Am Bahnhof dieser kleinen Stadt liegen die Gleise im Nebel. Niemand kann sehen, ob der Zug schon in der Nähe ist. Die laute Musik, die aus dem Lautsprecher dröhnt, schluckt jedes Geräusch. Menschen halten sich die Ohren zu und blecken. Niemand hat Kopfhörer dabei. Es ist wie in einer anderen Zeit.
Da stehen die Beiden inmitten einer kühlen Brise, die ihnen synchron Schauer über die Rücken jagt. Sie tauschen verständige Blicke aus und liegen sich dann wortlos in den Armen. Die Musik wird von einer Durchsage unterbrochen. Eine clownesque Stimme dröhnt etwas von einer Verspätung und endet in einem holprigen Gelächter. Die Menschen schreien sich nun an. Alle werden zu spät kommen. Da sie schnell aneinander verdrießen, verfluchen sie bald das Wetter, das Leben und alle potentiellen Selbstmörder, verdammte Scheiße nochmal.
Während ihr Kopf an seiner Brust ruht, versuchen ihre Augen, den Nebel zu durchdringen. Sie scheitern an der Starre der Wand. Noch nie hat sie solch eine Dichtigkeit von gepresstem Dunst erblickt. Ihr ist unwohl, sie hat das Gefühl, jeden Moment könnte eine Heerschar mit Musketen aus dem Nichts auf sie zurauschen. Sie presst sich an ihn, ein Arm schlingt sich um seinen Rücken, eine Hand gräbt sich in seinen Nacken, krault den Haaransatz in einer derart ruhigen Beharrlichkeit, als sei dies ein Moment in Ewigkeit, Amen.
Sie spielen ein Lied, in dem dramatische Stimmen die Großartigkeit ihrer Gefühle besingen. Sie kann nicht ausmachen, ob es dabei um Liebe, Hass oder etwas anderes geht. Das Lied ist in einer Fremdsprache dahingenuschelt, so dass sie nur Teile des Refrains verstehen kann. In ihr rotiert das metallene „I gonna get you!“ und mal klingt es wie eine Drohung, mal wie ein Versprechen, dann wie eine Vorhersage. Ein Vogel unterbricht ihren Gedankenring, indem er sich vor ihren Augen auf dem Bahnsteig niederlässt und wie ein Modell vor einer Milchleinwand posiert. Es ist ein Rabe. Oder eine Krähe. In so etwas war sie nie gut. Sie malt die Krähe in Gedanken auf einen hohen Turm und krault ihm dabei durchs Nackenhaar, ihre Finger gleiten etwas höher, dort streichelt sie weiter, zieht einzelne Strähnen durch ihre Fingerzwischenräume und stellt das Vogelgemälde in eine Ecke, als sie ein Seufzen erreicht.
Sie schaut auf und sieht, dass sich der Nebel gelichtet hat. Sie kann einzelne Büsche hinter den Gleisen sehen. Ihr kommt in den Sinn, dass das alles schon mal geordneter wirkte. Dann nimmt sie die Finger aus seinem Haar, löst sich aus der Umarmung und sieht ihn an. Sein Blick versinkt in einem Ozean aus Wehmut. Sie sagt: „Der Nebel zerfließt.“ Er nickt, stumm, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern. Die Musik hat sich indes gewandelt. Das Stück ist ein anderes und schallt mit rüden Bässen etwas von „Never look back“ in die Welt hinaus. Die Kälte geht mit dem Nebel und die Sonne kommt raus. Die Menschen nehmen die Hände von den Ohren, wippen im Takt der Musik und reden mit einander oder sich selbst. Manche stellen fest, dass sie doch Kopfhörer mit sich führen.
Sie blickt ihm lange in die Augen, Lieder später streichelt sie seine Wangen und lächelt. Dann ist der Nebel ganz weg. Der Bahnhof offenbart sein unaufgeräumtes Umfeld. Die Zeit hat das Gras wachsen lassen, doch der Wind hat es zum Umknicken gebracht. Sie schaut es nicht lang an. Dann sieht sie zu ihm, lässt den Mund hernieder fallen und geht auf die Knie. Der Teer ist seltsam kerbig, in ihren Knien fühlt es sich an, als fräßen sich Würmer in sie. So kniet sie da, ein paar Lieder lang, unfähig ihn anzusehen. In ihrem Geist malt sie die eherne Landschaft in die Wirklichkeit um. Der Lautsprecher ist mittlerweile ein Radio, das mit riesigen Boxen den kleinen Bahnhof beschallt. Die Bässe lassen die Gedärme tanzen, während sie mit drängenden Worten zu irgendetwas auffordern. Sie versteht die Sprache, aber die mehrdeutige Bildhaftigkeit lässt sie erschaudern.
Irgendwann kommt der Zug. Sie kniet noch immer. Die Bahn macht so ein lustiges Tuten, wie man es von den alten Dampfloks kennt, verklärter Stil, unecht, aber schön. Er fährt quietschend ein und lässt sie zuckend aufsehen. Und um Gottes Willen, alles was sie sieht, ist sein teuflisches Grinsen.
Publication Date: 05-20-2017
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