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Titel

In Secret

Eine verborgene Welt

 

Larissa Kuczera

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog

Kapitel 1 – Eine Gestalt im Schatten

Kapitel 2 – Erste Begegnung

Kapitel 3 – Flucht ins Unbekannte

Kapitel 4 – Die Ankunft

Kapitel 5 – Der erste Schuss

Kapitel 6 – Ein Besuch in der Stadt

Kapitel 7 – Schlechte Nachrichten

Kapitel 8 – Der Schatten

Kapitel 9 – Der erste Kampf

Kapitel 10 – Berauschender Tanz

Kapitel 11 – Der vergiftete Dolch

Kapitel 12 – Licht gegen Schatten

Kapitel 13 – Ein Meer aus Lichtern

Kapitel 14 – Die nächste Katastrophe

Kapitel 15 – Zusammenkunft des Rates

Kapitel 16 – Ein Feind in den eigenen Reihen

Kapitel 17 - Silberpfeil

Kapitel 18 – Ein Angriff in der Nacht

Kapitel 19 – Ein Land bedeckt von Orks

Kapitel 20 – Ein Hoffnungsschimmer

Kapitel 21 – Sie kommen!

Kapitel 22 – Die geflügelten Schatten

Kapitel 23 – Die Dunkelheit muss weichen

Epilog

 

 

 

 

Prolog

 

Als ich an diesem Morgen meine Augen aufschlug, wusste ich, dass der Tag mich für immer verändern würde. Man nannte mich Leyla Summers und ich war 16 Jahre alt. Eigentlich war ich ein ganz gewöhnliches Mädchen, das zur Schule ging und sich mit Freunden traf.

An diesem Tag fand der Abschlussball meiner Schwester Sarah statt, zu dem ich hingehen musste. Meine ältere Schwester hatte in diesem Jahr ihren Highschool-Abschluss gemacht und schleppte mich mit auf ihre Abschlussfeier. Zum Glück hatte meine beste Freundin Samantha auch eine Schwester, die zwei Jahre älter war als sie und im selben Jahr wie Sarah ihren Highschool-Abschluss gemacht hatte. Ich hätte mich sonst zu Tode gelangweilt, wenn Sam nicht mitgekommen wäre! Was sollte ich schon auf so einer Feier, wo man nur tanzen konnte und ich hatte nicht mal einen Freund.

Da es Freitag war, hatte ich auch noch acht Stunden Schule. Danach musste ich mich wirklich beeilen, um noch rechtzeitig für die Feier fertig zu werden. Vielleicht würde Sam schon vorher vorbeikommen und mir bei meinen Haaren helfen. Sonst würde ich katastrophal aussehen! Das konnte ja ein super Tag werden.

Kapitel 1 – Eine Gestalt im Schatten

 

Als mein Wecker zum zweiten Mal klingelte, stand ich endlich auf. Ich schlief nie lange, aber ich hatte auch nie Lust aufzustehen und blieb oft noch lange in meinem Bett liegen. Meistens war ich schon wach, bevor mein Wecker klingelte, aber mein Bett war einfach zu bequem.

Meine Schwester schien noch zu schlafen, denn als ich im Flur stand, schien es in ihrem Zimmer noch ruhig zu sein. Also schlich ich mich vom Flur ins Bad und schloss hinter mir die Tür. Als ich in den Spiegel sah, betrachtete ich meine Augen, die manchmal wie Saphire funkelten. Ich betrachtete meine blasse Haut und meine dunkelbraunen Haare, die in Wellen über meine Schultern fielen. Wie fast jeden Morgen musste ich mich mal wieder beeilen. Ich putzte schnell meine Zähne, wusch mir das Gesicht und kämmte meine Haare. Ich zuckte erschrocken zusammen, als Sarah laut an die Tür klopfte. „Jaa! Ich bin gleich fertig“, rief ich und sah mich noch einmal im Spiegel an. Komisch, warum sah ich mein Spiegelbild und dachte, das bin nicht ich?

Sarah überschüttete mich mit Flüchen, als ich in den Flur kam und sie war schnell im Bad verschwunden. Ich ging danach in mein Zimmer und zog mich für die Schule um. Sarah hatte Glück, sie musste an diesem Tag nur kurz zur Schule, um ein paar Dinge für die Abschlussfeier vorzubereiten. Genervt ging ich zu meinem Schrank und riss die Türen auf. Mein Kleid für diesen Abend stach mir ins Auge, da ich sonst nichts hatte, was damit zu vergleichen war. Ich liebte es jetzt schon, ohne es auch nur einmal getragen zu haben. Für tagsüber nahm ich mir allerdings eine blaue Jeans und ein weißes Top aus dem Schrank. Es war kurz vor den Sommerferien und somit eine der heißesten Wochen hier in Holyhead.

Ich wohnte mit meiner Schwester und unserem Vater in der Nähe der Küste auf der Isle of Anglesley. Ich kannte meine Mutter nicht und wusste auch nicht, warum sie uns damals verlassen hatte. Immer wenn ich das Thema ansprach, sahen sich Sarah und Dad so komisch an, so als wollten sie mir etwas sagen, aber durften oder sollten es nicht. Dann sah mich Dad immer so traurig an und sagte: „Wir werden es dir irgendwann erklären, aber nicht jetzt. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Deine Mutter war wundervoll, aber sie musste gehen.“ Dann fragte ich immer: „Warum musste sie gehen?“ Aber darauf bekam ich nie eine Antwort. Selbst Sarah erzählte mir nichts. Wir stritten uns zwar ab und zu, aber wir hielten immer zusammen, egal was kam. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich beschützen wollte. Dad hatte es mit zwei Töchtern bestimmt nicht leicht, aber er tat alles, damit es uns gut ging.

Als ich angezogen die Treppe herunterkam, roch ich, dass Dad sich mit dem Frühstück mal wieder besonders viel Mühe gegeben hatte. Ich ging gut gelaunt in die Küche und rief: „Morgen, Dad! Das riecht aber lecker. Was gibt es denn heute?“ Er lächelte mich zufrieden an, so dass auf seinem Gesicht kleine Grübchen erschienen. Er hatte dunkelblondes Haar und blaue Augen, die manchmal eher grau wirkten, doch nicht an diesem Tag. Sie strahlten förmlich! Er war sehr schlank und man konnte ihm sein Alter bereits ansehen. Er war 49 und hatte bereits Fältchen unter den Augen. Hätte er einen Bart getragen, wären wohl schon graue Strähnen zu sehen gewesen. Dad gab mir einen Kuss auf die Wange. „Es gibt Rührei. Heute ist doch Sarahs großer Tag!“ Ich lächelte. „Das weiß ich doch, Dad!“ Ich klaute mir etwas Rührei und setzte mich an den Tisch.

Ich hatte schon fast aufgegessen, als Sarah in die Küche kam. Sie strahlte und man konnte ihr ansehen, wie sehr sie sich auf diesen Tag freute. Sarah lachte mehr, als dass sie sagte: „Morgen. Oh, ist das Rührei für mich? Danke, Dad! Du musst dir doch nicht immer so viel Mühe geben.“ Dad lächelte nur und aß weiter. Sarah drehte sich zu mir um und lächelte verschmitzt. „Zum Glück muss ich heute nicht so lange zur Schule und kann mich früher fertig machen. Da wird wohl niemand das Bad besetzen!“ Ich schaute verlegen weg. „Sorry. Ich dachte, du wärst noch nicht wach und da wollte ich mich schnell fertig machen. Ich muss ja den Bus nehmen und werde nicht gefahren!“ Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, wie spät es schon war. „Oh, ich muss in zehn Minuten schon an der Bushaltestelle sein!“ Sarah lachte nur und schüttelte den Kopf. „Dann steh doch einfach auf, wenn dein Wecker zum ersten Mal klingelt!“ Ich sah sie entschuldigend an und stand vom Tisch auf.

Ich spülte schnell meinen Teller ab und lief nochmal nach oben, um meine Tasche zu holen. Ich wollte gerade zur Tür raus, als mir noch einfiel: „Bye, Dad. Bye, Sarah. Ich komme nach der Schule direkt nach Hause und mache mich dann fertig. Ich denke, so um sieben können wir losfahren!“ Ich schlitterte zur Tür hinaus und hoffte, dass ich den Bus jetzt noch bekommen würde.

Der Tag würde schön werden, die Sonne wärmte mein Gesicht. Eine leichte Brise war zu spüren, die meine Haare um mein Gesicht spielen ließ. Die Bäume an der Straße wiegten sich im Wind und ließen ein Rauschen entstehen. Ich blieb einen Moment lang stehen und sah in den Schatten einer Eiche. Ich wusste, dass dort jemand stand, doch er und auch andere zeigten sich nie. Ich konnte seine Gestalt nur erahnen. Er war groß und schlank. Er schien mich anzusehen, wie immer, wenn ich einen von ihnen sah. Seit ich mich erinnern konnte, sah ich sie schon, aber niemand sonst schien sie zu sehen. An diesem Tag waren sie näher als sonst und ich konnte mehrere von ihnen wahrnehmen. Es war, als könnte ich sie spüren und sie schienen mich nicht allein lassen zu wollen. Ich konnte sie manchmal, wenn ich mich sehr konzentrierte, sogar unterscheiden. Einer von ihnen strahlte von innen heraus heller als die anderen. Es war, als könnte ich ihre Seelen sehen. Oft passierte es auch, wenn ich in der Schule war und die Gedanken schweifen ließ. Dann hatte ich das Gefühl, die Seelen meiner Mitschüler zu sehen. Ich versuchte dann immer, es zu unterdrücken. Ich wollte nicht meine Mitschüler ansehen und dann grübeln, warum sie so eine Dunkelheit in sich hatten … Das hatten die meisten, da sie immer nur Streit suchten oder andere schlecht machten. Bei meinen Freunden war das jedoch anders. Wahrscheinlich waren sie deshalb auch meine Freunde. Bei meiner Familie hatte ich das jedoch nie gemacht, auch wenn ich es nicht wirklich kontrollieren konnte. Ich fand, es gehörte sich nicht. Darüber hatte ich nie mit jemandem gesprochen. Es war, als könnte ich sehen, wer gut ist und wer böse, wer Macht besitzt und wie er sie einsetzt. Nur mich selbst konnte ich nicht sehen oder einschätzen, doch das störte mich nicht. Schließlich wusste ich doch, wer ich war, oder?

Ich ging in Gedanken versunken weiter. Warum waren sie an diesem Tag näher als sonst? Mussten sie mich etwa beschützen? Aber wovor? Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie mir etwas Böses wollten. Sonst würden sie doch nicht so strahlen, oder? Sie hatten mir all die Jahre nichts getan, sondern mich eher beschützt. Als ich klein war und mich einmal verlaufen hatte, hatte mir einer von ihnen den Weg nach Hause gezeigt. Da er im Schatten gestanden hatte, hatte ich sein Gesicht zwar nicht sehen können, jedoch konnte ich mich noch gut an seine Wärme erinnern, die er damals ausgestrahlt hatte.

Ich sah auf meine Uhr und stellte fest, dass ich mich sehr beeilen musste, um den Bus noch zu bekommen. Ich rannte das letzte Stück und stellte verblüfft fest, dass Sam noch nicht da war. Oder hatte ich den Bus doch verpasst? Ich sah noch einmal auf meine Uhr, aber der Bus würde erst in ein oder zwei Minuten kommen. Wo war Sam? Sonst war sie immer früher da als ich. Dann sah ich sie, wie sie auf mich zugerannt kam und mir zuwinkte. Als sie endlich bei mir ankam, war sie etwas außer Atem. „Hey, Ley. Puh, ich bin gerade noch pünktlich.“ Ich sah sie etwas verwirrt an, umarmte sie aber zur Begrüßung. „Hey, Sam. Warum bist du denn so spät?“ Sie lächelte mich an. „Ach, Lisa wollte unbedingt noch einmal wissen, wie ich ihre Frisur heute Abend mache. Deshalb bin ich fast zu spät gekommen. Müsste jetzt nicht eigentlich der Bus kommen?“ Wir schauten auf die Straße, aber der Bus schien zu spät zu kommen. Hoffentlich würde ich nicht auch noch zu spät in der Schule auftauchen.

Ich schaute zu den Bäumen hoch, als ich etwas aus dem Augenwinkel wahrnahm. Einer von ihnen schien direkt über uns zu sein. Ich konnte ihn im Schatten des Baumes gerade so sehen. Sam schaute mich irritiert an und folgte meinem Blick, doch sie schien ihn nicht zu sehen. Wir hatten schon festgestellt, dass ich bessere Augen hatte als sie, also wunderte ich mich nicht weiter. Ich sah wieder zur Straße, aber der Bus war immer noch nicht zu sehen. Sam sah mich düster an. „Du willst doch nicht schon wieder sagen, dass uns jemand beobachtet, oder? Fang jetzt bitte nicht wieder damit an. Darüber haben wir lange nicht mehr diskutiert und das soll auch so bleiben!“ Anfangs hatte ich versucht, es Sam zu erklären, aber da sie sie nicht sehen konnte, hatte es nie etwas gebracht. Wir hatten uns dann immer nur gestritten. Trotzdem war sie meine beste Freundin. Wir kannten uns schon seit elf Jahren und waren fast Nachbarn. Nur manche Dinge konnte ich nicht mit ihr teilen, so wie das hier und alles was damit zu tun hatte.

Sam war hübsch mit ihren roten, lockigen Haaren und den niedlichen Sommersprossen. Sie hatte grüne Augen, die strahlten, wenn sie lächelte. Sie war zierlich gebaut und an die 1,55 m groß. Eine ihrer besten Eigenschaften war, dass sie jemanden zuerst kennenlernte, bevor sie über ihn urteilte. Schlimm war bei ihr nur, dass sie ein Plappermaul war und fast immer Kaugummi kaute. Das machte mich immer verrückt. Die Lehrer sagten bei ihr nie etwas, weil sie meistens eine der Lieblingsschülerinnen war, aber die anderen und darunter auch ich, mussten dann immer den ganzen Schulhof sauber machen. Das war wirklich schlimm!

Endlich kam der Bus und wir stiegen ein. Sam und ich setzten uns in eine der hinteren Reihen. Der Bus war mal wieder eine alte Klapperkiste und es war heiß, obwohl mir der Fahrtwind durch die offenen Fenster ins Gesicht blies. Eine Zeit lang schwiegen wir beide, aber dann fing ich zögerlich an. „Sam, du hast recht. Uns wird bestimmt niemand beobachten. Du weißt doch, dass ich einfach nur etwas paranoid bin … Wegen heute Abend, kommst du nach der Schule zu mir? Ich wäre ohne dich hoffnungslos verloren!“ Sam lachte und war bei diesem Thema wieder Feuer und Flamme. „Na klar, ohne mich würdest du ja schrecklich aussehen. Ich muss vorher nur kurz nach Hause, meine Sachen holen. Dann können wir uns bei dir fertig machen … Lisa wird sich auch bei euch fertig machen, dann kann ich allen bei der Frisur helfen!“ Sam war einfach ein Naturtalent, was Haare betraf. Sie konnte einfach alle Frisuren machen! „Sam, das hört sich echt gut an. Ich wusste gar nicht, dass Lisa heute zu uns kommt!?“ Sam schüttelte den Kopf. „Das kannst du auch nicht wissen. Vorhin, kurz bevor ich losgegangen bin, hat Sarah angerufen und da haben wir alles geplant. Du gehst nach der Schule nach Hause und dann sind Sarah und Lisa hoffentlich schon umgezogen. Sie wollen früher los und dann mache ich den beiden die Haare, sobald ich da bin. Danach können wir uns in Ruhe fertig machen. Ich habe noch eine Überraschung für dich!“ Sam lachte über das ganze Gesicht. „Ich habe neue Frisuren ausprobiert und die richtige für dich gefunden. Ich habe auch genau die richtige Klammer dafür!“ Ich strahlte Sam an und umarmte sie stürmisch. Vielleicht würde der Abend ja doch ganz gut werden. „Wann hast du das denn alles geplant? Und wann hast du meinen Vater gefragt? Wieso wussten es alle außer mir?“ Sam schüttelte vergnügt den Kopf. „Naja, das hat sich vorhin halt so ergeben. Und du warst nicht mehr zu Hause, deshalb hast du nichts davon mitbekommen.“ Wir lachten beide und kamen in den nächsten Minuten an der Holyhead Secondary School an.

Ich folgte Sam aus dem Bus und wir gingen mit den anderen Schülern zum Eingang der Schule. Wir unterhielten uns über den bevorstehenden Abend, als wir über die mit Schülern überfüllten Flure gingen, die mit schrecklichen Neonlampen beleuchtet waren. Bei unseren Spinden angelangt, nahmen wir unsere Englischbücher heraus und kamen genau beim Klingen an unserer Klasse an.

Mrs. Winter, unsere Englischlehrerin, bat uns, Platz zu nehmen und ich setzte mich an meinen gewohnten Platz am Fenster. Oft, wenn mir der Unterricht zu langweilig wurde, was in den letzten Wochen kurz vor den Sommerferien fast immer der Fall war, schaute ich gern aus dem Fenster und betrachtete den angrenzenden Park. Schade war nur, dass nicht alle Klassenräume zum Park hin Fenster hatten. Mrs. Winter schaute uns über ihre Lesebrille hinweg an und wartete, bis die letzten Gespräche verstummt waren. Sie war klein und gedrungen, maß vielleicht an die 1,52 m, aber jeder hatte Respekt vor ihr. Sie war schon etwas älter, was man an ihren bereits ergrauten Haaren sehen konnte. Sie blickte noch einmal in die Runde, bevor sie mit dem Unterricht begann. „Guten Morgen. Kann mir jemand sagen, wo wir in der letzten Stunde stehen geblieben sind?“ Die meisten Schüler meldeten sich, darunter auch Clariss, die von Mrs. Winter drangenommen wurde. „Wir haben in der letzten Stunde die Lektüre ‚Romeo and Juliet‘ zu Ende gelesen und wollten in dieser Stunde die letzten Kapitel besprechen.“ Die Lehrerin nickte und alle holten ihre Bücher hervor.

Clariss war eine sehr engagierte Schülerin, sie meldete sich häufig und half mir bei meinen Aufgaben, wenn ich nicht weiterkam. Sie gehörte zu meinem Freundeskreis und wir waren echt gut befreundet. Sie hatte lange, glatte, blonde Haare und blaue Augen. Clariss war sehr zierlich gebaut. Viele beachteten sie nicht, weil sie dachten, sie sei eine Streberin. Aber genau deshalb hatte ich meinen Freundeskreis. Wir waren alle etwas anders und passten nicht so gut zu anderen Cliquen. Aber das kann ja auch etwas Gutes an sich haben.

Nach Englisch schlenderten wir, also Sam, Clariss und ich, den Flur entlang zu unseren Spinden. Wir holten schnell unsere Bücher für die nächste Stunde: Mathe. Als wir an der Klasse ankamen, war noch Pause. Wir stellten unsere Sachen ab und gingen dann zu Simon. Er war auch einer meiner guten Freunde. Insgesamt bestand meine Clique aus fünf Leuten: Sam, Clary, Simon, Christian und mir. Christian war an diesem Tag nicht in der Schule, daher waren wir an diesem Tag nur zu viert. Simon und ich alberten gerne herum, aber er war auch einer der schlausten, die ich kannte und gab das auch gerne zu. Oft lieferten er und Clary sich Duelle, wer recht hatte und wer nicht. Meistens hatte er recht, aber es war dennoch lustig, den beiden zuzusehen.

Der Lehrer kam zehn Minuten zu spät und wir hatten dadurch eine etwas längere Pause. Doch dann mussten wir umso mehr Aufgaben machen. Mathe mochte ich eigentlich gern, aber der Lehrer schien mich zu hassen. Warum musste man auch jetzt kurz vor den Ferien noch Unterricht machen? Nur in Englisch und Mathe machten wir das. In den anderen Fächern konnten wir uns meistens selbst beschäftigen oder uns mit den anderen unterhalten. Genau an diesem Tag musste mich Mr. Burningham an die Tafel rufen und mich der ganzen Klasse vorführen, weil ich mal wieder meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Ganz ehrlich, dieser Typ war doch krank! Ich machte meine Hausaufgaben fast immer, aber wenn ich sie einmal vergas, wollte er mich am liebsten gleich nachsitzen lassen. Zum Glück kam mir Sam zu Hilfe und konnte Mr. Burningham besänftigen. War ich froh, als ich die Doppelstunde Mathe hinter mich gebracht hatte.

Danach gingen wir zusammen in die Mensa, denn wir hatten uns die Mittagspause wirklich verdient. Die Mensa war sehr groß und mit Schülern überfüllt. Sie wurde mit Neonröhren beleuchtet, was von den weißen Wänden noch betont wurde. An diesem Tag gab es Pizza, was eines der beliebtesten Gerichte war. Daher war die Schlange vor der Essensausgabe sehr lang. Jeder von uns nahm sich ein Tablett und stellte sich an. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten wir endlich unser Essen und gingen nach draußen an unseren Stammtisch. Von dort aus hatte man einen super Blick auf den angrenzenden Park und da so schönes Wetter war, konnte man gut draußen sitzen. Als wir endlich saßen, dachte ich nur, was habe ich für einen Hunger! „Endlich, ich dachte schon wir bekommen nie etwas zu essen!“ Die anderen lachten, machten sich dann aber doch sofort über ihre Pizzen her. Es war einfach herrlich, hier draußen mit seinen Freunden zu essen und die Sonne auf seinem Gesicht zu spüren.

Nachdem wir unser Essen verschlungen hatten, redeten wir über belangloses Zeug und Simon musste wie üblich mit Clary eine Diskussion über etwas anfangen, wovon ich keine Ahnung hatte. Ich ließ meine Gedanken schweifen und sah zum Park herüber. Im Schatten der Bäume konnte ich sie wieder erkennen: Gestalten, die mit den Schatten zu verschmelzen schienen, aber vor meinen Augen von innen heraus strahlten. Manche mehr als andere, aber ganz anders als meine Freunde. Als wären sie nicht menschlich. War ich überhaupt menschlich? Was wusste ich schon. Ich war in dem Glauben aufgewachsen, ein Mensch zu sein. Aber warum hatte ich nie eine Religion gehabt? Mein Vater meinte immer, dass wir nicht christlich seien und er mich deshalb auch nicht in den Religionsunterricht in der Schule schicken würde. Ich seufzte. Warum stellte ich mir solche Fragen? Ich kannte keine Antworten auf sie.

Sam stieß mich an und riss mich aus den Gedanken. „Ley, die Pause ist zu Ende!“ Ich sah sie verwirrt an. War die Zeit so schnell vergangen? „Schon?“ Da fiel mir auf, dass die meisten Schüler schon weg waren. Sam nickte. „Ja, es hat vor fünf Minuten geklingelt. Wir müssen uns beeilen!“ Wir standen auf und rannten zu Geschichte. Dort angekommen hatten wir noch etwas Zeit, weil der Lehrer zu spät kam. Da erst bemerkte ich, dass Clary und Simon weg waren. „Wo sind denn Clary und Simon?“ Sam schüttelte den Kopf. „Sie sind schon vor einer Viertelstunde gegangen, um in der Bibliothek nachzusehen, wer recht hat. Hast du mal wieder geträumt, Ley? Du bekommst ja wirklich gar nichts mit.“ Da kamen die beiden angerannt, gerade noch rechtzeitig, da nun auch Mr. Scott kam. Clary sah etwas beleidigt aus, also hatte Simon mal wieder recht gehabt. Ich grinste und schüttelte den Kopf. Warum mussten die beiden sich auch immer messen?

Geschichte war mal wieder langweilig, wie immer. Aber wenigstens machten wir Gruppenarbeit und so konnte ich mich mit den anderen unterhalten. Clary war noch die ganze Zeit über schlecht gelaunt, was sich aber nach einiger Zeit legte, auch wenn sie ruhiger war als sonst. Am Ende von Geschichte hielt Mr. Scott wieder eine seiner langen Reden. Zum Glück klingelte es bald und Sam zerrte mich aus dem Raum, der vollgestopft mit Büchern war.

Wir verabschiedeten uns von Clary und Simon, die uns viel Spaß für diesen Abend wünschten, und gingen dann zum Bus. „Boah, Ley, ich hätte keine Minute länger beim Scott ausgehalten! Diese doofen Reden kann er sich sonst wo hinstecken! Warum quatscht der uns mit so einem Müll zu, den eh keiner braucht?“ Da hatte Sam recht. Wen interessierte schon so ein doofer Krieg? Wenn man schlau ist, fängt man halt keinen an. So einfach ist das! Ich musste grinsen, denn irgendwie freute ich mich doch auf diesen Abend. „Sam, lass uns lieber über heute Abend sprechen als über so eine Scheiße wie Geschichte!“ Sie lachte laut und zerrte mich zum Bus. Während der ganzen Fahrt hatten wir kein anderes Gesprächsthema mehr als den Abschlussball.

Kapitel 2 – Erste Begegnung

 

An der Bushaltestelle, an der Sam und ich ausstiegen, verabschiedeten wir uns voneinander und beeilten uns, um schnell nach Hause zu kommen. Schließlich mussten wir uns noch schick für den Abend machen! Ich hoffte nur, dass Sam schnell mit Sarah und Lisa fertig werden würde. Sonst wäre ich geliefert! Ich ging nach Hause und malte mir aus, wie ich beim Abschlussball aussehen würde. Sam würde schon bald zu mir kommen und mir bei meinen Haaren und bei meinem Make-up helfen. Ich schminkte mich nicht oft und war dafür nicht gerade begabt.

Ich wollte gerade unsere Einfahrt hinaufgehen, als ein Ast im Baum über mir knackte. Erschrocken sah ich hoch, konnte aber auf den ersten Blick nichts erkennen. Ich blieb stehen und konnte dann einen von ihnen über mir ausmachen. Auch wenn sein Gesicht im Schatten lag, konnte ich ihn besser sehen als sonst. Er war wirklich sehr schlank, aber muskulös, so wie ich es immer erahnen konnte. Seit wann kamen sie mir so nah? Außer einmal haben sie es nie getan. Aber er war es nicht, den ich damals getroffen hatte. Er strahlte noch heller und schien ziemlich selbstbewusst zu sein. Als ich noch ein Knacken hörte, konnte ich sehen, dass noch einer neben ihm erschien. Das war er. Ihn hatte ich damals in der Gasse getroffen und er hatte mir geholfen. Da war ich mir sicher! Er hatte dieselbe Ausstrahlung und denselben Körperbau.

Die beiden schienen sich körperlich ähnlich zu sein und hielten ihre Gesichter im Schatten. Warum kamen sie mir so nah und zeigten sich dann nicht? Was hatte das für einen Sinn? „Was wollt ihr von mir? Warum zeigt ihr euch mir nicht? Ich weiß, dass ihr mir nichts tun werdet und ich habe keine Angst vor euch.“ Die beiden schauten sich verwirrt an, aber antworteten mir nicht. Genervt seufzte ich. Konnten sie mir denn nicht mal antworten? „Ich kann euch sehen, also versucht nicht, so zu tun, als wäret ihr nicht da. Ihr beobachtet mich nun schon seit Jahren. Glaubt ihr etwa, ich hätte das nicht gemerkt?“ Natürlich kam wieder keine Antwort. Einer von ihnen machte zwar Anstalten dazu, ließ es dann aber doch lieber bleiben. „Nun gut. Dann halt nicht, aber irgendwann werde ich eine Antwort von euch verlangen!“

Ich drehte mich um und wollte gerade loslaufen, als mich einer von ihnen in den Schatten zog. Der, den ich zuerst gesehen hatte, verschwand und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Der andere, der mir damals geholfen hatte, hielt mich so fest, dass ich ihn nicht ansehen konnte. „Es ist besser, wenn Ihr Euch das alles von Eurem … Vater … erklären lasst. Wir haben uns nie gezeigt oder mit Euch gesprochen, weil es so besser für Euch war. Ihr werdet noch früh genug die Wahrheit über Euch erfahren.“ Er hatte nur geflüstert und ich hatte eine Gänsehaut. „Was meint Ihr damit, dass ich die Wahrheit über mich herausfinde?“ Doch darauf erhielt ich keine Antwort. „Ich hätte nicht einmal mit … dir … darüber sprechen dürfen. Frage Tom danach.“ Ich konnte spüren, wie er mich langsam losließ. „Warte, wann werden wir uns wiedersehen? Wann kannst du mir alles erklären?“ Er zögerte. „Wir werden uns eher wiedersehen als Euch … dir … lieb ist, Leyla.“ Dann war er verschwunden, bevor ich noch etwas einwenden konnte. Er kannte meinen Namen und er hatte persönlicher mit mir gesprochen als es wohl üblich war. Ich stand noch etwas verwirrt da und ging noch einmal alles durch, was er gesagt hatte. Ich kannte nicht mal seinen Namen. Was hatte er über Dad gesagt? Dass er mir alles erklären könnte? Ich würde ihn bald danach fragen.

Ich schloss die Tür auf und wäre fast mit Dad zusammengestoßen, der hinter der Tür gestanden hatte. Er schaute mich kurz an und sah dann in den Baum, wo ich vor ein paar Minuten noch mit ihnen gesprochen hatte. „Dad, was ist los?“ Er sah mich wütend an, was ich an seinen zusammengezogenen Augenbrauen und an seinen zusammengepressten Lippen erkennen konnte. Warum war er denn so wütend? Was hatte ich denn Schlimmes gemacht? „Leyla, was auch immer du nun zu glauben meinst, lass es mich erklären.“ Ich starrte Dad an. War es das, was er gemeint hatte? Dass Dad es mir erklären sollte? „Dad, sie haben mir nichts gesagt. Sie wollten, dass du mir alles erzählst. Ich weiß zwar nicht, wer sie sind und warum sie sich nicht zeigen, aber sie scheinen zumindest zu wissen, was sie dürfen und was nicht … Auch wenn ich es komisch finde, dass sie schon so lange da sind und du es nie für nötig gehalten hast, mit mir darüber zu reden!“ „Leyla, ich wollte dir solange es geht ein normales Leben ermöglichen. Verurteile mich deswegen bitte nicht. Deine Mutter hätte es so gewollt. Ich werde dir später alles in Ruhe erzählen, in Ordnung? Lass uns jedoch diesen Abend genießen.“ Ich nickte perplex und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Er würde die ganzen Rätsel in meinem Leben aufklären. Aber wollte ich das auch? Und was meinte er damit, mir solange es geht ein normales Leben ermöglichen? Würde sich mein Leben nun verändern, wenn ich die Wahrheit kenne?

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Sarah und Lisa lachen hörte, die die Treppe herunterkamen. Dad sah mich besorgt an und drehte sich dann zu den beiden um und versuchte, seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die beiden hatten bereits ihre Kleider für den Abschlussball an und sahen umwerfend aus. „Ihr beide seht toll aus!“ Sarah lächelte mich an. „Kommt Sam gleich? Wir müssen uns langsam beeilen und unsere Versuche sind ausnahmslos gescheitert. Lisa und ich wollen früher los und Lisas Eltern werden uns schon in einer Stunde abholen.“ Ich nickte. „Sie müsste jeden Moment da sein.“ Genau in diesem Moment klingelte es. Ich machte Sam die Tür auf und sie kam voll bepackt ins Haus. „Sorry Leute, ich habe wohl doch zu viel mitgenommen und mein Kleid ist schwerer als es aussieht. Ley, nimmst du es schon mal mit in dein Zimmer? Ich helfe eben den beiden und dann machen wir uns fertig. Zieh du dich doch schon mal um.“ Ich nickte und nahm ihr das Kleid ab. Sam und Lisa gingen nach oben, aber Sarah blieb noch kurz auf der Treppe stehen. Dad sah sie direkt an und nickte. Er sagte lautlos, sei vorsichtig, bevor er sich umdrehte und in die Küche ging. Ich stand mit offenem Mund da. Sarah wusste also alles? Das war ja super.

Ich schüttelte den Kopf und ging in mein Zimmer. Dort angekommen legte ich Sams Kleid, das wirklich schwerer war als es aussah, erst einmal auf mein Bett. Dad hatte mein Bett neu bezogen, so dass es jetzt frisch roch und in einem hellen Grün erstrahlte. Mein Zimmer war von Farben nur so übersät! Überall Grün, Blau, Rot und Lila, wie auf einer Blumenwiese. Ich liebte den Wald und auch das Meer, das ich in fünf Minuten erreichen konnte. Manchmal ging ich nachmittags in den Wald und blieb dort bis die Sonne unterging oder unternahm stundenlange Wanderungen am Meer. Dad wollte nicht, dass ich ans Meer ging, deshalb ging ich nur selten dorthin. Im Wald kletterte ich auf die Bäume, so hoch wie es nur ging und konnte in der Ferne unser Haus ausmachen. Was mich wunderte war, dass mein Zimmer genau auf den Wald ausgerichtet war und dass ich sogar hineinsehen konnte.

Nachdem ich eine Weile meinen Gedanken nachgehangen war, ging ich zu meinem Schrank, um mein wundervolles, blaues Kleid herauszuholen. Ich liebte es einfach! Als ich es endlich angezogen hatte, bewunderte ich den weichen, aber dennoch festen Stoff, der sich perfekt an meine Figur anpasste. Im Spiegel konnte ich sehen, wie das Kleid eng an meiner Hüfte anlag und danach in kleinen Wellen bis kurz über meine Knie ging. Es wurde nur durch kleine Spaghettiträger gehalten und die Farbe passte sehr gut zu meinen Augen. Ich staunte, wie schön es war und wie schön es mich machte! Dad hatte mir das Kleid eine Woche zuvor gegeben, weil es meiner Mum gehört hatte. Warum hatte eigentlich ich es bekommen und nicht Sarah? Naja, sie hatte eine ganz andere Figur als ich, wahrscheinlich deshalb.

Ich konnte auf dem Flur das Lachen der anderen hören und sah auf die Uhr. Was? Die Zeit verging ja wie im Flug! Sarah und Lisa wurden abgeholt. Ich kam mit einem Lächeln die Treppe herunter und sah mir die beiden genauer an, die stolz strahlten. Sam hatte die beiden wirklich hübsch gemacht. Sarah hatte, mit ihren blonden Haaren, eine nette Hochsteckfrisur und lockere, wellige Strähnen umrahmten ihr Gesicht. Es passte gut zu ihrem blassblauen Kleid, das sie trug, was ihren hellen Teint unterstrich. Sie sah wirklich schön aus. Was mich wunderte war, dass wir beide uns überhaupt nicht ähnlich sahen. Sie hatte ein rundes, liebliches Gesicht, ich dagegen ein markantes und schmales. Ich hatte braune Haare und sie blonde. Waren wir überhaupt Schwestern? Sams Schwester Lisa sah auch sehr hübsch aus, kam aber nicht an Sarah heran. Sie hatte ein rotes Kleid an, fast in der Farbe ihrer Haare, was sie wie in Flammen gehüllt erscheinen ließ. Sam sah ihr sehr ähnlich, die gleichen grünen Augen, rote Locken und viele Sommersprossen.

Mein Dad machte die Tür auf und Sams Eltern kamen herein. Wir wünschten den beiden viel Spaß und Sarah, Lisa und ihre Eltern verließen das Haus. Ich hörte, wie der Motor ansprang und sie losfuhren. Dad sah ihnen hinterher und räusperte sich dann. „Sam, willst du dich nicht auch schon mal umziehen und dann deine Haare machen? Danach kannst du Leyla ja helfen.“ Dad sah mich mit einem bedeutenden Blick an. Sam schien verwirrt zu sein, zuckte dann jedoch nur mit den Schultern. „Ja, klar! Wenn ich erst Leys Frisur machen müsste, würde ich ja selbst nicht fertig werden.“ Sie zwinkerte mir zu und ich hörte, wie sie in meinem Zimmer verschwand.

Dad ging in die Küche und ich folgte ihm. Er strich sich besorgt ums Kinn und schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. „Ley, es gibt einige Dinge … die wir besprechen müssen. Ich werde dir morgen alles in Ruhe erklären, aber jetzt ist nicht die Zeit dazu. Es gibt vieles, was du verstehen musst und ich hoffe, du wirst mich und Sarah nicht hassen, wenn du die Wahrheit erfährst.“ Ich sah ihn ungläubig an. Was sollte das denn jetzt? Erst wollte er mit mir reden, aber dann nur, um mir zu sagen, dass wir am nächsten Tag alles besprechen würden. Na super. „Ich möchte, dass du diesen Abend noch genießt, denn morgen wird sich einiges für dich verändern und ich glaube, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Wenn sie richtig liegen, bleiben uns vielleicht noch wenige Tage.“ „Sie? Wer sind sie? Warum sind sie mein Leben lang bei mir und verfolgen mich? Was soll das heißen, wir haben nur noch wenige Tage? Werden wir sterben, oder was?“ Dad sah zu Boden und seufzte. „Nein, das heißt es nicht und ich werde es dir morgen in Ruhe erklären, ok? Du musst dich noch etwas gedulden. Ich kann dir zumindest sagen, dass sie auf dich aufpassen, genauso wie ich. Sie beschützen dich und das haben sie schon immer getan. Glaube mir, sie sind gut … Was du auch wissen müsstest, da du dich heute mit einem von ihnen unterhalten hast.“ Das letzte hörte sich wie ein Vorwurf an. „Ja, ich wollte endlich mal eine Antwort erhalten. Ist das so schlimm? Sie wollten nicht mit mir reden, aber anscheinend hatte einer von ihnen ein Einsehen. Sie wollten aber, dass du mir alles erklärst.“ Ich wollte mich eigentlich nicht rechtfertigen. Das musste ich doch auch nicht, oder? Dad seufzte. „Ich werde dir auch alles erklären. Sie hatten Anweisung, sich zurückzuhalten und nicht mit dir zu sprechen, was sie nicht immer einhalten … Was ich ihm nicht verübeln kann.“ „Du kanntest ihn? Den, mit dem ich heute und auch früher mal gesprochen habe?“ Dad nickte und rieb sich die Augen. „Ja, ich kenne ihn sogar sehr gut. Ich mag ihn aber nicht besonders … Du hast ihn damals getroffen, als du dich verlaufen hast, richtig? Du hattest mir davon erzählt.“ Ich sah ihn perplex an. Musste das alles einen Sinn ergeben? Ich schüttelte verwirrt den Kopf und drehte mich um, als ich hörte, dass Sam mich rief. „Ley, komm hoch! Ich bin fertig und wir haben nur noch eine halbe Stunde, um deine Haare zu bändigen!“ „Ich komme schon!“, rief ich zurück und umarmte Dad noch kurz, bevor ich nach oben ging. Am nächsten Tag würde ich endlich Antworten bekommen.

Als ich in mein Zimmer kam, wühlte Sam in ihrer riesigen Tasche. Ich schloss die Tür und Sam sah zu mir herüber. Dann richtete sie sich auf und bekam riesige Augen. „Wow, dein Kleid ist echt wunderschön! Das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen. Da brauchst du ja gar kein Make-up mehr! Pass auf, dass du den anderen nicht die Show stiehlst!“ Wir lachten und ich setzte mich auf den Stuhl vor ihr. Im Spiegel konnte ich sehen, dass Sam ihre Haare zu einem lockeren Dutt zusammengesteckt hatte und ihr Kleid genauso grün war wie ihre Augen. Ihr Kleid ging ihr bis zu den Knien und hatte etwas dickere Träger, die zu einem V-Ausschnitt zusammenliefen. Ihre Augen waren mit grünem Lidschatten und Mascara betont, was sie strahlend aussehen ließ. „Du siehst wirklich toll aus, Sam.“ Sie lächelte stolz und drehte sich im Kreis, damit ich sie bewundern konnte. Danach holte sie einen Lockenstab und bearbeitete damit meine Haare, während sie vor sich hinsummte. Nachdem sie fertig war, fielen die Locken sanft um mein Gesicht. Sam kramte in ihrer Tasche und holte ein kleines Päckchen heraus, das sie mir grinsend hinhielt. Ich öffnete es gespannt und zum Vorschein kam eine Spange mit silbernen Blumen, in denen dunkelblaue Steine funkelten. „Sam, die ist wunderschön! Danke!“ Ich umarmte sie ganz fest und gab ihr die Spange, damit sie sie in meinem Haar befestigen konnte. Sam flocht die vordersten Strähnen nach hinten und steckte sie mit der Spange fest. Als nächstes wandte sie sich meinem Make-up zu. Nach einer halben Ewigkeit war ich endlich fertig und als ich in den Spiegel sah, erkannte ich mich kaum wieder. Die Strähnen, die nach hinten geflochten waren, betonten die sanften Locken, die leicht über meine Schultern fielen. Beim Make-up war Sam sehr natürlich geblieben, sie hatte meine Lippen nur mit etwas Glanz versehen und die Augen mit Mascara und blassblauem Lidschatten betont. Ich lächelte und umarmte Sam als Dankeschön.

Dad rief von unten: „Leyla, Sam, seid ihr fertig? Wir müssen fahren.“ Wir lachten beide, zogen uns noch unsere Schuhe an und gingen dann nach unten. Dad wartete unten an der Treppe auf uns und betrachtete mich glücklich, als ich herunterkam. „Du siehst zauberhaft aus, genau wie deine Mutter.“ Er hatte Tränen in den Augen und drückte mich fest. Ich lächelte schüchtern und errötete. Sam sagte: „Wir sollten langsam los.“ Doch Dad machte keine Anstalten, zur Tür zu gehen. Stattdessen holte er eine kleine Schachtel heraus, die er öffnete und mir hinhielt. Noch mehr Geschenke? Es war eine schlichte, silberne Kette, an der ein blauer Stein, ein Saphir, hing. „Dad, die war doch bestimmt voll teuer!“ Entsetzt sah ich ihn an. Dad schüttelte den Kopf. „Nein, sie gehörte deiner Mutter und sie würde wollen, dass du sie trägst.“ Ich nickte und drehte mich um, damit er sie mir umlegen konnte. Sie lag kühl auf meiner Haut, gab mir aber das Gefühl, dass sie dort hingehörte. Ich schloss Dad in die Arme und bedankte mich bei ihm. Danach machten wir uns auf den Weg zum Abschlussball.

Dort angekommen, konnten wir die Musik schon bis auf den Parkplatz hören. Einige Eltern und Schüler standen vereinzelt in Abendkleidern und Smokings vor der Turnhalle der Holyhead Secondary School. Andere hielten, wie auch wir, auf den Eingang zu. Als wir die Turnhalle betraten, waren bereits viele Paare auf der Tanzfläche. Vereinzelt standen Leute am Buffet oder in kleinen Gruppen am Rand. Das Komitee hatte sich selbst übertroffen. Die Wände waren mit Blumen und Lichtern geschmückt, Luftballons säumten die Decke in den verschiedensten Farben und eine Nebelmaschine ließ alles magisch wirken.

Sam und ich gingen zum Buffet, während Dad Sarah suchen wollte. Ich schaute mir das Buffet an, auf dem sich auf riesigen Tellern Sandwiches und kleine Häppchen stapelten, auch wenn es schon gut geräubert worden war. Zum Zeitvertreib nahm ich mir eines der Sandwiches, das sogar ziemlich gut schmeckte. Sam seufzte und nahm sich auch eins. „Hm, ist echt doof, ohne einen Freund auf den Abschlussball zu gehen. Stimmt’s, Ley? Wir sind ja nur zum Essen hier.“ Ich lachte. „Ja, aber vielleicht finden wir ja jemanden, der mit uns tanzt. Sonst tanzen wir halt so.“ Sam schaute nachdenklich und biss teilnahmslos in ihr Sandwich. „Ok, dann tanzen wir so. So schnell finden wir keinen. Oder warte, kennst du den Typen da hinten? Der im Schatten steht? Also ich kenne ihn nicht. Er scheint ganz gut auszusehen. Findest du nicht?“ Sam deutete auf einen Typen, der im Schatten hinter mir stand. Ich hatte ihn erst nicht wahrgenommen, doch jetzt, wo ich ihn sah, wusste ich, dass er einer von ihnen war. Was machte er hier? Und hatte er normale Klamotten an? Ich stutzte und sah, wie sich seine Haltung änderte, als er merkte, dass ich ihn ansah. „Ja, ich glaube, ich habe ihn heute schon einmal gesehen …“ Das hatte ich wirklich. Er war an diesem Mittag ebenfalls dabei gewesen, als ich auf unserer Einfahrt mit einem von ihnen gesprochen hatte. Ich konnte das Licht, das er ausstrahlte, wiedererkennen. Sam sah mich ungläubig an. „Wirklich? Du hast mir nichts von ihm erzählt!“ Ich sah sie immer noch erstaunt an. „Ich dachte auch nicht, dass ich ihn so bald wiedersehe! Aber egal. Lass uns tanzen gehen.“ Ich zog Sam, die perplex war, mit auf die Tanzfläche und drehte sie von ihm weg. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie lieber von ihm fernhalten sollte. Ich selbst wusste auch nicht recht, wie ich mit der Situation umgehen sollte, aber das Tanzen machte nach einer Weile so viel Spaß, dass ich ihn erst einmal vergaß.

Schon nach einer halben Stunde waren wir so erschöpft, dass wir etwas trinken mussten. Wir holten uns eine Cola am Buffet und stellten uns an den Rand der Tanzfläche. Man kam ganz schön ins Schwitzen, da sich die Turnhalle immer mehr aufheizte und Tanzen doch anstrengender war als ich dachte. Wir unterhielten uns über belangloses Zeug, wie unser Abschlussball werden würde, welche Kleider wir tragen würden und wir tratschten über andere, die wir kannten. Wir lachten über etwas, das Sam gesagt hatte, als Sarah mit ihrem Freund Steve auftauchte. „Ley, da seid ihr ja! Ich habe euch schon gesucht. Weißt du, wo Dad ist?“ Ich schüttelte den Kopf und begrüßte Steve. „Nein, Dad ist vor über einer halben Stunde gegangen, um dich zu suchen.“ Sarah runzelte die Stirn. „Ich habe ihn nicht gesehen. Naja, wenn du ihn siehst, sag ihm bitte, dass ich ihn sprechen muss.“ „Ja klar, mache ich. Geht ruhig tanzen!“ Sie lächelte mir zu und ging dann mit Steve auf die Tanzfläche. Doch sie sah besorgt aus und schaute nervös zu dem Typen, den ich vorhin gesehen hatte. Einer von ihnen. Den hatte ich ja total vergessen. Sarah wusste ja alles. Konnte sie auch von ihm wissen? Natürlich! Aber warum war sie so besorgt?

Ich war so in Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht mitbekommen hatte, was Sam gesagt hatte. „Ley? Noch da?“ „Oh, ja. Sorry. Was hast du gesagt?“ Sam grinste mich an. „Siehst du den Typen neben Mira? Der ist doch voll süß. Soll ich ihn fragen, ob er mit mir tanzen will? Ich mein, der ist doch nur ein Jahr älter als ich!“ Ich grinste sie an. „Na los! Geh und frag ihn! Sonst mache ich das nämlich!“ Auch wenn ich gar keine Lust dazu hatte. Ich sollte Dad suchen gehen. Sam umarmte mich schnell, zupfte ihr Kleid zurecht und ging gezielt auf den Jungen zu. Sie unterhielten sich eine Weile und als Sam zu mir herübersah, zeigte ich auf die Tanzfläche, was sie verstand und sie zog ihn dorthin und sie tanzten glücklich. Ich lächelte und seufzte, nachdem ich ihnen eine Weile zugesehen hatte.

Dann machte ich mich auf die Suche nach Dad, aber er war nicht am Buffet und auch um die Tanzfläche herum konnte ich ihn nicht finden. Naja, ich hatte mein bestes gegeben. Er war ja wohl kaum tanzen gegangen. Ich sah anschließend noch auf den Toiletten nach, aber auch dort war er nicht. Wenn ich schon da war, konnte ich mich auch gleich frisch machen. Ich spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht, das von der Wärme in der Turnhalle gerötet war.

Als ich aus der Toilette kam, wäre ich fast mit ihm, einer von ihnen, zusammengestoßen, wäre er nicht schnell zurückgesprungen. „Oh, sorry.“ Er nickte nur und drehte sein Gesicht weg, damit es im Schatten lag. Also ehrlich, als wenn ich es nicht schon gesehen hätte. „Äh, sorry nochmal … Du warst heute Mittag ebenfalls da, oder nicht? Ich erkenne dich am … äh … egal. Aber du warst da und bist gegangen, bevor ich mit ihm gesprochen habe, richtig? Oder wirst du mir nicht antworten, weil ihr das nicht sollt?“ Erst da merkte ich, dass ich gleich alles gefragt hatte, was ich hätte fragen können. Er war unschlüssig und setzte mehrmals an, etwas zu sagen. „Ihr … du … Eigentlich kennen wir uns nicht und es ist nicht üblich sich zu duzen. Und ja, ich war heute dabei und es wundert mich, dass du uns auseinanderhalten kannst, was wohl mit einer deiner Gaben zusammenhängen wird, worüber ich aber nicht reden darf … Ich dürfte eigentlich nicht mit dir reden, wie du schon richtig festgestellt hast, was jetzt aber wohl überflüssig ist.“ Er drehte sich zu mir um und ich konnte sein Gesicht sehen. Mir stockte der Atem. Er hatte blaue Augen, eine helle Haut und ein markantes, aber schönes Gesicht. Unter seinem blonden Haar konnte ich seine versteckten, spitzen Ohren erkennen. Er hatte starke Muskeln, die sich an seiner Kleidung abbildeten. „Aha … Du darfst nicht mit mir reden, aber du machst es jetzt doch. Wirklich logisch!“ Er lachte und was für einen schönen Klang sein Lachen doch hatte. Hilfe, was dachte ich da eigentlich? „Ja, es ist nicht besonders logisch, aber den Umständen entsprechend fand ich, dass es die bessere Lösung sei. Wir werden uns von nun an wohl häufiger sehen.“ Was sollte das denn heißen? Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn abschätzend an. „Wir werden uns von nun an häufiger sehen? Aha. Nachdem mein Vater mir alles erklärt hat, nehme ich an?“ Er nickte verwirrt, schien sich aber schnell wieder gefangen zu haben. „Ja, so wird es wohl sein … Und bitte sprich mich vor den anderen nicht so direkt und persönlich an. Das könnte missverstanden werden und meinem Stand nach wäre es nicht gut für dich.“ Ich hob eine Augenbraue und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. „Gut. Dann sehen wir uns öfter. Aber warum sollte es für mich nicht gut sein, dich so persönlich anzusprechen? Was für einen Stand hast du denn?“ Er schmunzelte, was kleine Grübchen auf sein Gesicht zauberte. „Das wirst du schon noch früh genug herausfinden … Willst du vielleicht tanzen? Wenn wir schon auf diesem Ball sein müssen, dann lass uns wenigstens etwas Spaß haben.“ Ich seufzte und nickte nach einer Weile.

Er ging voraus und führte mich zur Tanzfläche. Er tanzte wirklich gut. „Du bist gut“, stellte ich fest. Er schmunzelte nur und wirbelte mich herum. Dann zog er mich zu sich heran. „Du bist auch nicht schlecht. Aber ich bin besser.“ Ich machte mich von ihm los und ging wütend zum Buffet zurück. Was bildete er sich eigentlich ein? Ich war eine gute Tänzerin! Am Buffet hatte er mich eingeholt und machte ein verschlossenes Gesicht. „So war das nicht gemeint. Bitte verzeih mir, ich wollte dich wirklich nicht kränken.“ Ich drehte mich ihm zu und seufzte tief. „Wie du meinst. Aber glaub ja nicht, dass du besser bist als ich.“ Er wollte erst etwas sagen, verkniff es sich dann aber doch lieber. Ich schaute ihn mir noch einmal genau an und sah mich um, doch niemand schien ihn sonderbar zu finden. Er bemerkte meinen Blick und lehnte sich zu mir herüber. „Sie können mich nicht so sehen, wie ich bin. Du schon. Deshalb finden sie mich nicht sonderbar, falls du dir diese Frage gestellt hast.“ Ich nickte, als wenn er meine Gedanken gelesen hätte. „Ja, das habe ich mich gefragt. Wie heißt du eigentlich?“ Er sah mich nachdenklich an. „Nenn mich einfach Seth, wenn niemand dabei ist. Sonst weißt du ja, dass du mich nicht direkt ansprechen darfst.“ Ich durfte ihn nicht direkt ansprechen? Das wurde ja immer besser. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich bin Leyla, was du ja bestimmt weißt. Schließlich beobachtet ihr mich schon seit ich mich erinnern kann. Wie kommt es, dass du jetzt so nah zu mir darfst? Heute wart ihr generell viel näher als sonst. Hat das einen bestimmten Grund?“ Seth sah sich um und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. „Ja, es hat einen Grund, den ich dir aber wirklich nicht nennen darf. Tut mir leid. Tom wird dir alles erklären …“ Er sah verblüfft aus und blickte hinter mich. Also drehte ich mich um und sah Dad direkt ins Gesicht.

„Dad? Wo warst du denn? Sarah und ich haben dich gesucht.“ Aber er sah mich nicht an, sondern Seth. „Was macht Ihr hier? Ihr wisst, dass ich erst mit ihr sprechen möchte!“ Seth nickte. „Ich weiß und ich habe ihr nichts erzählt, so dass Ihr es machen könnt. Hier konnten wir sie besser beschützen, wenn jemand direkt bei ihr ist.“ Wie bitte? Er war also nur da, um mich zu beschützen und hatte auch nur deshalb mit mir getanzt? Na super. Was lernte ich daraus? Nicht zu schnell Hoffnungen machen, Ley! Ich seufzte und kreuzte genervt meine Arme vor der Brust. „Dad, er hat mir wirklich nichts gesagt, also beruhig dich.“ Dad sah mich noch einmal fragend an, nickte dann aber. „Gut. Dann geht jetzt zu Elandiar, er möchte mit Euch sprechen und es wird wahrscheinlich noch heute Nacht geschehen.“ Wovon sprach er? Und wer war Elandiar? Seth nickte mir zu und verschwand dann in Richtung Ausgang.

Ich wandte mich Dad zu und hob fragend eine Augenbraue. Er seufzte und ließ die Schultern hängen. „Ley, wir beide fahren jetzt sofort nach Hause, dann werde ich dir alles erklären. Sarah wird noch bleiben und dann von Steve nach Hause gebracht. Sam fährt mit ihren Eltern, also komm.“ Er schaute sich nicht einmal um, ob ich mitkam, was ich natürlich tat, auch wenn ich ihm etwas verblüfft folgte. Wann hatte er das denn alles geplant und wo war er gewesen? Fragen über Fragen. Wir gingen über den Parkplatz und ich musste mich beeilen, um mit Dad Schritt zu halten.

Als wir schon fast an unserem Auto waren, trat eine Gestalt aus dem Schatten und stellte sich vor Dad. Wer war das? Und dann erkannte ich ihn. Er war einer von ihnen und der, der mir damals geholfen und heute nach der Schule auf unserer Einfahrt mit mir geredet hatte. Er war sehr groß und schlank, aber dennoch ziemlich muskulös. Er hatte glatte, blonde Haare, die ihm über die Schultern fielen. Ich stellte mich neben Dad und verschränkte meine Arme vor der Brust. Der andere sah mich kurz direkt an und wandte sich dann Dad zu. „Ihr wisst, dass es zu gefährlich ist. Wir können nicht für ihren Schutz sorgen, wenn Ihr sie im Auto nach Hause fahrt.“ Dad sah ihn mit versteinerter Miene an, also schien er ihn nicht zu mögen. „Aber ich werde es dennoch tun, Elandiar!“ Ah, das war also dieser Elan-was-weiß-ich. Schlecht sah er ja nicht aus, mit seinem markanten, schmalen Gesicht, aber sein Alter konnte ich schlecht schätzen. Er seufzte und blickte mich an. Danach wandte er sich wieder Dad zu. „Wir wollen sie nur in Sicherheit bringen. Ihr könnt Leyla später alles erklären, aber ihre Sicherheit ist nun am wichtigsten.“ Dad ballte die Hände zu Fäusten, weshalb ich ihn ungläubig anstarrte. Das machte er nur sehr selten. „Das weiß ich und ich würde mein Leben für sie geben. Aber ich traue Euch auch zu, einfach zu gehen, ohne dass ich die Möglichkeit dazu hatte, vorher mit ihr zu reden.“ Der andere nickte und blickte zu Boden. Er schien darüber zu grübeln und schloss kurz seine Augen. Als er sie wieder öffnete, blickte er Dad direkt an. „Wenn Ihr unbedingt fahren wollt, dann wird Euch zumindest jemand begleiten und mit Euch fahren.“ Dad schien nicht sehr erfreut zu sein und nickte zögerlich.

Auf einmal tauchte eine Gestalt aus dem Schatten auf und ich erkannte ihn, noch bevor ich ihn sah. „Ich werde sie begleiten.“ Seth kam auf uns zu und stellte sich rechts neben Elan-was-weiß-ich. Mein Vater blickte ihn länger an und bekam große Augen. Dann schien er sich vor Seth zu verneigen, indem er seinen Kopf aus Respekt neigte. Ich sah Dad ungläubig an und wollte Seth erst normal begrüßen, doch er schüttelte kaum merklich den Kopf, weshalb ich ihm etwas verwirrt zunickte. Ich hoffte, dass ein Nicken seinem Stand gerecht werden würde. Nach seiner Reaktion zu urteilen jedoch nicht wirklich. Seth schmunzelte nur etwas, aber als sich eine Wolke vor den Mond schob und es dunkler wurde, erstarrten alle und nickten sich kurz zu.

Dann verschwand Elan-was-weiß-ich und wir stiegen in unser Auto ein, wobei Seth sich nach hinten setzte und ich etwas Metallenes aufblitzen sah. Ich schnappte kurz nach Luft, als ich sah, dass er ein Schwert in der Hand hielt und ein Bogen um seine Schulter hing. Er hatte sich umgezogen und hatte genauso merkwürdige Sachen an wie Elan-was-weiß-ich, auch wenn es mir jetzt erst auffiel. Dad startete den Motor und fuhr vom Parkplatz auf die Straße, wobei er immer noch angespannt war. Er blickte immer wieder nach hinten zu Seth, der lieber aus dem Fenster blickte und wahrscheinlich nach Gefahren Ausschau hielt. Ich kapierte das einfach nicht. Was war denn bitte los? Und warum und wovor musste ich beschützt werden?

Dad räusperte sich. „Ley, wir werden uns zuhause ausführlicher unterhalten, aber zumindest etwas muss ich dir erzählen, auch wenn wir einen Zuhörer haben.“ Ich nickte nur und starrte Dad an. „Du bist hier nicht mehr sicher. Deine Mutter hat dich hier versteckt, damit du in Sicherheit bist und ein normales Leben führen kannst. Wir wussten, dass du irgendwann zurückkehren musst, aber wir hatten gehofft, dass uns noch etwas Zeit bleibt.“ Mir stand der Mund offen und ich wusste nicht wirklich, was ich sagen sollte. „Das heißt, dass ich nicht von hier bin? Und Mum gegangen ist, weil ich in Gefahr war? Ähm, hört sich ein bisschen komisch an. Findest du nicht, Dad? Jetzt fehlt nur noch, dass ich nicht menschlich bin und aus einem anderen Universum stamme.“ Zum Ende hin wurde ich sarkastisch. Dad wirkte jetzt eher erschöpft, war aber noch immer angespannt und blickte sich nervös um. „Ley, so falsch liegst du damit gar nicht mal. Deine Mutter hat dich zu deinem Schutz hierher zu mir und Sarah gebracht, aber sie musste gehen, da sie ihre Pflichten nicht vernachlässigen durfte. Aber nachdem sie gegangen ist, sind die anderen gekommen, um zusätzlich auf dich aufzupassen …“ Er stockte kurz und blickte verwirrt nach hinten. „Ich bin etwas verwirrt, Euch hier zu sehen …“ Mehr sagte er nicht zu Seth, der kurz schmunzelte und sich dann wieder zum Fenster drehte. „Leyla, ich wollte es dir eigentlich ganz in Ruhe sagen, aber uns bleibt keine Zeit mehr. Wie du richtig vermutest hast, bist du nicht von hier. Aber nicht aus einem anderen Universum, sondern aus einer vor den Menschen verborgenen Welt. Und du bist auch kein Mensch. Bitte glaube es jetzt einfach und stell keine Fragen darüber.“ Er sah mich kurz traurig an. Ich war geschockt und mir blieb der Mund offen stehen, aber es kam kein Laut über meine Lippen. Ich war kein Mensch, war nicht von hier? Was sollte das heißen? Und Mum sollte mich wegen ihrer Pflichten und damit ich in Sicherheit war hiergelassen haben? Bei Dad und Sarah? Warum nur mich und nicht auch Sarah? Ich wollte gerade die Frage stellen, als Dad den Kopf schüttelte. „Wir haben keine Zeit. Du musst beschützt werden. Sie kommen aus der anderen Welt, der verborgenen Welt. Sie wollen dich töten und deshalb musst du fort von hier. Die anderen werden dich zum Tor und dann in Sicherheit bringen. Sarah und ich werden sobald es geht nachkommen und dir alles erklären. Oder Elandiar wird es tun, wenn ich es nicht mehr kann. Ich mag ihn zwar nicht, aber du kannst ihm vertrauen.“

Während Dad sprach, wurde er immer nervöser und er schaute sich immer wieder um. Wir waren nicht mehr weit von Zuhause entfernt, aber sowohl Seth als auch Dad wurden immer angespannter. Seth sah nach vorne, als ich ihn gerade betrachtete. Er sah mich kurz verwundert an und wandte sich dann an Dad. „Seid vorsichtig. Sie sind in der Nähe.“ Ich sah Dad panisch an. „Wer, Dad? Wer will mich töten und ist in der Nähe?“ Er brummte kurz. „Orks, Leyla. Es sind nicht nur Geschichten, die ich dir erzählt habe. Sie sind hinter uns her. Ich hoffe, wir schaffen es wenigstens bis nach Hause. Leyla, öffne das Handschuhfach und hole die zwei Dolche heraus!“ Ich blickte mich panisch nach allen Seiten um, konnte aber keinen von ihnen sehen. Beruhige dich, Leyla! Es bringt nichts, wenn du jetzt in Panik gerätst. Ich holte ein paar Mal tief Luft und öffnete dann das Handschuhfach, in dem wirklich zwei Dolche lagen, die ich vorsichtig herausholte. Sie waren zwar in den Scheiden, die man sich umbinden konnte, aber trotzdem wollte ich kein Risiko eingehen. Dad nahm einen der Dolche, zog ihn aus der Scheide und hielt ihn in der Hand. „Leyla, nimm den anderen Dolch und schnalle den Gürtel um. Wir könnten angegriffen werden. Ich nehme ihn so und werde kämpfen. Ich hoffe, du wirst ihn nicht brauchen.“ Ich nickte mit großen Augen und umklammerte den Dolch fest.

Ich blickte nach draußen, als plötzlich aus dem Wald eine riesige, dunkle Gestalt vor unser Auto sprang, so dass sie genau auf unserer Motorhaube landete. Ich schrie, wurde nach vorne geschleudert und mir wurde schwarz vor Augen …

Kapitel 3 – Flucht ins Unbekannte

 

Als ich wieder zu mir kam, hörte ich Seth stöhnen, der versuchte, sich aus dem Auto zu befreien. Alles stand auf dem Kopf, da der Wagen sich überschlagen hatte und auf dem Dach gelandet war. Ich stöhnte, denn als ich mich bewegte, durchzuckte mich ein entsetzlicher Schmerz. Ich fühlte an meinen Kopf und spürte etwas Nasses an meiner Stirn. Ich sah auf meine Hand und sah, dass es Blut war. Ich musste mir den Kopf angeschlagen haben, als dieses etwas vor unser Auto gesprungen war. Ich zuckte zusammen, als Seth etwas zu mir sagte, doch meine Ohren klingelten und ich verstand ihn erst nicht. Erst als er es wiederholte, hörte ich, was er sagte. „Leyla, wir müssen hier raus! Das war ein Ork!“ Plötzlich wurden mir die letzten Minuten wieder bewusst und die Angst kehrte zurück. „Oh mein Gott, ein Ork! Wir müssen hier sofort weg!“ Seth bekam endlich seine Türe auf und stieg mühevoll aus dem Auto. Ich fingerte an meinem Gurt herum und bekam ihn nach einer gefühlten Ewigkeit endlich auf. Seth blickte sich vorsichtig um und sah nach dem Ork, den wir angefahren hatten. „Wir müssen hier schnell weg. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.“ Dann kam er zu meiner Türe und half mir aus dem Auto heraus, wobei ich noch immer den Dolch umklammert hielt. Der Ork bewegte sich nicht, also war er bestimmt tot. Seth sah ihn noch kurz an, aber schien derselben Meinung zu sein.

Wir gingen zur Fahrerseite, wo Dad bewusstlos auf dem Dach des Autos lag, da sein Gurt durch die Glassplitter gerissen war. Ich kniete mich neben ihn. „Dad! Dad, wach auf! Bitte wach auf!“ Ich war schon richtig panisch, aber dann stöhnte Dad und öffnete seine Augen. „Leyla, ihr müsst hier weg. Sofort! Geht, lasst mich hier!“ Ich schüttelte den Kopf und Seth schien auch meiner Meinung zu sein, denn er schob mich zur Seite, damit er Dad aufhelfen konnte, der laut protestierte. Plötzlich bemerkte ich eine Regung aus dem Augenwinkel und sah den Ork vor mir. Ich konnte seinem Schwerthieb gerade noch ausweichen. Ich zog meinen Dolch und kam dem Ork beim nächsten Hieb zuvor, da er noch geschwächt vom Unfall war. Ich stach zu und traf ihn direkt in seinen Bauch. Ich zog meinen Dolch aus seinem Körper und machte mich bereit für einen weiteren Angriff, doch der blieb aus. Der Ork fiel vor mir zu Boden und regte sich nicht mehr. Ich stieß die Luft aus, die ich wohl angehalten hatte, und sah erschrocken zu Dad und Seth. Zu meiner Überraschung starrten die beiden mich an und da ich selbst nicht glauben konnte, was ich da gerade getan hatte, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Dad erholte sich am schnellsten wieder. „Wir müssen hier weg. Sofort! Und gut gemacht, Ley. Ich wollte das eigentlich vermeiden.“

Seth nickte nur und ging voran. Dad und ich folgten ihm in den Wald. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus, doch wie ich wusste, wollten wir zu einem Tor, das wohl in der Nähe war. Wir waren alle von dem Unfall gezeichnet und müde. Wir kamen nur langsam voran, viel zu langsam für meinen Geschmack. Doch Seth konnte sein rechtes Bein nicht richtig belasten und ich hatte wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Zumindest demnach zu urteilen, dass es mir echt scheiße ging und mir richtig schlecht war. Dad hielt seinen linken Arm nah am Körper und hatte ebenfalls eine Kopfwunde. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, den Dolch in seiner rechten Hand zu halten. Seth hatte lieber sein Schwert genommen, das wirklich beeindruckend aussah. Es war stockdunkel im Wald und nicht einmal der Mond schien, vor den sich eine dicke Wolkendecke geschoben hatte. Dad machte zwar ein gequältes, aber auch entschlossenes Gesicht. Ich blickte mich immer wieder nach allen Seiten um, konnte aber im Schatten keine Bewegung ausmachen. Dad schnaufte bereits und Seth verzog sein Gesicht jedes Mal schmerzhaft, wenn er auftrat. In der Ferne konnte ich unser Haus ausmachen und lief etwas schneller. Seth stöhnte und ich hätte ihn beinahe überholt. Ich sah ihn an und bemerkte, dass er Schwierigkeiten hatte, überhaupt den Fuß aufzusetzen, weil er ihn sich wahrscheinlich verstaucht hatte. Er blieb kurz stehen und entlastete seinen rechten Fuß, wobei er das Gesicht noch immer vor Schmerzen verzog. Dad kam keuchend hinter ihm zum Stehen und da bemerkte ich erst, dass auch ich total schnaufte, es wegen der Panik nur nicht wahrgenommen hatte.

Um uns herum knackten Äste und ich nahm erschrocken meinen Dolch hoch. Doch wie ich feststellte, waren es nur welche von ihnen, die uns schützend umstellten. Nach kurzem Warten kam Elan-was-weiß-ich zu uns und sah uns entsetzt an. „Was ist geschehen? Haben sie Euch während der Fahrt angegriffen? Wir haben nur das leere Auto und den toten Ork gesehen.“ Zu meiner Überraschung antwortete nicht Seth, sondern Dad. „Ja, Ihr hattet recht … Das hatte ich nicht erwartet. Zum Glück konnten wir ihnen entkommen, bevor weitere auftauchten.“ Elan-was-weiß-ich nickte nur und betrachtete uns besorgt, wobei er Seth und mich länger ansah als Dad. „Jetzt müssen wir ins Haus und Ihr könnt Euch etwas ausruhen. Auf dem Weg hierher haben wir mehrere Orks getötet und sie werden heute Nacht erst einmal nicht mehr angreifen. Morgen, wenn die Sonne aufgegangen ist, werden wir zum Tor aufbrechen.“ Mir blieb der Mund offen stehen. Okay … fürs erste waren wir also sicher, das hatte ich verstanden und dass ich am nächsten Tag zu diesem Tor gebracht werden sollte, hatte ich auch verstanden … Aber wollte ich das auch? Ich sah Dad fragend an, doch er schüttelte nur den Kopf. „Später. Lass uns erst reingehen, in Sicherheit, unsere Wunden versorgen lassen und dann werde ich dir alles genau erklären.“ Damit musste ich mich wohl zufriedengeben und ging mit unserer großen Gruppe, die nun aus mehr als zwanzig Leuten bestand, zu unserem Haus.

Hinein gingen nur Elandiar, wie ich mir nun endlich merken konnte, Seth, Dad und ich. Die anderen bekamen Befehle und verteilten sich um das Haus. Es war schon kurz nach Mitternacht. Wir mussten ziemlich lange für den Weg von der Straße durch den Wald bis zu unserem Haus gebraucht haben. Ich mein, das war auch kein Wunder, oder? Schließlich hatten wir einen Autounfall gehabt und hätten eigentlich ins Krankenhaus gemusst. Dad ließ sich auf dem Sofa nieder, da wir vier ins Wohnzimmer gegangen waren. Seth saß schon und hielt sich den verwundeten Knöchel. Und was tat ich? Ich stand untätig herum, also setzte ich mich auf einen der beiden Sessel und verzog das Gesicht, als der Schwindel einsetzte.

Elandiar betrachtete uns besorgt und ging nacheinander zu uns, nachdem er einige Sachen geholt hatte, um unsere Wunden zu versorgen. Er sprach vor sich hin, aber ich hörte nicht richtig zu. Irgendetwas von einem Heiler und dass er es nicht machen konnte, da er uns noch nach Liathin begleiten musste oder so. Laut sprach er: „Da kein anderer Heiler hier ist, werde ich Eure Wunden so versorgen, aber sobald wir durch das Tor sind, wird dort ein Heiler warten, um Eure Wunden besser zu versorgen und Euch zu heilen.“ Ich sah ihn fragend an. „Wunden heilen? Geht das? Gegen die Kopfschmerzen und den Schwindel kann man aber wohl eher nichts tun?“ Gegen meinen Willen war ich wieder sarkastisch geworden. Elandiar zeigte Ansätze eines Lächelns. „Vielleicht kann er sogar das, aber da es von einer Wunde herkommt, müsstet Ihr Euch nach dem Heilen sehr viel besser fühlen … Ihr alle. Ich werde jedoch versuchen, einen Boten zu schicken, so dass ein Heiler hierherkommt. In wenigen Stunden. Das wird nicht sehr oft gemacht, aber so ist es sicherer für Euch. In Eurem Zustand wundert es mich, dass Ihr drei es noch geschafft habt hierherzukommen.“ Ich brummte genervt. „Das lag wohl daran, dass man uns töten wollte. Am liebsten wäre ich keinen Schritt gegangen.“ Elandiar nickte nur und ging zur Türe, um mit jemandem zu sprechen, wahrscheinlich dem Boten.

Der Schwindel wurde stärker und ich hatte das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Dad hielt seinen linken Arm vor sich und drehte ihn langsam. „Wenigstens ist er nur verstaucht.“ Dann sah er mich mit einem gequälten Lächeln an. „Ley … du solltest dich vielleicht kurz duschen. Jetzt können wir nur auf den Heiler warten. Du solltest das ganze Blut abwaschen.“ Ich nickte und sah, wie Elandiar wieder hereinkam. Ich stand langsam auf und musste mich festhalten. Ich hoffte, dass es mir nach einer schön heißen Dusche besser gehen würde und dass sich das ganze Durcheinander in meinem Kopf etwas auflösen würde. Dad sah mich besorgt an. „Ley, es tut mir so leid. Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich damit einer noch größeren Gefahr aussetze … dann wäre ich nicht mit dir zum Ball gegangen … Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht besser beschützt habe …“ Ich schüttelte leicht den Kopf. „Dad, das ist okay. Es wäre trotzdem so gekommen. Ich bin nur froh, dass wir beide noch leben.“

Damit wollte ich mich zur Treppe wenden und nach oben gehen zum Duschen, doch ich verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe hingeflogen, wenn mich Elandiar nicht aufgefangen hätte. Seth und Dad waren aufgesprungen, aber verzogen dann das Gesicht und setzten sich wieder, als sie sahen, dass es mir gut ging. Also wirklich. Wirkte ich etwa so zerbrechlich? Naja, so abwegig war das nun auch wieder nicht. Ich hatte mich nach kurzer Zeit wieder im Griff, doch ich glaubte nicht, dass ich es alleine bis nach oben schaffen würde. Dasselbe mussten die anderen auch gedacht haben, denn Elandiar seufzte und nahm mich hoch. Doch bevor ich protestieren konnte, hatten wir schon den halben Weg zurückgelegt.

Oben an der Treppe setzte er mich ab und ließ mich erst los, als ich sicher stand. Ich wurde rot und ging verlegen einen Schritt von ihm weg. „Danke. Ähm, ich danke Euch, Elandiar.“ Er nickte nur freundlich und schmunzelte. Danach sah er mich noch kurz an und ging dann wieder runter. Kurz bevor er unten war, drehte er sich noch einmal zu mir um und fragte: „Sonst schafft Ihr … schaffst du es? Wenn du Hilfe brauchst, dann rufe mich ruhig. Und nenn mich El. Solange niemand anderes in der Nähe ist, kannst du mich persönlich ansprechen, aber du scheinst es bereits zu kennen. Ist es in Ordnung, wenn ich dich einfach Leyla nenne?“ Ich lächelte und nickte ihm dankbar zu. Welchen Stand er wohl hatte? Naja, es schien generell so üblich zu sein, niemanden direkt anzusprechen.

Ich holte mir frische Sachen aus meinem Zimmer und ging dann ins Badezimmer, während ich die anderen unten leise reden hörte. Ich grübelte noch eine Weile vor mich hin, aber ich war so durcheinander, dass ich keinen gescheiten Gedanken fassen konnte. Ich stellte mich vor den Spiegel und erschrak vor meinem eigenen Spiegelbild. Oh Gott, wie sah ich denn aus? Mein schönes Kleid hing in Fetzen, ich hatte überall Schnittwunden und meine Haare sahen aus, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Aber das Schlimmste war das Blut, das an meinen Händen klebte. Es war jedoch nicht meins. Es war auch nicht rot, sondern schwarz! Schwarzes Blut von dem Ork klebte an meinen Händen. Ich verzog angewidert das Gesicht und drehte die Dusche auf. Ich duschte lange und danach ging es mir wirklich schon etwas besser, aber der Schwindel ging nicht weg. Jedoch war mir nicht mehr so kotzübel. Ich zog mich gemächlich an und kämmte mir noch die Haare, bevor ich das Badezimmer verließ. Vielleicht hätte ich mir etwas Wärmeres anziehen sollen als nur ein Top und eine Leggins. Egal. Ich holte mir zumindest noch eine Strickjacke aus meinem Zimmer, die ich überzog.

An der Treppe blieb ich stehen und wusste nicht so genau, ob ich es die ganze Treppe herunter schaffen würde. Ich versuchte es einfach. Ganz langsam, Schritt für Schritt, ging ich herunter und war froh, als ich endlich unten angekommen war. Die anderen sahen mich irritiert an und ich wurde schon wieder rot. Ich ging zum Sessel und ließ mich hineinfallen. Ich schaute mir die anderen an. Sie hatten sich anscheinend auch gewaschen und die kleineren Schnittwunden waren, wie bei mir, kaum noch zu sehen. Dad hielt sich noch immer den Arm, aber er sah schon wieder besser und nicht mehr so niedergeschlagen aus. Seth hatte seine Schuhe ausgezogen und sein rechtes Bein hochgelegt. Sein Knöchel war geschwollen und schon etwas blau. Er hatte die Augen geschlossen und sich zurückgelehnt.

Ich betrachtete ihn noch eine Weile, wandte mich jedoch ab, als El mit vier Tassen Kaffee ins Wohnzimmer kam. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er den Raum verlassen hatte. Woher kannte er sich hier aus? Und gab es dort auch Kaffee? Ich musste selbst ein wenig schmunzeln. Natürlich kannte er sich bei uns aus. Schließlich haben sie uns immer beobachtet, nein sie haben uns beschützt. Genau wie an diesem Abend. Aber dennoch hatten wir den Unfall gehabt. El gab jedem eine Tasse, die jeder dankbar annahm. Es war bereits ein Uhr und ich sollte keinen Kaffee mehr trinken, aber das war mir in diesem Moment egal. El setzte sich auf den anderen Sessel und schaute mich direkt an. „Was heute Abend geschehen ist, tut mir sehr leid. Wir hätten Euch besser beschützen sollen. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir.“ War das jetzt an mich gerichtet? Anscheinend schon. „Äh ja, ich verzeihe Euch … Ich bin nur froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist … Ich glaube, Ihr habt Euer Bestes getan, Elandiar.“ Er nickte und ich wusste, dass ich das richtige gesagt hatte. Es war echt komisch so zu reden, aber vor allem, dass sie in unserem Wohnzimmer saßen und mit mir redeten. Sie waren sonst immer wie Schatten hinter mir, aber jetzt kannte ich die Wahrheit, auch wenn ich sie noch nicht wirklich verstanden hatte. Seth sah zwischen El und mir hin und her. Er wirkte verwirrt und nippte dann an seinem Kaffee, der ihm wohl nicht gerade schmeckte. Ich nahm auch einen Schluck von meinem, aber er war genau perfekt. Widerwillig musste ich grinsen und hatte meinen Kaffee in wenigen Minuten leer getrunken.

Wir schwiegen alle und keiner

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Editing: Manuel Apholz
Proofreading: Manuel Apholz
Publication Date: 03-09-2015
ISBN: 978-3-7368-8256-0

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