traurig, noch wütend. Es war so wie wenn du dachtest ‚Oh Schade, das war mein Lieblingsstift, jetzt ist die Spitze abgebrochen‘. Ich wusste wirklich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Wenigstens wusste ich jetzt, wieso ich so wenig fühlte, oder warum ich eher gesagt fast gar nichts fühlte.

Während mir tausend Gedanken durch den Kopf gingen – oder liefen – machte Harry es sich auf einem Klappstuhl gemütlich, den er gerade unter meinem Bett hervor geholt hatte. Harry lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Schlief er? Nein, das glaubte ich nicht. Er war hochkonzentriert, das sah ich daran, wie er seine Stirn die ganze Zeit krauszog.

Und schon wieder ging die Türe auf, und endlich kam mal jemand hinein, der halbwegs gepflegt und freundlich aussah. Endlich. Er stellte sich mir als ein gewisser Doktor Waldorf vor und schüttelte meine Hand. Seine Haare waren dunkelbraun und waren schon von einzelnen grauen und weißen Strähnen durchzogen. Er trug eine dicke Hornbrille und war etwas kräftiger gebaut. Auf mich wirkte er ein wenig wie ein Bibliothekar, jemand, der die ganze Zeit Bücher las oder dergleichen.

„Nun, ich habe erst vor kurzem meinen Doktor in Psyche gemacht und heute werde ich dir-!“

„Moment! Ich bin nicht psychisch krank, ich bin ganz normal! Ehrlich! Also nicht ganz normal, leider, aber normaler als der Rest von eurer Sorte.“, dabei warf ich einen bedeutenden Blick zu Harry hinüber.

„Das hat gar nichts damit zu tun. Heute werde ich dir beibringen, zu fühlen. Deine Gefühle sind noch nicht vollständig verschwunden und mit ein wenig Übung kriegen wir das auch wieder hin, wir wollen ja nicht das deine wertvolle Gabe vergeudet wird!“

Da ich dazu erst mal nichts sagte und abwarten wollte, ließ ich ihn weitersprechen.

„Was ist das stärkste Gefühl, dass es überhaupt gibt? Das stärkste Gefühl! Welches ist das, Apryl?“

Das war ja leicht. Das lernte man doch schon im frühen Alter aus dutzenden Hollywood Dramen. Ein Liebesdrama nach dem anderen.

„Die Liebe.“, meinte ich sofort.

„Nein. Die Liebe ist nur etwas, was wir fühlen wollen und natürlich auch können. Aber die Liebe kommt nicht aus dem Herzen, sie kommt von hier.“, er tippte sich an die Stirn.

„Hass ist das stärkste Gefühl, nichts ist stärker als reiner Hass aus tiefstem Herzen! Gibt es jemanden, den du wirklich hasst? Aus tiefstem Herzen, meine ich, Apryl.“

Wen hasste ich? Es gab viele Leute, die ich nicht mochte und sogar verabscheute. Aber es gab niemanden den ich wirklich hasste, jedenfalls nicht aus tiefsten Herzen, so wie Doktor Waldorf es wollte. Nachdenklich schüttelte ich den Kopf.

„Nein, es gibt niemanden. Jedenfalls niemanden den ich richtig hasse.“, antwortete ich ihm schließlich.

»Kapitel 2

 

Nachdem Doktor Waldorf gegangen war, dachte ich noch eine Weile über seine Worte nach. Hass. Man konnte nur jemanden hassen, den man davor geliebt hatte, oder der einem das Leben mehr als nur ein bisschen vermieste. Da ich vor dem ganzen Mist hier behandelt wurde wie eine Prinzessin, hatte ich natürlich Neider, aber weshalb sollte ich solche hassen? Es gab doch noch sicher andere Gefühle die sehr stark waren. Die Liebe war es ja nicht, wie ich schon gehört hatte. Wenn ich darüber nachdachte, hatte mein lieber Doktor sogar Recht. Die Liebe war verletzlich und machte einen schwach. Das bewiesen doch zahlreiche Filme und Bücher. Romeo und Julia, Twilight und der ganze Kram. Jedes Mal starb irgendjemand oder opferte sich. Meiner Meinung nach hatten die Liebenden meistens nicht viel davon, außer ein wenig Glück und Zweisamkeit, aber das auch nur für eine kurze Zeit. Naja, obwohl. Ich weiß nicht was ich genau für Lucian und Damien empfinde, oder ob ich überhaupt etwas empfinde. Aber vielleicht war das ja Liebe? So genau wusste das wahrscheinlich keiner. Irgendwann war ich dann wohl eingenickt. Während meinem Schlaf, hatte ich meinen Kopf nach rechts verrenkt, was mir jetzt eine ordentliche Verzerrung im Nacken bescherte. Als hätte ich nicht schon genug Probleme.

„Guten Morgen, Sonnenschein.“, meinte Harry schlecht gelaunt wie immer.

„Du kannst gleich wieder verschwinden, du verbreitest negative Energie im Raum.“, sagte ich altklug und tat so als würde ich in der Luft herum schnuppern.

Irgendwie war es hier gar nicht so schlimm wie ich zuerst dachte. Auch wenn man mich meiner Freiheit und meinen bürgerlichen Rechten beraubte. Bald würde ich von hier abhauen, egal ob Harry mich daran hindern wollte oder nicht. Der kannte mich wohl noch nicht. Ich fragte mich, wo Damien sich die ganze Zeit so herumtrieb und wie gut oder schlecht er behandelt wurde. Außerdem durfte Lucian sich langsam mal auf die Socken machen und uns befreien, wenn ich es nicht bis dahin selber tat.

„Du schaust nicht zufällig Vampire Diaries, hm?“, fragte ich ihn neugierig. Harry meinte wohl nicht, dass er mir antworten musste und schnaubte nur.

„Das fasse ich als ein ‚Nein‘ auf.“, bemerkte ich und seufzte.

Ich roch an meinem T-Shirt und rümpfte angewidert die Nase. Seit wie vielen Tagen hatte ich das jetzt an? Eine Dusche wäre auch nicht schlecht, abgesehen von einer Nagelpflege.

„Shit!“, rief ich aus, als mir doch gerade wieder etwas einfiel.

Gerade hatte ich die Tage nachgerechnet und bin so auf das Datum gekommen. So ein Mist! Heute hatte ich einen Friseurtermin. Meine Haarspitzen sahen total verboten aus und waren außerdem schmutzig und total trocken. Der Dreck sammelte sich schon unter meinen Fingernägeln. Eine Dusche wäre echt schön.

„Kann ich duschen? Bitte?“, fragte ich, oder flehte schon mehr oder weniger. Noch nie hatte ich eine Dusche so dringend wie jetzt gebraucht, außer vielleicht nach der einen oder anderen Sportstunde.

„Frag das jemanden anderen.“, meinte Harry genervt und verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich an die Wand. Die Augen schloss er so, als würde er sich gerade in der Sonne sonnen.

„Ich hoffe du es hast es gemütlich! Ich verspann mich hier auf dieser Liege total, außerdem brauche ich mal Bewegung. Meine Muskeln schlafen ein. Und wenn ich mir den Dreck jetzt nicht von der Haut waschen darf und keine neue Klamotten bekomme, dann-!“

„Dann was? Quatscht du mir dann die Ohren ab?“, spottete Harry, immer noch mit geschlossenen Augen.

Das machte mich wahnsinnig. Zu sehen wie er so gleichgültig mit meiner Meinung umging und dann sich noch so entspannen durfte. Wie er sprach und vor allem wie gelangweilt wer war! Das war doch nicht sein Ernst, oder? Erst jetzt wusste ich es richtig zu schätzen, die ganze Zeit von hinten bis vorne verwöhnt zu werden.

Ich vermisste meine Dusche, mein Shampoo, meine Couch, meine Chips und meinen Vater. Meinen richtigen Vater. Vielleicht war er ja nicht mein biologischer Vater – falls das stimmte, was Isaac sagte – aber er war immer noch mein Vater, und daran würde sich nichts so schnell ändern!

Das Problem war nur, das ich immer noch hier feststeckte, genau wie Harry. Außerdem schnürten diese Bänder, mit denen ich ans Bett fixiert wurde, meine Haut ein. Das ständige liegen konnte auch nicht gesund sein. Von meinen beiden Armen wurde Blut abgenommen und mir noch irgendwas eingeflößt. Ich stellte fest dass mein Blut in dünnen, durchsichtigen Plastikschläuchen direkt zu einem Blutbeutel geleitet wurde.

Gut, es war Zeit für eine kleine Showeinlage. Showtime!

„Ich krieg keine Lu-!“, ich röchelte und drückte den Kopf ein wenig nach hinten. Ich hielt die Luft an, so dass ich tiefrot wurde.

„Apryl?“, das war Harry, er beugte sich neugierig über mich.

„Geht’s dir gut?“, fragte er, war der ein Hauch von Sorge in seiner Stimme?

Ich grinste nur dämlich und nickte ironisch. Was würde er machen, wenn ich nicht simulieren würde? Würde er dann auch nur da stehen?

„Apryl, du musst den Mund auf machen und atmen. Es bringt nichts wenn du die Luft anhältst, irgendwann wirst du sowieso nach Luft schnappen. Du kannst dich so fast gar nicht umbringen, tut mir wirklich leid.“, meinte er ironisch und machte es sich wieder auf seinem Stuhl bequem.

Augenblicklich hörte ich auf zu simulieren und holte tief Luft, um wieder zu Atem zu kommen. Wie hatte er das gemerkt? Bei meinem Vater hat das immer großartig funktioniert. Ich war fast jeden zweiten Tag während der Schulzeit krank, aber mein Vater hatte immer stur an meine fehlende Ehrlichkeit geglaubt.

Eigentlich käme jetzt Plan B dran, das war der Plan, wo Lucian ins Zimmer kam und mich ins Freie trug und wir dann gemeinsam auf seinem weißen Pferd zu seinem Schloss ritten. So hoffnungslos war ich jedoch noch nicht. Deswegen beschloss ich einfach, auf meine Spontanität zu vertrauen. Das würde schon schief gehen. Schlimmer als das hier konnte es sowieso nicht werden, oder? Foltern würden sie mich wohl kaum, schließlich war ich ja Isaacs Tochter und ganz unnütz war ich auch nicht, was Fingernägel lackieren betraf und meine spezielle Fähigkeit.

Vielleicht war ja mein Element Luft der Freifahrschein nach draußen! Jetzt musste nur irgendjemand Harry beseitigen und ich musste wieder meine Fähigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Ich brauchte also jemanden den ich wirklich hasste, aus tiefstem Herzen, wie der liebe Doktor es ja auch gerne formulierte.

Ich hatte nur Pech, das ich niemanden wirklich gut genug kannte um ihm richtig zu hassen. Harry vielleicht. Obwohl der hier ja schließlich nur seinen Job erledigte und er grundsätzlich nur nervte, bis jetzt. Isaac. Ja, das war vielleicht ein ganz guter Anfang. Also ich fand ihn von Anfang an nicht sympathisch, er war kalt, berechenbar und mein biologischer Vater. Eigentlich hatte ich doch jeden Grund ihn zu hassen. Meine Mutter hat wegen Isaac meinen Vater betrogen. Ich war mir auf jeden Fall ganz sicher, dass mein Vater davon nichts wusste. Er wusste nichts davon, dass er nicht mein biologischer Vater war. Ich hatte keine Ahnung wie er darauf reagieren würde, wenn ich es ihm erzählen würde. Am besten sage ich einfach gar nichts. Im Moment konnte ich auch schlecht mit ihm reden, solange ich hier nicht rauskonnte. Ich fragte mich ob man mich in der Schule schon vermisste. Evernora freute sich bestimmt, weil sie jetzt Damien für sich hatte. Falsch! Damien hing ja auch hier irgendwo herum. Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, wie ich ihn in den Fluchtplan miteinbauen sollte. Er war bestimmt hinter Schloss und Riegel und wurde streng bewacht, das konnte ich mir gut vorstellen. Da ich nicht darauf warten sollte, das Lucian hier irgendwann auftauchen würde, sollte ich das lieber alleine regeln.

Vielleicht konnte ich hier ja irgendjemanden auf meine Seite ziehen? Den Doktor nicht, der arbeite bestimmt schon lange hier. Harry vielleicht. Er sah nur leider nicht so aus wie jemand, den man leicht bestechen konnte. So sah er überhaupt nicht aus, er war loyal gegenüber Isaac, da war ich mir sicher. Bis jetzt kannte ich hier sonst niemanden. Außer Doktor Meyden und Elisabeth, die Dame die immer mein Essen brachte und hin und wieder sogar das kleine Fenster öffnete, damit ich ein wenig Luft bekam. Ich musste hier endlich weg, aber ich hatte ja eigentlich jede Menge Zeit alles zu planen.

Zeit und Langweile. Und einen Harry, der in der Ecke döste. Das hatte ich hier ja im Überfluss.

Hin und wieder fragte ich mich, ob ich nicht Angst haben müsste, aber dann fiel mir wieder ein dass ich so etwas ja nicht fühlen konnte. Eigentlich war alles so wie immer, also was meinen geistlichen und emotionalen Zustand anging. Jetzt war ich richtig stolz auf mich, schließlich brachte ich immerhin das ein oder andere Fremdwort unter.

„Klopf, klopf. Darf ich rein kommen?“, versuchte der Doktor es mit einem Scherz, während er einfach ins Zimmer herein spazierte. Wieso fragte er eigentlich.

„Sie sind aber ein Komiker.“, meinte ich sarkastisch und rollte mit den Augen.

Der Doktor runzelte die etwas nachdenklich die Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Diese Jugend ist wirklich anspruchsvoller geworden, verzeih mir. Nun denn, ich bin nicht gekommen um Witze zu machen, wie du dir vielleicht schon denkst. Wir müssen unbedingt weiter machen.“

Weiter machen? Ach ja, ich sollte irgendetwas fühlen. Aber wir konnten es ja auch mal mit etwas anderem versuchen, Wut zum Beispiel.

„Wie hat Isaac eigentlich wieder gelernt seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und so seine Fähigkeit kontrollieren zu können?“, diese Frage spukte schon etwas länger in meinem Hinterkopf herum.

Doktor Waldorf runzelte wieder die Stirn und massierte sich mit Zeige- und Mittelfinger die Schläfe.

„Gar nicht.“, antworte er schließlich.

„Das ist doch jetzt ein schlechter Scherz, oder? Woher wollen sie denn dann wissen das es überhaupt funktioniert, hm? Woher wissen sie das alles dann so genau? Warum eigentlich ich? Warum immer ich? Hat das Schicksal etwas gegen mich? Irgendeine höhere Macht? Warum ist Channing Tatum verheiratet? Warum liege ich nicht am Strand in der Karibik und esse Honigmelonen? Verraten sie mir das!“

Das musste ich jetzt einmal loswerden. Diese Dinge beschäftigten mich schon eine geraume Zeit lang, manche Dinge weniger lang. Aber bisher konnte mir nie jemand eine vernünftige Antwort darauf geben.

„Ich will gar nicht wissen wer Channing Tatum ist, auch bestimmt so ein Justin Bieber.“, murmelte der Doktor vor sich hin.

Ich hatte mich wohl verhört, Justin Bieber? Sehr witzig. Aber darauf bekam er keine Antwort von mir. Er war hoffnungslos verloren. Sollte er doch in der Hölle schmoren, da gehörte er hin!

„Erzählen sie mir, was Isaac mit meiner Mutter hatte.“, verlangte ich von ihm zu wissen. Meine Mundwinkel gingen automatisch ein wenig nach unten. Das war etwas, das mir Doktor Waldorf auch beantworten konnte. Waldorf seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die grau melierten Haare.

„Isaac liebte deine Mutter, lange bevor sie deinen Vater kennen lernte und-„

„Völliger Quatsch! Wie kann das denn sein, wenn meine Mutter mit meinem Vater über 20 Jahre lang verheiratet war und ich dann kam, das heißt das meine Mutter während sie mit meinem Vater zusammen war nochmal eine Affäre hatte! Das glaube ich nicht.“, unterbrach ich ihn auch schon gleich.

Schon wieder ein Seufzer von Waldorf.

„Ja, so ähnlich war das auch. Isaac und deine Mutter haben sich getrennt, weil eine Begabte sich in Isaac verliebt hatte und sie gedroht hat deine Mutter mit einem schrecklichen Fluch zu belegen. Deswegen trennte Isaac sich von deiner Mutter, auch wenn es ihm schwer fiel. Er machte es um deine Mutter zu schützen, nicht weil er sich nicht mehr geliebt hat! Die Begabte, die sich in Isaac verliebte und deren Liebe niemals erwidert wurde, hieß Octavia. Sie war reich, hübsch und gehässig, doch sie liebte Isaac wirklich. Isaac liebte sie nur nicht. Octavia hielt Wort und ließ deine Mutter in Ruhe, sie schnappte sich Isaac und zwang ihn quasi mit ihr zusammen zu sein. An einem Abend, als dein nicht biologischer Vater nicht da war, fuhr Isaac zu deiner Mutter um sie wieder zu sehen. Als Octavia erfahr dass dein Vater sich wieder mit deiner Mutter getroffen hatte, verfluchte sie deine Mutter und Isaac und verschwand. Deine Mutter wurde mit Gefühlslosigkeit verflucht, genau wie Isaac – dein Vater. Als deine Mutter starb, übertrug sich der Fluch auf dich. Er entfaltete sich erst, als du älter wurdest und deine Fähigkeiten entdeckt hast.“, erzählte Waldorf mir, ohne auch nur ein einziges Mal mehr von mir unterbrochen zu werden.

„Und lebt Octavia noch?“

„Das wissen wir nicht genau, wir haben nichts mehr von ihr gehört, aber ja, ich denke das sie noch lebt.“, meinte er und runzelte wieder die Stirn. Das tat er ziemlich häufig, davon bekam er nur noch mehr Falten.

„Und wann darf ich gehen?“

„Du darfst gehen, wenn du deine Fähigkeit wieder unter Kontrolle hast.“

„Wirklich? Also bin ich hier auch nicht gefangen und darf eigentlich hier herum spazieren? Ich hätte eine Dusche, einen Spaziergang und ein paar Pancakes dringend nötig. Außerdem müsste ich mal aufs Klo.“

Leider war ich nicht so eine Tante wie aus einem Film, die nie aufs Klo musste. Wirklich schade, denn ich hatte ja auch keine Stahlblase oder so etwas in der Art.

„Natürlich, das ist schließlich selbstverständlich. Wenn du hinausgehen möchtest, wird Harry dich jedoch begleiten, damit du keine Dummheiten machst.“

Also war ich wohl doch nicht so „frei“ wie er gemeint hatte. Wenn er Harry nicht mitschicken würde, würde ich auf jeden Fall versuchen zu fliehen, aber wenn Harry da war, machte das wenig Sinn.

„Gut, dann fangen wir mal mit dem Training an, dafür bin ich ja eigentlich hergekommen. Die Geschichte habe ich dir nicht ohne Grund erzählt. Octavia hat es verdient, von dir gehasst zu werden. Sie hat deine Mutter auf dem Gewissen, sie ist schuld daran das du keine Gefühle mehr fühlen kannst und hier fest sitzt. Apryl, was fühlst du Octavia gegenüber?“ Da ich wirklich aus diesem Loch raus kommen wollte, strengte ich mich auch an. Schließlich tat ich das auch für mich selbst. Ich schloss die Augen und horchte in mich herein. Was fühlte ich Octavia gegenüber? Da war nicht, absolut gar nichts! Enttäuscht öffnete ich wieder die Augen.

„Ich fühle Octavia gegenüber nichts, einfach gar nichts.“

„Na gut, versuchen wir es mit etwas einfacherem. Bereit?“

„Jap, fangen wir an.“, meinte ich zuversichtlich, obwohl ich das überhaupt nicht war. 

»Kapitel 3

 

Nachdem Doktor Waldorf endlich fertig mit den Untersuchungen war, meinte er nur dass eine Therapie vom Feinsten helfen würde, die natürlich nicht nur auf ganz freiwilliger Basis wäre. Ich hatte also überhaupt keine Wahl, ganz egal wie nett der liebe Doktor das jetzt formulierte, es lief ja aufs Gleiche hinaus. Es war höchste Zeit, dass ich von hier verschwand, am besten heute noch. Da Fluchtpläne nichts halfen, blieb mir nur noch eins übrig: auf ein Wunder zu hoffen. Und dieses gewünschte Wunder bekam ich sogar heute noch zu Gesicht: Lucian. Zu meinem großen Glück, waren weder Doktor Waldorf, noch Harry da.

Zuerst erkannte ich ihn gar nicht, er trug einen weißen Kittel – wie die Ärzte – sein Haar war nach hinten gegellt und er trug um den Hals ein Stereoskop. Nur bei seinen Schuhen hatte er es wohl nicht für nötig gehalten, diese einzutauschen gegen weiße Tennisschuhe, so wie die Ärzte aus den Filmen immer. Er trug schwarze Springerstiefel und die weiße Hose – die auch zu der Doktoren Kluft dazugehörte – hatte er so über die Stiefel gezogen, dass sie einem nicht gleich in die Augen fielen.   

„Miss Apryl? Darf ich sie bitten mich zu begleiten?“, fragte er ganz formell.

„Aber natürlich, Doktor“, antwortete ich ihm und konnte mir dabei ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

Also wurde ich doch noch von einem Prinzen in weißer Kluft gerettet, nur das Pferd fehlte noch, aber auf das konnte ich auch verzichten.

Ich schwang meine Beine aus dem Bett und stand schwankend auf. Sogleich spürte ich Lucians Hand bei meinem Arm, der mich leicht stützte. Am liebsten hätte ich mir jetzt einen Rollstuhl geholt und mich dann von Lucian schieben lassen, aber man konnte ja nicht alles haben.
Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich mich freute das Lucian kam und mich rettete. Freude war eindeutig ein Gefühl, vielleicht war ich ja doch nicht hoffnungslos?

„Wir müssen aufpassen, hier gibt’s einen Typen, Harry, er kann glaube ich spüren wenn wir jetzt unsere Fähigkeiten einsetzen“, erzählte ich Lucian, der darauf nickte.

Ich stieg in meine weißen Pantoffeln, die vor meinem Bett bereit standen, und zog mir den weißen Bademantel drüber, der an einem weißen Haken hing.
Alles war weiß und steril, vor allem die Farbe weiß regte mich gerade auf, wenn ich wieder zu Hause war, würde ich nie wieder etwas weißes tragen. Das nahm ich mir natürlich nur vor, mir war bewusst das ich es wahrscheinlich sowieso nicht einhalten konnte, da ich viele schöne Sachen hatte, die weiß waren und die ich bestimmt irgendwann, in ferner Zukunft, mal wieder tragen würde. Aber ich schweifte natürlich gerade ab.

„Hast du zufällig einen Haargummi dabei?“

Lucian sah mich gerade so an, also hätte ich ihn gefragt ob er vielleicht ein paar Bomben unter seinem Kittel versteckt hatte.

„Das heißt dann wohl nein.“

„Wir müssen uns jetzt etwas beeilen, trödele nicht immer so rum, Apryl“, meinte Lucian streng, wobei ich jedoch wieder diesen bekannten, belustigten Unterton in seiner Stimme heraushörte.

Als wir das Zimmer verließen und den Gang betraten, schrillten keine Alarmglocken los, wie ich schon fast erwartet hätte. Wir begegneten keinen anderen Leuten, der Gang war wie ausgestorben, es war schon richtig gruselig ruhig. Vielleicht war das eine Falle?
Irgendetwas stimmte hier nicht. Das war einer von diesen Momenten in den Filmen, wo die Frau dann meinte, das sie umkehren sollten aber der dämliche Typ neben ihr sagte, das alles okay wäre und sie weitergehen sollten. Am Ende waren die beiden meistens tot, oder auf jeden Fall der Kerl, aber was ich damit sagen wollte: genauso kam ich mir gerade vor. Und die Tatsache dass wir nicht verfolgt wurden, war noch seltsamer.

In meinem Rücken spürte ich Lucians Hand, die mich immer weiterschob. Er hatte wohl auch bemerkt, dass etwas nicht stimmte, da er sich unruhig im Gang umsah und wohl auch darauf wartete, das aus irgendeiner Ecke mal eben ein Verrückter sprang und auf uns mit einer Pistole zielte oder gleich drauf los schoss, natürlich glaubte ich nicht dass das passieren würde.
Schließlich war ich doch Isaacs Tochter – das konnte ich immer noch nicht glauben, und wollte es auch nicht.
Endlich erreichten wir den Ausgang, und spätestens jetzt hätte irgendetwas passieren müssen, aber hier war es wirklich schon fast so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Moment mal, was war eigentlich mit Damien?

„Wir müssen Damien noch da rausholen!“, fiel mir wirklich recht früh ein, ich weiß.

Doch Lucian grinste nur und deutete auf den schwarzen Geländewagen, in dem schon eine Person saß, Damien. Mich verwunderte mehr die Tatsache, dass die beiden sich verstanden, als das ich mich fragte wie zum Teufel er es geschafft hatte mich und ihn dann lebendig rauszuholen ohne eine ganze Armee.
Isaac musste wohl schön blöd sein, wenn er glaubte dass ich freiwillig zu seiner Therapie zurückkehrte.

Zusammen überwältigten wir noch die letzten Meter zu dem Geländewagen und sprangen dann rein. Natürlich durfte ich auf der Rückbank sitzen, während die beiden Herren vorne saßen, wobei Lucian fuhr.

Damien war es vor zwei Tagen schon gelungen auszubrechen, aber natürlich hatte mir niemand etwas davon erzählt. Es war uns allen drei ein Rätsel, wie wir es geschafft hatten da auszubrechen, wobei ich dachte das ich streng bewacht worden war. Außerdem fragte ich mich wo denn alle waren, keiner Menschenseele – oder irgendetwas anderem was eine Seele hatte – sind wir begegnet. Wir hofften einfach das wir riesiges Glück hatten und dort oben im Himmel – oder wo auch immer – jemand war der uns wirklich mochte.





„Dreh mal lauter“, forderte ich die beiden auf, als die heutigen News im Radio liefen.

Hatte ich da gerade meinen Namen gehört? Ich hatte mich wohl eher verhört. Lucien drehte das Radio lauter, so dass ich auch wirklich alles verstand. Schwerhörig war ich übrigens nicht.

„Die 17-Jährige Schülerin Apryl Summer wird vermisst, sie wurde von zwei Männern entführt, die Identität der beiden ist noch unklar, beide werden als gefährlich eingestuft. Die Entführer fahren einen schwarzen Geländewagen. Außerdem leidet die Schülerin unter posttraumatischem Stress, es wird gebeten äußerst vorsichtig mit ihr umzugehen, genaueres gibt es bei den 20-Uhr Nachrichten. Das waren…“, erklang die Stimme des Nachrichtensprechers im Radio.

„Das war zu erwarten, sie werden versuchen dich mit allen Mitteln wieder zurück zu schleifen. Wir sollten von der Autobahn runterfahren und die Landstraße nehmen, heute Abend suchen wir uns ein Motel“, sagte Damien.

Das war wirklich aufregend! Wie in den Filmen, und ich war das Opfer. Wir waren weder superblöd, noch hatten wir nie einen Film gesehen, wo jemand von der Polizei verfolgt wurde. Das hieß dass wir nicht mit leuchtenden Schildern herumlaufen würden, wo in Großbuchstaben drauf stand, dass wir hier waren.
Oder vielleicht sollten wir lieber solche coolen Leuchtfackeln verwenden, die waren auch richtig unauffällig. Wir könnten auch einfach am nächsten Polizeirevier vorbeilaufen und winken.

Damien und Lucien fanden es wohl nicht einmal halb so aufregend wie ich, da sie einfach still weiter fuhren und ihren Blick auf die Straße richteten. Konnte es sein das sie beleidigt waren? Naja, die beiden zusammen für eine längere Zeit in ein Auto zu stecken war auch nicht die schönste Vorstellung.

Also schwiegen wir uns für den Rest der Autofahrt alle an.

»Kapitel 4

 

 


Nachdem wir eingecheckt hatten, gingen wir hoch in unser Zimmer, das wir für eine Nacht gemietet hatten. Das kleine Motel stand am Rande einer Stadt, welche Stadt das war, wusste ich nicht so genau, da hatte ich wohl eine Weile nicht aufgepasst. Aber im Prinzip war das ja auch egal.
Die Farbe an den Wänden blätterte ab und überall waren Löcher, die notdürftig mit Putz zugekleistert worden war. Eine richtige Traumbude also, aber wir würden ja eh nur eine Nacht hier bleiben und im Vergleich zu diesem Krankenhaus – oder was auch immer das genau gewesen war, war es wirklich ein Traum. Vor allem die Gesellschaft, in der ich mich im Moment befand, war um einiges besser.

Das Zimmer roch förmlich nach Staub und etwas anderem, das ich noch nicht identifiziert hatte. Zwei Hochbetten standen im Zimmer und eine offenstehende Türe, die zum Badezimmer führte. Als erstes öffnete ich das Fenster, um einmal richtig durchzulüften.

„Was haltet ihr von einer Pizza? Oder meinetwegen mehreren Pizzen?“,  fragte ich und lächelte verträumt, bei dem Gedanken an eine Pizza mit Käsefäden und knusprigen Rand.

Die beiden Brüder dachten wohl das Selbe und stimmten deswegen sofort zu.
Ich schnappte mir Luciens Handy und rief den Pizza-Service an, dessen Nummer schon eingespeichert war. Also bestellte ich 3 Pizzen, eine Margaritha für mich und zwei Hawaii-Pizzen für Lucien und Damien.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der Pizza Lieferant und klopfte ans Zimmer. Woher ich wusste dass es der Pizza Typ war? Eigentlich wusste ich es gar nicht, ich hoffte viel mehr darauf.
Und zu unserem großen Glück war es auch der Pizza Typ. Er drückte mir die drei Pizzaschachteln in die Hand, ich gab ihm das Geld und alle waren glücklich. Außer vermutlich der Pizzalieferant, der durfte das Geld ja nicht behalten und musste auch gleich weiter.
Naja, ich wollte jetzt ehrlich gesagt nicht so genau darüber nachdenken, was der Pizzamann jetzt alles Nächstes machen wollte oder musste. Jetzt konzentrierte ich mich erst einmal voll und ganz auf die Pizza, die sogar noch warm war. Damien und Lucien ging es wohl genauso, denn sie verschlangen genau wie ich die Pizza mit wenigen Happen.
Es war das erste richtige Essen seit langem für mich und ich kam mir vor wie ein Bär der gerade aus dem Winterschlaf erwacht war und jetzt wieder seine Speckschwarten auffüllen musste. Nachdem wir alle unsere Pizza vertilgt hatten, waren wir alle so müde das wir eigentlich schon im Stehen einschlafen könnten. Also legten wir uns alle in unsere nicht bezogenen Betten und schliefen seelenruhig ein.
Wobei seelenruhig dann wohl wieder eine Nummer zu groß war.
Die beiden schnarchten zusammen so laut, dass ich hin und wieder aufwachte und mir das Kissen auf die Ohren drückte.
Es grenzte an ein Wunder das wir noch nicht entdeckt worden waren, so laut wie die beiden schnarchten.

 



Wir wurden weder von dem lieblichen Gezwitscher eines Vogels geweckt, noch dem süßen Duft von Pancakes. Nein, es war die Putzfrau, die schon seit mehreren Minuten an die Türe klopfte und uns aus unseren Betten werfen wollte.

Keiner von uns dreien war wach genug um aufzustehen, jedoch hatte es jetzt sowieso keinen Sinn mehr weiterzuschlafen, bei dem Lärm den diese Frau veranstaltete. Sie rief irgendetwas auf Spanisch, vermutlich einen Fluch. Hoffentlich war diese Art von Fluch nicht so gefährlich wie der von dieser Octavia.

Da wohl irgendjemand von uns den Vernünftigen spielen musste, stand ich auf und öffnete die Türe, die wir davor sorgfältig abgeschlossen hatten. Die Putzfrau funkelte mich wütend an und schaute dann an mir vorbei ins Zimmer.
Ein paar Brösel und Reste unserer Pizza lagen auf dem Boden, aber das war ja kein Weltuntergang. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich ja heute in der Früh in die Dusche wollte, am besten bevor wir fuhren. Aber dafür war es ja jetzt zu spät. Das würde ich heute Abend erledigen, nachdem wir uns irgendwo anders wieder ein Zimmer besorgt hatten.

Endlich standen auch die beiden auf, fuhren sich durch die Haare und gähnten herzhaft. Dabei sahen sie sich einfach total ähnlich, wie Brüder eben. Eigentlich waren nur ihre Augen und Haare anders, von der Statur und den Gesichtszügen ähnelten sie sich wirklich sehr. Wieso fiel mir das erst jetzt auf? Naja, egal.
Da wir nichts dabei hatten, außer uns selbst, mussten wir nichts packen und konnten direkt weiterfahren.

„Wir müssen das Auto loswerden, am besten lassen wir es einfach hier stehen und nehmen das Auto da drüben“, meinte Lucien zu Damien, der nickte.

Zuerst verstand ich überhaupt nicht was los war, dann kam mir zum ersten Mal in den Sinn, dass der schwarze Geländewagen, mit dem wir die ganze Zeit gefahren sind, weder Lucien noch Damien gehörten.
Es war in etwas neun Uhr in der Früh, und da heute Sonntag war, war auf den Straßen noch nicht sehr viel los, zu unserem Vorteil. Unauffällig gingen wir hinüber zu dem silbernen Auto, das aussah wie eins von diesen typischen Familienkarren.

Damien hantierte an der Autotür herum, während Lucien und ich Schmiere standen. Ich hatte immer gedacht dass dieses Autoklauen irgendwie schneller ging, wie in den Filmen eben.
Nach ein paar Minuten sprang die Autortüre mit einem leisen ‚Klack‘ auf und wir stiegen schnell ein, bevor der Besitzer noch mitbekam, wie wir sein Auto gerade klauten. Es wäre jetzt ein wenig ungünstig, die Polizei noch dichter auf den Fersen zu haben, als wir sie eh schon hatten.
Oh Gott! Was würde mein Vater sagen, wenn er mich jetzt so sah? Autos klauen und vor der Polizei fliehen. Das mit der Polizei wusste er bestimmt schon, die Meldung wurde schließlich jetzt in allen Sendern gebracht und erschien auch in den Abendnachrichten. Es war ein Wunder, das wir noch nicht erwischt worden waren. Das würde und jetzt gerade noch fehlen, in den Knast zu wandern.

Nachdem Damien den Wagen kurzgeschlossen hatte, fuhren wir los, wobei diese Kiste einmal laut aufheulte. Ich fragte mich woher die beiden das alles wussten, solche reichen Knaben hatten es überhaupt nicht nötig Autos zu stehlen.
Wie ich das Wort Knaben doch liebte, es passte so überhaupt nicht.
Da ich mal wieder hinten auf dem Rücksitz saß, streckte ich die Beine aus und versuchte es mir so gemütlich wie möglich zu machen. Bald döste ich wieder ein, den Schlaf konnte ich gerade wirklich gut brauchen.

 

 

 


Nachdem Lucien mich sanft geweckt hatte und mir erzählt hatte, dass wir eine kurze Shoppingtour machten um uns anständige Klamotten zu holen, bekam ich augenblicklich neue Energie und freute mich wie ein Honigkuchenpferd.
Dabei sahen Damien und Lucien nicht gerade glücklich aus, eher so als würden sie jetzt geradewegs zum Henker gehen, der ihnen den Strick um den Hals legen würde.

Shoppen! Das war endlich mal wieder etwas, das ich wirklich konnte! Im Grunde konnte jeder Geld für Klamotten und anderes Zeug ausgeben, aber ich konnte das eben besonders gut. Ausdauershoppen, das war für mich ehrlich gesagt schon fast wie eine Sportart.

Das Auto parkten die beiden auf dem riesigen Parkplatz vor dem Einkaufszentrum, das übrigens auch sonntags offen hat. Der Parkplatz war fast vollkommen leer und das Einkaufszentrum sah von innen auch nicht gerade voller aus. Das war ja eher gut als schlecht für uns. Keiner von uns durfte entdeckt werden, sonst begann der richtig große Stress und wenn das geschah bevor ich anständige Klamotten gefunden hatte,…

Puh, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Ich wurde von den wenigen Leuten, an denen wir vorbeikamen schief angeschaut, allein schon wegen meinen Krankenhausklamotten und den weißen Pantoffeln die ich trug. Vielleicht hielten sie mich ja für eine Irre, die aus der Klapsmühle ausgebrochen war und jetzt durch ein Einkaufszentrum streifte, um unschuldige Leute zu massakrieren.

Nun gut, Operation Einkaufen konnte beginnen. Damien und Lucien sahen immer noch so aus, als würden sie jetzt dem wahren Tod ins Auge blicken, wobei ich das nur vermutete, da ich nicht viel von ihnen zu sehen bekam, da Damien etwas weiter hinten ging und Lucien direkt neben mir war. Beide hatten den Kopf leicht gesenkt, um nicht gleich erkannt zu werden.

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie viele Überwachungskameras hier herumhingen, hoffentlich checkte der Mann, oder die Frau, nicht wer oder was hier gerade durchs Einkaufszentrum lief.

Also lächelte ich freundlich in die Kamera, nur um nicht den Eindruck zu erwecken, das ich gerade entführt worden war und ich mich noch immer in der Gesellschaft von ein paar Schwerverbrechern befand. Dabei hätte ich es einfach sein lassen sollen, dieses Lächeln war vermutlich viel auffälliger, als wenn ich gar nichts gemacht hätte. Und vermutlich sah dieses Lächeln einfach nur verrückt aus, was ziemlich gut zu meiner Krankenhauskluft und meinen zerzausten Haaren passte. Insgesamt sah ich aus wie eine Verrückte aus dem Bilderbuch, wie schön dass ich mich selbst immer mit ein paar Geisteskranken verglich.

Lucien dirigierte mich in das erst beste Geschäft, während Damien in einem anderen Laden verschwand. Ungeduldig sah ich mich um, ich konnte es gar nicht erwarten mal wieder normale Klamotten tragen zu können. Nach langen Überlegungen, nahm ich doch genau das, was ich am Anfang gesehen hatte und verschwand in der Umkleidekabine. 
Es passte fast wie angegossen, jetzt brauchte ich nur noch Schuhe, aber die mussten wir wohl in einem anderen Laden besorgen.
Zusammen mit den Klamotten und dem Geld, das Lucien mir in die Hand gedrückt hatte, ging ich zur Kasse. Gott sei Dank stand nur eine weitere Person vor mir im Laden, und die kaufte sich auch nur ein Teil.

Nicht gerade ordentlich legte ich der Kassiererin meine graue Jogginghose, mein schwarzes Top und die graue Strickjacke auf den Tresen.
Die Kassiererin, mit ihren knallrotgefärbten Haaren und den unzähligen Piercings im Gesicht, beäugte mich misstrauisch.

„Kennen wir uns vielleicht? Du kommst mir irgendwie bekannt vor“, meinte die Rothaarige nachdenklich.

„Ach, das sagen die Leute ständig zu mir“, sagte ich schnell und lächelte nervös.

Die Kassiererin schien mir nicht wirklich zu glauben, aber zuckte dann mit den Schultern, anscheinend hatte sie entschieden, dass es sie nichts anging.
Ich überreichte ihr das Geld, und sie gab mir die Einkaufstüte, zusammen mit dem Wechselgeld. Die fünf Cent hätte sie sich schenken können, aber vor allem hätte sie sie mir nicht in ein Cent Münzen geben müssen, also ließ ich sie einfach in die Einkaufstüte fallen.

Lucien hatte vor dem Geschäft gewartet und sah mich nun ungeduldig an. Genau in dem Moment kam Damien aus einem anderen Laden und hatte drei weitere Tüten mitgenommen.

„Gut, jetzt lass uns gehen“, sagte Damien ebenfalls nervös, und warf alle paar Sekunden einen Blick auf den Ausgang und dann wieder auf die Kamera.

„Ich brauch noch Schuhe!“

„Die habe ich schon besorgt, keine Angst, Apryl. Du musst schon nicht barfuß laufen. Ich hab dir sogar zwei Paar Socken mitgenommen, ich bin eben ein richtiger Schatz, das musst du mir nicht noch sagen.“

Daraufhin schnaubte ich nur belustigt und nahm die Tüte, in denen sich meine Schuhe und Socken befanden entgegen. Ich würde sie mir im Auto anschauen, hoffentlich war es die richtige Schuhgröße!

In einem Art Laufschritt, steuerten wir auf die Türe zu und sahen uns immer wieder nervös um. Am Ausgang stand eine etwas ältere Frau – sie war ungefähr um die 60 – hatte weiße, kurze Haare und ihr Telefon in der Hand.
Beim Telefonieren warf sie immer wieder einen Blick zu uns rüber, einmal lächelte sie mir ermutigend zu. Oh Scheiße! Sie rief gerade vermutlich die Polizei an, da sie dachte dass die beiden heißen Typen mich gerade verschleppten.
Das Gleiche schienen die beiden auch zu denken und legten noch einen Zahn zu, am Ende rannten wir zum Auto, stiegen ein und fuhren mit Karacho weiter.

Aus der Ferne konnte ich schon ein leises ‚Tatü Tatü‘ hören, das immer lauter wurde. Wir fuhren genau auf die drei Polizeiautos zu, natürlich auf der anderen Straßenseite. Die Cops hatten schließlich keine Ahnung was für ein Auto wir fuhren, sie wussten nur wie wir aussahen.
Als wir ganz dicht an ihnen vorbei fuhren, duckte ich mich soweit hinunter wie ich konnte und Lucien versank förmlich in seinem Sessel. Damien konnte das ja leider nicht machen, deswegen drehte er nur den Kopf ein wenig in die andere Richtung und war darauf bedacht nicht auszusehen wie ein Krimineller.
Ich konnte mir Damien nur allzu gut in einem orangenen Overall mit vielen Tattoos und Piercings vorstellen und wie um ein paar Zigaretten pokerte.

Als wir endlich an ihnen vorbei gefahren waren, tauchten wir wieder langsam auf und ich atmete laut aus. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie ich die Luft angehalten hatte.

»Kapitel 5





„Wo fahren wir jetzt eigentlich hin?“, wollte ich von Damien wissen, schließlich war er ja derjenige, der am Steuer saß.

„Lass dich einfach überraschen.“

Das hieß dann wohl, dass er auch keine Ahnung hatte, wo wir hinfuhren, oder wo es nicht ganz dämlich war hin zu fahren.

„Wyoming, da kenn ich jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldet. Vielleicht könnten wir ja für ein paar Tage bei ihm unterkommen. Ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen hat“, meinte Lucien.

„Und an wen hast du da gedacht?“, fragte Damien ihn.

„Anton Cray, ich hab ihm sozusagen das Leben gerettet. Er ist auch einer von uns Begabten und hat eine besondere Verbindung zur Natur.“

„Eine besondere Verbindung zur Natur? Heißt das, das er mit Tieren sprechen kann und so etwas?“, fragte ich neugierig.

„Soweit ich weiß, kann er mit ihnen kommunizieren, aber ich würde es jetzt nicht unbedingt als ‚reden‘ bezeichnen. Er ist ein wenig schräg, vermutlich lebt er schon zu lange allein. Wir sind gleich in Wyoming, wir brauchen also nicht mehr als eine halbe Stunde bis zu ihm, glaube ich zumindest“, erzählte Lucien uns.

Glauben? Glauben ist nicht Wissen. Da sprach wohl wieder die Klugscheißerin aus mir, tja, ich wusste halt eben alles besser. Seufz.

 

 


Nach zwei Stunden, Lucien hatte sich gewaltig verschätzt, kamen wir endlich bei einer Holzhütte an, die völlig von Moos und Efeu bewachsen war. Fast hätten wir die Hütte – oder das Haus – übersehen, nur die Reste von einem Kiesweg deuteten darauf hin, das hier im tiefsten Wald im Nirgendwo ein wenig Zivilisation. Obwohl ich ehrlich gesagt keine Ahnung hatte, ob man diesen Anton als einen Teil der Zivilisation betrachten konnte.
Breit grinsend kam er aus der Hütte gelaufen und breitete die Arme weit aus, als er erkannte, wen er da vor sich hatte.

„Lucien! Was für eine Überraschung, du hast ja keine Ahnung wie sehr ich mich über Besuch freue! Das letzte Mal, als ich Besuch hatte, war vor zwei Jahren gewesen.“

Wir stiegen aus dem Auto und Damien und ich warfen uns einen Blick á la Was-ist-uns-denn-da-vors-Auto-gelaufen Blick zu. Der Riese, der sogar Lucien und Damien um mindestens einen Kopf überragte – er musste also über zwei Meter groß sein – hatte zottelige, hellbraune Haare, braune Augen und trug eine dunkelbraune Wildlederhose und ein weißes Hemd. Schuhe hatte er keine an, er ging Barfuß.
Fasziniert sah ich seine Füße an, sie waren genauso beharrt wie Hobbit Füße und mindestens genauso erdig.

Der Riese zog Lucien zu sich und umarmte ihn. Auf mich machte Anton den Eindruck, als wäre er ein großer Teddybär, der jeden knuddelte. Damit lag ich wohl gar nicht so falsch, denn als nächstes war Damien dran, der versuchte auszuweichen, aber der Anton schnappte ihn sich einfach am Kragen und zog ihn ebenfalls in eine Umarmung.
Damiens Gesicht war einfach unglaublich, für solche Momente brauchte man wirklich einen Fotoapparat. Er sah so aus, als hätte er gerade in eine saure Zitrone gebissen, dabei machte sauer doch lustig, oder?

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, genau wie Lucien.
Tja, da hatte ich mal wirklich Pech gehabt, wenn ich gedacht hätte, ich würde verschont werden, denn jetzt kam der Riese auf mich zu und zog mich ebenfalls in seine Arme.

„Dich kenn ich zwar nicht, aber ich mag dich trotzdem“, meinte er und grinste freundlich.

„Ja, geht mir genauso“, sagte ich ironisch, während mir langsam die Luft ausging.

Endlich ließ er mich wieder los und ich holte erst einmal tief Luft.

„Kommt rein, kommt rein! Besucher weiß ich doch immer zu schätzen, ihr könnt solange bleiben wir wollt, und das meine ich, wie ich es sage. Weg da, Juliette“, sagte er und scheuchte die Kröte, die direkt vor der Haustüre saß weg.

Ich hatte mir natürlich gemerkt, was Lucien mir über Anton erzählt hatte, er hatte also eine außergewöhnliche Verbindung zur Natur, das merkte man.

„Und wie kannst du diese Kröte von den tausend anderen Kröten hier im Wald unterscheiden?“, wollte ich neugierig wissen.

„Das kann ich nicht, sie heißen einfach alle Juliette, das macht es ein wenig einfacher.“

„Aha, kann ich mir gut vorstellen.“

Als wir seine Hütte betraten, war ich angenehm überrascht. Ehrlich gesagt hatte ich schon erwartet, dass er den halben Wald dort drinnen einquartiert hätte, dabei saß einfach nur ein ziemlich fauler Hund vor dem Kamin und hob nicht einmal den Kopf als wir hinein kamen.
Die Hütte war größer, als ich erwartet hatte und war in drei Zimmer insgesamt unterteilt. Ein Badezimmer, ein Gästezimmer und ein Wohnzimmer, in der Anton auf dem sogenannten Sofa schlaf, und in dem sich sowohl eine Küche, als auch ein Kamin befand.

Alles in allem sah es recht gemütlich aus, nur ein wenig zu viel Holzmöbel. Die Stühle, der Tisch, sein Bett oder Sofa und alles andere bestand aus Holz. Statt Lampen hatte er überall Kerzen aufgestellt und hier und da noch eine Petroleumlampe hängen, obwohl es noch gar nicht dunkel war.
Vor dem Kamin lag ein dunkelroter Teppich, der so aussah als hätte sich jemand wirklich bemüht viel Erde in den Teppich zu stampfen.

Anton zauberte von irgendwo her – natürlich hat er nicht wirklich gezaubert – eine Matratze und legte sie ins Gästezimmer, neben das Ehebett.
Ich sah den Streit schon kommen, den es heute Abend geben würde, wenn wir ins Bett gehen wollten. Genau das Gleiche dachte wohl auch Lucien, der schon die Stirn runzelte. Langsam fing ich wirklich an, aus Damiens und Luciens Gesichtern förmlich lesen zu können, wie in einem geöffnetem Buch.

„Ich werde uns mal eine schöne Suppe für heute Abend kochen, währenddessen könnt ihr euch ja schon mal einquartieren.“

Der Riese schien wirklich nett zu sein, einer von dieser Art Freund, der immer zu einem hielt und der sich für dich zwischen dich und eine Kugel schmeißen würde.
Vielleicht war er ja nicht unbedingt der Hellste, aber er war auf jeden Fall nett, und so etwas lernte ich langsam auch zu schätzen.

Wenn ich zur Abwechslung mal Glück hätte, würden meine Gefühle auch wieder zurückkehren und ich könnte mein Element wieder beherrschen.

Eine kleine Stimme sagte mir, dass ich vielleicht besser ohne Gefühle dran wäre, schließlich machte ich meistens nur wegen diesen beschissenen Gefühlen Mist.
Schnell schob ich diesen Gedanken beiseite und holte noch schnell meine Einkaufstüte aus dem Auto, wo ich sie aus Versehen liegen gelassen hatte. Ich nahm die Tüte direkt mit ins Badezimmer, wo ich auch gleich unter die Dusche sprang. Anton hatte mir Handtücher rausgelegt und mir ein Shampoo gegeben, das er selbst aus allen möglichen Kräutern und Pflanzen zusammen gestellt hatte und dann einfach neutral riechende Seife dazu geschüttet hatte.
Ehrlich gesagt roch das Shampoo sogar richtig gut, für meinen Geschmack vielleicht ein bisschen zu viel Wald, aber auf jeden Fall nicht schlecht.

Nachdem ich fertig war, stieg ich aus der Dusche – die völlig normal war, im Vergleich zum Rest des Hauses – und wickelte mich in ein übergroßes Handtuch, genau wie ich meine Haare zu einem Turban nach oben drapierte.
Ich zog mir gleich die neuen Klamotten an, die ich mir heute – oder eher gesagt Lucien – gekauft hatte. Jetzt durfte ich in denen Tag und Nacht schlafen, na toll. Wir hatten beim Einkaufen nicht daran gedacht, vielleicht noch einmal Ersatzklamotten mitzunehmen. Diese ganze Flucht war einfach nichts für mich, auch wenn es noch so spannend war, wie in den Filmen – das mit der Hygiene Sache und den Klamotten war eben nicht so meins.  

Als ich dann nach etwa einer Stunde aus dem Badezimmer kam, war es schon total dunkel geworden. Im Badezimmer hatte es keine Fenster gegeben, weshalb ich natürlich nicht gesehen hatte, wie schnell es eigentlich dunkel wurde.
Wir befanden uns zwar nicht mehr im tiefsten Winter, nein, aber frisch war es immer noch. Bald kam der Frühling und dann der Sommer und dann, meine Lieben, hatte ich Ferien! Vielleicht mag das jetzt ein wenig verrückt klingen, für jemanden der von der Polizei gesucht wurde, verflucht worden war und der nichts mehr spürte, aber Ferien waren für mich immer noch das Selbe!
Von Schuljahresanfang arbeitete ich daraufhin, bis zu den Sommerferien. Auf der Rosewood Hochschule, gab es nicht die sogenannten Semesterferien, sondern ganz normale Ferien eben. Nicht wie es auf einer Hochschule, oder einem College eben war, die normal war.
So im Nachhinein war mir dieses ganze Schlamassel lieber, als eine stinknormale Tussi zu sein, die versuchte ihre wenigen Gehirnzellen zusammen zu bringen um einen Abschluss zu bekommen. Aber ein normales Leben würde ich jetzt sowieso nicht mehr haben können, aber das wollte ich ja auch überhaupt nicht.

 

„Apryl? Kommst du dann mal, Anton hat uns eine interessante Suppe gekocht“, rief Damien vom Wohnzimmer aus, wobei er das Wort ‚interessant‘ so betonte, als wäre es etwas Schreckliches, was es vielleicht auch war.

Oh Gott. Was neue Sachen ausprobieren ging, auf jeden Fall beim Essen, war ich ein Schisser, aber sonst war ich natürlich eiskalt. Schiss konnte ich ja eigentlich nicht haben, das ist ja auch so etwas wie ein Gefühl?

„Komm ja schon“, brummte ich und kam dann in einem riesigen, schwarzen T-Shirt ins Wohnzimmer. Das T-Shirt gehörte Anton und ging mir bis über die Knie und die Ärmel reichten locker bis zu meinem Ellbogen.

„Ich hoffe es ist okay, dass ich mir dein T-Shirt ausleihe“, meinte ich zu Anton, und setzt ein nettes – ja, zu so etwas war ich tatsächlich im Stande – Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. Das funktionierte immer.

„Okay“, sagte Anton und zuckte mit den Schultern, ihm war es wahrscheinlich völlig egal. Auch gut.

Ich setzte mich zu den dreien an den Tisch, neben Anton, da Lucian und Damien sich schon freiwillig nebeneinander gesetzt hatten. Anton klatschte mir in meine Holzschüssel, die bestimmt selbst geschnitzt war, eine große Portion Suppe.
Die Suppe war hellgrün, was vermutlich an den vielen Kräutern lag, und es schwammen ein paar Pilze darin herum.

„Ist gut für die Haut“, erklärte mir Anton, so, als wäre es ihm total wichtig, wie toll seine Haut aussah, vor allem da er sich bestimmt immer hier im Wald im Dreck suhlte.

„Na dann muss ich es doch wirklich mal probieren“, meinte ich nicht halb so begeistert wie Anton.

Als ich ein wenig davon aß, fiel mir auf das es eigentlich gar nicht so schlecht schmeckte, nein, ganz im Gegenteil: es schmeckte eigentlich recht gut. Und gesund war es bestimmt auch, ich hab mich ja wirklich zum Besseren gewendet.
Jetzt ist Apryl schon freiwillig Grünzeug wie ein Kaninchen und wirft nicht mal einen einzigen Blick auf ihre Fingernägel, die nebenbei gesagt grauenvoll aussahen, und sprach in Gedanken schon mit sich selbst. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass wenn man oft Selbstgespräche führte, es irgendwie den IQ steigerte. Vielleicht war das ja meine Rettung.

„Das schmeckt wirklich gut, Anton.“

„Danke, Apryl. Das Rezept hab ich von Octavia bekommen, sie ist wirklich nett.“

Augenblicklich fiel mir der Löffel in die Soße und starrte den Riesen so an, als wäre er das achte oder neunte Weltwunder. Wie viele Weltwunder hatte es eigentlich schon gegeben? Naja, egal.

„Apryl, alles okay?“, fragte Lucian besorgt.

Ich hatte den beiden noch gar nichts von Octavia erzählt, nur von Isaac ein wenig, eben nur das Wichtigste und hatte dabei eben das sentimentale Zeug weggelassen, das interessierte sowieso niemanden.

„Octavia?“, krächzte ich, nur um noch einmal sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört hatte.

„Ja, sie lebt hier in der Nähe auf einem Schloss, das vor einem halben Jahrhundert wieder aufgebaut worden war. Es steht hier sogar ziemlich in der Nähe, etwa eine Autostunde entfernt“, meinte Anton freundlich.

»Kapitel 6






Nachdem Essen, als ich die Suppe und den Schock verdaut hatte, gingen wir in das besagte Schlafzimmer, da wir eigentlich alle ziemlich müde waren.
Das Anton Octavia kannte, hatte mir im wahrsten Sinne des Wortes die Suppe versalzen. Die beiden Brüder hatten natürlich gemerkt, dass etwas nicht stimmte, hatten sich jedoch bisher noch zurückgehalten.

„Apryl? Wer zum Henker ist Octavia? Der Name klingt irgendwie römisch“, meinte Damien.

„Das ist auch Latein, du Depp“, erwiderte Lucien und schüttelte den Kopf, so als würde Damiens Unwissenheit ihm den letzten Nerv rauben.

„Das ist das Gleiche. Also, wer ist sie?“, hakte Damien nach.

„Sie hat meine Mutter und meinen Bruder ermordet und Isaac und mich mit diesem Fluch belegt.“

„Was? Ich dachte deine Mutter und dein Bruder wären bei einem Autounfall ums Leben gekommen“, meinte Damien.


„Und dieser Fluch, das war also Octavia? Dann haben wir also den Bösewicht gefunden. Wenn wir sie umbringen, dann löst sich der Fluch bestimmt auf, so ist es jedenfalls in Märchen und Romanen, also wieso sollte es bei uns nicht genauso sein?“, überlegte Lucien.

„Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert“, meinte ich grimmig.

Ich verspürte nichts, nichts außer einen Anflug von Wut, aber das war ja immerhin noch besser als nichts zu fühlen.

„Wir brauchen einen Plan. Zuerst einmal müssen wir uns eine Aufzeichnung von sämtlichen Gängen, Türen und versteckten Zimmer beschaffen, wir brauchen Rauchbomben, Tränengas und Betäubungspfeile – am besten mit so einem coolen Rohr – außerdem beschaffen wir uns diese Mini-Telefone die man sich ins Ohr steckt und eine Elektrobombe – um alle Geräte irgendwie abzustellen – und eine Menge Waffen, am besten solche Maschinengewehre, obwohl ich solche kleinen Pistolen voll süß finde. Und Armbrüste! Wir brauchen auf jeden Fall Armbrüste, wie in Van Helsing, der Film mit den Vampirjägern – wo auch Hugh Jackman mitspielt“, meinte ich sofort begeistert und in meinem Kopf bildete sich nach und nach ein genialer, James-Bond-reifer Plan.

„Apryl? Eigentlich hatten wir an etwas Diskreteres gedacht, Gift vielleicht oder etwas in der Art. Einen ganzen Krieg wollten wir eigentlich nicht vom Zaun brechen.“

„Was? Ein bisschen mehr Begeisterung bitte, wo bleibt denn da der Spaß?“, fragte ich und wunderte mich wirklich, warum sie mir nicht begeistert zustimmten.

Das war doch eigentlich die Idee. Gift? Das war viel zu einfach und ich wollte Octavia auf jeden Fall von Angesicht zu Angesicht schauen, wenn sie starb.
Ich war zu Recht wütend und wollte Rache haben, sie hatte meine Mutter und meinen Bruder Matt auf dem Gewissen.

„Wie wäre es, wenn wir uns als Bedienstete reinschmuggeln und sie dann vergiften oder was auch immer du als angebracht findest. Vielleicht könnten wir dann noch ein paar letzte Worte mit ihr wechseln oder so, und außerdem klappt das immer“, schlug Damien vor.

„Du hast das also schon mal gemacht?“

„Nein, nicht direkt. Aber in den Filmen klappt das immer, das ist doch dann genauso gut wie dein Plan, wenn nicht sogar besser.“

 

 

 


„Der Plan ist wirklich blöd, wir können genauso gut auch einfach den Haupteingang benutzen und von dort aus hinein schneien. Also der Plan ist so dämlich, wer von euch beiden ist nochmal drauf gekommen? Egal, ich finde wir sollten einfach den direktesten Weg geben, bevor das noch richtig peinlich wird. Ich meine, wir sind doch die Leute die die Elemente beherrschen, wir sind mächtig, und schlau – naja, auch nicht immer unbedingt – und zusammen schaffen wir das schon irgendwie.“

„Du vergisst da nur eine Kleinigkeit, Apryl. Kontrolle hast du immer noch keine über deine Fähigkeit, oder? Das würde uns dann auch nicht gerade viel nützen“, meinte Lucien.

„Ich werde sicherlich in der Lage sein, mein eigenes Element zu beherrschen, außerdem sind im Ernstfall Feuer und Wasser auch nicht so schlecht und ich hab immer noch die hier“, ich zeigte auf den langen, silbernen Dolch, den ich von Anton geliehen bekommen hatte.

„Lass das lieber, du tust dir noch selbst weh“, meinte Damien, nett wie eh und je.

Ich widmete ihm ein wunderschönes Du-kannst-mich-mal Lächeln und sah wieder zurück zu dem Schloss. Seit etwa einer halben Stunde lagen wie hinter einem Minihügel, mit einem schönen Ausblick auf das Schloss. Das Schloss sah aus als wäre es einem Märchenbuch entsprungen.
Es war groß, weiß, hatte mehrere Türme mit bronzenen Türmen und einen riesigen Garten drum herum und um das ganze Schloss und um den Garten herum, befand sich ein hoher, schwarzer Zaun.
Außerdem befanden sich am Eingang Videokameras, was darauf schließen ließ, dass irgendjemand noch mehr von diesen Dingern hier aufgestellt hatte.

Da wir weder irgendwelchen Hightech Kram oder eine Armee besaßen, einigten wir uns darauf, einfach geradewegs hinein zu spazieren.
Es stand uns ja nicht Hey-wir-haben-Spezialfähigkeiten-und-sind-hier-um-ein-paar-Leute-unter-die-Erde-zubringen auf die Stirn geschrieben, und wir waren ja keine Vollidioten, wir hatten ein Plan B. Zwar war Plan B noch nicht ganz ausgereift, aber im Notfall würde das sicher irgendwie klappen.

Also machten wir uns zu Fuß auf den Weg und bewältigten die paar Meter bis zur Klingel. Ich kam mir wirklich irgendwie blöd vor, als ich die Klingel drückte.
Dieser Plan war mindestens genauso behämmert, wie der vorherige. Egal, solange der Plan seinen Zweck erfüllte, würde ich fast alles mitspielen.

„Guten Tag und herzlich Willkommen im White-Castle, mit wem spreche ich denn?“, ertönte die zuckersüße Stimme aus der Sprechanlage.

„Hier spricht Apryl Summers, ich würde gerne Octavia…besuchen.“

„Wie bitte? Treten sie doch näher, dann kann ich sie besser verstehen“, meinte die noch immer freundliche – viel zu freundliche – Stimme.

Etwas genervt rollte ich mit den Augen und trat näher an die Sprechanlage heran, so nah, dass sie mich auf jeden Fall verstehen würde. Noch einmal würde ich das sicherlich nicht wiederholen.

„Mein Name ist Apryl Summers und ich würde verdammt gerne ein paar Wörtchen mit der guten Octavia wechseln“, dabei betonte ich jedes einzelne Wort, so dass die, mit der ich sprach mich auch wirklich verstand.

„Natürlich. Octavia hat nächste Woche, Mittwoch am Nachmittag gegen vier Uhr Zeit, ist ihnen der Termin recht?“

„Sie verstehen mich nicht! Ich muss JETZT mit ihr reden, es ist wirklich dringend!“, meinte ich aufgebracht.

Damien stieß mit seinen Ellbogen mir unsanft in die Seite und bedeutete mir, etwas freundlich zu sein.

„Dann kann ich leider nichts für sie tun, Miss“, jegliche Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden, und sie klang einfach nur total zickig.

„Sprechen sie mit ihr, sie macht bei mir sicherlich eine Ausnahme.“

„Ich glaub nicht, das-„

„Ich glaube, dass sie ein ernstes Problem mit Octavia bekommen, wenn sie erfährt das sie mich nicht empfangen konnte, weil ihre poplige Sekretärin zu faul war um ihren faulen Hintern einmal in die Höhe zu bewegen, und ich kann Ihnen versichern, sie wird davon erfahren“, fuhrwerte ich ihr giftig dazwischen.

Im Moment war ich nicht gerade in der Stimmung, mich mit dieser Sekretärin zu zanken.

„Natürlich, einen Moment“, meinte sie, wobei ihre Stimme leicht zitterte.

Anscheinend hatte sie Angst vor Octavia, oder viel mehr davor, was sie ihr antun könnte. Vermutlich sollte ich jetzt auch Angst haben, aber meine Gefühle waren ja nach wie vor im Nirwana.
Ungefähr drei oder vier Minuten später kam sie wieder zur Sprechanlage.

„Octavia empfängt Sie jetzt.“

Ich nickte Lucien und Damien noch einmal seriös zu, dann gingen wir zusammen los, als sich das große, schwarze Gittertor öffnete und wir hindurch gingen.
Es war eine kleine schöne Allee, wo links und rechts junge Ahornbäume standen und in der Mitte war ein Kiesweg, den wir entlang gingen.

Nach etwa drei weiteren Minuten kamen wir endlich am eigentlichen Eingang an, wo rechts ein Mann stand, der so aussah als könnte er alles und jeden niederstarren und links ein zierliches Mädchen, das mich irgendwie gruselig anlächelte.
Sie sah mich so an, als wäre ich ihre nächste Mahlzeit und musterte mich lange und gründlich. Da mir das ehrlich gesagt ein wenig unangenehm war, wandte ich den Blick ab, und ging – flankiert von Damien und Lucien – durch den Eingang.
Die zwei riesigen, eisernen Flügeltüren waren ohne zu quietschen aufgeflogen und fielen, nachdem wir im Innenhof waren, wieder hinter uns zu. Etwas beunruhigt sah ich kurz zu dieser Türe, so würden wir auf jeden Fall nicht mehr heraus kommen.

„Bitte folgt mir“, meinte eine große, hagere Frau die wie aus dem Nichts neben mir auftauchte. Sie bemühte sich nicht einmal einen freundlichen Eindruck zu machen, es schien eher so, als wäre ihr alles gleich gültig.

Wir folgten ihr einen langen Gang entlang und durchquerten dabei zwei etwas kleinere Räume, die so aussahen wie Wartezimmer.
Die Räume waren hoch und mit Stuck verziert und eigentlich recht geschmackvoll eingerichtet. Überall standen antike Möbel und die Vorhänge bestanden aus einem glänzenden Stoff, trotzdem war alles ein wenig modern angehaucht, so dass man nicht das Gefühl hatte im Mittelalter fest zu sitzen.

Ich musste wohl oder übel zugeben, das Octavia Geschmack hatte, was die Inneneinrichtung anging. Mir war natürlich auch aufgefallen, das fast an jeder Türe zwei Wachen standen und ich eine Patrouille gesehen hatte, die durch das Gebäude streifte, dabei war ich mir sicher dass es von der Sorte noch eine gab.

Damit konnten wir also Plan B schon mal vergessen, es wurde also Zeit das wir uns auf Plan C vorbereiteten, oder ihn erst einmal entwarfen.
Ehrlich gesagt hatte ich schon fast erwartet, das Octavia auf einem Thron saß und auf ihren blondgefärbten Haaren eine kitschige Krone trug, die noch billiger war als sie aussah. Ich musste wirklich sagen, dass ich positiv überrascht war, nicht dass das irgendeine Rolle spielte.

Octavia hatte dunkelbraune traumhafte Locken, die ihr über den Rücken fielen, große Augen, kleine Lachfältchen und trug eine schwarze Jeans und eine weiße Bluse.
Sie machte ehrlich gesagt sogar einen sympathischen Eindruck, doch ich durfte nicht vergessen, dass dies die Frau war, die meine Mutter und meinen Bruder auf dem Gewissen hatte. Kaltblütig hat sie sie ermordet und uns noch verflucht, sie hatte den Tod verdient, alles andere war mir jetzt egal.
Sie spielte an einer kleinen, goldenen Kette nervös mit den Fingern herum und blickte mich etwas beunruhigt an.

„Apryl“, war alles was sie sagte, dabei ignorierte sie Lucien und Damien gekonnt und musterte mich von Kopf bis Fuß. „Ich weiß nicht, was Isaac dir erzählt hat, aber was auch immer er gesagt hat, war eine Lüge. Er kann sehr gut lügen, so gut, das man gar nicht einmal auf den Gedanken darauf kommt, das er lügen könnte.“

„Komisch, genau dasselbe hat er auch über dich gesagt. Warum sollte ich also nur einem einzelnen Wort von dir glauben?“, fragte ich erstaunlich ruhig, der Vorteil wenn man keine Gefühle mehr spürt oder hat.

Octavia seufzte leise und sah mich seltsam an, so als hätte sie mich vermisst oder so als würden wir uns schon lange kennen und würden uns endlich wieder sehen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, nicht so als wäre ich ihr einmal begegnet oder hätte sie irgendwo gesehen, nein, das war irgendwie etwas anderes.

„Sie haben kaltblütig meine Mutter und meinen Bruder Matt umgebracht, aus reiner Eifersucht.“

Octavia schüttelte traurig den Kopf, wobei ihre Locken in der Luft herumwirbelten.

„Nein, das stimmt so nicht“, widersprach sie mir. „Jede Geschichte hat zwei Seiten, nur entspricht mein Teil der Wahrheit. Bist du bereit sie dir anzuhören und zu erfahren, wer du wirklich bist, Apryl?“

Da ich nicht mehr wirklich wusste, was ich glauben sollte, nickte ich einfach. Isaac war auch nicht wirklich die vertrauenswürdigste Person gewesen, schließlich hatte er mich gegen meinen Willen festgehalten und er hatte auch nicht gerade einen sympathischen Eindruck hinterlassen.

„Nun gut, ich werde zuhören“, meinte ich schließlich und verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß.

„Apryl, wir sollten uns lieber…“

Als Damien seinen Satz nicht vervollständigte, drehte ich mich zu ihm um, um zu sehen ob er sich nicht an seinen eigenen Worten verschluckt hatte. Damien stand wie versteinert da, den Mund halboffen, und die Augen weit aufgerissen, Lucien sah in etwa genauso aus.
Mit dem Zeigefinger pikste ich Damien in die Wange, und stellte fest, dass er nicht aus Stein war, ganz im Gegenteil, seine Haut war weich wie eh und je.

„Krass“, murmelte ich und pikste Lucien ebenfalls in die Wange, nur um sicher zu gehen. „Was hast du mit ihnen gemacht?“

„Mit deinen Begleitern habe ich nichts gemacht, ich habe lediglich die Zeit angehalten, so dass uns niemand lauschen kann. Jedoch kann ich die Zeit nicht zu lange anhalten, das wird sonst etwas ungemütlich“, erklärte sie mir.

Langsam wurde mir bewusst, was für Ausmaße ihre Fähigkeit haben könnte. Sie könnte mal eben die gesamte Erdkugel in die Luft jagen und niemand könnte sie aufhalten oder würde geschweige denn etwas davon mitbekommen. Aber dafür war ich ja nicht hergekommen.

„Hm…wie sage ich das jetzt am besten?“, grübelte sie und zwirbelte ihre Haare zwischen den Fingern. „Also da ich keine Ahnung habe, dir das zu vermitteln, sage ich es am besten direkt heraus. Apryl? Ich bin deine leibliche Mutter und Isaac ist dein Vater.“

Wow, in letzter Zeit wollten wirklich viele Leute meine Eltern sein, ich musste wohl doch etwas ganz Besonderes sein.

„Okay…“, meinte ich einfach nur, da ich keine Ahnung hatte wie ich reagieren sollte, außerdem fühlte ich eh nichts, außer Überraschung und Misstrauen. Vielleicht war ich auch ein wenig sauer, aber ganz sicher war ich mir da nicht.

„Hör mal zu, ich weiß wie das für dich klingen muss. Ich meine, da kommen zwei wildfremde Menschen und behaupten mal eben, deine Eltern zu sein. Es muss echt schwer sein das mit Isaac aufnehmen, vor allem weil er so ein Miesepeter ist und du vor ungefähr einem dreiviertel Jahr noch nicht einmal wusstest, was du alles kannst. Aber glaub mir, das ist die Wahrheit.“

„Kannst du das denn beweisen?“

„Hm, ich weiß nicht. Womit denn?“, fragte sie etwas ratlos.

„Wie wäre es mit einem Bluttest und so etwas, schließlich befinden wir uns schon im 21.Jahrhundert.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte sie mir zu, vermutlich auch deswegen, weil ihr selbst nichts Besseres einfiel.

Wenn ihr jetzt glaubt, dass ich einfach mit den Schulter zuckte, nickte, lächle und abschließe mit der Sache, habt ihr euch mal gewaltig getäuscht.
Ich traute Octavia kein Stück über den Weg, aber die Tatsache das mich noch nicht umgebracht hat oder es versucht hat, ließ mich trotzdem schon zweifeln. Warum sollte sie mich außerdem anlügen? Was würde ihr das bringen? Vermutlich war ich tot mehr wert, als lebendig.

„Meine Gefühle und das was sonst noch so dazu gehört, bekomme ich die wieder?“

„Ja, ein Freund von mir hat den Fluch gewirkt und er ist quasi nur ausversehen auf dir gelandet und ich hatte wirklich keine Ahnung bis gestern, als ein…Freund von mir gekommen ist und mir davon berichtet hat. Den Fluch sollte man wieder entfernen können, vor allem, da du noch so jung bist sollte das nicht weiter ein großes Problem sein. Ich werde gleich jemanden schicken, der ihn holen lässt.“

„Du könntest ihn auch einfach anrufen, das geht sicherlich etwas schneller“, schlug ich vor.

„Ja, stimmt. Irgendwie vergesse ich das immer“, murmelte sie etwas abwesend, bestimmt machte sie sich gerade eine geistliche Notiz, wie ich, sie hatte genau denselben Gesichtsausdruck.

„Und was ist mit dem Autounfall? Wie ist das passiert? Und Matt, war er dann überhaupt noch mein Bruder?“

„War? Nein, erst ist. Matt ist noch am Leben.“

„WAS? Sie meinen, am Leben wie lebendig und unter uns? Also kein Geist oder so etwas in der Art?“, fragte ich und ein Funken Hoffnung keimte ihn mir langsam auf.

Wenn Matt wirklich noch am Leben war, würde das für mich alles ändern. Aber wie sollte das gehen? Warum hat er kein Lebenszeichen von sich gegeben? Schließlich hatte ich lange um ihn getrauert und vermisst hatte ich ihn immer.
Da wir früher immer fast im selben Alter gewesen waren, sind wir uns immer recht nahe gestanden und hatten fast alles zusammen gemacht, fast wie Zwillinge.

„Kann ich ihn sehen? Jetzt? Weiß er das ich hier bin?“, die Fragen sprudelten nur gerade so aus mir heraus und mein Herz klopfte lauter und schneller als normal.

„Natürlich. Weißt du, Matt hat dich oft heimlich beobachtet und wollte immer sicher gehen, ob es dir gut ging. Er hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht.“

„Und warum zum Teufel haben sie ihn dann nicht einfach zu mir kommen lassen, wie normale Menschen?“, fragte ich, und spürte die altvertraute Wut. Irgendwie war ich froh, wütend sein zu können, es fühlte sich einfach nur richtig an.

„Alles zu seiner Zeit“, murmelte Octavia geheimnisvoll.

Den Spruch hatte sie sich bestimmt aus irgendeinem billigen Fantasy-Film geschnappt und hatte wahrscheinlich lange darauf gewartet, ihn endlich benutzen zu können.

Octavia runzelte die Stirn und rieb sich kurz mit Zeige- und Mittelfinger die Schläfe.

„So, ich werde die Zeit jetzt wieder loslassen. Ich werde dir später vielleicht erzählen, wie genau alles damals abgelaufen ist.“

Loslassen? Das klang ein wenig bescheuert, aber im Grunde war es vermutlich auch richtig. Wenn man die Zeit anhalten konnte, dann konnte sie man auch loslassen.

„…an den Plan halten, findest du nicht?“, führte Damien seinen Satz zu Ende.

Ich hatte den Übergang zwischen der angehaltenen Zeit und der Gegenwart gar nicht wirklich gespürt.
Auf den Gesichtern der Brüder stand ein fettgedrucktes Fragezeichen. Anscheinend hatten sie gemerkt, dass irgendwie die Zeit vergangen war, auch wenn sie nicht wirklich vergangen war.

„Octavia bleibt fürs Erste am Leben, ich klär euch nachher auf“, meinte ich leise zu den beiden und drehte mich dann wieder zu Octavia um.

Jetzt musterte ich sie gleich mit ganz anderen Augen und versuchte Ähnlichkeiten zwischen uns beiden zu erkennen, schließlich war sie ja angeblich meine biologische Mutter. Sie hatte denselben Braunton, wie ich, nur das ihre Haare gelockt waren, während meine langweilig glatt waren und ihre Augen waren grün oder braun, aber nicht grau.
Von der Statur waren wir uns jedoch recht ähnlich, beide waren wir groß, schlank und eigentlich recht gut proportioniert. Wenn mich nicht alles täuschte, hatten wir auch einen ähnlichen Schwung der Lippen, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, da ich gerade verzweifelt nach Ähnlichkeiten suchte.

Die Türe öffnete und fiel gleich darauf wieder krachend ins Schloss und den Saal betrat niemand anderes als Matt.
Ich erkannte sofort das er es war, da er genauso aussah wie mit 14, nur das er größer, muskulöser war und ein markanteres Gesicht besaß, als früher. Die weichen, kindlichen Züge waren vollkommen verschwunden und vor mir stand ein wirklich heißer Typ.
Da er jedoch mein Bruder war, achtete ich darauf nicht weiter – außerdem hatte ich ja schon zwei attraktive Typen an meiner Seite - und ging leicht zögerlich auf ihn zu. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, wie ich am besten reagieren sollte, schließlich hatten wir uns Jahre nicht gesehen.
Ich verbessere mich, ich hatte ihn Jahre lang nicht gesehen. Aber da jetzt die Zeit des Wiedersehens war, und nicht die, der Beschuldigungen, verbannte ich die leicht säuerlichen Gedanken aus meinem Kopf.

Matt überwand die wenigen Schritte die uns noch trennten und drückte mich sanft an sich. Er duftete nach Wald und Schokolade und ich vergrub meinen Kopf an seiner Schulter.
Ich konnte gar nicht sagen, wie sehr ich ihn vermisst hatte und wie sehr ich mich darüber freute, dass ich ihn wiedersehen konnte. Freuen war hier gar kein Ausdruck. 


»Kapitel 7




Nachdem wir am Tisch gesessen, gegessen und endlos geredet hatten, führte mich eine der Bediensteten mich schließlich in mein Zimmer, das sie währenddessen vorbereitet hatte. Es war ein recht großer Raum, luxuriös und geschmackvoll eingerichtet und mit einem Badezimmer.
In dem einen großen Raum, stand ein riesiges Bett, darin könnten theoretisch mindestens sechs Leute bequem nebeneinander schlafen. Der Kleiderschrank kam wohl eher aus der Barrockzeit, da überall diese Schnörkel und Verzierungen waren und er auch schon sehr alt aussah, und das war jetzt nicht unbedingt negativ gemeint.

Und dann gab es da noch eine Sofaecke mit Fernseher und ich konnte jetzt schon sehen, dass ich wohl die meiste Zeit hier verbringen würde.
Ehrlich gesagt war ich immer noch etwas misstrauisch, gegenüber Octavia – meiner Mutter -, aber das was sie mir erzählte klang einfach nur logisch und ich glaubte ihr auch.

Matt war natürlich auch ein Begabter, da wir schließlich Geschwister waren, er konnte sich unsichtbar machen. In diesem unsichtbaren Zustand hatte er mich auch beobachtet, hatte er mir erzählt. Aber ich fragte mich, warum er dann nie ein Wort gesagt hatte oder sich bemerkbar gemacht hatte?
Schließlich war es jetzt nicht so schwer sich sichtbar zu machen oder irgendwie ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Und mein Dad? Vielleicht war er ja nicht mein biologischer Vater, aber für mich war er immer noch der einzige Dad, den ich hatte.
Isaac, mit seinen kalten Augen und dieser gewissen Gleichgültigkeit, die ich zwar auch manchmal verspürte, aber niemals so extrem wie er es wohl tat, ging mir total auf den Keks.

Heute in der Früh hatte ich noch gedacht, dass meine Gefühle von selbst zurückkommen würden, aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Mehr als ein bisschen Aufregung und eine gewisse Neugier verspürte ich nicht.
Morgen würde der Typ, der diesen Fluch auf mich gelegt hatte, diesen Fluch auch wieder brechen. Das wäre ja schon einmal etwas, aber dann würden Damien und Lucien von mir erwarten, mich zwischen ihnen zu entscheiden.

Dann würde die Ausrede, dass ich keine Gefühle hatte, nicht mehr länger gelten. Und die große Frage war immer noch, Damien oder Lucien? Lucien oder Damien?
Vielleicht sollte ich eine Liste machen, mit den Pros und Kontras von beiden und am Ende werte ich sie dann aus und entscheide mich dann für den, der mehr Kontras hat.
Ich will hier keinen perfekten Mann, sonst würde mein Ego noch darunter leiden, und das wollten wir ja nicht.

Zuerst einmal gönnte ich mir ein schönes Bad und entspannte mich erst einmal, soweit das überhaupt ging. Ich fühlte mich noch immer wie eine Fremde in diesem Haus und das mit den Bediensteten oder „Dienern“ war doch wirklich etwas veraltet.
Selbst die Kleidung, in der manche hier rum liefen, war wie aus den tiefsten Mittelalter. Vielleicht hofften sie ja darauf, einen neuen Trend zu setzen.

Nachdem meine Haut total verschrumpelt war und das Wasser schon wieder langsam kalt wurde, stieg ich aus der Wanne und zog eine schwarze Jogginghose und einen grauen Pulli an, den mir jemand heraus gelegt hatte. Als ich an dem Badezimmerspiegel vorbei kam, zuckte ich erst einmal vor Schreck zusammen.

War das wirklich ich? Mein ungeschminktes, natürliches Ich. Oh Gott. Meine Haare waren länger geworden, was ich ehrlich gesagt gar nicht gewohnt war. Die meisten Mädchen ließen sich die Haare so lange wachsen, bis sie darüber stolperten oder liebevoll „Rapunzel“ genannt wurden. Mit solchen Haaren hatte ich nie viel anfangen können. Früher gingen sie mir ungefähr knapp bis zur Brust, jetzt schienen sie mindestens sechs Zentimeter länger zu sein, aber es gefiel mir.

Wenn mich nicht alles täuschte, war mein Gesicht etwas markanter geworden und die Wangenknochen stachen mehr hervor. Außerdem war ich ein wenig blasser geworden, weshalb ich jetzt schon fast als Schneewittchen durchgehen könnte, wenn meine Lippen etwas stärker durchblutet wären.

Ich sah auf jeden Fall um Welten älter aus, als zuvor. Wenn ich meinem Spiegelbild einen serösen Blick zuwarf, wirkte ich wirklich total erwachsen und reif.
Jetzt musste ich aufpassen, bestimmt kamen als nächstes die Falten und grauen Strähnen. Vielleicht sollte ich mir ja demnächst eine Anti Aging Creme besorgen.

Da meine Haare sowieso nur im Weg waren, band ich sie mir einfach zu einem Knödel nach hinten. Wie es aussah, interessierte mich nun schon seit einer längeren Zeit nicht mehr. Das hörte sich ja schon fast so an, als würde hier jemand erwachsen werden.
Naja, um erwachsen zu sein, war ich einfach noch viel zu jung. Oh Gott, im Juni hatte ich bereits Geburtstag, dann würde ich meine süßen siebzehn Jahre hinter mir lassen.

Plötzlich hörte ich ein Krachen vor meiner Zimmertüre, ungefähr so, als würde jemandem ein Glas herunter fallen. Nach dieser stressigen Zeit, sollte man denken das man nicht mehr so überempfindlich war und viel cooler bei so etwas reagieren sollte. Mich hatte diese stressige Zeit jedoch eher nur hellhörig und zu misstrauisch werden lassen.

Verdammt! Wo war die unerschrockene Apryl geblieben, die dem Tod gelassen ins Auge blickte? Anstatt dieser Unerschrockenheit, hatte ich eher so eine melodramatische Note abbekommen und ich musste ganz ehrlich sagen, dass sie mir überhaupt nicht gefiel.

Vermutlich lag es einfach an dieser ganzen Gefühlsduselei, dem morgen Gott sei Dank ein Ende gesetzt wurde. Da meine Neugierde mich nicht in Ruhe ließ, gab ich schließlich nach und schlich zu meiner Türe, die ich leise und vorsichtig öffnete.
Warum ich schlich und nicht einfach herumtrampelte? Das war genau das was ich meinte, mit dieser melodramatischen Note. Schließlich könnte hier sonst wer lauern.

Vor der Türe stand ein junges Mädchen, sie konnte auf keinen Fall älter sein als ich, und war für meine Verhältnisse wirklich klein. Sie hatte hellbraune Haare, eine komische Augenfarbe – eine Mischung aus blau und braun – und sah mich an wie ein zu Tode erschrockenes Kaninchen.

„Buu!“, machte ich.

„Waaah!“, machte sie und ich lachte gemein.

Ja, ich lachte gerne gemein. Vor allem über Leute, die ich gar nicht kannte.

„Also, Kleine, wer bist du?“, fragte ich und stemmte die Hand in die Hüfte.

„Ich bin Lisa, deine neue Putze und wenn du willst, dass ich dein Zimmer sauber mache, solltest du deinen arroganten Arsch beiseiteschieben und mich reinlassen. Ansonsten kannst du gerne in deinem Dreck versauern“, keifte sie mich an und schaute sie überrascht an.

Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, das sie jemand war, die auch mehr als einen leises ‚Pieps‘ heraus bekam. Immer noch etwas verwundert trat ich einen Schritt beiseite und ließ sie in mein Zimmer hinein.

„Und bist du auch eine von uns Begabten?“, fragte ich und setzte dabei das „Begabte“ in Gänsefüßchen.

Wenn sie nichts von unserer Existenz wusste, würde sie mich für verrückt halten, aber damit würde ich sicherlich klar kommen. Leider hatte ich keine Ahnung, ob die vielen Angestellten auf dieser Festung, oder was auch immer es war, übernatürlich oder einfach nur normale Menschen waren.

„Ja.“

„Wow, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Was kannst du denn Schönes? Vielleicht Gedanken lesen? Telekinese? Hast du vielleicht Zukunftsvisionen? Naja, solche Visionen sind bestimmt total langweilig. Leute mit Blicken töten?“

Schweigen. Dann ein leiser Seufzer und ein genervtes Verdrehen der Augen. Sie musterte mich mit eindringlichen Blicken, die mir etwas unangenehm wurden. Leute konnte sie doch nicht wirklich mit Blicken töten, oder?

„Ich bin ein Kryokinet.“

„Cool, und was ist das?“

„Die Temperatur in meiner Umgebung kann ich verändern, wenn ich will“, meinte sie und lächelte gruselig, wobei sie die Augen halb offen hatte und mich anschaute, als würde sie mich gleich auffressen wollen.

Augenblicklich begann es in der Luft an zu knistern und ich konnte auch ein leichtes Prickeln auf meiner Haut spüren. Es wurde immer wärmer und wärmer und ich dachte schon, sie würde gar nicht mehr aufhören und mich hier drinnen brutzeln.
Genau ab dem Moment, wo es fast unerträglich heiß war, hörte sie plötzlich auf und die Temperatur fiel so erschreckend schnell nach unten, auf die Normaltemperatur, das mir kalt wurde und ich mir eine dünne Wolldecke holte.
Hatte Lisa das etwa nicht gespürt? Ihr war es jedenfalls nicht zu kalt. Vielleicht hatte sie ja eine Immunität dagegen und spürte weder diese extreme Kälte oder Wärme? Das würde auf jeden Fall Sinn ergeben.

„Wenn du so eine Fähigkeit besitzt, warum bist du dann hier im Schloss und spielst Putzfrau?“, fragte ich sie neugierig.

„Weil ich mir so mein Geld verdiene, wie die normalen Menschen das eben auch machen. Aber ich habe ganz sicher nicht vor, hier den Rest meines Lebens zu versauern.“

„Kann ich mir vorstellen. Könntest du mir vielleicht das Schloss zeigen und mir sagen wo wer wohnt und wer hier wichtig ist?“

„Warum sollte ich das machen?“, fragte sie und reckte das Kinn in die Höhe.

„Weil du dann etwas gut hast bei mir, ich schulde dir dann einen Gefallen, den du einfordern kannst, wann du willst“, bot ich ihr an.

Lisa tat so, als würde sie ihre Möglichkeit abwägen und nickte schließlich. Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Ich glaube, wir beide werden einander noch recht nützlich sein.“

„Das glaube ich auch“, meinte ich und erwiderte ihr Lächeln.

Es war gut hier einen Verbündeten zu haben, vor allem wenn ich keine Ahnung hatte, wer mein Freund, und wer mein Feind war. Abgesehen von Damien und Lucien, auf die beiden konnte ich mich auf jeden Fall verlassen, das wusste ich.
Nur was war mit Matt? Ich hatte ihn solange nicht mehr gesehen, ehrlich gesagt war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich ihm vertrauen konnte, genau wie Octavia.

»Kapitel 8


Aus Octavias Sicht:



„Sie kann hier nicht bleiben, es ist nicht sicher genug hier und Rosewood wird besser bewacht als dieses kleine Schloss. Apryl kann dort sowieso noch viel mehr lernen und ist mit ihren Freunden dort zusammen.“

„Und was ist Matt, Octavia?“

„Ich weiß nicht, jetzt kann ich die beiden wohl schlecht wieder trennen, oder?“, überlegte sie.

„Nein. Und wirst du es Apryl und Matt erzählen?“

Octavia schnaubte und schüttelte den Kopf.

„Auf keinen Fall, jedenfalls noch nicht jetzt.“

„Gut, dann werde ich morgen in der Früh den Fluch aufheben bei ihr. Octavia, ich gebe dir den Rat, vorsichtig zu sein, du spielst mit dem Feuer. Wenn dieses Wissen in die falschen Hände gerät, wäre das unverzeihlich, am besten erzählst du es niemanden, genauso wenig wie ich das machen werde.“

„Ach wirklich? Ich wäre jetzt zu jeder zweiten Person gegangen, die ich sehe und hätte ihr unser Geheimnis ausgeplaudert, anscheinend bin ich wohl wirklich dumm“, meinte Octavia sarkastisch.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Nun denn, es ist spät“, verabschiedete er sich und nickte ihr noch einmal zu.

Octavia ließ sich auf ihren Sessel fallen und atmete tief durch. Vielleicht sollte sie es mal mit Pilates versuchen, das war anscheinend entspannend. Genau das konnte sie nämlich im Moment gut gebrauchen, Entspannung. Man sah ihr gar nicht an, wie viel es ihr abverlangte ihre eigenen Kinder anzulügen, vor allem Matt.
Matt war stets zu ihr ehrlich gewesen und sie hatte jetzt das Gefühl, das sie ihn einfach schamlos ausnutzte. Und sie fragte sich, was Apryl jetzt über sie dachte.
Wenn sie nur halbwegs nach ihr kam, würde sie ihr kein Stück über den Weg trauen. Apryl war schlau und hübsch geworden und hatte auch einen Sinn für Humor und Sarkasmus, es tat ihr selbst schrecklich leid, dass sie das alles durchmachen musste.

Wenn alles nach Plan verlief, würde niemand von den Begabten mehr zu leiden haben, sich fühlen müssen wie ein Freak und immer etwas verheimlich müssen.
Niemand sollte so leben sollen, sich die ganze Zeit verstecken, um sein Leben rennen und die belügen, die man liebte.

Die Menschen würden erst feindselig auf sie reagieren, aber was sollten sie schon groß unternehmen? Man konnte keinem von uns vom Gesicht absehen, das er anders war, jedenfalls den meisten. Nicht einmal die DNA oder die Blutwerte waren anders, als die der normalen Menschen.
Die meisten von den Begabten hatten die Blutgruppe „O Negativ“, aber das war nicht weiter wichtig.

Ihre Hand zitterte leicht, als sie nach der kleinen Dose griff, sie aufschraubte und sich drei Schlaftabletten in den Mund legte.
Anschließend spülte sie die Tabletten mit einem Schluck Wasser hinunter und legte sich dann ins Bett. 

»Kapitel 9

 


Der nächste Morgen begann in etwa so, wie man es sich in einem Märchen vorstellte. Die Vorhänge wurden aufgezogen, die Fenster geöffnet, man konnte schon von der Küche das Essen riechen und ich hörte sogar irgendwo einen Hahn, der schreite.


Als ich heute blinzelnd die Augen öffnete und aufstand, war ich voller Energie und irgendwie gut gelaunt. Es war irgendwie total seltsam und ich kam mir vor wie im falschen Film. Die Sonne schien ins Zimmer und tauchte alles in warme Farben ein und man hatte das Gefühl, das alles gleich viel wärmer wurde.
Zuerst einmal sprang ich unter die Dusche und fand ein Shampoo, das irgendwie nach Frühling roch. Als ich aus der Dusche stieg, war ich immer noch gut gelaunt und zog mich an.

Ich ging zu einem der geöffneten Fenster und atmete tief die frische und saubere Luft ein. Überrascht stellte ich fest, dass überall Blumen blühten und die Bäume neue Knospen bekamen. Die Tiere, oder meinetwegen nur die Hasen, hüpften fröhlich herum und die Vögel stimmten in ein Gesangskonzert ein. Moment mal, war nicht vor kurzem noch Winter gewesen?
Vor ein paar Tagen noch, hatte ich mir meinen Arsch abgefroren in der Kälte und jetzt war es plötzlich Frühling? Naja, seitdem ich von den Begabten wusste, gab es auch für das Unlogischste logische Erklärungen, solange nicht versuchte die „Magie“ tot zu analysieren.

„Ist es nicht wunderbar? Den Frühling meine ich, nicht die Vorhänge, aber die sind auch wunderbar“, mit diesen Worten kam Octavia in mein Zimmer und gesellte sich neben mich ans Fenster. Jedoch wahrte sie ein wenig Abstand zu mir, sodass wir nicht Schulter an Schulter am Fenster lehnten. Es war für uns beide gleichermaßen eine komische Situation und wir wussten anscheinend beide noch nicht so ganz, wie wir damit umgehen sollten.

Ich glaubte noch so etwas zu hören wie „Wieso rede ich jetzt über Vorhänge?“ von meiner Mutter zu hören und musste irgendwie ein wenig schmunzeln. Sie plapperte wohl auch immer so viel, wenn sie aufgeregt war. Um ihre langen, braunen, glänzenden Locken beneidete ich Octavia wirklich, ihre Haare fielen nicht so langweilig glatt wie meine über meine Schultern.

„Das mit dem Frühlinh ist Avril, auch eine Begabte, sie ist so etwas wie deine Tante.“

„Also deine Schwester?“, hakte ich nach.

„Eher meine Adoptivschwester, aber wir sind uns sehr nahe. Sie ist außerdem ebenfalls die Ex von Isaac“, bei dem letzten Satz runzelte sie kurz die Stirn, ehe sie sich wieder entspannte.

„Oh“, brachte ich nur hervor und ging nicht näher darauf ein, vor Angst, noch in ein Fettnäpfchen zu treten.

Damit meinte ich nicht wirklich, dass ich Angst hatte, fühlen konnte ich ja schließlich nichts, unangenehm waren mir manche Sachen trotzdem.

„Kommt heute nicht dieser Zauberer vorbei, der den Fluch von mir nimmt?“

„Er ist eigentlich auch ein Begabter, kein Zauberer. Obwohl man ihn sich eigentlich recht gut als Zauberer vorstellen könnte, mit einem Hut und einem weißen Bart könnte er wirklich als Dumbledore durchgehen.“

„Oder als Gandalf“, warf ich ein.

„Stimmt, aber dann bräuchte er noch einen großen Stab“, überlegte Octavia.

Etwas überrascht sahen wir uns beide an, es war wirklich total komisch mit Octavia. Wenn ich mit ihr redete, war es eher so, als würde ich mit einer neuen Freundin unterhalten, und nicht mit meiner Mutter. Vielleicht lag es daran, dass sie so jung war, oder dass ich 17 Jahre lang nichts von ihrer Existenz gewusst hatte. Oder daran, das für mich meine Mom vor fast vier Jahren jetzt gestorben war.

„Hast du Hunger? Das Frühstück ist schon fertig und deine beiden Freunde sind auch schon da.“

Das Wort Freunde, sprach sie so aus, als würde sie anstatt lieber das Wort „Sexsklaven“ einsetzen. Ja, das kam vermutlich auch irgendwie hin.

Zusammen mit Octavia ging ich hinunter in einen etwas kleineren Raum, wo wir frühstückten. Der Raum war mit Bücherregalen bis oben hin vollgestopft und in der Mitte stand ein runder Tisch, der bereits schön gedeckt worden war.

Es kam mir ein wenig so vor, als würde ich jetzt an der Tafelrunde der Ritter von Arthus teilnehmen. Die hatten auch so einen schönen Tisch gehabt. Ehrlich gesagt finde ich dieses Prinzip und diese Idee eigentlich richtig geil. Die eigentliche, große Frage war doch, Gab es Arthus wirklich? Und wenn ja, war Keira Knightley die Reinkarnation von Guinevere? Okay, vielleicht sollte ich mich auch einfach nur hinsetzen und essen.

Ich konnte von Glück reden, das ich den ganzen Quatsch, der sich in meinem Kopf zusammensammelte nicht der ganzen Welt mitteilte. Obwohl man Teile davon bestimmt prima in einen Film einarbeiten könnte.

„Guten Morgen“, begrüßte ich die Runde, die aus Octavia, Damien, Lucien und einer noch unbekannten Person bestand, die mich neugierig musterte.

„Ich bin Avril“, stellte sie sich vor.

Ihre Haare hatte sie sich giftgrün gefärbt und aus ihren Augen sprühte es nur so vor Lebensfreude.

„Apryl“, stellte ich mich ihr vor.

„Ja, den April mag ich wirklich gerne, der ist so schön Frühlingsmäßig. Passt irgendwie nicht zu dir, zu dir passt eher so der Winter. Du scheinst mir eher wie eine harte, kalte Person.“

Ich klappte den Mund einmal auf und gleich wieder zu. Was sollte man dazu jetzt sagen? Damien und Lucien versuchten sich angestrengt ein Lachen zu verkneifen und Octavia und Avril schienen überhaupt nichts mitzubekommen.

Hatte Avril mich gerade versucht zu verärgern oder hatte sie mir einfach nur ihre ehrliche, direkte Meinung gesagt? Nicht einmal eine schlagfertige Erwiderung konnte ich ihr an den Kopf werfen, da ich ja noch nicht einmal wusste, ob sie mich gerade wirklich versucht hat zu beleidigen. Egal, jetzt widme ich mich lieber dem Essen, das kann mich wenigstens nicht einfach so beleidigen oder was auch immer.

Auf meine Semmel schmierte ich mir eine dicke Schicht Nutella und biss genusshaft rein. Mhmm, ich liebte Nutella! Es war so schön schokoladig mit einem leichten Nussgeschmack, den man eigentlich gar nicht wahrnahm, da so wenig davon drinnen war und trotzdem verleiht es dem Nutella so eine spezielle Note. Irgendwann würde ich sicherlich Werbung dafür machen, für Nutella könnte ich das wirklich überzeugend machen, da war ich mich sicher.

Das Essen verlief recht schweigsam, da jeder keine Ahnung hatte, oder wie ich mit Essen beschäftigt war, aber ich hatte sonst natürlich auch keine Ahnung von gar nichts. Oh Mann, und eigentlich wäre ich jetzt auf einer Hochschule in Phoenix und würde in der Sauna vor mich hingammeln oder bei heißen Studenteninnenpartys mir einen heißen Typen schnappen. Aber wie man mich ja kannte, reichte mir einer ja anscheinend nicht. Eigentlich konnte ich mich einfach nicht entscheiden. Vielleicht sollte ich auslosen oder auszählen?

Nach dem Essen, begleitete Octavia mich in ihr Büro und stellte mich dem Zauberer, pardon, dem Begabten vor. Der Begabte hatte schütteres, weißes Haar, gehörte schon zu der etwas älteren Generation und hieß Samuel. Was seine Begabung genau war, hatte ich nicht so ganz verstanden. Er konnte Flüche auf jemanden legen und diese auch wieder von demjenigen nehmen und noch ein paar andere, unwichtigere Sachen.

Samuel wies mich an, mich auf einen Stuhl zu setzen, und ich kam seiner Bitte, oder Anweisung gerne nach. Ich stand nicht gerne, vor allem nicht für eine etwas längere Zeit.

„Okay, das könnte jetzt etwas unangenehm werden. Du weißt, das deine Gefühle nicht auf einmal zurückkommen werden, sondern nach und nach, damit die angestauten Gefühle dich nicht überolln“, meinte er und rieb sich die Hände.

Ich brachte ein Nicken zustande, um ihm mittzuteilen, das ich ihm zugehört hatte, ehrlich gesagt fand ich ihn ein wenig unheimlich. Der erste Satz hörte sich an wie ein „Es könnte ein wenig unangenehm werden, bitte pass auf, das wegen dem Schmerz stirbst oder wegtrittst, das wäre nicht so toll“. Jetzt, wo er gerade die Hände so aneinander rieb, wirkte er ein wenig so wie ein Geisteskranker und ich bekam es langsam mit der Angst zu tun.

Octavia machte sich währenddessen aus dem Staub und verließ das Zimmer. Ich wollte schon fast schreien „Nein! Bitte lass mich nicht mit diesem Irren allein!“, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen.

Samuel legte jeweils Zeige- und Mittelfinger an meine Schläfen, schloss die Augen und legte einen konzentrierten Gesichtsausdruck an den Tag. Wenn man ihn ein wenig näher betrachtete, konnte man ihn sich gut als Lehrer vorstellen, als Mathelehrer. Das machte ihn für mich gleich noch eine Spur unsympathischer.

Es fing an mit einem Jucken in der Nase, und ich wollte mich schon fast dort kratzen, da ertönte ein „Nicht“ von Samuel. Woher zum Teufel wusste er das, wenn er nicht einmal seine Augen öffnete? Diese Leute hier waren wirklich seltsam.

Das Kribbeln wanderte in meine Fingerspitzen und meine Zehen und dann wieder zurück in meine Nase. Ehrlich gesagt hatte ich nicht wirklich das Gefühl, dass das hier meine Gefühle zurückbringen würde. Vielleicht sollten wir es doch mal mit einem Regentanz oder so etwas in der Art versuchen. Ich wollte schon immer in einem Bast Rock um ein Feuer tanzen, singen und klatschen. Irgendwie war das cool.

Jetzt fing es an unangenehm zu werden, bis es endlich aufhörte und sich in etwas anderes verwandelte. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, zu fallen, bis mein Herz für zwei Schläge aussetzte, nur um dann viel schneller und ungleichmäßig zu schlagen. Irgendwo fiel etwas herunter und zersprang in tausend Einzelteile, ein Stuhl kippte um und meine Haare wurden herumgewirbelt, so als würde mir jemand einen Föhn ins Gesicht halten.

Blätter segelten in der Luft umher und alles, was nicht irgendwie fest an Ort und Stelle, oder einfach zu schwer war, wurde umgefegt. Das unangenehme Gefühl, zu fallen und das Kribbeln hörten auf, nur der Wind blies mir immer noch um die Ohren.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das mit dem Wind ich war und ich steigerte es noch ein wenig, so dass sogar die Türen anfingen zu klappern. Man, war das ein tolles Gefühl, seine Superkräfte wieder zurück zu haben. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Superheld mit Auszeit, der nun zurückkam um den Bösewicht hinter Gitter zu bringen oder seine Liebste zu retten. Also ich hatte keine Liebste, die ich retten konnte, ich war nicht lesbisch. Aber vielleicht sollte ich mir gewisse Optionen noch offen lassen, für die Zukunft.

»Kapitel 10

 

 


Seit einer geschlagenen Stunde stand ich nun im Garten und genoss den kleinen Tornado, der um mich herumfegte. Ich fühlte mich großartig, die Macht floss nur so durch meine Finger, und es kam mir so vor, als wäre ich unbesiegbar.
Das hatte ich vermisst, jetzt fühlte ich mich auch nicht mehr so schutzlos und ausgeliefert wie vorhin, als ich mein Element nicht bändigen konnte.


„Buh!“, hauchte mir eine Stimme ins Ohr, und ich wirbelte erschrocken herum.
Avril. Ihre grünen Haare fielen ihr offen über die Schultern und ihre großen, braunen Augen musterten mich sorgfältig.
Augenblicklich verebbte der Sturm, die Blätter wiegten sich nur noch ganz leicht hin und her und es wirkte fast so, als wäre hier niemals auch nur eine kleine Prise entlang gefegt.
„Ich finde dich nett, Apryl, und als deine Freundin darf ich dir sagen, dass du irgendetwas mit deinen Haaren anstellen musst. Deine Haare haben weder diesen knackigen Braunton, noch diesen wunderschönen, glänzenden Locken von deiner Mutter. Doch Kopf hoch, es ist noch nichts verloren. Das kannst du alles mit deinen wunderschönen Augen…“, kurz starrte sie mir angestrengt in die Augen, als würde sie etwas suchen, dann schüttelte sie den Kopf. „Naja, vielleicht nicht mit deinen Augen. Diese grauen Augen hast du von Isaac. Naja, also du bist recht…naja, du kommst mir etwas abgemagert vor. Bist du magersüchtig?“, fragte sie in einem scharfen Ton und blickte mich misstrauisch an.


„Ähh…Nein“, stammelte ich. Ihre Direktheit und unverfrorene Ehrlichkeit schockte mich.
Waren meine Haare wirklich so langweilig? Ehrlich gesagt war ich mit mir immer recht zufrieden gewesen und hatte auch nie wirklich Komplexe gehabt, aber diese Avril, die machte einen wirklich verrückt.
„Dann iss mal ein wenig mehr, so sieht das nicht schön aus. Kein Mann mag abgemagerte, dürre Mädchen, die aussehen, wie ein Klappergestell.“
Das sagte die Richtige! Avril war extrem schlank, fast schon ungesund dünn, und mir wollte sie sagen, ich wäre zu dünn?
„Nun gut, kommen wir zu dem eigentlichen Grund, warum ich hier bin. Octavia macht sich Sorgen, dass du Angst vor dieser Magie bekommst, vor unseren Fähigkeiten. Du weißt schon, der Fluch und das ganze andere Drama“, erklärte sie mir.
„Also eigentlich komme ich schon ganz gut kl-.“
„Nein! Ich habe gerade noch gesprochen, ich bin noch nicht fertig! Außerdem: Kein „wenn“ und „aber“. Hab mal Respekt vor dem Alter, Kleine“, fuhr sie mir dazwischen, bevor ich überhaupt zu Ende reden konnte.


Kleine? Ich war auf jeden Fall zehn Zentimeter größer als sie. Respekt vor dem Alter? Sie konnte nicht älter als 30 sein, eher jünger. Wobei sie aussah wie 20, vielleicht mixte sie sich ja Tränke, die sie jünger machten?
„Okay, also hab keine Angst, Apryl, ich bin da“, meinte sie noch einmal und klopfte mir auf die Schulter, bevor sie sich mir gegenüber stellte.
Ich war nur zu einem Nicken fähig, sie sah mich schon wieder so an, als würde sie das Schlimmste von mir erwarten, so, als würde ich gleich irgendetwas herunterpfeffern und zerdeppern.
Avril schloss die Augen und streckte ihre Arme aus, ihre Handflächen zeigten nach oben.
Erst jetzt fiel mir auf, dass überall dort wo sie stand, Blumen aus dem Boden wuchsen und blühten. Sämtliche Vögel kamen angeflogen und ließen sich auf ihr nieder, die meisten saßen auf ihren Schultern oder ihrem Kopf. Ein Bussard kreiste über unseren Köpfen und kam immer näher und näher, bis er es sich schließlich auf ihrer einen Handfläche bequem machte.
Auf dem anderen Handteller ließen sich immer mehr und mehr Schmetterlinge nieder, in alle möglichen Farben.

Woher kamen die Schmetterlinge überhaupt? Es war immerhin noch Winter, und kalt. Dann öffnete Avril die Augen, grinste vielsagend, und murmelte irgendein nicht verständliches Wort, worauf die Vögel und anderen Tiere sich wieder in die Luft erhoben und davon flogen.
Die Schmetterlinge würden diese Kälte nicht lange überleben, genauso wenig wie die Blumen zu ihren Füßen, die schon anfingen zu welken.
„Ich kann natürlich noch mehr, als nur ein paar Tiere anlocken und Blümchen blühen lassen. Meine Affinität zur Natur, lässt mich Tränke brauen und-.“
„Zaubertränke?“, fiel ich ihr ins Wort.
„Meinetwegen, aber wirkliche Wunder kann ich auch nicht vollbringen. Krebs heilen oder Leute wieder erwecken, das geht natürlich nicht. Aber ich kann Leute zum Beispiel ein paar Jahre jünger wirken lassen und anderen Tinkturen für das Äußerliche brauen. Du könntest zum Beispiel eine gesündere Hautfarbe brauchen, du bist so blass“, bot sie mir an und kniff mir einmal fest in die Wange.
Ihre langen Fingernägel bohrten sich unangenehm in meine Haut und ich verzog leicht das Gesicht.


„Nein, danke. Wenn ich eine dunklere Gesichtsfarbe haben will, legen ich mich in die Sonne oder lass mich in einem Sonnenstudio grillen, aber so etwas gibt es ja in Montana nicht.“
Avril krempelte ihren rechten Ärmel hoch und starrte dann ihr Handgelenk an. Erschrocken sah sich mich an.
„Es ist ja schon total spät! Bis dann, Apryl!“, verabschiedete sie sich und rannte dann ins Haus.
Sie hatte nicht einmal eine Uhr besessen. Wahrscheinlich wollte sie mich einfach nur loshaben. Avril war seltsam, schrill und es fiel mir nicht sonderlich leicht, sie zu mögen.
Normalerweise sollte ich jetzt auch hinein gehen, aber ich hatte irgendwie Angst, dass Damien und Lucian mich jetzt fragen würden, für wenn ich mich entscheiden würde.
Eigentlich drückte ich mich schon die ganze Zeit vor dieser Entscheidung, denn egal wen ich nehmen würde, ich würde damit Damiens und Luciens Freundschaft endgültig einen Schlussstrich ziehen. Das Beste wäre eigentlich, keinen von beiden zu nehmen.
Das wäre wiederum natürlich auch unfair beiden gegenüber, da ich sie in diese Sache hinein gezogen hatte und sie nur noch wegen mir hier waren.

Eine Dreier-Beziehung kam vermutlich auch nicht in Frage, obwohl ich persönlich nichts dagegen hätte. Wen von beiden hatte ich denn zuerst kennengelernt? Das war Damien, und er hat mich natürlich auch als Erstes geküsst. In wen hab ich mich als erstes verliebt?
Das war wohl auch recht schwer zu sagen. Wenn ich so weitermachte, würde ich noch in tausend Jahren hier stehen.
Es gab nur eine Möglichkeit, mit der ich mich im Moment abfinden konnte: gar nichts tun. Am liebsten würde ich mir noch eine zweite Meinung holen, dafür bräuchte ich June. Ich vermisste June schon, wir hatten schließlich fast ein halbes Jahr zusammengewohnt. Sie war die Einzige, die eine wirklichen besten Freundin am nächsten kam.

Aber da gab es natürlich auch noch eine Person, die sich mit der Spezies Mann gut auskannte. Vielleicht würde ich es ja irgendwie schaffen, irgendwie mal bei ihr vorbeizuschauen.
Langsam begann ich zu zittern, und ich hatte das Gefühl, als würde meine arme Nase jeden Augenblick abfallen, dank der Kälte.
Also spazierte ich wieder nach drinnen, wobei ich meine Hände drehte und dehnte, bis es knackte. Endlich kam auch wieder Gefühl in meine Zehen und Fingerspitzen. Ich hatte gar nicht einmal bemerkt, dass auch meine Zehen festgefroren waren, bis sie wieder auftauten.
Man vergaß im Garten einfach viel zu schnell, dass wir uns immer noch im Winter befanden, und nicht im Frühling.

Wenn ich oben in meinem Zimmer war, würde ich mir erst einmal ein schönes Bad gönnen und mich entspannen. Jede einzelne Stufe knarzte, als ich hinauf ging. Es erinnerte mich an das alte Bootshaus meines Opas. Mein Opa hatte eine Vorliebe fürs Angeln und verkrümelte sich meistens immer im Wald oder an einem See.
Seit meine Oma gestorben war, hatte er sich immer mehr zurückgezogen und lebte nun alleine auf dem Land. Er war das, was man unter herzensgut, nett und liebevoll nennt. Er war der Vater meines Vaters, natürlich nicht der, von Isaac.
Das hieß dann wohl, dass ich nicht einmal mehr mit ihm verwandt war. Nun ja, die Verwandtschaft war ja nicht alles.

„Apryl!“
Damien eilte die Treppe hinauf, bis er bei mir angekommen war und eine Stufe unter mir stand. Er nahm meine Hand und strich mit dem Daumen über meinen Handrücken, ehe er mir wieder in die Augen schaute.
„Du weißt, das du eine Entscheidung treffen musst, oder?“, erinnerte er mich und schaute mich verständnisvoll an.
Warum war er nur so verständnisvoll? Das hatte ich überhaupt nicht verdient, so wie ich mit den beiden die letzten Wochen umher gesprungen war.
„Ich weiß.“
Stille. Da ich nicht genau wusste, wo ich hin sehen sollte, richtete ich meinen Blick auf meine schwarzen Stiefel, die ich mir von Octavia geliehen hatte.
„Es ist weder für mich, noch für Lucien leicht, das hier mitzumachen. Die Situation zwischen ihm und mir ist etwas…angespannt, und es ist nicht gerade leicht, sich die ganze Zeit zurückhalten zu müssen.“
„Warum seit ihr denn…also warum ist die Situation zwischen euch so angespannt?“
„Das frägst du mal lieber Lucien. Hast du eigentlich schon daran gedacht, dass wir hier nicht ewig bleiben können? Wir müssen wieder zurück nach Rosewood, man kann unser Verschwinden dort nicht die ganze Zeit entschuldigen“, sagte er Damien, der seinen Blick inzwischen auch auf seine Schuhe gerichtet hatte.

„Bis heute Abend, Apryl.“
Er stieg eine Treppenstufe hoch, so dass er wieder viel größer war als ich, beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Stirn. Dann ging er wortlos die Treppenstufen hoch.
Jetzt hatte ich sie wohl wirklich alle verärgert. Heute Abend würde ich noch einmal mit ihm reden, und mit Lucien. Ich wollte endlich wissen, was zwischen sie geraten war und sie sich deshalb hassten. 





Die letzten drei Tage, die wir hier bis jetzt verbracht hatten, wurden wir jedes Mal von einer ausgezeichneten Köchin bekocht. Die Mahlzeiten waren sehr abwechslungsreich und ausgesprochen lecker. Dabei ließ sich die Köchin nicht auf einem Gebiet festnageln, sondern machte auch mal etwas Indisches oder Griechisches.
Ein paar Gerichte waren für meinen Geschmack ein wenig zu außergewöhnlich und Sachen wie Schnecken, musste ich nun auch nicht unbedingt essen.
Dieses Mal hatte Octavia uns jedoch eine riesige Pizza bestellt, in Familiengröße. Sie stellte die Pizza auf dem Esstisch ab und klappte sie auf. Octavia schloss die Augen und atmete den Duft der Pizza ein, schon fast so, als würde sie ihn inhalieren.


Das Esszimmer war mit Abstand der modernste Raum im ganzen Gebäude. Nur die altmodischen, geschwungen Lampen und die Tapete, die in einem warmen Braunton gehalten war, erinnerte mich daran, dass das hier ein Schloss war. Die restliche Einrichtung war recht normal, nichts Außergewöhnliches oder schrecklich schräges. Das Schloss war riesig, im Vergleich zu einem normalen Haus oder einer Wohnung.
Alles möblieren zu müssen, war sicherlich aufwendig. Ob Octavia das alleine machte? Was mich ebenfalls wunderte war, dass wir normalerweise immer hier aßen, außer zum Frühstück, da saßen wir in einem Extraraum. Wahrscheinlich hatte das Schloss einfach zu viele Räume, und sie wussten nicht mehr, was sie mit ihnen anfangen sollten.
Wir setzten uns alle an den Tisch, der übrigens rund war, und begannen uns über die Pizza herzumachen. Avril hatte sich bereits vier Stücke reserviert, aber die würde sie vermutlich sowieso gar nicht schaffen.

Wenn es ums Essen ging, gab es weder Regeln, noch Grenzen. Am Ende war wirklich jedes Stück der Pizza verschlungen worden, und Avril hatte beinahe am meisten verdrückt. Sie war definitiv nicht magersüchtig. Avril war wohl eins von der Sorte Mädchen, das so viel essen konnte wie sie wollte, und einfach nicht zunahm. Nach dem Essen zog ich Lucien beiseite, um mit ihm zu reden. Damien verschwand bereits nach oben, vermutlich wieder in sein Zimmer. Octavia und Avril waren in ein Gespräch vertieft und spazierten im Garten herum.


„Warum sind Damien und du…warum ist die Situation zwischen euch so angespannt?“, fragte ich schließlich an ihn gerichtet.
Diese eine Frage würde ich wohl noch ein wenig öfters formulieren müssen, seltsamerweise fiel mir wirklich keine einzige andere Formulierung ein, die nicht total bekloppt klang. Luciens strich eine seiner langen, goldenen Strähnen hinters Ohr und lächelte gequält.
„Vielleicht solltest du das lieber Damien fragen“, meinte er. 
Ich schnaubte. Die beiden waren eigentlich gar nicht so unterschiedlich, wie man vielleicht auf den ersten Blick an glaubte.
„Das hab ich bereits. Er meinte, ich sollte dich fragen.“
„Na gut, hier kommt die abgekürzte Version unserer Leidensgeschichte“, ein spitzer Ton hatte sich in seine Stimme gemischt, und sein Gesicht verfinsterte sich. „Wir hatten noch einen Bruder, einen jüngeren, und eine kleine Schwester, sie waren Zwillinge. Zweieigig. Bei einem…Unfall kamen sie ums Leben und unsere Eltern ließen sich kurz darauf scheiden. Ich zog zu meinem Vater, Damien zu unserer Mutter. Wir beide geben uns einander die Schuld. Vielleicht sind wir ja beide nicht ganz unschuldig, aber ich kann dir sagen, dass das alles niemals passiert wäre, wenn Damien einmal seine scheiß Klappe gehalten hätte!“


Das Wort „Unfall“, betonte er so, als würde er damit andeuten, dass das sicherlich kein „Unfall“ war. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er presste die Lippen aufeinander.
Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich jetzt sagen sollte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas zwischen sie geraten wäre. Irgendwie hatte ich immer damit gerechnet, dass sie sich wegen einem anderen Mädchen stritten, so, als wäre das schon einmal passiert. Vielleicht hatte ich auch einfach ein wenig zu viel „Vampire Diaries“ geguckt.
Da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, umarmte ich ihn schließlich einfach nur. Als ich ihn umarmte, merkte ich, wie langsam die Spannung von ihm abfiel und er mich ebenfalls in seine Umarmung schloss.
„Danke, Apryl“, murmelte er in mein Ohr und drückte mich noch ein wenig fester an seine Brust. „Du weißt, das ich dich liebe, oder?“

»Kapitel 11




Matt hatte Samuel, der Mann, der den Fluch auf mich gelegt und ihn wieder von mir genommen hatte, nach Hause gebracht. Samuel war schon etwas älter, hasste Autos, und anderen modernen Schnickschnack und betrachtete es als Teufelswerk. Deswegen war es auch ein sehr langer Fußmarsch für die beiden gewesen.
Es brach mir fast das Herz, zu sehen, wie Matt das Schloss verließ, ohne mich. Natürlich wusste ich, dass er wieder kommen würde, aber ich wollte meinen gerade wieder zurückgewonnen Bruder nicht schon wieder verlieren. Matt schlief einen ganzen Tag lang durch, ehe er bei mir an die Zimmertüre klopfte.
Als er herein kam, umarmte ich ihn erst einmal stürmisch und wuschelte ihm durchs Haar. Ich durfte das, er war schließlich mein kleiner Bruder, auch wenn rein physikalisch gesehen etwas größer war als ich. Dann fiel mir wieder ein, was Damien mir gestern gesagt hatte: Das wir nicht ewig hier bleiben konnten. Aber was würde dann aus Matt werden? Ich würde ihn sicherlich nicht hierlassen.


„Matt…Wir müssen bald wieder abreisen und zurück nach Rosewood fahren…“
„Darüber habe ich mit Octavia schon gesprochen, ich werde mitkommen“, verkündete er mir und grinste frech.
„Wirklich? Müssen wir dich dort nicht erst noch anmelden?“
„Das wird schon klappen, ansonsten schmuggelst du mich einfach in deine Wohnung, oder dein Häuschen. Hast du eigentlich eine Mitbewohnerin?“
„Ja. Du wirst June lieben, sie ist einfach die Beste!“
„Und diese zwei Typen, Lucien und Damien. Du bist doch nicht mit beiden…also ihr drei seid nicht zu dritt…“
„Was? Nein!“, rief ich empört aus, ehe ich anfing zu lachen, bei dem Gedanken beide zu haben. Das würde ihnen wohl nicht so sehr gefallen, wie mir.
„Weißt du Apryl, die ganzen Jahre über habe ich dich und Dad, nicht Isaac, beobachtet. Aber es ist etwas ganz anderes, mit dir zu sprechen, und das du weißt, das ich noch lebe“, er seufzte.


Dad, mein richtiger Vater. Vielleicht war Isaac ja mein biologischer „Vater“, aber er würde niemals irgendeine Vaterrolle übernehmen können.
„Was ist eigentlich mit Dad? Er weiß nicht, das du am Leben bist, oder?“
Matt schüttelte den Kopf, und schluckte hart. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es gewesen sein muss für ihn, all die Jahre. Dafür hatte er Octavia gehabt, sie war für ihn wie eine richtige Mutter geworden.


„Meinst du nicht, das er ein Recht darauf hat, zu erfahren, dass du noch lebst?“, fragte ich vorsichtig.„Vielleicht. Aber ich will in hier nicht mit reinziehen. Außerdem weiß er nicht, das er nicht unser biologischer Vater ist.“
„Kann ich reinkommen?“, fragte Octavia, die in der Tür stand.
Ich nickte, und musterte Octavia. Sie trug eine dunkelblaue Jeans, einen violetten Blaser und Cowboystiefel. Ihre Haare standen elektrisiert in alle Richtungen ab. Sie war wirklich nett, keine Frage, nur hatte ich mehr das Gefühl, eine Freundin zu sehen, als meine Mutter.
Ich fragte mich, wie sie mich sah. Wie eine Tochter, oder auch wie eine Freundin? Wenn in einem Film, jemand seine Mutter erst kennenlernte, waren sie wütend, traurig, empört oder glücklich. Meine Gefühle konnte ich nicht wirklich zuordnen, oder in eine Schublade stecken. Wenn ich daran dachte, dass ich normalerweise jetzt in Phoenix sitzen müsste, langweiligen Vorträgen von irgendwelchen Professoren zuhören müsste, und abends nur Partys feiern würde, war ich doch wirklich froh dass ich „anders“ war. Klar, auf einiges hätte ich wirklich gut verzichten können.
Zum Beispiel auf die Begegnung mit Isaac, und dieser ganze Entführungsquatsch, das hätte wirklich nicht sein müssen. Doch dieses Gefühl von Macht, würde ich um keinen Preis ausgeben wollen. Diese Fähigkeit war kein Fluch, sondern ein Segen! Ich konnte mir gut ausmalen, was ich mit dieser Begabung alles anstellen könnte, das hieß nicht nur dass man irgendwelchen Verpflichtungen nachkommen müsste, sondern auch dass man Spaß haben konnte. Natürlich musste man damit auch eine gewisse Verantwortung tragen, aber Verantwortung stand mir eigentlich recht gut, glaube ich.


„Klar, komm ruhig rein“, meinte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
Was würde ich nur dafür geben, um zu wissen was Octavia, meine Mutter, über mich dachte! Fand sie mich sympathisch? Hatte sie mich vielleicht…netter gewünscht? War sie vielleicht enttäuscht? Sie hatte sich dazu noch so gut wie war nicht geäußert. Wie ich es hasste, wenn ich nicht wusste, was andere über mich dachten!
„Lucien ist gerade zu mir gekommen und hat mir gesagt, dass ihr heute abreisen werdet. Das kann ich natürlich verstehen, ihr habt schließlich auch noch ein Leben, zu dem ihr zurückkehren müsst.


Ich verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, wieder zurückkehren zu müssen. Schließlich hatte ich meine biologische Mutter, meine Erzeugerin, erst jetzt kennengelernt und da sollte ich jetzt schon wiederabreisen? Auf Octavia zeichnete sich ebenfalls Trauer und Verbitterung ab. Ging es ihr etwas genauso wie mir? Mein Herz klopfte etwas schneller. Wie sehr lag ihr etwas an mir? Sicherlich nicht so viel wie an Matt, den hatte sie ja schon mehrere Jahre an ihrer Seite. Ich verbannte meine Eifersucht auf Matt sofort in die tiefsten Ecken meines Bewusstseins und bekam ein schlechtes Gewissen. Octavia hatte dafür jedes Recht und es war schließlich auch ganz natürlich.
Außerdem würde ich nicht auf Matt sauer sein, schließlich war er mein Bruder, und ich hatte ihn gerade erst zurückgewonnen. Bei dem Gedanken daran, wie lange ich um ihn getrauert hatte, genau wie mein Vater.
Das konnten wir doch nicht vor ihm verbergen, oder? Matt war immer noch ein Teil seiner Familie.


„Die gesamten Flüge wurden gecancelt da ein riesiges Unwetter geradewegs auf Wyoming zusteuert und direkt im Weg liegt, zwischen hier und Montana“, erklärte sie mir.
„Und wann würde der nächste Flug gehen?“
„Erst morgen oder übermorgen, vorausgesetzt dass das Unwetter vorbeigezogen ist“, mutmaßte Octavia und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
Unwetter. Ich musste daran denken, was ich in Rosewood einmal gemacht hatte, ich hatte es zum Regnen gebracht. Warum sollte ich dann nicht diesen Gewittersturm in einen anderen Staat verschieben können? Ein Versuch war es jedenfalls wert. Von hier nach Rosewood waren es locker acht Stunden Fahrt, die ich mir gerne sparen konnte.
„Apryl?“
Fragend blickte Matt mich an und schmunzelte. „Hast du mir gerade zugehört?“

„Was? Nein. Ich dachte mir nur, dass ich vielleicht das Wetter beeinflussen könnte“, überlegte ich.
„Das Wetter? Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert“, meinte er grinsend. „Apryl, die Wetterhexe.“
Wetterhexe. Das klang doch mal toll, gleich würde ich auf meinem Besen davon fliegen. Vielleicht würde ich noch einen Abstecher nach Hogwarts machen. Bei dem Gedanken wie ich – Apryl, die Wetterhexe – mich auf meinem Kehrbesen in die Lüfte schwang, entschlüpfte mir ein Lacher.
Es kam mir vor, als würde ich einer anderen Person zuhören. Wie lange war es her, dass ich mal wieder wirklich gelacht hatte?
Matt stimmte in mein Lachen mit ein, genau wie Octavia. Meine Güte, wir sahen aus wie eine von diesen glücklichen Familien die man auf die Zwieback Packungen druckte. Irgendwie kam mir das so falsch vor, dass mein Lachen auch gleich wieder erstarb.
Wir waren keine Familie! Matt war mein Bruder, klar, aber Octavia war nicht meine Mutter, auch wenn sie mich erzeugt hatte. Langsam kam ich mir wirklich vor wie eine kleine Tussi mit Mutterkomplexen. Vielleicht würde es ja helfen, wenn ich meinen Schädel ein- oder zweimal kräftig an die Wand hämmerte.
Das Risiko ging ich lieber nicht ein, sonst verlor ich am Ende noch mehr graue Zellen.

„Gut, ich stell‘ mich am besten in den Garten, dann habe ich eine direkte Verbindung zum Himmel.“
Oh Gott, Apryl! Hörst du dir eigentlich auch einmal selbst zu? Direkte Verbindung zum Himmel? Das hörte sich ja so an, als hätte ich eine Telefonnummer von einem Engel.
Matt und Octavia schienen nichts von meiner komischen Wortstellung mitzubekommen.
Da keiner von ihnen etwas einzuwenden hatte, lief ich die Treppe hinunter und in den Garten. Ich fragte mich, was Damien und Lucien eigentlich den langen lieben Tag so trieben. Im Garten angekommen stellte ich mich in die Mitte und blickte nach oben in den Himmel, so, als würde ich jetzt irgendein Zeichen sehen. Keine Erscheinung, dann eben ohne.
Ich schloss die Augen, entspannte mich und stellte mich locke hin. Zuerst konzentrierte ich mich auf die Gerüche in meiner Umgebung. Es roch nach Honig, Frühling und frischem Schnee. Schnee gab es in dieser Anlage natürlich keinen, dafür hatte Avril gesorgt. Als nächstes lauschte ich angespannt. Man konnte das sachte Rascheln der Blätter hören und das leise Knacken von irgendwelchen Stöcken. Ich sog die ganzen Wahrnehmungen in mich auf und fokussierte mich nun auf das Wetter. Die sanfte Brise, das Pfeifen und diese Schwingungen, die mir sagten, dass ein Sturm herauf zog.
Vielleicht hörte sich das blöd an, aber ich konnte wirklich spüren, dass ein Sturm ein paar Kilometer weit tobte. Es fühlte sich an wie endlose Unruhe, die sich in mir breit machte.

Ich stellte mir das Unwetter wie einen riesigen Tornado vor und trieb ihn in eine andere Richtung, mehr östlich, so dass er dort sein Unwesen trieb. Zwar versuchte ich auch ihn zu besänftigen, aber das gelang mir nur teilweise. Ich horchte in mir hinein. Es war, als wäre der Sturm in mir schlagartig abgeebbt. Vermutlich war er einfach zu weit weg, als das ich es nun spüren konnte. Nun denn, die Flugbahnen müssten nun für uns frei sein.
„Und hat es geklappt?“
Ein leiser Schrei entfuhr mir, als plötzlich Lucien mir etwas ins Ohr gehaucht hatte. Ich war so konzentriert gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass er sich an mich herangeschlichen hatte.
„Schleich dich nicht so an!“, zischte ich aufgebracht.
Schmunzelnd betrachtete Lucien mich und grinste dann schelmisch. Langsam beugte er sich etwas vor und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Dann umarmte er mich einfach. Zwar war ich ein wenig enttäuscht, dass er mich nicht geküsst hatte, aber andererseits war ich auch froh. Es wäre irgendwie sonst noch komischer gewesen, als es eh schon war mit den Brüdern. Lucien roch nach frischem Schnee, wie Winter. Ich kuschelte meinen Kopf in seine Halsbeuge und schloss die Augen. Manche Umarmungen hatten wirklich magische Kräfte, zum Beispiel die von Lucien. 
„Apryl?“, rief Octavia von drinnen und wedelte aufgeregt mit den Händen.
Etwas genervt löste ich mich von Lucien und spazierte wieder nach innen. Was war los? Hatte man hier nicht einmal seine Ruhe?
„Das müsst ihr euch anschauen“, meinte Matt, der auf der Couch vor dem Fernseher saß.
Der Fernseher sah aus, als hätten sie ihn aus einem Museum geklaut und war bestimmt einen Meter tief, mit einem ganz fetten Rahmen und einem kleinen Bildschirm.


„…und jetzt zum Wetter. Der vorausgesagte Tornado tobt sich nun in Colorado, an der Staatsgrenze aus. Eine gute Nachricht für alle Fluggäste der Airline und eine schlechte für die Bürger von Colorado. Man kann hier also nur von Glück reden…“
Glück. Genau. Ich nannte das wohl eher eine Meisterleistung meinerseits. Nicht jeder konnte von sich behaupten, einen Tornado eine Ecke weiter zu schieben. Matt schaltete den Fernseher wieder aus. Neben ihm standen bereits ein schwarzer Koffer und ein Rucksack, vollgepackt bis zum Rand.
Octavia wies Lisa an, unsere restlichen Sachen zusammen zupacken. Sie hatte mir einen kleinen Koffer geschenkt, und mir ebenfalls ein paar Klamotten zum Anziehen geschenkt, die sie nicht mehr brauchte. Wie ich Abschiede doch hasste!



Lucien und Damien hatten sich bei Octavia mit einem schlichten Nicken verabschiedet. Matt umarmte sie und flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, was sie zum Lächeln brachte. Als letztes war ich dran. Am liebsten würde ich einfach schnell ins Auto springen, und davonfahren. Abschiede lagen mir wie gesagt überhaupt nicht.
Octavia zog mich in ihre Arme und presste mich an ihre Brust. Sie roch nach Rosen und frischer Luft. Nach geschlagenen zwei Minuten schob sie mich ein Stück von sich und betrachtete mich so, als würde sie sich jedes einzelne Detail ganz genau merken. In ihren Augen glitzerten Tränen die sie etwas verlegen wegblinzelte.
„Wir sehen uns sicherlich bald, Apryl“, sie presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch. „Und bitte vergiss mich nicht, egal was geschieht. Pass auf dich auf.“
Aus ihrer Jackentasche holte sie ein kleines Schächtelchen heraus und drückte es mir in die Hand. Die kleine Schachtel war mit schwarzem Samt gesäumt und fühlte sich recht flauschig an. Der Blick, den sie mir am Ende zuwarf war undefinierbar. Der Abschied kam mir so vor, als würde sie sich bei mir für immer verabschieden. Es war so abschließend.
Das kleine Schächtelchen steckte ich in meine Jackentasche, nachher würde ich es öffnen. Lisa half mir beim Koffertragen, als wir das Gepäck im Taxi verstauten. Die Angestellte lächelte mich noch einmal an, wobei sie ihr Zahngestell entblößte, und winkte mir zu wie ein kleines Kind, das gerade von seinen Eltern in den Kindergarten gebracht worden war.
Dieses Mädchen war wirklich seltsam. Die Gesichtsform erinnerte mich ein wenig an eine Kartoffel. Vielleicht hatte sie ja einen mentalen Schaden? Oder sie war einfach nur sehr komisch.
Damien saß vorne, beim Fahrer, Matt und Damien hatten es sich auf der Rückbank gemütlich gemacht und ich wurde in die Mitte gequetscht.
„Und wo waren wir offiziell? Ich meine, was wurde June und den anderen gesagt wo wir stecken?“, fragte ich neugierig die Brüder.
„Soweit ich weiß waren wir in den Wäldern, um unsere drei Elemente zusammen zu üben und um eine Technik zu entwickeln, wie wir sie zu dritt geschickt anwenden“, antwortete mir Lucien.
„Wirklich? Und, was ist unsere Technik?“ „Tja, wir haben es nicht herausgefunden, zu wenig Zeit und etwas“, er warf einen Blick hinter zu Matt. „Kam uns dazwischen“, meinte dieses Mal Damien.
Mein Bruder kniff die Augen zusammen und musterte Damien. Na, da hatten sich doch zwei gefunden. Lucien runzelte nur die Stirn und betrachtete angestrengt das Fenster. Das kondensierte Wasser, das an der Scheibe war, lief zu einer unbestimmten Form zusammen. Ihm musste wohl wirklich langweilig sein.
Gerade als Matt zu einer Erwiderung ansetzen wollte, hielt das Taxi an. Als wir ausstiegen stellte ich fest, dass der Flughafen im Vergleich zu dem im Kalifornien, wirklich zwergischer Statur war. Nur wenige Leute tummelten hier herum und kamen mir alle viel entspannter vor, als die gehetzten Geschäftsmänner in Kalifornien.
Ich vermisste die Hektik und die Ruhelosigkeit von Kalifornien, genau wie die Strände und das tolle Wetter. Und natürlich meinen Dad. Nachdem das Taxi ausgeräumt war, steuerten wir die relativ kleine und niedrige Halle an. Unsere Tickets hatte Octavia online gebucht, und da ein Begabter hier arbeitete, konnten wir geradewegs durchgehen und mussten uns nirgends anstellen, und konnten einen kleinen die Kontrolle umgehen. Eigentlich hatten wir das gar nicht nötig, da wir überhaupt nichts verbargen.
Als wir dann endlich an Bord des Flugzeugs waren, ließen wir uns alle auf unseren Sitzplätzen nieder. Jetzt, wo ich bequem saß und genügend Platz hatte, um an das Geschenk von Octavia heran zu kommen, nahm ich die Samtschachtel heraus und betrachtete sie kurz. Neugierig öffnete ich sie und starrte auf den Ring, der sich darin befand. Ein großer Smaragd saß in der Mitte und wurde von einem silbernen Rand umrahmt. Ich erkannte sofort, um was für einen Stein es sich dabei handelte. Einen ähnlichen Edelstein hatte ich auch bekommen, in der Schule.
Das war dieser Der-Stein-sucht-dich-aus-und-nicht-andersrum und Macht symbolisierte. Meinen eigenen Ring, besetzt mit einem echten Diamanten, hatte ich in einem sicheren Versteck in Rosewood gebunkert. Schließlich würde ich nicht einfach mit einem so wertvollen Ding in der Gegend herumlaufen. Der Smaragd musste Octavia gehören, und ich fragte mich warum sie ihn mir geschenkt hatte. Schließlich gehörte er ihr, und nicht mir. Für was stand wohl der Smaragd? Wenn ich wieder in Rosewood war, würde ich sofort den Direktor Roan fragen.
Bewundernd strich ich über die geschliffene Oberfläche des Steins. Er war wunderschön, viel schöner als mein farbloser Diamant. Ich klappte die Schachtel zu und schob sie wieder in meine Hosentasche, wo sie sicher war.
Unsere Sitzplätze waren so im Flugzeug verteilt, das wir alle auseinander saßen. Octavia hatte wirklich ganz toll gebucht. Da es keine Fernseher oder sonstige Unterhaltung gab, versuchte ich mich zu entspannen und schlief schließlich auch ein.

 

 

Von einem kräftigen Rütteln wurde ich aus meinem leichten Schlaf gerissen. Die Maschine rollte noch die letzten Meter auf der Landebahn entlang ehe sie stoppte. Einige Minuten später durften wir das Flugzeug verlassen und nahmen alle unsere kleinen Koffer oder Rucksäcke mit. Danach fuhren wir wieder mit einem Taxi weiter, bis nach Rosewood durch.
Während wir auf dem Weg zu unserer Schule waren, versuchte ich zwei Mal meinen Vater anzurufen, aber er ging wieder nicht dran. Langsam machte ich mir wirklich Sorgen. Wenn ich wieder zuhause war, würde ich vielleicht mal bei unseren Nachbarn anrufen und fragen, was los war.
Rosewood kam langsam in Sicht und wurde immer größer und größer. Ich erinnerte mich daran, wie ich das erste Mal meine neue Schule gesehen und einfach nur gestaunt hatte. Sie erinnerte einen immer noch an eine alte, uneinnehmbare Festung.

»Kapitel 12




Zusammen mit Damien und Lucien gingen wir zuerst zum Direktor, nachdem wir bis vors Schulgebäude vorgefahren waren. Der Sicherheitschef, oder wer auch immer, hatte uns einfach so reinfahren lassen. Das Auto parkte direkt vor dem Eingang des Schulgebäudes. Als wir drinnen angekommen waren, klopfte Lucien an die Tür.
„Herein“, die Stimme von Direktor Roan war wie immer freundlich.
Der Raum sah genauso aus, wie vor einem Jahr. Das große Aquarium mit den Goldfischen erinnerte mich an den ersten Tag hier an der Schule. Er hatte mir erklärt was es mit den Fähigkeiten auf sich hatte und seinen Kopf in das Aquarium gesteckt. Seine Begabung war die Anpassung gewesen, was ich faszinierend und doch etwas abschreckend gefunden hatte. Vor allem die Tatsache, dass so etwas überhaupt möglich war. Es roch nach alten Büchern, Schweiß und ich konnte fast spüren, wie die Staubpartikel meine Nase kitzelten. Etwas frische Luft würde dem Raum wirklich nicht schaden.
Als wir den Raum betraten, löste der Direktor schließlich seinen Blick von den Unterlagen auf seinem Schreibtisch, und musterte uns überrascht.
„Unsere drei Musketiere“, begrüßte er und schließlich lächelnd.
„Waren es nicht vier Musketiere? Ich meine, wenn man D’Artagnon mitzählt?“, fragte ich leise.
Lucien und Damien verdrehten gleichzeitig die Augen und grinsten. Jetzt sahen sie sich wieder unglaublich ähnlich, von ihren Gesichtszügen und Angewohnheiten her. Ich würde meine neue Gucci-Taschi von der letzten Saison darauf verwetten, das Damien das ganz anders sah und Lucien die Schuld für den Tod seines Bruders gab.
Erst jetzt bemerkte Roan, dass sich noch eine fünfte Person im Zimmer befand. Mein Bruder Matt.
„Und wen habt ihr da mitgebracht?“, wollte er neugierig wissen.
„Ich bin Matt, Apryls Bruder“, stellte er sich vor.
In Gedanken dichtete ich noch das „kleiner“ vor Bruder dazu. Früher hatte ich mir immer einen großen Bruder gewünscht, der einen vor den „bösen Jungs“ beschützt und immer für einen da war. Mit Matt war ich natürlich auch zufrieden gewesen, auch wenn ich am Anfang, als er noch etwas kleiner war, immer eifersüchtig auf ihn gewesen war. Meine Eltern, nicht meine biologischen, hatten ihm als Baby eben einfach mehr Aufmerksamkeit gezollt, was wohl völlig normal gewesen war.


„Apryls Bruder?“, erkundigte er sich verwundert. „Dann gehe ich mal davon aus, das du weißt was für eine Schule das ist?“
„Ja.“ „Dann bist du also auch ein Begabter?“
Matt nickte grinsend.
„Gut, dann kannst du es mir sicherlich auch beweisen, oder? Nichts für ungut, aber die Zeiten haben sich etwas geändert. In deiner Abwesenheit hat es drei weitere Tote gegeben. Wir gehen immer noch davon aus, dass es jemand innerhalb der Schule ist. Es ist ein Begabter, ein Verräter.“
„Geht es June gut?“, fragte ich sofort.
„Ja, es geht ihr gut…glaube ich. Es hat eine Freundin von ihr getroffen, Anastasia. Sie wurde kaltblütig ermordet, genau wie der Rest. June hat ihre Leiche, aufgeknüpft an ihrer Zimmerlampe, entdeckt. Selbstmord ist ausgeschlossen“, seine Stimme klang belegt und rau.
Anastasia. Wer war das gewesen? Angestrengt versuchte ich mich an ihr Gesicht zu erinnern. Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, das ich meinen ganzen anderen Mitschülern hier auf Rosewood nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Direktor Roan räusperte, atmete tief ein und strafte die Schultern.
„Gut. Offiziell wart ihr auf einem spontanen Austausch in Frankreich, für ein Projekt. Ich habe sogar drei Flugtickets gekauft, falls es jemand nachprüfen würde. Bis morgen Abend müsst ihr euren Bericht über Paris und seine Sehenswürdigkeiten bei mir abliefern. Euren Aufsatz werde ich dann bei eurem Literaturlehrer abliefern und der gibt euch dann eine Note darauf. Außerdem seid ihr alle versetzungsgefährdet. Zwar weiß ich nicht sehr viel darüber, wo ihr wart, aber Octavia ist eine Bekannte von mir. Von Isaac habe ich nur gehört. Es ist besser, wenn niemand sonst davon erfährt“, mit der Hand strich er sich nachdenklich über seinen Bart. „Nicht einmal June, Apryl.“

Aus einer Schublade holte er ein zweiseitiges Formular heraus, unterschrieb und knallte einen Stempel auf die untere Hälfte des Blatts. Er stand auf ging zu uns hinüber, und überreichte Matt das Formular.
„Du bist auf meiner Schule solange willkommen, wie du bleiben willst“, er lächelte. „Da ich davon ausgehe, dass du weder Zeugnisse noch irgendwelche anderen Urkunden besitzt, werde ich da einfach mal ein Auge zudrücken.“
Er erinnerte mich ein wenig an einen gutherzigen Großvater mit seinen ganzen Schützlingen. Zuerst starrte Matt auf das bedruckte Papier und grinste dann.
„Ich gehe davon aus, dass du bei Damien unterkommen kannst. Lucien hat ja bereits einen Mitbewohner, der sich übrigens schon Sorgen macht“, erklärte der Direktor uns noch und zwinkerte mir noch zu, bevor wir uns wieder auf den Weg nach draußen machten.
Jeder nahm sein Gepäck aus dem Auto und ich verabschiedete mich von Lucien, Damien und Matt. Morgen würden wir uns wieder sehen, beim Unterricht. Es fühlte sich seltsam an, alleine zu June und meinem Häuschen zu gehen. Jetzt, wo ich mich an die Gegenwart von den drei Jungs gewöhnt hatte, kam ich mir total allein gelassen vor.
Als unsere kleine Hütte in Sicht kam, spürte ich bereits ein wohliges Kribbeln auf der Haut. Ich hatte schon ganz vergessen wie sehr ich Rosewood vermisst hatte, und alles was dazugehörte.
Ohne zu zögern klopfte ich an und grinste schon bei dem Gedanken, gleich June wieder zusehen. Keine Minute später wurde die Türe aufgerissen und vor mir stand meine Mitbewohnerin. Erst glotzte sie mich fassungslos an, dann runzelte sie die Stirn.
Okay, das war sicherlich nicht die Begrüßung gewesen, die ich mir vorgestellt hatte. June stemmte eine Hand in die Hüfte, reckte das Kinn und blickte mir herausfordernd in die Augen. Ihre blonden Locken waren jetzt sogar noch kürzer und gingen ihr knapp bis zum Kinn. Die Augen hatte sie mit schwarzen Kajal umrahmt und auf ihrer Nase thronte eine Hipster-Nerdbrille.

„Aha, schön, dass du hier auch mal wieder aufkreuzt. Du hast es also nicht für nötig gehalten, mir zusagen das du ein paar Wochen mit deinen Lovern Damien und Lucien verbringst. Anrufen konntest du natürlich auch nicht. Ich hoffe, dass deine Zeit in Paris schön war! In Rosewood war es nämlich nicht so prickelnd, weißt du“, sie klang nicht nur wütend, sondern auch sehr enttäuscht und verletzt.
June presste die Lippen aufeinander und ihre Augen wurden glasig. Sie atmete tief ein, oder wieder aus.
„Es…Es tut mir leid, June. Wirklich, ich hab nicht gewusst, dass das passieren würde.“
Sie schnaubte nur. So wie sie vor der Tür stand, sah sie nicht aus als würde sie vorhaben mich hineinzulassen.
„Ich weiß wirklich nicht, was in deinem Puppenköpfchen so vor sich geht. Vielleicht ist es ja bei dir normal, das man seine Freunde einfach links liegen lässt und einen Ausflug ins Paradies unternimmt. Du bist so eingebildet und selbstverliebt. Es interessiert dich doch überhaupt nicht, was andere durchmachen müssen. In deinem Leben geht es nur um Spaß. Aber weißt du was? Die Erde dreht sich nicht immer nur um dich, Apryl. Das dir zwei scharfe Kerle an den Fersen hängen, gibt dir bestimmt nochmal Bestätigung. Du bist so ein kalifornisches, brünettes Miststück!“
Mir fehlten die Worte und ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Wenn sie wüsste, was ich alles durchgemacht hatte, würde sie das sicherlich nicht sagen! „Ich hoffe Paris war es wert“, zischte June.
Es kam mir so vor, als würde sie versuchen mir immer noch einen auf den Deckel zu geben.
„Paris war wunderschön. Die ganzen Lichter, die Museen, die Gebäude und die Läden! Du hast ja keine Ahnung, was du verpasst hast!“, erwiderte ich wütend und bereute es sofort.
June schüttelte den Kopf und schlug dann die Haustür vor meiner Nase zu. Ach du Scheiße! Was hatte ich jetzt schon wieder gemacht? So hatte ich mir das große Wiedersehen sicherlich nicht vorgestellt. Wo sollte ich jetzt hin? Zu Damien? Zu Lucien? Wenn ich zu einem ging, aber nicht zum anderen war einer von beiden beleidigt. Da gab es nur eine einzige Möglichkeit.


Ich schlich um das Haus herum und überprüfte ob die Fenster alle ordentlich abgeschlossen waren. Das Fenster, das im Wohnzimmer war, und recht niedrig war, stand halb offen auf. Perfekt. Kurz steckte ich den Kopf in das Zimmer, um zu sehen wo June war, und kletterte dann umständlich durch das Fenster, nachdem ich festgestellt hatte, dass sie sich hier nicht befand.
Meinen kleinen Koffer stellte ich vor meinen Füßen neben dem Sofa ab und schnaufte einmal laut aus. Geräuschvoll lies ich mich auf das Sofa fallen und zog meine Jacke aus, die ich über die Lehne hing.
„Was machst du hier, Apryl?“
Vorwurfsvoll sah June mich an, die gerade aus dem Bad kam, und die Arme vor der Brust verschränkte. Sofort stand ich auf und versuchte ein charismatisches Lächeln aufzusetzen.
„Tut mir leid was ich gesagt habe, das war mies von mir“, versuchte ich mich zu entschuldigen.
„Warst du wirklich in Paris?“, fragte sie zweifelnd.
„Ähm…Ja!“
„Wirklich? Dann nenne mir doch ein Museum.“
„Also so auf die Schnelle fällt mir keines ein.“
„Komm schon. Das eine große in dem die Mona Lisa ausgestellt wird, und viele andere bekannte Werke“, half sie mir auf die Sprünge.
„Genau das meinte ich.“
„Das mit dem orangenen Dach, oder?“
„Ich bin mir nicht mehr ganz sicher ob es orange war“, versuchte ich ihr auszuweichen, aus Angst das sie mir vielleicht versuchte eine Falle zu stellen.
„Hah! Du warst gar nicht in Paris. Das Musée du Luvre besteht aus solchen gläsernen Steinen“, meinte sie und grinste. „Okay, wo warst du wirklich?“
„Das darf ich dir leider nicht sagen, sonst bringe ich dich und andere in Gefahr“, antworte ich ihr und ließ die Schultern hängen.
Na super. Hoffentlich hatte das nicht noch Folgen. Wenigstens wusste sie jetzt, dass ich sie nicht einfach so zurückgelassen hatte ohne ihr zu sagen, wo ich war.
„Na gut, aber ich werde es sicherlich schon irgendwie aus dir heraus kitzeln“, sagte sie schließlich, überwand die Schritte zwischen uns und umarmte mich.
Hatte sie mir wirklich verziehen? So schnell? Irgendwie konnte ich es nicht ganz glauben. Schließlich wollte ich, dass sie mir vertrauen konnte. 





Nach ein paar Sekunden löste sie sich wieder von mir und schaute betretend auf die Seite und wischte sich verlegen ein paar Tränen von der Wange. Mein schlechtes Gewissen meldete sich wieder, und das nicht gerade leise.
„Tschuldige‘“, murmelte ich nochmal leise.
„Hast du Hunger? Ich mache gerade Nudeln…sie sind etwas matschig geworden, aber ich glaube man bekommt sie runter.“
„Klar, gerne“, sagte ich schnell und versuchte zu lächeln.
Zwischen mir und June war diese unangenehme Kluft. Wahrscheinlich benötigten wir nur etwas Zeit um dieses klaffende Loch wieder zu flicken. Es kam mir vor, dass wenn ich einen Schritt in die falsche Richtung machen würde, in die tiefe Schlucht zu fallen würde. Wir hielten uns weit von der Kluft entfernt, vor Angst, dass wir hinein stürzen könnten. Dabei blieben wir auf der gleichen Stelle und machten ab und zu auch noch einen Schritt nach hinten.
Verzweifelt suchte ich nach etwas, womit wir den Graben überbrücken könnten. Ich wollte unsere Freundschaft nicht einfach so aufgeben, denn eins war sicher: es würde niemals wieder so sein wie früher, wenn wir diese Kluft nicht überwinden konnten.
Am liebsten würde ich June einfach alles erzählen, sie würde es bestimmt verstehen und nicht einfach so an jeden weitererzählen. Außerdem nahm ich es ihr nicht ab, das sie mir verziehen hatte, das ich einfach so ohne Nachricht verschwunden war. Verschwunden war da wohl noch recht nett ausgedrückt. Schließlich war ich entführt worden und hatte einiges durchmachen müssen.
Als wir zusammen am Tisch saßen und schweigend die breiigen Nudeln aßen, wich sie meinen Blicken aus und starrte an die Decke. Die Nudeln waren grauenhaft. Trotzdem schluckte ich sie brav hinunter und verzog keine Miene dabei.
„Magst du noch mehr?“, fragte sie mich, als wir beide unsere Teller leer gefuttert hatten. „Nein!“, sagte ich etwas zu schnell. „Ich meine natürlich: Nein, danke“, fügte ich etwas freundlicher hinzu.
„Dann werde ich den Rest essen.“
June lächelte etwas schüchtern, und erinnerte mich damit an unsere erste Begegnung, als sie mich durch die Wohnung geschliffen und mir alles gezeigt hatte. Früher hatte sie mich immer an einen kleinen, quirligen Welpen erinnert. Jetzt ähnelte sie viel mehr einem Berner Sennenhund. Als wir noch in Seattle gewohnt und diese wirklich nette Art von Nachbarn gehabt hatten, bin ich fast jeden Tag zu ihnen in den Garten gekommen und hatte mit ihrem Hund gespielt. Sie hatten einen Berner Sennenhund gehabt, mit riesigen, braunen und traurigen Augen. Genau an diesen Hund erinnerte sie mich jetzt.
„Ich geh dann mal in die Dusche“, teilte ich ihr mit, und begab mich hinüber ins Schlafzimmer, da das Badezimmer ja gleich neben an angrenzte. Mein Bett ist abgezogen worden und mein Bücherregal über meinem Bett, war nun vollgestopft mit neuen Wälzern. Im Bad angekommen, stellte ich fest, dass June mein gesamtes Zeug einfach weggeräumt hatte. Nun gut, dafür das ich solange weg gewesen und sie immer noch sauer war, konnte ich sie eigentlich recht gut verstehen.
Gleich in der ersten Schublade, unter dem Waschbecken, fand ich meinen gesamten Plunder, den sie einfach in eine H&M Tüte gesteckt hatte. Das, was ich für die Dusche benötigte, nahm ich mir, und verschwand dann in der Duschkabine.

 

 

 


Meine nassen Haare hatte ich in einen Turban gewickelt und aus einem meiner vier Koffer, hatte ich mir meinen schicken, pinken Schlafanzug und meine rosa Plüschpantoffeln rausgesucht und angezogen. Wie ich diese Hausschuhe vermisst hatte! Warm, kuschelig und einfach nur gemütlich. Wie eine Ente watschelte, oder schlurfte ich hinüber ins Wohnzimmer. June hatte es sich bereits auf der Couch gemütlich gemacht, sich eine Chips Tüte und eine Schüssel voll Popcorn geholt.
Auffordernd klopfte sie neben sich auf das Sofa und bedeutete mir, mich neben ihr hinzusetzen. Ich machte es mir sofort neben ihr gemütlich und griff gleich einmal, oder zweimal, in die Chips Tüte.
„Und, hast du dir schon überlegt, welchen Film wir uns anschauen werde?“, fragte ich sie etwas unverständlich, da ich meinen Mund mit Chips vollgestopft hatte.
„Weiß nicht. Ich dachte vielleicht an einen guten Horror Streifen“, antworte sie mir, während sie sich über das Popcorn hermachte.
„Horror?“, hakte ich nochmal nach und war mir schon fast sicher, dass ich mich verhört hatte. „Ja, klar. Warum nicht?“
June sah seit neustem auch Horrorfilme? Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie sie sich an mich geklammert hatte, als ein paar Gliedmaßen durch Gegend geflogen waren.
„Und an was hast du da so gedacht?“
„Ich weiß nicht. Wie wär’s mit „My Bloody Valentine“, das ist mit Jensen Ackles“, sie grinste verträumt. „Ach ja, vorhin hat noch jemand angerufen, irgendein seltsamer Typ. Er hat nach dir gefragt und wollte wissen, wo du bist. Irac? Israc? Nein, ich glaube es war Isaac. Sagt dir der Name etwas?“

„Nein. Was hast du ihm erzählt?“
„Ich hab ihm gesagt, dass du gerade nicht da bist, aber sicherlich in den nächsten Tag wieder hier aufkreuzen würdest“, berichtete meine Mitbewohnerin mir. „Warum, kennst du den Typen?“

»Kapitel 13




Da heute Samstag war, und ich natürlich keine Schule hatte, konnte ich heute lange ausschlafen. Ich hatte wieder dieses Endlich-bin-ich-wieder-zuhause-und-kann-in-meinem-eigenem-Bett-schlafen Gefühl.

Als ich aufstand, und unter die Dusche ging, schlief June noch seelenruhig. Sie lag auf dem Bauch, der eine Arm hing an der Seite herunter und irgendein Buch umklammerte sie in der Hand. Das leise Schnarchen hörte ich bis ins Badezimmer, das ja an unser Schlafzimmer aneckte.

In der Küche schließlich angekommen, legte ich entschlossen die Hand auf den Telefonhörer. Jetzt würde ich Isaac anrufen und ihn fragen, was er von mir wollte. Das Problem mit der „Gefühlslosigkeit“ und der Kontrolle hatte sich erledigt und von ihm, als Vater, wollte ich sicherlich nichts hören. Ich hob den Hörer ab und klickte auf die Anrufliste von gestern. Die einzig unbekannte Nummer, die gestern angerufen hatte. Das musste Isaac gewesen sein.

Als ich auf „Anrufen“ schalten wollte, zögerte ich. Sollte ich ihn wirklich anrufen? Was wollte er von mir? Zeigte er etwa Interesse an mir, als seine Tochter? Vor allem letzteres konnte mir doch egal sein, ich hatte ja meinen echten Dad, der der mich aufgezogen hatte.

Ich atmete tief durch und legte den Hörer wieder zurück auf die Gabel. Am besten würde ich einfach nachher anrufen, nachdem ich gegessen hatte. Essen. Was für eine geeignete Ablenkung!

Da June noch schlief und ich es ihr irgendwie auch schuldig war, beschloss ich Pancakes für uns zu backen. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie es war von dem süßen Duft von Pancakes aufgeweckt zu werden. Also machte ich alles in der Küche bereit, schüttete die Zutaten zusammen und verrührte es. Natürlich hatte ich mir das Rezept nicht gemerkt, sondern hatte in einem handgeschriebenem Koch- und Backbuch von June nachgelesen. Die gesamte Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, nur mit Mehl anstatt von Blut.

Man war es staubig hier drinnen! Schnell öffnete ich die Fenster, bevor ich noch an der Mehlluft erstickte.

„Ehm…Apryl? Versucht du etwa gerade etwas zu backen?“, sie klang verdammt schläfrig, als sie in ihrem Pinguin-Schlafanzug in der Türe stand.

„Was heißt hier versuchen?“, meinte ich und grinste.

„Warum bist du so gut gelaunt?“, June sah mich vorsichtig an.

„Der Pancakes-Geruch liegt in der Luft“, meinte ich und atmete tief ein.

Der Mehl-Wind hatte sich wieder gelegt und nur noch der verlockende Duft von den Pfannkuchen lag in der Luft. Mhmm.

„Stimmt. Meine Güte…Das letzte Mal, dass ich Pancakes gegessen habe, ist schon zu lange her. Seitdem du dich in „Paris“ herumgetrieben hast, habe ich keinen einzigen mehr gegessen“, dabei setzte sie „Paris“ mit den Fingern in Gänsefüßchen.

Sie glaubte mir also immer noch nicht. Nun ja, ich hatte es ja anders gar nicht verdient. Ich wäre auch auf mich sauer gewesen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich nicht ganz freiwillig in „Paris“ gewesen war.

„Gut. Dann wollen wir doch gleich einmal testen, ob die Dinger auch so gut schmecken wie sie riechen“, sie setzte einen außergewöhnlich kritischen Blick auf und beobachtete mich genau aus den Augenwinkeln, als ich ihr einen dicken Pfannkuchen auf den Teller klatschte. Puderzucker, Sahne und Früchte hatte ich bereits an den Tisch gestellt, damit June auch ja nicht nochmal aufstehen musste.

Zweifelnd betrachtete sie meinen gelungenen Pancake. Was war nur los mit ihr? Der war doch eins A, mit Sternchen! Vor allem für meine Verhältnisse, wo ich doch eigentlich nie nur einen Finger krümmte, oder es jedenfalls versuchte. Als sie ihn schließlich probierte betrachtete sie die arme, teigige Scheibe.

„Naja…geht so. Für deine Verhältnisse sicherlich gar nicht sooo schlecht“, June zuckte mit den Schultern.

Aha. Hatte meine Mitbewohnerin jetzt in den Bitch-Mode umgeschaltet? Wieso hackte sie jetzt auf meine heißgeliebten Produktionen herum? Das hatten sie nicht verdient.

„Okay“, meinte ich und schob dann den Teller, worauf sich die restlichen Pfannkuchen befanden zu mir hinüber. „Wenn sie dir nicht schmecken, musst du sie ja auch nicht essen.“

June blinzelte kein einziges Mal und nickte einfach nur. Sie war also zu stolz, um zuzugeben,  dass meine Pancakes wirklich gut waren, oder? Vielleicht waren sie mir auch wirklich nicht gelungen? Nein, dafür schmeckten die Dinger wirklich viel zu gut.

Herzhaft biss ich hinein und ließ ein lautes „Mhmmm“ von mir hören, um ihr klar zu machen, dass es mir egal war, wenn es ihr meine Pfannkuchen nicht zusagten. Doch June verzog kein einziges Mal die Miene und staubte sich nur die Hände von dem Puderzucker über ihrem Teller ab.

Entweder sie meinte es jetzt wirklich ernst, oder sie beherrschte ein verdammt gutes Pokerface. Wie auch immer, es konnte mir ja eigentlich egal sein. Auch wenn es mich wurmte, das ihr mein Wiedergutmachungsversuch nicht gefallen hatte.

„Ich geh dann mal raus, frische Luft schnappen mit Kyle.“ „Kyle? Der Kyle, mit dem du auf dem Winterball warst?“, hakte ich noch einmal nach.

„Ja. Wir sind bereits seit zwei Wochen zusammen. Es ist wirklich schön, jemanden zu haben der nur für einen da ist und bei dem man sich gar nicht erst fragen muss „Ist er der Richtige“?“, damit wischte mir June also nochmal eins aus.

Sie meinte damit mich und meine Beziehung zu den Brüdern. Schön für sie, dass sie glücklich war. Warum war sie nur so gemein? So hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Gestern Abend, als wir uns den Horrorfilm angeschaut hatten, hatte ich gedacht, dass sie mir schon wieder verziehen hätte. Hatte sie das etwa vergessen? Am besten würde ich sie später fragen, wenn sie wieder nach Hause kam.

„Und ihr seid jetzt zusammen wie…ein richtiges Paar? Hattet ihr auch schon-?“

„Ja…also nein.“

„Du kannst ihn ja mal mitbringen, damit ich ihn auch mal kennenlerne“, schlug ich ihr vor.

„Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher, ob du ihn mögen würdest. Er ist nicht so wie Damien oder Lucien.“

„Ach komm schon. Wenn du ihn magst, werde ich ihn auch mögen und wenn du willst, mache ich uns heiße Schokolade und einen Kuchen.“ „Ehm ja. Ich kann ihn ja heute vielleicht mal mitbringen. Aber lass das mit dem Kuchen lieber, ja?“

„Okay“, meinte ich dann etwas kleinlaut.

Was hatte sie mit meinem Kuchen? Hielt sie mich etwa für so blöd und beschränkt? Die Pancakes waren bestimmt nicht so schrecklich gewesen.

„Bis dann.“

June schnappte sich einen giftgrünen, langen Mantel, der doppelt geknöpft war und verschwand dann. Was war das denn jetzt gewesen? Ich schüttelte den Kopf.

Toll, jetzt war ich wieder alleine. Irgendwie sollte ich die Zeit wohl sinnvoll nutzen, oder? Jetzt wäre sicherlich ein geeigneter Zeitpunkt, um Isaac zurückzurufen.

Wie aufs Stichwort klingelte das Telefon. Zum ersten Mal kam mir dieses Klingeln unheimlich, ja schon fast bedrohlich vor. Abgesehen von dem Läuten war es Mucks Mäuschen still in unserem kleinen Haus. Es kam mir so vor, als würde ich mindestens eine geschlagene Stunde hier auf meinem Barhocker sitzen und das Telefon anstarren, ehe ich mir ein Herz fasste und aufstand. Dabei kam ich mir vor wie eine Oma, die im Schneckentempo auf das Telefon zuging. Wie würde ich mich am Hörer melden? „Hi, hier ist Apryl Summers“ oder einen auf ganz cool machen und einfach „Hey, na wie geht’s wie steht’s, alter Falter?“

Als ich endlich abnahm, war es, als hätte mir jemand meine Stimme genommen. Genau wie es die Meerhexe Ursula mit Arielle gemacht hatte, als sie Füße anstatt eines Fischschwanzes bekommen hatte.

„Ja?“, krächzte ich schließlich.

Zuerst ein Rauschen an der anderen Seite, dann ein Räuspern. Mein Herz schlug so laut, dass ich schon befürchtete, dass Isaac an der anderen Leitung es hören konnte. Ich zwang mich tief ein und aus zu atmen.

„Apryl? Hier ist Lacey“, ihre Stimme brach einmal, dann schniefte sie laut.

Es war, als würde mir ein riesiger Stein vom Herzen fallen, auch wenn ich wusste, dass ich das Apryl-Isaac Gespräch noch nicht hinter mir hatte.

„Ja, ich bin’s. Was ist denn los? Hast du etwa geweint?“

Früher hatte ich Lacey immer dafür bewundert, wie taff sie war und hatte mir auch bei ihr eine dicke Scheibe abgeschnitten. Wenn ihr irgendjemandem gesagt hatte, dass sie hässlich, dumm oder sonst etwas war, hatte sie einfach nur gekontert und darüber gelacht. Ohne Laceys Anwesenheit war ich mir oft einfach nur vorgekommen wie ein kleiner Wurm, jemand der nicht wichtig war. Aber sie hatte mir dieses Gefühl gegeben, etwas Besonderes und auch bedeutend zu sein.

Wenn ich nicht mit ihr aufgewachsen wäre, wäre ich vermutlich nur eine unter tausenden Mädchen gewesen, die niemals ihre Klappe aufbekamen und eigentlich gar keine eigene Meinung hatten. Ich hatte Lacey schließlich jedoch einfach nur als Blonde-Blauäugige-Bitch abgestempelt, was mir im Nachhinein irgendwie auch Leid tat. Erst jetzt wurde mir erst bewusst, dass ich sie überhaupt vermisste und das sie mich doch verletzt hatte, als sie am Anfang des Schuljahres einfach aufgelegt hatte ohne sich irgendwie zu Verabschieden oder ein „Freut mich für dich, ich ruf dich dann später an“ hinzuzufügen.

„Niemand hier auf der Schule mag mich…niemand will mit mir befreundet sein und es interessiert niemanden mehr das aussehen. Alle denken, dass ich dumm und ein Freak bin“, sie schniefte noch einmal laut. Dann trompete sie lautstark in ihr Taschentuch hinein. „Versprich mir, dass du mir bis zum Ende zuhören wirst und nicht auflegst oder den Psychiater holst! Du darfst vor allem niemandem davon erzählen!“

„Okay, okay.“

„Versprich es mir! Hoch und heilig“, forderte sie mich auf.

„Na gut, ich verspreche es.“

Langsam wurde ich immer neugieriger. Was hatte sie angestellt? Hatte sie vielleicht eine Bank ausgeraubt? Die neuen Guccis der nächsten Saison geklaut? Jemanden umgebracht und sie wusste nicht, wo sie die Leiche nun vergraben sollte? Oder sie hatte auch einfach nur ihren Lieblingslippenstift verloren, oder ihre Schlüssel.

Das mit den Schlüsseln wäre dann der absolute Klassiker. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie oft sie ihre Schlüssel irgendwo liegen gelassen hatte. Einmal hat sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und er ist in den Korb des Briefträgers gefallen, der davon nichts gemerkt und seelenruhig weitergefahren war. Wenn man allein daran dachte, wie niedrig die Wahrscheinlichkeit eigentlich ist, dass genau zu dem Zeitpunkt, wo Lacey sich hinausgelehnt hatte, der Postbote vorbeigefahren war. Unfassbar. Natürlich gab es noch einige andere mehr oder weniger lustige Geschichten, wie ihr ihre Schlüssel abhandengekommen waren. Am Ende hatte sie ihn einfach unter die Fußmatte vor dem Haus gelegt. Ein paar Tage später war er natürlich auch geklaut worden und ihre Eltern mussten alle Schlösser auswechseln.

„Es hat vor einer Woche angefangen. Zuerst hatte ich Fieber, dann wurde mir schlecht und plötzlich war alles wieder in Ordnung. Als ich dann am nächsten Tag aufgewacht bin, sind meine Fingernägel länger gewesen und-„

„Bist du dir sicher, dass du dir nicht die Nägel hast machen lassen und am Abend richtig gefeiert hast?“, versicherte ich mich.

„Ja! Lass mich aussprechen. Also…meine Hände waren grün und geschuppt, wie eine Eidechse. Ich bin total ausgerastet, weil ich dachte, dass ich verrückt werden würde und dann sind die Nägel noch länger geworden und diese grünen Schuppen haben sich langsam sogar auf meinen Armen ausgebreitet. Um sicherzugehen, das mir nicht am Abend jemand etwas in den Drink gekippt hat, LSD oder so, habe ich von der Hand ein Foto gemacht. Ich war mir schon fast sicher das…“, Lacey stockte. „Das ich es mir nur eingebildet hatte und das mir wirklich nur jemand etwas untergejubelt hat. Aber als ich am nächsten Tag wieder aufgewacht und definitiv auskuriert war, habe ich mir das Bild angeschaut und…“, ihre Stimme brach. „Apryl! Ich hab mich nicht getäuscht! Es war echt und ich habe es mir nicht eingebildet!“

„Ein Fall Fringe, Grenzfälle des FBI, hm?“, versuchte ich mich an einem Witz, um die Stimmung aufzuheitern, aber ich machte alles nur noch schlimmer.

„Glaubst du mir etwa nicht? Ich kann dir das Foto schicken, wenn du willst“, wieder schniefte sie.

„Könntest du…also glaubst du das du es noch einmal machen könntest? Das mit der Echsenhand? Nur um sicherzugehen.“

„Nochmal? Warum zum Teufel sollte ich das wollen?!“, ihre Stimme schnellte eine Oktave nach oben.

„Weißt du was? Ich ruf dich gleich nochmal an, warte kurz!“

„Holst du jetzt den Psychiater, oder was?“, sie klang aufgebracht.

„Nein. Aber es gibt Leute, die mit so etwas täglich umgehen. Ich erkläre es dir später. Aber Lacey? Ich glaube dir, wirklich!“, den letzten Satz betonte ich, um ihr zu versichern, dass sie nicht verrückt werden würde.

Am besten würde ich einfach Direktor Roan fragen, der wusste bestimmt was zu tun war. Es musste schrecklich für sie sein, nicht zu wissen was da mit ihr passierte und zu denken, verrückt zu werden.

„Okay, bis gleich.“

Ich legte wieder das Telefon auf die Gabel. Oh mein Gott! Was war, wenn sie vielleicht auch eine Besondere war? Das wäre ein riesiger Zufall, falls es überhaupt einer war! Gerade, als ich zu den Kleiderhaken stürmen und mir meine Jacke holen wollte, klingelte das Telefon noch einmal. Oh Mann. Ich hatte Lacey doch gesagt, dass ich sie gleich zurückrufen würde. Warum konnte sie nicht ein paar Minuten warten? Etwas genervt lief ich wieder zurück zum Telefon und nahm ab.

„Was?“, meinte ich etwas pampig. „Hallo, Apryl. Hier ist Isaac, kannst du für mich ein paar Minuten erübrigen?“

 

»Kapitel 14


Sein Tonfall klang frostig und ich konnte deutlich Missbilligung heraushören, aus diesem einen Satz.

„Ja?“, meine Stimme zitterte und ich musste mich auf einen Hocker setzen, da meine Knie sich plötzlich ganz weich anfühlten. Seine Anwesenheit, auch wenn er sich nicht hier befand, machte mich unheimlich nervös und unsicher.

„Ich muss mit dir über Octavia reden. Wie ich hörte, weißt du nun über fast alles Bescheid“, ich hörte wie er tief ausatmete. „Aber du solltest wissen, dass sie eine entscheidende Kleinigkeit ausgelassen hat. Etwas, was sie dir und Matt gegenüber nicht erwähnt hat. Ich kenne Octavia, besser als jeder andere, und daher weiß ich auch, dass hier etwas falsch ist. Es liegt etwas in der Luft, das zum Greifen nahe ist, aber ich weiß noch nicht genau was es ist. Harry spürt es aus, ich bin nicht verrückt.“

Vielleicht waren ja einfach beide verrückt? Harry, der Begabte der mich bewacht hatte und darauf aufgepasst hat, dass ich nicht weggelaufen war, war definitiv nicht ganz gesund im Oberstübchen.

„Etwas verändert sich, Apryl. Wenn du dich anstrengst und danach suchst, wirst du es auch bemerken. Ich habe keine Ahnung was Octavia vorhat, wirklich nicht, aber etwas wird sich gewaltig verändern. Octavia kann nicht nur die Zeit verändern, sie kann auch in der Zeit reisen, sie verändern und es zu ihren Gunsten richten. Gib auf dich Acht, Apryl. Vor mir hast du nichts mehr zu befürchten. Zugegebenermaßen habe ich dich eher als…nun ja, als meinen Laborversuch gesehen. Aber wie ich sehe hast du deine Gefühle bereits zurückbekommen, weswegen du für mich nicht länger von wert bist. Sag mir nur, wie“, er klang fordernd, aber keineswegs bettelnd oder gar verzweifelt.

Sollte ich es ihm verraten? Einerseits hatte er es nicht wirklich verdient, aber andererseits hatte er mich wie den letzten Dreck behandelt und gefangen gehalten, auch wenn er das nicht so sah wie ich. Und wenn er eigentlich total nett war und es einfach an seinem Gefühlsverlust lag? Dann könnte ich ihm auch irgendwie noch eine Chance geben, sofern er diese überhaupt wollte.

„Samuel. Sein Namen ist Samuel“, meinte ich schließlich.

„Ich danke dir, Apryl.“

Dann legte er auf. Eine Zeit lang starrte ich auf den Hörer und legte ihn wieder zurück auf die Gabel. War es richtig gewesen ihm zu sagen, wer mir geholfen hatte? Hoffentlich kam Samuel jetzt nicht meinetwegen noch in Schwierigkeiten.

Isaac war mir ein Rätsel und ich wurde aus ihm einfach nicht schlau. Meinte er es eigentlich nur gut und konnte nichts an seiner unverblümten Art, da ihm seine Gefühle genommen wurden oder war er immer so? Vermutlich würde ich das demnächst bald herausfinden. Als das schrille Klingeln des Telefons die Stille durchbrach, zuckte ich erst einmal vor Schreck zusammen. Das Gespräch mit Isaac hatte mir einen kalten Schauder über den Rücken gejagt, der mir immer noch in den Gliedern saß. Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, nahm ich ab.

„Hey Apryl! Kannst du für mich einen Gefallen tun?“

„Kommt drauf an um was es geht, June“, erwiderte ich.

„Die Bücherei schließt in einer Stunde und ich muss die Bücher noch zurückgeben, die ich mir ausgeliehen habe. Bittteeeeeeeee!“, bettelte sie. „Kyle und ich haben gerade jede Menge Spaß.“

„Na gut“, stimmte ich widerwillig zu.

„Vielen Dank! Die liegen auf meinem Buch und mein Ausweis flackt da auch in der Gegend rum.“

„Ich werde ihn schon finden“, meinte ich zuversichtlich.

„Super! Dann werden wir morgen noch ein Ballkleid besorgen gehen. Bis dann, ciao.“

Ich legte den Hörer wieder auf die Gabel. Ein Ballkleid? Oh Gott! Der Ball war ja schon morgen, wie hatte ich das vergessen können! Hatte ich die Tanzschritte überhaupt noch drauf? Ich brauchte auch noch einen Tanzpartner. Da würde mir June sicherlich behilflich sein. Jetzt würde ich erst einmal ihre Bücher in die Bibliothek bringen.

Ich stand auf und wanderte in unser Schlafzimmer. Auf Junes Bett lagen mindestens zehn Bücher und ihr Ausweis befand sich auf ihrem Kissen. Schnell steckte ich diesen in die Hosentasche und stapelte die Bücher irgendwie aufeinander. Zwei weitere Bücher klemmte ich mir unter den Arm und eins unters Kinn. Die Frage war nur, wie es aus der Wohnung schaffen würde, ohne das mir eins von diesen fetten, mit Buchstaben bedruckten Büchern auf die Füße fiel. Als ich es einige Minuten später schließlich aus der Wohnung geschafft hatte, machte ich mich auf den Weg in die Bibliothek, die sich im Schulgebäude befand. Es war nicht schwer den besagten Ort zu finden, da überall Schilder herumstanden, damit auch wirklich jeder Depp den Tempel der Bücher fand. Dort angekommen knallte ich den gesamten Stapel auf die Theke, hinter der eine etwas ältere Dame saß. Als sie die Bücher zu sich hinüberzog, würdigte sich mich keines einzigen Blickes und widmete ihre volle Aufmerksamkeit den Büchern. Den Ausweis von June hatte ich ihr auch schon ausgehändigt.

„Du kannst jetzt gehen. Es sei denn du möchtest dir ein Buch ausleihen?“, nun beachtete sie mich mit einem spöttischem Blick.

Sie musterte mich so, als würde sie sich fragen, ob ich überhaupt lesen konnte und ich wusste, was ein Buch war.

„Apryl? Ich hätte nicht erwartet, dich hier anzutreffen“, sagte Evernora und stemmte die Hände in die Hüfte.

„Glaub mir, es geht mir genauso.“ Unauffällig machte ich einen Schritt nach hinten, Richtung Türe.

„Du warst in Paris? Stimmt das?“, sie sah mich kritisch an.

„Ja, es war wirklich schön.“ „Komm erst einmal her und lass dich drücken.“

Ohne sonstige Vorwarnungen machte sie einen Schritt auf mich zu und schloss mich in die Arme. Etwas verstört erwiderte ich die Umarmung. Seit wann waren wir befreundet? Hatte ich irgendetwas verpasst?

Als ihre Hand beiläufig meinen Arm streifte, musste ich augenblicklich daran denken, was Lucien mir über sie beim Ball über sie erzählt hatte. Sie konnte Leute mit einer einzigen Berührung manipulieren. Eilig entzog ich ihr meinen Arm und versuchte etwas Abstand zwischen uns zu bringen, ohne dass es unhöflich wirkte.

 

„Wir sollten mehr gemeinsam unternehmen“, sie lächelte freundlich. „Eigentlich sind wir gar nicht so verschieden, Schätzchen.“

„Vielleicht sind wir nicht so verschieden, aber haben wir auch irgendwelche Gemeinsamkeiten?“

„Einfühlsamkeit, Freundlichkeit…Das Streben nach Macht?“, schlug sie vor, wobei mir das Letzte am Ehrlichsten vorkam.

Freundlichkeit? Einfühlsamkeit? Zwar kannte ich Evernora nicht gut, aber ich konnte mir denken, dass die ersten Vorschläge nicht unbedingt passend waren. Weder für sie, noch für mich.

„Okay…“, meinte ich gedehnt. „Und was sollen wir deiner Meinung nach zusammen unternehmen?“

Evernora zuckte mit den Schultern. „Das überlegen wir uns wenn es so weit ist. Bis dann, ich muss los und noch ein paar Vorkehrungen für den Ball treffen.“

Sie zwinkerte mir grinsend zu, wobei ich diese Geste eher gruselig fand.

Als sie an mir vorbeiging, wich ich wieder einen Schritt zurück. Ich wollte kein Risiko eingehen und mich von ihr manipulieren lassen. Wenn ich diese Fähigkeit besitzen würde, würde ich sie sich Ohrfeigen lassen, oder mir vielleicht etwas anderes einfallen lassen. Auf jeden Fall würde ich die ganze Zeit herumrennen und Leute ärgern, das wäre bestimmt lustig.

„Ich hab übrigens keine Läuse, oder Flöhe“, bemerkte sie etwas spitz.

„Nimm es mir nicht übel, Evernora. Wenn es um diese Läuse, oder Flöhe, geht, dann traue ich einfach niemandem“, erwiderte ich.

Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie mich noch einmal, setzte wieder ein trügerisch freundliches Lächeln auf, warf ihre Haare mit Schwung in den Nacken und stolzierte davon. Das mit dem Wir-sind-uns-so-ähnlich-wir-müssen-Freunde-werden war dann wohl damit vergessen.

Natürlich war uns beiden bewusst gewesen, dass wir nicht über ihre Läuse sprachen, sondern über ihre Fähigkeit. Soweit ich sie einschätzen konnte, war sie eine manipulierende, fiese Prinzessin, die ihre glänzenden Haare in den Nacken warf und damit einen bühnenreifen Abgang hinlegte. Der Klassiker, oder? Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, das sich noch etwas hinter diesem Gesicht verbarg und ich hatte ein wenig Angst herauszufinden, was es war. Evernora hatte etwas an sich, das einem ein Schauer über den Rücken lief.

„Ich würde die Bibliothek nun gerne schließen, es kommt sowieso niemand mehr vorbei. Hängen wohl alle lieber an ihren elektrischen Büchern. Wie nennen sie sie gleich nochmal? E-Books?“, die ältere Dame schüttelte ungläubig den Kopf, wobei ihre ergrauten Haare durch die Luft flogen. „Und wie ihr mit euren Fähigkeiten heutzutage umgeht…Eine Schande!“

Was sollte ich tun? Sollte ich wegrennen? Ihr sagen, dass ich noch etwas Wichtiges vorhabe? Wie zum Teufel unterbrach man ein Gespräch mit der älteren Generation, ohne sehr unhöflich zu wirken?

„Du junges Ding musst noch viel lernen! Früher war es eine große Ehre, nein, ein Geschenk. Viele behandeln ihre Gabe hier so, als wäre es das Schlimmste, was ihnen je passiert wäre. Aber sag mir, würdest du lieber ohne deine Begabung leben? Ohne diese Fähigkeit? Du wärst ein völlig normaler Mensch, genau wie jeder andere auch. Nichts würde dich von deinen Mitmenschen unterscheiden und du würdest ein ganz normales Leben führen. Also sag mir, wäre es das, was du wirklich willst?“, ihre leuchtenden Augen fixierten mich.

Ganz egal was für einen Ärger ich mir bisher eingehandelt hatte, welche Leute ich kennengelernt habe und die Zeit bei Isaac und Octavia, ich bereute kein bisschen davon! Schließlich hatte ich überlebt und wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich keinerlei Interesse an einem normalen, strukturierten Leben.

Allein der Gedanke später einmal jeden Tag zur selben Zeit aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und danach das Haus sauber zu halten und mich eventuell noch um Kinder zu sorgen…nein, da nahm ich lieber meine ganzen Probleme hier in Kauf. Außerdem war diese Fähigkeit bereits ein Teil von mir geworden. Entschlossen schüttelte ich den Kopf.

„Nein, mir ist dieses Leben tausendmal lieber“, antwortete ich ihr bestimmt und erwiderte ihren festen Blick.

„Nun gut, dann tut es mir leid“, sagte sie und lächelte traurig.

„Was tut ihnen leid?“

„Mhmm…Das ich die Bibliothek nun abschließen muss, was sonst? Wenn es dir nichts ausmachen würde, könntest du deine vier Buchstaben langsam nach Hause bewegen.“

„Na dann, ciao!“, rief ich im Gehen.

Etwas nervös sah ich mich um und erwartete schon fast, dass aus irgendeiner dunklen Ecke gleich ein Monster heraus springen würde. Ich konnte noch immer nicht ganz verstehen, was ihr Leid tat? Mir war natürlich klar, dass sie damit nicht das Abschließen der Bibliothek gemeint hatte. Was war nur los mit den Menschen hier auf Rosewood? Warum verhielten sie sich plötzlich alle so komisch? Lag es vielleicht einfach nur an dem bevorstehendem Ball morgen? Auf den Platz wuselten einige Leute aufgeregt hin und her, schleppten Stühle, Lautsprecher, Beleuchtung und Deko herum. Ich fragte mich wirklich, wie man sich freiwillig für so etwas anmelden konnte. Bekam man dann irgendetwas kostenlos? Irgendwelche Privilegien? Oder taten sie es einfach weil sie sonst nichts Besseres zu tun hatten?

Wenn mich hier irgendeine Aufsichtsperson erwischte und meinte, dass ich mithelfen könnte und ich dann „Nein, danke“ sagen würde, würde ich bestimmt wieder ein paar Schleimpunkte abgezogen bekommen.

Also beeilte ich mich etwas um nach Hause zu gelangen. Dort angekommen verschloss ich erst einmal die Türe sorgfältig. Das „Tut mir leid“ von der alten Dame machte mich immer noch ganz hibbelig. Was ging hier nur vor sich?

Da June immer noch anscheinend mit Kyle unterwegs war, war es in unserem Häuschen unangenehm still. Ich konnte jeden einzelnen Schritt von mir hören, obwohl ich eigentlich nicht ging, wie ein Elefant. Der Fernseher kam mir also ganz gelegen und als ich mich auf die Couch legte, wusste ich, dass ich den Rest des Tages nichts anderes mehr tun würde, als hier herum zu gammeln. 

»Kapitel 15



„Du kannst dich zwischen dem giftgrünen, dem knallpinken oder dem mystischen, geheimnisvollen und sexy violetten Kleid entscheiden“, dabei hielt June jedes Mal das entsprechende Kleid hoch.

Seit einer Stunde hielten wir uns nun in diesem kleinen Shop auf, der vollgestopft mit Ballkleidern war. Dieser Laden hatte immer nur kurz vor dem Ball auf und verkaufte sonst Blumen und Postkarten.

Die Entscheidung zwischen den drei Kleidern fiel mir nicht gerade schwer. Natürlich gab es hier noch mehr Auswahl, aber das meiste davon war zu kurz, zu eng, zu weit, war merkwürdig geschnitten oder entsprach einfach überhaupt nicht meinem Geschmack.

„Okay, gib mir das lila Kleid, ich geh zur Kasse und du darfst den Rest wieder zurückhängen“, im Vorbeigehen warf ich ihr einen Luftkuss zu, als sie einen tiefen Seufzer von sich gab.

June hatte zwei Tage bevor ich wieder nach Rosewood gekommen war ihr Kleid gekauft. Sie hatte nicht gewusst wann und ob ich überhaupt noch rechtzeitig zum Ball kommen würde. Aber wie man ja sah, hatte ich ein nahezu perfektes Timing, zur Abwechslung.

Ich bezahlte schnell das Kleid und verschwand dann zusammen mit June wieder nach draußen, wo wir gerade noch den Bus zurück nach Rosewood erwischten. Natürlich waren wir nicht die Einzigen gewesen, die noch auf den letzten Drücker das Ballkleid gekauft hat, aber die Letzten. Deshalb fingen wir einige giftige Blicke auf, als wir durch den Mittelgang des Buses gingen und uns auf einem Sitzplatz niederließen. Wir waren gerade einmal fünf Minuten später gekommen als ein anderes Mädchen. Da hatten es wohl welche eilig. Selbst der Busfahrer warf einen genervten Blick nach hinten, ehe wir losfuhren. Langsam wurde die Sache wirklich etwas peinlich.

Als wir dann endlich fuhren, fingen um uns herum alle an zu tuscheln und sahen ab und zu natürlich ganz unauffällig zu uns herüber. Uhh, ein paar Lästerschwestern. Einmal starrte mich ein Mädchen so unverhohlen an, das ich ihr zuwinkte, sodass sich schnell wieder umgedreht hatte. June und mir war natürlich bewusst, dass es hier nicht um die Verspätung von fünf Minuten ging, sondern darum, dass ich ein paar Wochen zusammen mit Lucien und Damien „abgehauen“ war. Das Direktor Roan natürlich auch noch gesagt hatte, das wir uns in Paris, der Stadt der Liebe, aufgehalten haben um dort ein Projekt zu schreiben, zählte hier noch als zusätzlicher Faktor. 

„Heute gehst du also wieder mit Kyle zum Ball, oder?“, erkundigte ich mich bei June.

„Ja, ich habe mir ein erdbeerfarbenes Kleid gekauft, mit gelben Pailletten.“

„Also wie eine echte Erdbeere“, meinte ich grinsend.

„Mist, du hast Recht! Soll ich lieber doch ein anderes Kleid kaufen? Ach egal, jetzt ist es sowieso schon zu spät“, faselte sie und lächelte nervös. „Und du wirst dich heute entscheiden zwischen den Brüdern?“

„Mhmm…Ja“, grummelte ich.

„Und…wer ist der Glückliche?“

„Das weiß ich noch nicht, das entscheide ich dann ganz spontan.“ „Na dann. Es wird heute wohl viele Überraschungen geben“, June zwinkerte mir geheimnisvoll zu.

Welche Überraschung denn noch? Ehrlich gesagt reichte mir eine Überraschung, also die Brüder, völlig aus. Einen zusätzlichen Stressfaktor konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. Mit einem geräuschvollen Rumpeln hielt der Bus an. Als wir ausstiegen, wurde ich beinahe von einem Kleiderständer niedergemäht. Wenn es hier auf Rosewood um einen Ball ging, kannte hier niemand Gnade. Ständig rannte irgendjemand jemand anderen um und etwas fiel krachend auf den Boden.

Es ging so hektisch zu wie bei einem Gucci Räumungsverkauf, da kannte auch niemand Gnade. Von überall auf dem Platz hörte man ein „Pass doch auf“ oder ein „Beweg deine Trampel Füße woanders hin“ und am besten hatte mir ja immer noch das „Verpiss dich, sonst verwandle ich dich in eine Kröte“.

Und wieder stellte ich mir die Frage, warum man bei so einem stressigen Treiben freiwillig mithelfen konnte! Natürlich arbeiteten hier auch einige als Strafe, weil sie irgendetwas ausgefressen hatten, aber der Großteil hier machte das wirklich freiwillig. Aber was hatte man davon? Ein reines Gewissen? Das Gefühl etwas geschafft zu haben? Pff, das hatte man auch, wenn man mal ein paar tausend Dollar nach Afrika spendete, zum Brunnenbau. Dafür musste man nur einmal zur Bank laufen, einen Scheck ausfüllen und das war’s dann auch schon.

Auf jeden Fall würde ich mich nicht länger an dem Leid der anderen Vergnügen, da ich langsam Hunger bekam. Obwohl…vielleicht würde ich nachher nochmal vorbeischauen und ein paar Leute beim Arbeiten anfeuern á la „Hopp hopp hopp, macht mal ein bisschen schneller.“ Ja, so etwas machte mir wirklich Spaß.  

Da unser Haus nicht weit entfernt von dem großen Platz vor der Festhalle war, waren wir auch schon nach wenigen Minuten da. Das Kleid hatten wir die ganze Zeit zusammen ganz vorsichtig getragen und auch darauf geachtet, dass es ja nicht auf dem Boden herumschleifte. Mein Kleid würde ich sicherlich nicht zum Staubwischen benutzen. Drinnen angekommen schmiss June auch schon zwei Tiefkühlpizzen in den Ofen und wir konnten für eine kurze Zeit entspannt die Füße hochlegen und es uns auf der Couch gemütlich machen. Man war ich erledigt, seltsamerweise bemerkte ich das erst jetzt. June hingegen hatte ein seliges Lächeln auf den Lippen. Jaja, so musste also glückliche Liebe aussehen.

„Gib mir was von deiner guten Laune ab“, witzelte ich.

„Klar kann ich gerne machen. Warte kurz.“

June meinte es also tatsächlich ernst. Ihre Fähigkeit Gefühle beeinflussen zu können, vergaß ich meistens einfach. Zwar war das sicherlich eine coole Sache mit der Empathie, aber so wirklich respektiert hatte ich sie wahrscheinlich nie.

Der Gesichtsausdruck meiner Mitbewohnerin war einen Augenblick hochkonzentriert, ehe mich ein Glücksgefühl durchströmte. Das erinnerte mich an unsere erste Begegnung, da hatte sie das Gleiche getan.

„Mhmm, danke. Das tut wirklich gut“, meinte ich nun gut gelaunt.

Aber wenn man genau darüber nachdachte, war dieses Gefühl eigentlich gar nicht echt. Es war im Prinzip nur Fake. Da es sich aber real anfühlte, würde ich es nicht länger hinterfragen. Vielleicht verschwanden meine Glücksgefühle ja sonst noch. Bis die Pizzen fertig waren, lagen wir schweigend auf dem Sofa. Wir versuchten gerade beide irgendwie noch ein wenig Ruhe zu finden und uns etwas zu entspannen, ehe der große Stress heute Abend anfing. Als ein lautes Piepsen ertönte, sprang June auf, holte die Pizzen, lag sie auf einen Teller und brachte sie zum Couchtisch.

Wie die Tiere rissen wir unsere Pizza in zwei und aßen sie gierig auf. Da das Kleidergeschäft in der Früh aufmachte und wir beide noch keinen Hunger gehabt hatten, hatten wir beschlossen einfach nichts zu essen, bis wir wieder zuhause waren. Das war eine sehr schlechte Idee gewesen. Hoffentlich passte ich nachher noch in das Kleid hinein. Jetzt konnte ich das Kleid sowieso nicht mehr ändern und irgendwie umnähen lassen. Die Pizzen waren übernatürlich schnell weggefuttert worden, weshalb ich mich völlig satt zurückfallen ließ.

Erst jetzt fiel mir ein, dass ich noch Lacey hatte anrufen wollen. Ob das mit ihrer Fähigkeit wirklich real war? Irgendwie konnte ich sie mir nicht vorstellen, wie sie genau wie ich auf die Rosewood gehen könnte. Und auch wenn ich es nur ungern zugab, hatte ich ein wenig Angst, dass sie mir vielleicht einen von den Brüdern wegschnappen könnte. Lacey hatte irgendwie ihren ganz eignen Charme, der die Männer regelrecht in seinen Bann zog.

Das leise Schnarchen von June weckte mich aus meinen Tagträumereien und ich betrachtete sie schmunzelnd. Anschließend deckte ich sie zu, stand auf und legte mich in mein eigenes Bett. Denk Wecker stellte ich so, dass ich spätestens zwei Stunden vor Ballbeginn aufwachen würde. Mit meinem Wecker hatte ich mich mittlerweile sogar ganz gut angefreundet. Ich hatte ihn also nicht gegen die Wand geschmettert oder ihn auf eine andere gewalttätige Art zum Schweigen gebracht. Daran konnte man mal wieder meine große, positive Veränderung erkennen.

Schneller als ich es gewöhnt war, sank ich in einen tiefen Schlaf und träumte von Tiefkühlpizzen und grünen Ringen.

 

 

 

Als der Wecker klingelte, war ich sofort hellwach. Der Ball! Wir hatten nur noch zwei Stunden Zeit, ehe er begann! Schnell stellte ich den Wecker aus, lief ins Wohnzimmer zurück zu June und weckte sie.

„Ich springe schnell unter die Dusche, danach bist du dran!“, informierte ich sie eilig und rannte wieder zurück ins Schlafzimmer und dann ins angrenzende Badezimmer. Im Eiltempo entledigte ich mich meiner Klamotten, schmiss sie achtlos auf den Boden und ging unter die Dusche. Ein leiser Schrei entfuhr mir erschrocken, als das eiskalte Wasser sich auf meiner Haut ergoss. Damien konnte so etwas nicht passieren, der konnte schließlich einfach mithilfe seiner Fähigkeit die Temperatur ändern und Lucien hätte das Wasser mit einer Handbewegung gestoppt. Da das Wasser jedoch nach einer Minute endlich warm wurde, musste ich keine drastischeren Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel den Hahn zu zudrehen. Das hätte mich dann ein paar wertvolle Minuten gekostet. Mein Herz klopfte schneller als gewöhnlich und mein Atem beschleunigte sich, als ich heute an die große Entscheidung zwischen Damien und Lucien dachte. Entscheiden musste ich mich ja leider. Ob sie etwa auch so aufgeregt waren? Wen ich jetzt nehmen würde, wusste ich immer noch nicht. Eine Pro- und Kontraliste hatte ich leider nicht gemacht, dazu hat mir einfach die Zeit gefehlt. Naja, ehrlich gesagt hatte ich es einfach vergessen.

Wie sagte man so schön? Ich würde einfach auf mein Herz hören. Leider machte mein Herz nur „bum bum“, was nicht gerade sehr hilfreich war.

Als ich endlich fertig war mit dem Duschen, ich hatte mittlerweile auch einen etwas klareren Kopf bekommen, stieg ich aus der Dusche und wickelte mich in ein riesiges, flauschiges Handtuch ein. Für meine Haare nahm ich mir ein etwas kleineres Frottierhandtuch mit Winnie Puh Motiv. Wirklich sehr schick.

Vor der Türe wartete bereits June, die nach mir ins Zimmer flitzte und ebenfalls unter die Dusche sprang. Meinen Föhn hatte ich klugerweise schon auf meinem Nachtkästchen platziert, nahe der Steckdose. Jetzt wäre eine entspannende Musik toll gewesen. Vielleicht ein Meeresrauschen, wie man es im Wellness kannte. Ich wickelte meine Haare wieder aus dem Handtuch, legte es mir um die Schultern und fing an meine Mähne zu föhnen. Nach weiteren Minuten waren meine Haare halbtrocken und standen in alle Himmelsrichtungen ab. Na toll. Aber June würde sich sowieso noch um meine Mähne kümmern, da vertraute ich ihr vollkommen. Vor allem, wenn ich an die früheren Ergebnisse der anderen Bälle dachte.

Die Türe ging auf, June kam herausspaziert, posierte einmal schick vor mir in ihrem sexy Handtuch und setzte sich dann vor mir auf den Boden, während ich auf dem Bett hinter ihr saß. Nun waren ihre Locken dran, die ich föhnte. Bei ihr ging es jedoch deutlich schneller und am Ende standen sie seltsamerweise nicht ab. Warum immer ich? Meine Haare standen jedoch immer nur dann ab, wenn ich irgendetwas vorhatte und dringend losmusste. Der Klassiker eben.

Nachdem wir fertig waren, holten wir unsere Kleider und zogen sie schnell an. Wenn wir das als Letztes gemacht hätten, wären die Haare wieder durcheinander geraten und die Schminke verwischt. Als ich mein violettes Kleid anzog, musste ich einmal kräftig den Bauch einziehen, während June den Reisverschluss hochzog. Das Selbe machte ich auch bei ihr. Mit der Hand fuhr ich über mein Ballkleid, um es glatt zu streichen. Vorne war es hochgeschlossen und hinten hatte es einen tiefen, ovalen Rückenausschnitt. Es war ärmellos, tailliert und dass gesamte Unterteil bestand aus Tüll. Jaja, Tüll, zur Abwechslung. Das Oberteil war schön bestickt mit grünen und goldenen Mustern und hier und da auch mit Strass Steinen besetzt. Etwas ganz Schickes halt. Dazu trug ich violette Schuhe mit Absatz, so hoch, dass ich noch einigermaßen gemütlich gehen konnte.

Jedoch fand ich Junes Kleid sogar noch einen Tick schöner. Ein schönes Rot, bestickt mit Gelb und Gold. Das Unterteil ging ihr bis zu den Fußknöcheln, im Gegensatz zu meinem Kleid, dass knapp unter meinen Knien bereits endete. Das Kleid ließ June älter und erwachsener wirken und strich perfekt ihre Vorzüge heraus. Von wegen Erdbeere. Ehrlich gesagt war ich wirklich ein wenig neidisch, aber natürlich gönnte ich es ihr ja auch.

„Es sieht wirklich umwerfend aus“ meinte ich seufzend und wandte mich dann von ihr ab, als ich in meine Schuhe schlüpfte.

„Genau wie deins! Lila ist doch total deine Farbe, oder?“

„Jap, total“, erwiderte ich etwas sarkastisch.

Lila. Trugen in den Märchen nicht immer die bösen Stiefmütter lila? Für mich war das die „böse“ Farbe.

„Gut, dann setz dich mal wieder aufs Bett, ich mach jetzt deine Haare, kay?“, sie lächelte und legte den Kopf schief. Jetzt erinnerte sie mich mal wieder total an einen Golden Retriever Welpen, der spielen wollte.

Als ich mich auf das Bett niederließ, saß June bereits hinter mir. Sie hatte sich mit einer Bürste, einem Kamm und einem Lockenstab bewaffnet. Außerdem trug sie Handschuhe, damit sie sich mit dem Lockenstab nicht die Hände verbrannte.

Sie riss und zerrte mit meinen Haaren herum, sodass ich mich wunderte, dass ich überhaupt noch welche auf dem Kopf hatte. Die ganze Zeit über drückte ich leidend die Hände auf meine Haare, damit es nicht so sehr ziepte. Die Art und Weise wie June es machte war wirklich brutal. Ständig wurden irgendwo Haarklammern befestigt, geflochten und Haarspitzen gelockt.

Am Ende durfte ich mich endlich im Spiegel betrachten. Einige Haarsträhnen waren verflochten und an meinem Kopf festgesteckt, aber der Rest meiner Haare fiel glatt auf meine Schultern, nur die Haarspitzen hatte June gelockt.

„Das sieht toll aus, danke!“, meinte ich schließlich ehrlich und drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. „Und was hast du dir als Frisur vorgestellt? Soll ich dir etwas flechten?“, bot ich ihr an.

„Nein, ich werde sie einfach offen lassen, Kyle mag es so am liebsten.“

„Na dann, sind wir so gut wie fertig. Nur noch die Schminke fehlt!“

Zusammen eilten wir zurück ins Badezimmer und quetschten uns vor den großen Spiegel. Bald ging der Ball los! Ein wenig Mascara, Lidschatten und Puder genügten für uns und nachdem wir endlich komplett fertig waren, wirklich fix und fertig, holten wir unsere Jacken und verschwanden nach draußen. Davor hatte ich mir noch den Smaragdring von Octavia an den Finger geschenkt, ihr Geschenk an mich.

Und es gießte wie sonst was! Das war kein Tröpfeln, das war ja schon ein regelrechter Wasserfall.

„Vielleicht sollten wir uns doch einen Regenschirm noch mitnehmen“, schlug June vor.

Wir standen im Haustürrahmen, hier war es noch trocken.

„Ich hab eine bessere Idee!“, schnell schuf ich um uns eine Luftblase, die uns vor dem Unwetter schützen sollte. „Bleib am besten immer in meiner Nähe, wenn du nicht wie ein begossener Pudel aussehen möchtest“, riet ich ihr noch.

Als wir uns auf den Weg in Richtung Festsaal machten, sahen wir überall Leute die ihre Sakkos über den Kopf hielten um sich, oder die Begleiterin vom Regen zu schützen. Da es bereits dunkel war und diese Luftblase nicht leuchtete, bemerkte uns niemand.

„Apryl…“

„Hm?“, meinte ich etwas geistesabwesend und drehte mich zu ihr um.  „June, jetzt schwing‘ mal die Hufe, wir müssen zum Ball! Wir wollen doch nicht als Einzige zu spät kommen, oder?“

„If you want a happy ending, that depends, of course, on where you stop your story”, June atmete tief ein und wieder aus. “Das Zitat stammt von Orson Welles. Sol lich dir noch mehr erzählen?“

„Das kannst du nachher machen, aber jetzt müssen wir zum Ball!“, meinte ich etwas unruhig und fing an auf der Stelle herum zu zappeln. Ob Damien und Lucien schon da waren?

„Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht so fest in unsere Haut eingeschlossen sind, als es scheint“, sie legte den Kopf schief. „Und das war von Friedrich Hebbel.“

„Okay, langsam wirst du gruselig. Wir sollten jetzt langsam gehen. Woher hast du diese ganzen Zitate überhaupt? Hast du ein paar Tage vorm Computer gebracht und „weise“ Sprüche gegoogelt?“

„Wer unsere Träume stiehlt, gibt uns den Tod“, fuhr sie fort, ohne mich überhaupt anzuschauen. „Von einem chinesischen Philosophen.“

„Wow, was du dir alles merkst. Aber jetzt sollten wir wirklich los, in weniger als fünf Minuten spielt der erste Tanz!“

„Der Traum ist gewünschte Wirklichkeit, von Elmar Kupke.“

„June! Jetzt reicht’s! Das war ja jetzt alles schön und gut, aber der Ball fängt gleich an, zum wiederholten Male! Und wenn du deine vier Buchstaben nicht sofort mit mir zur Halle bewegst, gehe ich alleine und dann hast du nichts mehr, dass dich vom Regen schützt!“, meinte ich aufgebracht.

Doch June zeigte immer noch keine Regung. Wie in Trance starrte sie nach oben in den dunklen Himmel, als würde sie nach etwas Ausschau halten. Ich winkte mir den Händen vor ihren Augen, aber sie ignorierte mich immer noch gekonnt.

„Weißt du was das Schlimmste ist, was es auf der Welt gibt?“, fragte sie mich schließlich, während sie immer noch ihren Blick nach oben gerichtet hatte.

„Wie wär’s mit Verspätungen? Weltkrieg? Armut? Krebs? Auf was willst du überhaupt hinaus?“

Langsam begann ich wirklich an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Aber wenn wir Glück hatten, war sie einfach nur auf Drogen und hatte, bevor wir losgegangen waren, einfach etwas eingeschmissen.

„Nein, es ist die reale Welt und ohne Träume wären wir alle verloren.“

Hatte sie etwa irgendein seltsames Buch mit dem Titel „Wie fasele ich seltsame Sachen und jage dabei meinen Freunden einen Schrecken ein?“ gelesen?

„Hast du schon mal daran gedacht, dass deine Welt um dich herum vielleicht gar nicht real ist und du einfach nur träumst? Oder in dem Traum von jemand anderem zum Beispiel vorkommst?“, nun drehte sie sich zu mir um und musterte mich neugierig, so, als wären wir uns gerade erst begegnet.

„Nein, also ehrlich gesagt nicht. Ist bei dir alles okay? Also ich meinem im Sinne von „okay“ ob bei dir im Oberstübchen alles normal ist?“, versuchte ich so nett wie möglich zu fragen, während ich an meinem Kleid etwas herumzupfte.

Ohne auf meine Frage einzugehen richtete sie den Blick plötzlich wieder auf mich und fixierte mich mit durchdringenden Augen. 

„Langsam ist es nicht mehr lustig. Auf den Ball freuen wir uns doch beide schon seit Längerem. Außerdem wartet unsere Begleitung“, meinte ich und musterte meine beste Freundin besorgt.

„Verstehst du es nicht, Apryl? Du träumst schon zu lange, ich bin nur ein Produkt deiner Fantasie, ein Teil deines Unterbewusstseins.“

„Dein Name ist June, du bist meine Mitbewohnerin und wir gehen zusammen auf die Rosewood High und du hast einen Freund, Kyle. Ist der dann auch ein Produkt meiner Fantasie? Genau wie alle anderen Personen, die ich hier kennengelernt habe, auch Isaac und Octavia?“, ungläubig schnaubte ich.

Was auch immer sie da genommen hatte, ich wollte es sicherlich nicht haben. Wie kam man überhaupt auf so einen Unsinn? Das war doch dann wohl eher ein Produkt ihrer Fantasie. Hatte sie den Film Inception etwas zu ernst genommen? 

Ich bekam ein mulmiges Gefühl und meine Finge fingen an zu kribbeln. Das was sie sagte ergab überhaupt keinen Sinn, jedenfalls nicht für jemanden, der noch bei vollem Verstand war. Trotzdem konnte ich nicht anders und dachte über ihre Worte nach. Warum eigentlich nicht? Was machte mich so sicher sein darüber, dass das hier alles echt war? Ich meine, Menschen mit Superkräften, wirklich? 

Mit einem Kopfbewegung versuchte ich die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Darüber durfte ich gar nicht nachdenken, sonst würde ich noch in der Klappse enden. Vor allem jetzt, wo alles irgendwie stimmte, konnte ich doch nicht ernsthaft glauben, dass das alles erfunden war. Dieses "aber wenn doch" bekam ich nicht mehr aus dem Kopf.

 

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Schnell riss ich das spitze Ding aus meinem Arm und warf es auf den Boden. Mein Herz fing an zu rasen. Es war nicht dieses normale, schnelle und laute Herzklopfen, wenn man aufgeregt war. Man konnte es viel mehr mit einem Hamster im Laufrad vergleichen. Immer schneller pochte es und langsam wurde mir auch richtig schwindelig. Kurz torkelte ich auf June zu, um mich bei abzustützen und um nach Halt zu suchen. Doch seltsamer Weise griff ich ins Leere und fiel auf den harten, steinigen Boden. Niemand war da, der mir helfen konnte. Jetzt waren alle beim Ball. Klar, wer würde sich denn bei diesem miesen Wetter draußen freiwillig aufhalten wollen? Was würden Lucien und Damien denken, wenn ich nicht auftauchte? Was war mit Lacey, würde sie alleine klar kommen? Würde June einen geeigneten Psychiater finden? Was war mit meinen „Eltern“ und meinem Dad? Und natürlich Matt? Das alles verformte sich zu einem dunklen Strudel, der immer schneller und schneller wurde und alles mit sich riss, einschließlich mir. 

»Epilog

 

Eiskaltes Wasser. Genau das klatschte mir gerade jemand ins Gesicht. Das kühle Nass rann mein Gesicht entlang und tropfte auf mein Shirt. Gott sei Dank war es nur Wasser! Als ich die Augen öffnete, blickte ich geradewegs in das freche Grinsen von Lacey.

„Ich hätte dir natürlich niemals Wasser ins Gesicht geschüttet, wenn du auf mein Rufen und Wachschütteln reagiert hättest“, erklärte sie mir und strich sich eine blonde Haarsträhne zurück.

„Ein Handtuch wäre ganz nett“, erwiderte ich etwas genervt.

„Unsere Koffer sind hinten und ich glaube nicht, dass die hier im Flugzeug Handtücher bunkern.“

Sie trank noch einen Schluck aus ihrer Flasche und steckte sie dann wieder zurück in ihren Rucksack.

„Hier, damit kannst du dir das Gesicht trocknen“, der Typ vom Nachbarsitz hielt mir ein Frottierhandtuch mit Winnie Puh Motiv entgegen, welches ich dankend annahm.

„Kennen wir uns?“, fragte er.

„Also das ist der idiotischste Anmachspruch aller Zeiten“, meinte ich grinsend und drehte meinen Kopf zu ihm. Warum hatte ich ihn im Flugzeug noch nicht gesehen?

Er strich sich sein dunkles Haar zurück und seine smaragdgrünen Augen funkelten mich an. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie mein Ring, den ich seit kurzem öfters trug. Eines Tages hatte er einfach in einer Samtschatulle auf meinem Nachtkästchen gelegen und da fragte man natürlich nicht nach, sondern steckte sich den Ring mit dem fetten Smaragdklunker an den Finger. Doch seit ich diesen Ring besaß, fehlte mir etwas. Es war, als könnte ich mich nicht mehr an etwas erinnern, etwas, dass einmal von großer Bedeutung für mich gewesen ist. Schon fast wie ein zweites Leben, dass ich mir in einem Traum erschaffen hatte. „Ehrlich gesagt kommst du mir wirklich bekannt vor“, er zwinkerte mir zu. „Ich bin Damien.“

„Wow, ein wirklich sehr außergewöhnlicher Name“, stichelte ich sogleich. „Apryl“, stellte ich mich schließlich auch vor.

„Na, macht sich mein kleiner Bruder mal wieder an jemanden ran? Dich kann man ja auch keine zwei Sekunden alleine lassen, hm?“

Ein anderer ließ sich neben Damien nieder und grinste mich freundlich an. Das sollten Brüder sein? Damien hatte schwarze Haare und grüne Augen und sein Bruder blonde und blaue Augen.

„Seit ihr sicher das ihr verwandt seid?“, hakte ich sicherheitshalber nochmal nach.

„Ich bin Lacey“, zwängte sich nun meine beste Freundin dazwischen, während sie unauffällig ihr Top etwas herunter zog, um einen besseren Einblick auf ihren Ausschnitt zu gewähren.

„Lucien“, meinte der blonde Kerl und sah mich und Lacey an.

„Kennen wir uns?“, fragte mich daraufhin Lucien.

„Nein, eigentlich nicht. Ist das euer Standardanmachspruch?“, lachend sie ich die beiden an.

Wenn ich es mir so überlegte, kamen mir die Brüder sogar recht bekannt vor. Vielleicht kannten wir uns ja noch aus einem anderen Leben und waren jetzt wiedergeboren worden? Wie nannte man das nochmal? Eine Reinkarnation? Jetzt würde ich mich erst einmal auf die neue Schule freuen. Rosewood. Die Bilder bei Google haben auf jeden Fall schon ganz verlockend ausgesehen. 

Imprint

Text: Alle Rechte unterliegen mir, der Autorin
Images: Cover neu gestaltet von Seliiia :)
Editing: falling [Logik etc.], Yeirah [Rechtschreibung, Grammatik usw.]
Publication Date: 12-13-2012

All Rights Reserved

Dedication:
Ich widme das Buch all jenen die die Ironie des Lebens verstehen und einen Sinn für Humor haben. Jup, tut mir übrigens leid, wenn zu oft über Filme und Serien geredet wird, das ist Apryls Art mit Dingen umzugehen. Außerdem möchte ich mich bei den vielen Lesern bedanken, die schon so oft ihre Zeit für mich geopfert haben :)

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