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Suppe und Eis

Arina schlug die Tür zu, als sie aus dem Auto stieg. Auch nach Jahren zuckte ich immer noch zusammen. Etwas klemmte am Griff, so dass man nur absperren konnte, wenn die Tür fest zugeworfen wurde. Und selbst wenn ich den knallenden Ton automatisch mit einem Ausdruck von Wut in Verbindung brachte, so sollte mir schon lange klar sein, dass Arina sich niemals so verhalten würde. Sie war kein Mensch, der seine Gefühle an die Öffentlichkeit trug.
Zwei Frauen schritten auf das Terminal zu, kofferbepacktes Feuer und weiß bemanteltes Eis. Arina würde ich immer sofort erkennen, in jeder noch so großen Menschenmasse. Nicht nur weil eine Frau mit langen, schwarzen Haaren, die am liebsten in Weiß herumlief, einen starken Kontrast ergab. Ich war mir sicher, dass ich sie auch blind gefunden hätte. Arina und ich lebten nun schon so lange zusammen, dass die jetzige Trennung undenkbar erschien.
„Ich muss nach Afrika“, sagte ich eines Morgens.
„Ist das ein selbst auferlegter Zwang?“, fragte sie. Ihr Kopf blieb hinter einer Regionalzeitung versteckt.
„Seit wir da Urlaub gemacht haben, weiß ich, dass ich da hin muss“, meinte ich bestimmt, „Vielleicht nur für ein oder zwei Jahre.“
„Du weißt, dass es mir dort nicht gefallen hat“, sagte Arina.
Ich nickte. Schuldbewusst.
„Und du weißt, dass wir noch nie so lange voneinander getrennt waren?“
Ich nickte. Ein bisschen verzweifelt.


Jetzt hatte sie mich zum Flughafen gefahren und zusammen schoben wir meine Koffer zum Check-In.
„Du hast noch zwei Stunden Zeit“, sagte Arina.
„Wir gehen was essen“, war mein Vorschlag. Die Leute meinten immer, ich wäre der „männliche“ Part in dieser Beziehung, als ob das eine ohne das andere nicht existieren könnte. Zwei Mächte bestimmten die Welt, zwei Urgewalten, rohe Kraft und feine Eleganz, pure Energie und sanftes Gefühl. Dabei war ich es, die weinte, wenn ein trauriger Film im Fernseher lief.
Ich drückte meine Eiskönigin auf einen Stuhl und holte uns die Karten. Darauf zu warten, bis ein Kellner kam, lag mir nicht. Wir hatten uns beide schnell entschieden.
„Ich nehme das gemischte Eis mit Sahne“, sagte ich. Arina wollte eine Gemüsesuppe, möglichst heiß. Ich hatte erwartet, dass wir nicht viel miteinander reden würden und so war es auch. Die besten Gespräche hatten wir in unserem ersten Jahr gehabt. Arina war als Maklerin so erfolgreich, dass man ihr eine Assistentin zur Verfügung stellte. Ein junges, unbedarftes Ding, das Kind von Bekannten ihrer Eltern.
„Die Wohnung liegt nicht gut“, hatte sie einmal gesagt, als wir auf Kunden warteten.
„Die Sonne wird immer am Nachmittag hinein scheinen, wenn alle in der Arbeit sind“, war mein Kommentar gewesen. Ich erinnerte mich noch an ihren Blick, ein lichter Glanz hatte sich in ihre Augen geschlichen, als diese mich erstmalig von oben bis unten streiften. Sie sagte nur „Ja“, aber ich fühlte in diesem Moment eine so starke Verbundenheit, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte.


Ein paar Tage später traf ich meine Chefin vor einer Kirche.
„Ich habe den Remarks abgesagt“, rief ich ihr schon von weitem zu. Der Wind spielte mit ihrer Mähne, sie blieb völlig unberührt davon.
„Der Vater hat leicht nach Alkohol gerochen“, flüsterte ich.
„Wissen sie, das gefällt mir an Ihnen“, sagte Arina, „Sie denken wie ich.“
Ich war nicht lange ihre Assistentin geblieben, in ihren Augen musste man Berufliches vom Privaten streng trennen. Nach ein paar Wochen kündigte sie mir und stellte einen untersetzten Inder mit schwabbelndem Bauch ein. Wenn sie Geschäftstermine hatte, blieb der Drache in meinem Inneren ganz entspannt. Jetzt war kein Geschäftstermin. Wir saßen auf weißen Rattanstühlen und nahmen unsere Henkersmahlzeit zu uns. Der Kellner war ein hübscher Mann mit Hundeaugen. Er fragte Arina, wie sie als schöne Frau nur das Land verlassen konnte. Sie lächelte nur und ich krampfte meine Hand zur Faust zusammen.
„Sie sollten hier bleiben, als Zierde der Nation!“, sagte der Kellner, als er ihr die Suppe überreichte. Dampfschwaden umhüllten sie geheimnisvoll.
„Keine Sorge, sie fliegt nicht weg!“, mischte ich mich ein, „Fragen Sie schon nach Ihrer Nummer!“
Der Kellner warf mir einen schrägen Blick zu und verschwand. Arina klirrte tadelnd mit dem Löffel an den Tellerrand.
„Der wollte doch nur mehr Trinkgeld“, meinte sie.
Alles war so sinnlos geworden. Ich brauchte nicht mehr mit Eifersucht zu reagieren, nicht mehr mit Komplimenten besänftigen, keine großen Beschwerden anbringen und selbst Wünsche für die Zukunft schienen leere Höflichkeiten zu sein. Heutzutage wartete kein Mensch mehr drei Jahre auf jemanden. Auch Arina nicht.
Sie trennte zwar die Spreu vom Weizen, war alles andere als wahllos, aber ich wusste, dass sie nicht lange allein sein konnte. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie seit über zehn Jahren keinen ganzen Monat mehr Single gewesen war. Jeder, der diese Frau sah, musste sie haben. Ich löffelte mein Eis aus, schenkte anderen Passagieren mehr Beachtung als dem strahlenden Eisblock an meinem Tisch. Wir hatten uns zu sehr aneinander gewöhnt. Glaubte ich. Meistens sprachen wir nur noch darüber, welches Essen wir kaufen mussten und wann wir nach Hause kommen würden, damit die andere sich keine Sorgen machen musste. Diese Themen waren nun überflüssig geworden.
„Fährst du heute noch einkaufen?“, fragte ich trotzdem.
„Butter fehlt“, antwortete sie höflich.
„Fahr am besten gleich, wenn ich weg bin“, riet ich, „Da ist noch am wenigsten los.“
Es war fraglich, ob wir uns noch einmal sehen würden. Der Ort, den ich aufsuchen wollte, hatte von Internet noch nicht einmal etwas gehört. Für ein paar Monate würde ich von Arina nichts erfahren, unsere Nabelschnur würde brutal auseinander gerissen werden. Wir brauchten die andere nicht zu fragen, ob sie einen Löffel Suppe oder einen Löffel Eis zu sich nehmen würde, beide würden wir dankend ablehnen. Man sollte eigentlich meinen, dass Heiß und Kalt sich nicht vertragen…
Tatsächlich ergab es nur eine lauwarme Substanz.

 


Heute Morgen hatte ich Arina im Badezimmer beobachtet, wie sie ihre Nägel lackierte. 
Es war ein Prozess, den ich schon etliche Male gesehen hatte, ein weißer Unterlack wurde aufgetragen, dann die Farbe, anschließend ein glänzender Überlack. Alles mit kalter Präzision.
„Ich liebe dich“, hatte ich gesagt. Arina war aufgestanden, um mir einen Kuss zu geben. Das letzte Mal, dass ich ihre weichen Lippen gespürt hatte. Es würde auch das letzte Mal bleiben, denn vor anderen Menschen war es Arina nicht recht, Zärtlichkeiten miteinander auszutauschen. Ich wettete mit mir selbst, ob sie mich unpersönlich umarmen oder mir sogar nur die Hand reichen würde. Einmal waren wir zusammen auf einem Ball gewesen. Arina hatte mich überall als ihre Bekannte vorgestellt, obwohl wir schon Monate in der gleichen Wohnung gelebt hatten. Ich hatte mich dadurch an ihr gerächt, dass ich allen erzählte, wir hätten einmal zusammen Fußball gespielt. Sport war für die Dame nichts, sie besuchte einmal die Woche einen Aerobic-Kurs und damit hatte es sich. Arina machte das nicht aus Liebe an der Bewegung, sondern um sich ihre gute Figur zu erhalten. Als sie mir in diesem Moment gegenüber saß, war ich mir sicher, dass ich keinen Menschen so gut kannte wie sie.
„Wir sind so ein altes Ehepaar geworden, nicht wahr?“
„Deswegen musst du nicht gleich das Land verlassen“, kam es von Arina und kurz schwebte ein unfröhliches Lachen über den Tisch. Etliche Male hatte ich ihr angeboten mitzukommen, etliche Male hatte sie vorgeschlagen, wieder nur Urlaub dort zu machen. Aber die Urgewalten gaben sich mit nichts Geringerem zufrieden als mit dem Extrem.


Als Arina und ich das Lokal verließen und ich die blassen Gesichter rings um mich sah, wusste ich, dass ich abgeschlossen hatte. Mich erwarteten nicht nur ein anderer Kontinent, andere Menschen, eine andere Mentalität. Das Wichtigste war: ein neues Leben. Ein neues Leben.
Ich war wieder ein Kind geworden, das von vorne beginnen durfte.
„Ich hoffe, du passt auf dich auf“, sagte Arina, „Ich musste gestern am Telefon deiner Mutter über eine Stunde lang versichern, dass du wirklich weißt, was du tust.“
Die ganze Nacht hatten Arina und ich uns im Arm gehalten, mit anderen hatte ich viele Stunden geweint. Es war mir klar gewesen, dass der Abschied nicht leicht ausfallen würde, aber die Sache würde es wert sein. Ich dachte an das freundliche Gesicht der Afrikasonne, an die Affen und die Bananenpalmen, an all das, das mich seit Monaten nicht mehr losgelassen hatte. Ich dachte nur noch daran, trotzdem sagte ich zu Arina: „Ich denke an dich.“
Eine kurze Umarmung. Der vertraute Körper auf einmal ungewohnt. Schnell wandte ich mich ab, um zu meinem Flugzeug zu kommen. Ich hatte doch tatsächlich die Sonnenbrille vergessen, welche den feuchten Glanz meiner Augen verbergen sollte.

Ein dunkelhäutiger Mann empfing mich, sah den Rest meines Flugtickets an und schickte mich zu meinem Platz. Ich rempelte einige Leute an, doch das war mir gleichgültig. Ausnahmsweise dauerte es nicht lange, bis das Flugzeug startete. Ich lehnte mich zurück, hoffte, dass der Ohrendruck ausbleiben würde.
Hinter mir entstand ein lautes Gespräch zweier Leute.
„Schau

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 05-25-2014
ISBN: 978-3-7368-1459-2

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Für alle Menschen, die das Gefühl kennen, wenn es vorbei ist.

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