Als Nixa P. die Wohnungstür hinter sich ins Schloss warf, zeigte die Uhr bereits nach elf an.
Wahrscheinlich musste sie sich darüber freuen, dass die Supermärkte dieses Kaffs ihre Öffnungszeiten bereits bis zur Mitternachtsstunde ausgeweitet hatten. Sie konnte es aber nicht. Zu sehr umgrübelte sie der Gedanke, in diesen Momenten Hand in Hand mit alkoholsüchtigen Obdachlosen in den Regalen herumzufuchteln. Sollte das etwa ihre nächste Sprosse auf der Karriereleiter sein? Schnurstracks nach unten: Von der Abteilungsleiterin zur Normalokraft, zur Halbtagsarbeiterin, zur Aushilfsjobberin, die auch nachts ranmusste … und dann?
Vielleicht würde sie in wenigen Monaten schon die Wunden derjenigen versorgen, die sie fürchtete? Der Gedanke war merkwürdig ambivalent: Einerseits fürchtete sie der soziale Totalabstieg und sie hatte auch Angst vor eventueller Gewalt, andererseits faszinierte sie die damit zusammenhängenden Freiheiten. Der Fall bedeutete auch den Verlust aller Stricke, seien es Halteseile, seien es die fiesen Marionettentaue, an denen sie derweil noch missmutig rumhupfte, mal mehr, mal weniger willig.
Ihre Handtasche warf sie achtlos vor die Kommode. Darin befanden sich nippige Dinge wie Taschentücher, Monatsbinden, Lippenpflege, Abwehrspray und Gummibären. Und ihre anderen Nervenmittel. Aber die nahm sie nur, wenn sie unter den Alten war.
Mit der großen Einkaufstasche stapfte Nixa in die Küche und stellte sie auf dem Bänkchen vor der Arbeitsplatte ab. Es war recht dunkel in dem kleinen Raum. Nur der Mond leuchtete durch die großen Fenster auf jene Höhe, in der sich Nixas Bauchnabel befand. Darunter war alles schwarz. Der Mondschein genügte, um Konturen zu erkennen. Nixa überlegte einige Momente hin und her, ob sie nicht in dieser Finsternis verweilen und ihre Einkäufe im Dunkeln einsortieren sollte. Dann aber betätigte sie den Lichtschalter doch – fast schon eine Aktion gegen derzeitige Energiesparzwänge.
Die Konserven waren rasch im Regal, die zu kühlenden Fertigmenüs schnell im Kühlschrank verstaut. Heute Nacht würde sie nichts mehr davon essen. Sie war zu müde. Und überhaupt: Es war endlich an der Zeit, mit dem Abnehmen anzufangen. Selbst bei der Arbeit hatten ihr schon ein paar Alte beklemmende Textpassagen hinterhergemurmelt. Den Rest hatte ihr vorhin die Kassiererin gegeben, die kurz nachdem sie drangewesen war, ihrer Kollegin etwas von der „blöden, fetten Kuh“ zugezischt hatte. Nur mit Mühe hatte sich Nixa beherrschen können, während des Einpackens nicht in Tränen auszubrechen. Schon beim Einrasten des Wagens war es dann aber passierte: Dickes Salz kullerte raus, benetzte ihre Übergrößenklamotten und wurde zu reißenden Flüssen, als sie im Auto saß. Gut nur, dass sie immer so weit fernab der Menge parkte. So konnte sie sich ungesehen ausheulen und musste auch das Schluchzen nicht unterdrücken.
Nun war sie aber so ausgedörrt, dass es hieß, die Flüssigkeitsvorräte wieder aufzufüllen. Und so nahm sich Nixa die Flasche neuerworbenen Rotwein, fischte sich das noch in der Spülmaschine befindliche passende Glas raus und schritt mit betonter Anmut zum Sofa.
Im Wohnzimmer war es düster, aber nicht düster genug, um den Sitzplatz zu finden. Nixa kannte ihr kleines Reich in- und auswendig, dementsprechend fand sie ihren Thron in Sekundenschnelle.
Dann schmiss sie den Fernseher an. Das Flackern flutete den Couchtisch und gab den Blick auf diversen Krimskrams frei. Die Schokoschmiere in den Kachelritzen musste schon Monate alt sein. Mittlerweile war sie auf magere Energyriegel umgestiegen. Die befriedigten die Lust auf Süßes und spendeten Eiweiß. Eigentlich auch Kraft und Power – yeah … sollten sie zumindest. Na ja.
Seufzend öffnete sie den Drehverschlusss ihrer Flasche und war froh, dass sie hier nicht auch noch mehr Energie verschwenden musste. Früher war sie ein großer Fan von Korken gewesen. Bis die immer wieder abgerissen und sich in das kostbare Getränk verkrümelt hatten. Später stand sie auf Kunststoffkorken. Die waren aber in sich so fest, dass sie mit dem Öffner kaum reinkam geschweige denn den festen Stöpsel ohne immenses Rumgeiere raushebeln konnte. Nein, Weinzeit war Relaxtime. Nicht anstrengen, nur genießen!
Dementsprechend befriedigte sie das laute Gluckern des Getränks in ihrem großen Glas. Ruhig mal etwas mehr. Die Nerven! Blöde Sprüche … hallten noch nach … diese Kassiererin … hatte die sie vorher überhaupt richtig angeguckt … warum musste sie ihr dann den ganzen Abend verderben … warum waren Menschen so krude … war das eigener Frust … na klar, musste so sein … Ein tiefer Schluck. Und es legte sich wie dämpfender Samt über Nixas Nerven.
Die Aufregung, die Nervosität, die Verletztheit … all das rückte nach hinten, sank langsam ein in ein unsichtbares Moor aus Ansammlungen, Ruinen, eine Sammlung, groß, aber nicht erinnernswert, verwittern sollten sie alle …
Bei der Arbeit war es heute auch wieder recht schwierig gewesen. Die Alten kamen jeden Tag mit einer neuen Laune hervor. Hing von ganz banalen Faktoren wie Wetter, Weltschmerz oder Kotgängigkeit ab. Herr H., zum Beispiel, hatte den ganzen Tag nicht auf Toilette gekonnt und sich deshalb wie der fieseste Tyrann überhaupt aufgeführt. Sämtliche ihrer Mitarbeiterinnen, zumindest die denen man ihren Migrationshintergrund ansah, waren übelst beschimpft worden. Neben all den rassistischen Schmähungen war auch das Wort „Hexen“ gefallen. Offenbar glaubte Herr H. an wirre Wortkombis, Voodoo oder derlei Gedöns, schwarze Zauber, oder wie das hieß … schwarze Magie, keine Ahnung, Nixa kannte sich damit nicht aus … Herr H. sicher auch nicht … sonst hätte er gewiss auch den Migrationshintergrund in Nixa gespürt oder aufspüren lassen … vom spürbaren Zauber … oder Aufspürzauber … hah … aber dank ihrer blonden Haare und ihrer blauen Augen war sie für ihn offenbar von vornherein eine „richtige Deutsche“. Oder eher: „Eine hiesige Stute mit geilem Arsch“, wie es ihm immer wieder entfuhr. So denn er gute Laune hatte.
Immerhin hatte er ihre Fülligkeit noch nie als Makel bezeichnet. Andere waren da weitaus harscher. Vor allem Frauen. Ewig dieses Getuschel der gehässigen Weiber von Station B, das waren die Witwen, die eigentlich neu heiraten wollten, aber keinen fanden und deshalb hier vermodern mussten – sie hörte fast täglich „Wabbel kommt!“ oder „dass sie die Belastung noch aushält – oder eher, dass ihre Schuhe sie noch aushalten!“.
Und sie hatten nicht einmal Unrecht: Nixa WAR schlichtweg zu fett, seit Jahren längst jenseits der 100 kg. Beim letzten Wiegen hatte ihr das Display schon Schwindelgefühle beschert, so dass sie nie wieder auf das dämliche Wiegeding draufgestiegen war. Sie war nun sicher bei 120 oder 130 kg? Sie wusste es nicht.
Sie liebte diesen Wein, das wusste sie. Sie trank ihn schnell, das musste sie.
Glas 2 war genauso voll wie das erste und sie war es ebenfalls.
Sie bekam Hunger. Auf Döner mit Pommes frites. Uhr gucken – lieferte da noch wer? 0:22 Uhr? Ah shit, die lieferten nur bis Punkt 0! Das hatte sie schomma ausgecheckt. Ja Scheiße, wer lieferte denn jetzt noch? Pizzabote? Nee, 23 Uhr. Mau. Hähnchengrill? Wo war das Prospekt? Kacke, im Schrank. Sie hievte sich krachend hoch, stütze sich am ächzenden Tisch ab und taumelte zum Schrank. Im obersten Regal, hm? Nee. Wo dann denn? Ihr wurde etwas übel. So viel Anstrengung vertrug sich nicht gut mit dem vollen Körper.
Sie hielt sich am Schrank fest, doch der war alles andere als standfest.
Einen Moment lag dachte sie, er könnte sie halten. Dann aber spürte sie, wie er nachgab und in ihre Richtung kippelte. Sie hörte sich schreien. Dann fühlte es sich so an, als ob ihr alle Körperzellen mit Säure gespült würden.
Als Nixa wieder aufwachte, war helllichter Tag. Sie lag am Fuße des Wohnzimmerschrankes, der – entgegen ihrer Befürchtung – doch nicht gekippt war.
Ihr Schädel dröhnte. Das kam vom Wein. Ihre Brust tat endlos weh. Das kam sicher von ihrem peinlichen Schreien. Gut nur dass keiner der Nachbarn das gehört hatte. Und wenn, dann waren sie alle tatenlos geblieben. Wie immer. Kein Vorwurf. Sie war genauso. Schnell wegsehen, wenn etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Bloß nicht die Routine einkrachen lassen. Man wollte einfach nichts damit zu tun haben, war mit dem eigenen Kram eingespannt genug.
Jetzt zum Beispiel: Nixa kam kaum noch hoch. Aua, aua, der Rücken, der Brustkorb, oh. Anscheinend war sie übel gefallen.
Warum war sie eigentlich gefallen?
Zwei Gläser Wein – und waren sie auch bis zum Rand gefüllt – steckte sie sonst mit einem müden Gähnen weg. Hatte es an dem Zorn wegen der blöden Kassiererin gelegen? War sowas möglich? Hoffentlich. Von Ärzten hielt Nixa nämlich nicht mehr viel, seitdem der ihrige ihr beim letzten Besuch mit der Androhung einer Ganzkörpervermessung nebst Gewichtsermittlung gekommen war. Denn Schwindel, das käme sicher vom Kreislauf, und der Kreislauf sei durch das Gewicht gestört, es drücke als schwere Last auf den Organismus … ja ja …
Jetzt gerade lag es allerdings wirklich verdammt schwer auf Nixas Körper. Puh … Endlich hatte es sie mit Mühe geschafft, sich aufzurappeln, fühlte sich aber, als hätte sie jemand von innen mit Blei ausgegossen. Ja toll, sie war für gewöhnlich ja auch noch nicht schwer genug.
Sie sah zum Tisch und wolle gerade den guten Wein für sein Nichtgekühlt- bzw. Nichtgefühltwerden bedauern. Da sah sie aber, dass sie nichts sah. Häh? Hatte sie doch mehr getrunken, als sie gedacht hatte? Der Tisch war jedenfalls leer. Im gleißenden Licht des Tages sah er sogar leerer – und reiner – aus als je zuvor.
Hatte sie denn dann die ganze Flasche getrunken? Oh Gott, wie viel Uhr war es jetzt? Hoffentlich noch nicht zu spät, um sich krankzumelden.
Wo war denn hier eine Uhr? Und wo war die Fernbedienung? Wann hatte sie den Fernseher denn ausgemacht? Oh Mann, dank des Zeitalters hatte heute kaum noch wer normale Uhren an der Wand. Wo war ihr Handy? Ach geschenkt, sie musste eh pinkeln. Und im Bad war eine LCD-Uhr unterm Spiegelschrank.
Sie stapfte also los, manövrierte ihre bleierne Masse um die Ecke nach links und bog dann wiederum nach rechts ab. Schon von der Tür aus sah sie das große Display der Uhr und zürnte: 0:12 Uhr? Ja Scheiße nochmal! Das konnte wohl kaum sein bei diesem dröhnenden Sonnenschein! Nun ausgerechnet war dieser teure Kram kaputt!
Dann setzte sie sich direkt auf Toilette und war überrascht, wie das Wasser aus ihr hinausschoss. Ja, die ganze Flasche war es wohl. Hoffentlich nicht noch mehr.
In ihrem Bauch wurde es seltsam feucht und warm, als sie fertig war. Ihre Haut wurde gänsrig. Ein spitzer Schmerz durchzischte sie von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Zu viel Wasser auf einmal weg? Hoffentlich war das Gelage nicht exzessiver, als sie es annahm. Nicht dass sie gleich noch brechen müsste. Kopfschmerzen waren nach sowas immer so eine Sache. Erst recht wenn sie wie eine Ganzgesichtsmaske auf dem Schädel krallten und den Griff immer fester werden ließen.
Sie zog ab und schritt zum Wasserhahn. Das Wasser war eisig. Es schnitt. Aua. Alles tat ihr heute weh. Mehr noch als sonst.
Dann traute sie sich endlich, das gezechte Elend anzublicken – und sprang einen Satz zurück.
Schockstarre-stierend, mit weiten Augen und herbe zitternd besah sie das, was eigentlich ihr Spiegelbild sein musste. Stattdessen stand da nun aber jemand ganz anders.
Nixa kläffte heiser:
„Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?“
Die Person im Spiegel blieb stumm, äffte aber ihre Mundbewegungen nach. Und zwar simultan.
Nixa blieb nunmehr stumm, hob einen Arm, dann den anderen, dann nacheinander in schneller Folge, die Person gegenüber tat dasselbe. Gleichzeitig.
Dann ging sie näher zum Spiegel hin, sah es nun etwas schärfer und wurde von einer so gewaltigen Welle der Betroffenheit erfasst, wie es nie zuvor geschehen war:
Eine eingefallene, alte Frau!
Ihr stand eine ausgemergelte Greisin gegenüber. Die Wangenknochen ragten aus diesem Gesicht hervor, die Kinnpartie wirkte wie ein Sonnenschirm, die Nase floh weit nach vorn, wollte wohl als erstes weg.
Das war sie selbst!
Aber wieso zum Teufel hatte sie nun so ein ausgeleiertes, eingefallenes Gesicht? Gestern bei der Arbeit, als sie im Zimmer von Frau P. nach dem Rechten gesehen hatte, war Nixa ihr eigenes Gesicht noch ganz normal – wie immer etwas prall, rötlich und glänzend – vorgekommen. Und jetzt das?
Fing Krebs so an?
Sie erinnerte sich an den großen Strom, der ihr auf der Toilette entwichen war. Gab es Fälle, bei denen sich binnen Minuten sämtliches Hyaluron aus dem Körper schwemmt?
Es gab ja kaum etwas, das es nicht gab. Es gab alles. Man musste es nur entdecken.
Der erneute Blick in den Spiegel bestätigte das.
Dann wagte sie es, an sich hinabzusehen und merkte erst jetzt, dass unter der vom Push-Up hochgehaltenen Raffung nicht mehr viel war. Außer einem Klumpen leerer Haut.
Sie griff nach dem Klumpen, zog ihn in die Länge und fühlte Übelkeit kommen. DAS also war es, was übrigblieb, wenn alles andere weg war? Ein Gehänge, schlimmer als Opa M.s Gemächt – und das war schon 98 Jahre alt! Womöglich war es sogar noch älter als der Mann selbst.
Nixa wollte etwas trinken.
Sie musste etwas trinken!
Sie brauchte alles Gesöff dieser Erde, um doch wenigstens diese Höhlen im Gesicht wieder aufzupuffern.
Mit Mühe und Not schaffte sie es, ihre neue Schale in die Küche zu wuchten. Warum nur fühlte sie sich immer noch so schwer, ach was, viel viel schwerer an? Muskelschwund?
Umso nötiger brauchte sie nun einen Drink!
Alk war auch eine Art Energydrink und in den meisten Situationen einfach die bessere und schnellere Wahl.
Doch der Kühlschrank bot nichts an. Die Schränke ebenso nicht, bis auf ein paar leere Flaschen, deren Staubglanz danach schrie, endlich im Glasmeer des Containers aufzugehen.
Wenn sie was zu trinken wollte, müsste sie rausgehen und etwas kaufen. Aber doch nicht mit diesem Gesicht!
Sie waberte ins Schlafzimmer und durchwühlte den Kleiderschrank. Nein, nein, das alles war nicht geeignet: Ein Wollschal hielt nicht im Gesicht und wenn, dann würde er ihr langsam die Luft abdrehen. Ein Halstuch sah gefährlich nach Banditentum aus. Sie wollte den Nachmittag nicht in Polizeigewahrsam verbringen. Da könnte sie ja gleich eine Strumpfhose über den Kopf ziehen und mit einem verhüllten Gegenstand rumfuchteln …
Für einen Moment erschien ihr der Gedanke zumindest in Ansätzen umsetzbar. Dann schüttelte sie die Idee wieder ab. Die nächste kam. Aber nicht so richtig: Ihre alten, weiten Strumpfhosen sähen auf diesem Gemergel auch albern aus. Die Überfallenen würden sie auslachen, sie überwältigen, der Polizei übergeben – im Gefängnis würde es dann noch schlimmer werden … Mitinsassinnen würden ihre Kraftlosigkeit ausnutzen und … uaah …
Sie musste dem Drang nach dem Drink also wohl oder übel standhalten. Hier stand ein Bedürfnis einer Urangst gegenüber. Der Kampf der urigen Kräfte. Und wie immer war die ältere die Gewinnerin.
Also beschloss Nixa, sich vor den Fernseher zu setzen. Dort würde man ihr wohl hoffentlich die korrekte Uhrzeit verkünden.
Tatsächlich fand sie selbige im Videotext. Aha, 10:44 Uhr – es war noch nicht zu spät, um sich krankzumelden. Hoffentlich würde man kein Attest einfordern. Mit diesem Körper zu einem Arzt gehen … das wäre … genauso schlimm wie vorher. Wohl noch schlimmer!
Erstmal würde sie es so versuchen.
Geh ran, Herr A., geh ran! Da war er. Sie brauchte nicht einmal zu lügen, als sie ihm von ihren Malästen erzählte. Der Kopf, die Glieder, BLEI! Nein, keine Bleivergiftung – eine schwere Grippe im Anflug, ach was, so schlimm wohl nicht. Gut, gut, aber wenn es in den nächsten zwei Tagen nicht besser würde, müsse sie unbedingt zum Arzt gehen, für ihr eigenes Wohl. Und die Bescheinigung. Gut, gut. Gute Besserung. Trinken Sie viel! Na, wenn der wüsste … Bis bald. Na mal sehen.
Nixa fühlte sich nach dem Telefonat wie gerädert. Der Mann hatte trotz aller vorgeschobenen Freundlichkeit etwas von einem schnappenden Pitbull. Gut dass sie das nun hinter sich hatte.
Sie zappte durchs Programm – überall nur hohle Ratgebersendungen. Wie man seinen Garten winterfest machte … war Nixa doch egal, hatte nicht mal einen Balkon … wie man das Auto am besten vor Frost schützte … interessierte sie nur marginal, da das Ding Ende des Jahres sowieso zur Verschrottung freigegeben würde, nochmal bekäme sie die Möhre gewiss nicht durch den TÜV. Wo aber war das Ratgeberthema „Spontanabnahme – so straffen Sie sich binnen drei Sekunden zur Bikinifigur?“ Ach ja … und: „Liften Sie sich von 90 auf 20!“
Die Ironie des Problems ließ sie immer wieder die Stirn hochziehen, was so leicht wie nie zuvor ging – das war ein unfassbare Unding, das lockere, dünne Fleisch so in Schwung zu spüren.
Dann stieß Nixa auf ein Produkt zum Abnehmen und fühlte, wie sich die schlaffe Haut an ihrem Körper unisono zur großen Gänsehaut aufstellte. Wie dümmlich die Menschheit doch eigentlich war, sie inklusive! Nach langem Gedunse ewig dem stockdürren Ideal hinterherzudiäten – und es doch nie zu erreichen.
Wetteifern. Konkurrieren.
Sogar die Alten machten das noch.
Jeden Morgen kritzelten sich die, die es gerade eben noch konnten, Farbe ins Gesicht, um nach etwas auszusehen, was sie von Natur aus nicht waren. Wofür? Für die Männer, die selbst mit Brille kaum noch etwas sahen? Für die Pfleger, die es in ihrem Heim nicht gab? Für die Pflegerinnen, die es nicht interessierte, weil sie in den Laken der Betten schon genügend Farbpracht entdeckten? Wozu noch dann das Bunt im Gesicht? Würde? Was das Würde?
Was war denn Würde?
Wieso, verdammt nochmal, konnte sie das nicht in einem patenten Satz beantworten?
Wenn Nixa aber selbst keine Würde besaß, wieso brach sie dann regelmäßig zusammen, wenn man sie aufgrund ihrer Hülle kränkte?
Und war es nicht fast das Gleiche, wie das, was die Alten zum Anmalen bewog, wenn sie nun schon wieder überlegte, wie sie die Höhlen des Hauptes und das Hängen der Haut kaschieren konnte?
Wieso empfand sie das eine dann als so banal, wenn sie das ihre als existentiell, essentiell und damit als so viel nachvollziehbarer ansah?
'Eine Welt der Masken. Und ich bin immer eine mittendrin. Egal was ich tue.'
Und dann fiel etwas in ihr. Sie machte den Fernseher aus und ging in die Küche. Das Bleierne wirkte gar nicht mehr so schwer. In der Küche kramte sie nach ihrer Geldbörse, suchte darin nach Bargeld, fand es und fasste einen Entschluss.
Sie hatte ES nie getan, wollte es auch nie tun.
Eigentlich hatte sie es sogar verachtet und bei anderen als Schwäche verurteilt.
Doch nun, in dieser entsetzlichen Lage, die gleichzeitig auch die Erkenntnis brachte, dass ein Gegenteil noch längst nicht die Erlösung aus einer Misere bedeuten musste, revidierte sie alles, was sie jemals zu ihrer eigenen Religion erklärt hatte.
Nein, es war nicht Oberflächlichkeit, was die Leute dazu brachte, sich eine Maske auszusuchen, sondern vielmehr Bedachtheit. Es war die eine Sache, sich ohne Selbstschutz in die Aggression der Außenwelt zu begeben. Sicherlich gab es Charaktere, die das ertragen konnte, die daran vielleicht sogar aufgingen und erstarkten.
Aber es war gleichwohl Wahnsinn, sich in die Klauen von Jägern zu schmeißen, wenn man selbst zu den Sammlern zählte. Das eine passte nicht zum anderen. Die Opfer würden immer wieder von den Tätern gestellt. Das Passive vom Aktiven zu Fall gebracht. Wer sich schutzlos auslieferte, brauchte nicht zu monieren, wenn er fiel.
Nixa wusch sich, zog sich die engsten Klamotten an, die sie in ihrem Kleiderschrank finden konnte und fuhr zum Friseur.
Zuerst ließ sie sich einen radikalen Kurzhaarschnitt verpassen. Niemand würde sie damit auf den ersten Blick wiedererkennen.
Während sie beim Friseur in den Spiegel blickte, kamen ihr die heraustretenden Konturen ihres Gesichts gar nicht mehr so prekär vor. Es war eine Sache der Gewohnheit. Und der allgemeinen gesellschaftlichen Norm.
Damit sie dieser auch möglichst nah rückte, ließ sie sich danach noch eine Portion Profischminke auftragen. Während die Fachkraft an ihr herumwirkte, beobachtete sie ganz genau, wie man was machte, wo welche Konturen angesetzt und wo welche Schatten genutzt wurden. Sie würde es zu Hause immer wieder nachmachen, damit die spätere Maskerade nicht allzu teuer werden würde.
Als sie fertig angemalt war, erkannte sie sich nicht mehr wieder.
Die Farbakzente gaben ihr eine Frische, die sie in ihrem Gesicht zuvor nie erlebt hatte. Die schwarzen Konturen im die Augen verliehen ihr eine seltsame Art der Reife, die ihrem Wesen eine völlig neue, fast dominante Note im Blick verliehen.
Mit einem Mal verstand sie, warum andere Frauen so viel Wert auf Schminke legten, warum sie eine Maske brauchten, um tagtäglich bestehen zu können.
Nachdem sie beim Friseur gut 150 EUR auf den Tisch gelegt hatte und nun auch um ein paar Schminksachen reicher war, fuhr sie ins nächste Kleidungsgeschäft. Ein Traum war wahr geworden: Nun endlich konnte sie Kleidung von der Stange kaufen!
Erst ging sie skeptisch an die Sache heran, machte sich Sorgen, durch die falsche Kontur die Haut ungünstig zu betonen. Doch nachdem sie die ersten paar Waren anprobiert hatte, stellte sie fest, dass ihre Sorgen unbegründet waren. Durch die Kleidung zeichnete sich so gut wie nichts ab. Ihr neues Spiegelbild gefiel ihr mehr und mehr.
Dann tat Nixa etwas, das sie zuvor nie getan hatte:
Sie fragte eine Verkäuferin um Rat.
Diese beriet sie gern und verordnete ihr einige elegante, eng anliegende Blusen und Röcke. Tatsächlich passten die ausgewählten Größen. Erst hatte Nixa befürchtet, die Röcke könnten zu kurz sein. Diese Angst zerschlug sich jedoch – alle schlossen kurz über dem Knie ab, was ihren Beinverlauf perfekt betonte und keine ungünstigen Partien offenlegte.
Sie drehte und wendete sich lange Zeit vor dem Ganzkörperspiegel des Geschäfts. Aber nicht weil es Zweifel gab, sondern aus blanker Faszination.
So konnte es also sein.
So war es also, wenn man nur wagte, etwas aus dem zu machen, was da war und nicht darauf wartete, dass das Wunder von selbst herbeigeflogen kam.
Sie lächelte.
Eine attraktive Frau strahlte aus dem Spiegel zurück.
Publication Date: 11-14-2019
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