Die stachelige Grüne von gegenüber tanzte in der Urgewalt. Jetzt vor die Türe zu treten war nur etwas für Geübte – Clara gehörte dazu, seit Terry bei ihr war. Das lange Haar des Mischlingsrüden wehte im Wind. Sie sah verträumt zu, wie sich darin immer neue Wirbel bildeten.
Nur mühsam gelang es ihr, den Blick vom Hund zu nehmen und sich vom Fleck zu rühren. Doch es wurde Zeit. Terry war unruhig, stupste immer wieder an ihr Knie. Ein Wink, dass er sich nun dringend lösen musste.
Die Grüne wurde wie immer verschont. Stattdessen würde es wieder die Blaue am Ende der Straße werden. Terry liebte die daran angrenzende große Wiese, auf der er nach verrichtetem Geschäft stets herumtoben durfte. Manchmal warf Clara dort einen Ast, den Terry jauchzend zurückbrachte, meist so flink, dass sie mehr außer Atem war als ihr Hund.
Heute aber würde es wohl nichts mit dem Apportieren. Das Wetter nahm ihr die Luft zum Atmen. Die besonders harten, langen Sturmböen waren am Schlimmsten; die taten ihr richtig weh, piekten auf der Haut, stocherten sie rosig und drückten sich obendrein wie ein Kissen auf Nase und Mund.
Es waren nicht allzu viele Schritte bis zur Blauen, insgesamt vielleicht an die hundert. Heute kam Clara die kurze Strecke wie ein langer Marsch durch ein Kriegsszenario vor. Sie schauderte, zog sich den Kragen bis ans Kinn und versuchte, in ihre Jacke zu atmen. Doch die stickige, heiße Luft bereitete ihr noch mehr Unbehagen. Der Blick auf Terry heiterte sie auf – schwanzwedelnd trabte er erhobenen Hauptes einen halben Schritt voraus und schien den Wind wie eine zusätzliche Streicheleinheit zu genießen.
Endlich war die softe Blaue erreicht. Niemand war da.
An windstillen Tagen ohne Regen war die große Wiese ein beliebter Ort für Picknicks und Hundesport. Etliche Halter aus der Nachbarschaft trafen sich hier zufällig, manchmal auch verabredet, ließen sich gerne auf einer der beiden alten, aber bequemen, Metallsitzbänke nieder. Die Hunde genossen derweil das Leben, jagten einander oder gönnten sich Nähe.
Clara ließ Terry von der Leine und sah dabei zu, wie er zunächst gegen den Stamm der Blauen pinkelte und schließlich in weiten Kreisen über die Wiese sauste. Wie ein Wirbelwind im Sturm, dachte sie und lächelte verzückt, während sie sich auf einer Bank niederließ.
Der Hund rannte und rannte. Claras Blick erstarrte für einen Moment in Sehnsucht. Dann ließen sich ihre Augen von der Kulisse entführen. Nicht nur die sanfte Blaue bot ihr eine augenfällige Vorstellung, sondern auch all die bunt gefleckten Laubbäume, die das Ende der Wiese markierten. Dahinter lag ein düsterer Privatwald, in den sich Clara noch nie reingewagt hatte.
Sie richtete den Blick zum Himmel und bestaunte die vorbeihastenden Wolken. Keine Reibung, kein Erguss. Eine Träne. Dann verpasste ihr der Wind eine Schelle.
Eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr.
„Na, heute ganz alleine hier?“
Sie zuckte zusammen. Ihr Blick fiel aus dem Himmel, ruckartig, so dass es krachte. Ein ungläubiger Blick zu den Bäumen. Dann wirbelte sie herum und blickte in das strahlende Gesicht von Felix, das ihr im ersten Moment wie eine Laterne vorkam, so übermäßig hell wirkte es an diesem dimmen Spätnachmittag. Er kicherte, wohl wegen ihrer offensichtlichen Verblüffung, und begann, zart an ihrer Schulter herumzustochern.
„Huhu, jemand da? Oh Mann, Clara … Wo ist denn dein Hund?“
Erst jetzt bemerkte sie, dass da etwas fehlte. Die Bäume tanzten noch, vollführten weiterhin ihre wilden Kombinationen. Auf dem Feld dazwischen aber war das Kreisen verschwunden. Terry. Etwas in Clara fiel. Sie hörte, wie es bleiern schwer und eisig kalt durch ihren Magen schnellte und im Darm aufschlug. Mit einem Mal sprang sie auf und schrie:
„TERRY!“ Sie versuchte, zu pfeifen. Es misslang.
Kein Hund. Kein Bellen. Nichts. Claras Augen in irrer Weite, rot, rau, Wasserfälle. Darunter bebte es fürchterlich. Zu viel. Sie ließ sich klatschend auf die Bank fallen und heulte dort weiter.
Felix hatte die Bank zu diesem Zeitpunkt längst umrundet und setzte sich neben sie. Er machte eine Bewegung, als wollte er ihr den Arm um die Schulter legen, hielt aber doch inne. Dann besah er die Wiese, ließ die Augen sorgfältig darüber tasten, kratzte sich an der Schläfe und meinte:
„Nun verzweifel doch nicht. Der kann doch eigentlich nur in den Wald gelaufen sein. Hast du das denn nicht gesehen, wo er hin ist?“
Die Frage ließ Clara aufschluchzen. Dann presste sie mühsam hervor:
„Ich Kuh hab die ganze Zeit woanders hingestiert! Ich hab ihn auf dem Gewissen!“
Totenbleich kauerte sie auf der Bank. Die Augen glitten durch Felix hindurch. Die Gesichtszüge erschlafften. Jedwede Kraft war fort.
Sekunden verstrichen. Ein ausgedehnter Moment, in dem Felix Clara musterte und doch nichts sah.
Plötzlich zuckte einer ihrer Finger. Und mit einem Mal fuhr sie sich mit der Hand durchs Gesicht, rappelte sich auf und verkündete mit fester Stimme:
„Verdammte Scheiße, ich muss ihn suchen!“
Dann stapfte sie los in Richtung Wald. Felix sah ihr nachdenklich hinterher. Er kannte sie schon länger. Einen Augenblick verharrte er mit gekräuselter Stirn, dann eilte er hinterher und schloss schnell zu ihr auf. Claras Gang war seltsam, mal rannte sie einige Schritte, dann stolperte sie und wurde seltsam kleinschrittig, so dass Felix immer wieder anhalten musste, um ihr nicht zu enteilen.
Irgendwann hatten sie den Waldrand erreicht. Clara blieb stehen und blickte zu Boden. Einen Moment lang verharrte sie so. Dann wagte sie einen flüchtigen Blick in das finstere Dickicht, das auf den ersten Blick aus einem Irrgarten von hundert dicken Stämmen bestand. Alles war dunkel und unübersichtlich. Das trübe Sonnenlicht durchdrang die üppigen Baumkronen nur spärlich.
Clara versuchte, den Blick durch das Dunkel gleiten zu lassen und Terry zu erspähen. Doch es misslang. Dann rief sie seinen Namen. Die Bäume schienen ihr Rufen aufzusaugen. Kein Bellen. Kein Hund. Mit bebender Unterlippe stierte sie in die nicht einsehbare Ferne. Felix' Stimme ließ sie aufschrecken:
„Hey, lass uns mal losgehen! Es ist Herbst. Wird früh dunkel. Wenn's richtig düster wird, sieht man gar nix mehr.“
Clara drehte sich vom Wald weg, in die Richtung Felix' und sah ihm tief in die Augen. Er blinzelte, drehte sich von ihr weg und sah in Richtung der Bäume. Da sie keine Reaktion zeigte und weiter auf die Stelle stierte, wo gerade noch seine Augen gewesen waren, umklammerte er ihren Oberarm, ging weiter und zog sie mit sich.
Hastigen Schrittes durchlief Felix die ersten paar Meter der unebenen Strecke. Bemooste Unebenheiten, weit ausladende Wurzelstränge und verschiedene Abhänge machten es ihm schwer, in möglichst ebenmäßigem Schritt zu führen. Noch immer hielt er Clara fest. Sie kam immer wieder ins Straucheln und lief ihm mehrmals in den Rücken, so dass er Mühe hatte, nicht nach vorne überzukippen.
Das, was um sie herum wucherte, nahm Clara nur mit beschränkter Sicht wahr. Die prallen Pilzköpfe kamen ihr wie die maroden Emporkömmlinge eines alles verzehrenden Todesschwamms vor. Was wenn Terry von ihnen gefressen hatte und nun unrettbar vergiftet war? Wie würde er sich dann nur quälen? Wieder dieses schwere Fallen in ihr. Ein dumpfer Schmerz im Abdomen, ein Schrillen im Kopf. Sie schloss die Augen, übersah das hohe Wurzelgeflecht vor ihren Füßen und stolperte so schwungvoll, dass sie in hohem Bogen gegen den Rücken von Felix flog. Der konnte der immensen Wucht des Aufpralls nicht standhalten und kippte wie gefällt vornüber weg.
Clara traf es besonders heftig. Sie prallte so ungeschickt von Felix' Körper ab, dass sie seitlich wegrollte und einen kleinen wildbewachsenen Hang hinunterschlitterte. An sich gab es dort keine gefährlichen Passagen. Doch sie drehte sich während ihrer Rutschpartie, so dass sie schließlich unsanft mit dem Kopf voran am Stamm eines Baumes anschlug.
Felix erlitt Schürfwunden an Händen und Knien. Doch er rappelte sich geschwind wieder auf und machte sich auf den Weg zu ihr. Der Abstieg in das Dickicht war ungefährlich – solange man nicht ausrutschte. Er war aber geschickt genug, um nicht einzusacken und dieselbe Schlitterpartie wie Clara hinzulegen. Bald kam er neben ihr zum Halten und beugte sich zu ihr hinab. In einem kurzen Moment der Ohnmacht zierte ein merkwürdiges Lächeln ihr Gesicht. Es wirkte, als ob sie in einem erfüllenden Traum zugegen war. Als Felix ihr jedoch zart auf die Wangen klatschte, schwanden die Hirngespinste. Sie schlug die Augen auf und sah ihn direkt an.
„Wie viel Uhr ist es?“ Ihr Blick vermittelte gehetztes Unbehagen. Felix besah seine Armbanduhr, gerne offenbar, denn ihre Augen schienen ihn zu beunruhigen.
„Äähm, gleich ist's viertel nach fünf. Noch haben wir ein paar Minuten, bevor es ganz düster wird. Aber sag mal – kannst Du denn so überhaupt weitermachen?“
Clara richtete sich auf, etwas mühsam, hielt sich den Kopf, zischte und verengte die Augen.
„Hm, ich hab keine Ahnung. Was machen wir denn eigentlich hier? Sind wir für's Pilzesammeln mittlerweile nicht zu alt?“
Felix' Mundwinkel machten einen kleinen Ruck.
„Nein. Wir suchen deinen Hund. Hast du das vergessen?“
Clara rieb sich die Stirn. Dann schloss sie die Augen, atmete tief durch, öffnete sie wieder und blickte auffällig verdüstert vor sich.
„Hm, ja ... Das hatte ich wohl vergessen.“
Heftiger Drehschwindel überkam sie. Ein Baum musste sie stützen. Die Rinde fühlte sich unendlich furchig und rau an. Für einen Moment glaubte Clara, sich tausende von Splittern in ihre Hand zu schleifen. Doch als sie die Hand fortnahm und mehrere Sekunden lang musterte, war da nichts außer ein paar gelösten Rindenstückchen und ein paar Fleckchen Harz.
Felix unterbrach sie.
„Es wird nicht früher. Wenn wir ihn heute nicht mehr finden, muss er die Nacht im Wald ausharren. Weiß nicht, ob er die Kälte so gut wegstecken wird. Von den anderen Gefahren ganz abgesehen.“
Clara nickte, huschte mit ihrem Blick aber nur kurz in seine Richtung und setzte sich dann ungezielt in Bewegung. Ihr Weg führte sie tiefer ins dicht Bewachsene hinein, knietief stand sie in Sträuchern, haarscharf daneben eine Brennnesselfamilie, die bedrohlich in den leisen Ausläufern des nur spärlich eindringenden Windes zuckte. Felix schüttelte den Kopf und schien irgendetwas mit sich selbst auszufechten. Dann meinte er in einem ungewohnt scharfen Tonfall:
„Glaubst du, er versteckt sich darin vor dir?“
Wie versteinert blieb sie stehen und blickte an sich hinab. Überall umrankten sie dichte Grünstrünke, offensichtlich dornenlos, nur seltsam kitzelnd, auch wenn sie nicht lachen konnte. Clara spürte, dass sie hier raus musste. Vorsichtig tapste sie aus Dickicht hervor, sah sich um und zeigte dann auf die weggleiche Anhöhe, von der sie gerade eben hinuntergepurzelt war.
„Lass uns mal wieder da hochgehen. Da haben wir mehr Übersicht.“
Felix nickte und stieg hinter ihr her. Sein Gesicht war ein Fragezeichen.
Als sie die erhabenere Position erreicht hatte, blieb sie stehen und blickte sich um. Dann lächelte sie. Felix musterte ihr Gesicht. Er warf die Stirn in Falten und knurrte:
„Sag mal, hast du dir den Kopf vielleicht nicht doch schwerer angestoßen, als es dir bewusst ist? Was ist denn jetzt mit Terry? Suchen wir ihn oder nicht? Gerade eben noch hast du geheult wie eine Blöde. Und jetzt starrst du verträumt in die eigentlich so verhasste Waldlandschaft. Check mal deinen Verstand ...“
Clara ließ sich jedoch nicht beirren und schloss die Augen. Ihre Nasenlöcher weiteten sich in Ekstase, als sie die schwere, harzgeschwängerte Luft in sich sog und von Kopf bis Fuß durch sich hindurchrauschen ließ. Anders als sich Felix das wahrscheinlich gerade vorstellte, war sie ganz im Hier und Jetzt, voll bei sich, so bewusst, wie sie nur sein konnte.
„Nein nein, es ist alles so, wie es sein soll.“
Felix sah sie mit großen Augen an. Doch alles was sie tat, war dazustehen und die Bäume anzulächeln. Mit einem Fuß schürfte er auf dem Waldboden herum und kickte lose Steine den Abhang hinab. Ein Seufzer entfuhr ihm und dann, ganz unerwartet, rief er plötzlich:
„TEEERRY! Komm her, Junge!“
Claras Kopf fuhr herum, und sie bellte Felix geradezu an:
„Herrje, was machst du denn da?“
Grimmig stapfte er auf sie zu und hielt ihr den Handrücken an die Stirn. Sie wich einen Schritt zurück und sah ihn fragend an. Er schüttelte wild den Kopf und krächzte:
„Sagemal, was ist denn eigentlich los? Ist dir dein Terry nun egal?“
Sie blickte ihn verloren an und schüttelte den Kopf. Felix blieb beharrlich:
„Ja, was ist denn dann?“
Sie zuckte mit den Schultern, so als wüsste sie selbst nicht, was sie gerade jetzt an Ort und Stelle verloren hatte. Die Contenance verlierend rüttelte Felix an ihr herum, so dass ihre Haare umherflogen.
„Ja hallo? Es ist doch DEIN Hund! Soll ICH mir jetzt die Seele nach ihm rausschreien?“
Sie löste sich, indem sie noch einen Schritt zurücktrat. Ihr Körper vibrierte. Etwas bahnte sich an, stieg in ihr hoch, war kurz vorm Überlaufen. Felix sah es wohl auch, denn nun war er es, der zurückwich. Doch ein Ausbruch kam keiner - Clara schloss die Augen und fing an zu summen.
Zu viel für Felix. Er sah sie noch einmal eingehend an, schüttelte abermals den Kopf und stapfte dann schimpfend davon. Während er seines Weges ging, murmelte er entrüstet vor sich hin:
„Der ist doch nicht zu helfen. Soll sie doch mit ihrem Köter hier versauern.“
Und so blieb Clara allein im Wald zurück, noch immer summend. Minutenlang gelang es ihr, die fremde Melodie durch ihren Geist vibrieren zu lassen. Doch dann brach alles zusammen, der Ton, das ganze Kartenhaus. Der Abend war da. Finsternis stellte sich wie im Zeitraffer ein. Sie blickte hoch, in den klaren Himmel und zählte die Sterne. Laut – 1, 2, 3 – weiter kam sie nicht. Dann baute es sich doch vor ihrem geistigen Auge auf:
Eine Nacht wie diese. Gestern erst. Direkt vor ihrer Tür. Der späte Gassigang im schwarzen Regen. Aus Niesel- wurde Platzregen, dann Hagel. Terry zog heftig, wollte raus aus dem Beschuss. Doch Clara zögerte, blieb stehen, wollte unbedingt den Schirm öffnen. Das alte, zerbeulte Ding hakte aber. Sie brauchte beide Hände. Sie nahm sie. Und dann geschah es – die Leine fiel zu Boden, Terry rannte los. Direkt auf die Straße. Clara hinterher, den Schirm längst zu Boden geschmissen. Doch das Auto, dieses eine verdammte Auto, war da schon zu nah. Bei Terry. Und sie zu fern. Ein Krachen. Ein Körper, der flog und zerbrach. Ein Moment, der alles veränderte.
„Sag mal, Nora, bist du eigentlich so naiv? ... Oder neuerdings einfach ein wenig senil?“
Hanna biss sich auf die Unterlippe. Der Ton zu scharf. Ein paar Worte zu viel. Doch sie kam nicht drumherum, sich über ihre Freundin Nora zu ärgern. Gerade eben hatten sie beide
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 05-02-2017
ISBN: 978-3-7438-1088-4
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