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Weihnachtsgeschichte


Ein alter, einsamer Mann hatte sehr große Angst vor Weihnachten. Er hatte keine lust, wieder alleine zu Hause zu sitzen, zu spüren, wie sein Blutdruck anstieg, vor sich hinfluchen und schließlich mit einigen Schlaftabletten in einen steinernen Schlaf zu fallen, aus dem er vielleicht nie mehr erwachen würde.

Er war von den Menschen enttäuscht worden, nicht mehr, als jeder Mensch von ihnen enttäuscht wird, aber er empfand es als besonders schwer und schlimm. Eine Kränkung, die ihm nicht zukam. Die blinden Flecken auf seiner Weste übersah er, die barschen Zurückweisungen, mit denen er andere Menschen abfertigte, waren ihm nicht bewußt. Er und sein Reich - das sollte genügen. Er hatte schon reich geerbt, sparsam gelebt, stets hinzuverdient und sein Geld vervielfacht.

Er war bis zu den Zehenspitzen gepflegt, sah nicht schlecht aus, war ein Frauenhasser und auch sonst geizig. Der Geiz begann bei ihm mit der Zuwendung, mit der Zeit, die er nicht mit anderen Menschen teilen wollte, als nähmen sie ihm etwas, mit der nie zugegebenen Befürchtung, sein Weltbild könne ins Schwanken geraten, setze er sich auch nur der kleinsten Form von Kritik aus. Mit Geld geizte er ganz zuletzt. Das hatte nicht sein Problem werden können, denn an einen wie ihn wurden keine Bitten herangetragen. Milieus mied er, Zeitung las er nicht.

Er gärtnerte. Die Früchte seiner Obstbäume und das geerntete Gemüse ließ er anonym verkaufen. Seine Konten füllten sich, er las die Auszüge nicht mehr.
Seine relativ gute Gesundheit ersparte ihm auch in fortgeschrittenem Alter den Besuch bei Ärzten, seine Hausmittelchen aus dem Garten jede Nachfrage beim Apotheker.
Er hatte seinen Telefonanschluß stillegen lassen.
Maßvoll ernährte er sich von dem, was der Garten nach den Verkäufen abwarf, nur Brot kaufte er hinzu, anonym, im Supermarkt.

Er hatte nichts in dem kargen Zimmer, was ihn an Weihnachten hätte erinnern können. Dennoch trat just am 24.12. gegen 18.00 Uhr eine befremdliche Stille bei ihm ein, die ihn beunruhigte. Es war, als riefe stumm aus der schwarzen Wand vor dem Fenster, als erginge eine unüberhörbare Aufforderung aus leisen Trompeten von Jericho, denen man den Klang genommen, die gewaltige Vibration aber belassen hatte. Er zitterte am ganzen ausgemergelten Leib.

Seine Vogelaugen tasteten unaufhörlich den Raum ab, ohne zu sehen. Das Rauschen in seinen Ohren wurde unerträglich, als sei er in einem Klangdom gefangen und würde bei der kleinsten Bewegung nur noch mehr und in größere Dröhnung verbannt für ein Verbrechen, dessen er sich nicht...

Er stand auf und zog sich an.

***

Johann-Jakob malte mit einem Stöckchen Zeichen in das vereiste Autofenster eines Golf. Als kein Eis mehr seiner Phantasie Grenze und Kontur bot, ging er dazu über, mit einem alten, abgefallenen Autonummernschild die Fensterscheiben der übrigen vor dem Hotel geparkten Autos freizukratzen. Er dachte dabei an die Gesichter der Gäste, die nach dem Weihnachtsdinner drinnen in die Kälte herauskommen würden und mit einem angedeuteten Lächeln ihre Scheiben eisfrei fänden.
Johann-Jakob machte immer dergleichen, ohne nachzudenken veränderte er die Welt, die er vorfand, in eine, die seine Handschrift trug. Darüber hinaus dachte er sich nichts. Er reflektierte nicht über sein Leben, nicht über seine Situation, nicht über die Zukunft. Er nahm seine Thermosflasche mit Glühwein aus der Tasche und trank drei tiefe Züge. Er goß dann eine kleine Pfütze in den Schnee und setzte eine erfrorene Taube hinein, bis sie wieder gurren konnte. Sie glitzerte dunkelblau und hatte weiße Admiralsstreifen auf den Schultern. "Nach Dänemark!" schrieb ihr Johann-Jakob mit seinem nackten Finger quer über den Rücken.
Dann ging er in den Hof hinter der Küche des Hotels und urinierte warm und gelb an einen erfrorenen Heckenrosenstrauch.
Als er zurückkam, sah er einen dürren alten Mann, wie er sich über die Taube bückte, um zu erkennen, was mit ihr los war.
"Lass sie - sie erholt sich gerade!"
Er sprach zu einem schwarzen Rücken aus Wollmantel, der sich nicht zu ihm umdrehen wollte.
"Du sprichst wohl nicht." Johann-Jakob reichte ein Zuckerstück nach vorne, ungefähr in die Höhe, wo der Mund des Alten zu vermuten war, und warf es ein. Der Er verschluckte sich und hustete ein bißchen. Dankbar nahm er die ihm von hinten gereichte silberne und bereits geöffnete Thermoskanne und sog daraus etwas wie Nektar seiner Bienen, das nach Mutter und Unenttäuschung schmeckte, heißwarm und süß, und das sich in seinen Lungenflügeln auszubreiten schien wie russische Schokolade mit Rum.
Er reichte die Flasche wieder nach hinten zurück. Er wollte sich eigentlich mit niemandem teilen, auch seine Einsamkeit nicht, nicht die Beschissenheit, derer er sich gewahr war, nicht die Anstrengung einer Konversation. Nicht die Konzentration auf ein fremdes Gesicht mit seinen Herausforderungen an Augen und Blick, Stimme und Lippen, Falten und Sorgen.

Johann-Jakob malte ihm mit der ganzen rechten Faust ein dickes rückenlanges Fragezeichen auf den Wollstoff. Es kam keine Reaktion.
Nun malte er ein breites Ausrufezeichen darüber und hielt die Kanne wieder nach vorne.
Der Er murmelte: "Ich kann nicht".und trank wieder gierig und geizig, als wäre es sein letzter Schluck Welt in diesem Leben.

Da drehte ihn Johann-Jakob mit einem unerwarteten Ruck herum zu sich, griff ihn an beiden Schultern und schüttelte ihn, bis Worte herausfielen; das heißt, zuerst war es nur ein Stöhnen, dann Seufzer aus großer Tiefe, dann Quallaute. Bis diese zu Silben wurden und aus diesen Worte. Johann-Jakob hielt sich gut in der Gischt, die Brandung kam aus einem Jahrzehntelangen Meer herangerauscht mit ungestümer Gewalt und Wut, als habe ein Mörder seiner selbst zu lange auf seine Entdeckung, den Prozeß und seine Verurteilung warten müssen.

Als die Wortkatarakte langsam abnahmen, leistete der schwarze Wollmantel keinen Widerstand mehr und sank geschwächt in sich zusammen auf die soeben davon geflogene Taube, ihren Platz einnehmend in der Glühweinpfütze und mit den weißen Admiralsstreifen Johann-Jakobs Finger auf den Schultern.
Dieser wußte nichts besseres, als sich neben den Er zu setzen, ihn in den Arm zu nehmen, ihn darin sanft zu schaukeln und ihm: "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre.." von Zarah Leander vorzubrummen.

Die Thermoskanne war nun leer. Die aus dem Hotel herausströmenden Gäste hatten keinen Blick und kein Lächeln für ihre eisfreien Autoscheiben. Sie rümpften die Nasen über die beiden Männer, die kein Lebenszeichen mehr von sich gaben. Der Wachdienst des Hotels alarmierte die Polizei. Beide wurden in eine Ausnüchterungszelle gebracht. Auf Staatskosten fand das Weihnachtswunder statt, von dem keiner etwas weiß. Nur ich. Deshalb erzähle ich es. Jede Nacht birgt viele Geheimnisse und Geschichten. Keine großen, sondern stille, unscheinbare. Lassen wir sie Geheimnisse bleiben. Nur so viel, daß der Mensch dem Menschen Mensch ist.

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Publication Date: 12-07-2009

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