Cover

Verzauberte Herzen - Band 1

 

Von Traumprinzen und Prinzenträumen

 

Eine Anthologie der Homo Schmuddel Nudeln

 

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Copyright Texte: die Autoren

Fotos: Herzen: Depositphotos_2257956_l-2015, Cover: Shutterstock Stockvektor-Nr: 13 04 22 96 25 von Ket4up, Sterne im Vordergrund 19 88 03 44 7 von Crystal Eye Studio, Spirale 71 72 32 96 von Maxim Matsevich, rotes Herz 71723296 von Maxim Matsevich

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Bettina Barkhoven, Sissi Kaiserlos

Kontakt: sissi-kaiserlos@gmx.de

 

Vorwort

 

Nicht nur in Zeiten der Pandemie können Märchen einige Minuten Vergessen schenken; nicht bloß die traditionellen, sondern auch Liebesgeschichten, die ebenfalls märchenhaften Charakter haben.

Für diese Ausgabe haben besonders viele Autor*innen ihre Storys gespendet. Sie haben damit Karmapunkte erworben und schenken dir, liebe Leser*innen, hoffentlich eine zauberhafte Lesezeit.

Danke, dass du dieses Buch erworben hast. Du sammelst damit ebenfalls Karmapunkte, denn die Einnahmen gehen in voller Höhe an ein gemeinnütziges Projekt. Die Erlöse werden an die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz Berlin gespendet. Die Schwestern engagieren sich bundesweit im LGBT-Bereich und überall dort, wo auch Hilfe vonnöten ist. Weitere Infos findest du auf ihrer Website.

Viel Spaß beim Lesen wünscht, im Namen aller Autor*innen,

Sissi Kaiserlos im Nudelgewand

 

Wie im Märchen - Sissi Kaipurgay

Zwischen Tee- und Brotsorten kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung.


1.

„... und sie lebten glücklich, bis an das Ende ihrer Tage.“ Michael klappte das Buch zu und betrachtete seufzend seinen Sohn, der schon vor einigen Sätzen eingeschlafen war.

Warum war das Leben kein Märchen? Wieso kam kein Prinz und entführte ihn mit Jojo aufs Schloss?

Natürlich verstand sein kleiner Sohn noch kein Wort von dem, was er vorlas, aber er war felsenfest überzeugt, dass Jojos Urvertrauen dadurch wuchs, Papis Stimme beim Einschlummern zu hören. Im Grunde hätte er auch eine Speisekarte oder Betriebsanleitung vortragen können, doch er liebte nun mal Geschichten mit Happy End. Ja, es war schon eine gewisse Portion Eigennutz dabei.

Er legte die Lektüre auf den Nachtschrank, knipste das Licht aus und schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum. Die Tür ließ er angelehnt, damit er Jojo hören konnte.

Im Wohnzimmer setzte er sich auf die Couch und starrte die schwarze Mattscheibe der Glotze an. Warum war Jojos Mutter bei der Geburt gestorben und hatte ihn und ihren Sohn allein gelassen? War es ein perfider Racheakt gewesen? Hatte sie gewusst, dass er sich von ihr trennen wollte? Du spinnst!, schimpfte einen Stimme in seinem Kopf. Carina hat sich das nicht ausgesucht.

Natürlich hatte sie das nicht. Sie war eine lebenslustige Frau, die garantiert niemals freiwillig gestorben wäre. Genau deshalb hatte er sich ja in sie verliebt. Leider war es nur ein kurzes Strohfeuer gewesen. Warum die Flamme erloschen war, entzog sich seiner Kenntnis. Vielleicht hatte ihn ihre besitzergreifende Ader abgeschreckt. Eifersucht war ihm ein Gräuel.

Mit einem weiteren Seufzer griff er nach der Fernbedienung. Damit Jojo nicht aufwachte, stellte er den Ton leise. Es interessierte ihn eh nicht sonderlich, was die Kandidaten in der Show von sich gaben.

Seit Jojo auf die Welt gekommen war, befand er sich in Elternzeit. Ihm war ja gar nichts anderes übriggeblieben, da er seinen Sohn keinesfalls weggeben wollte. Bedauerlicherweise reichte das Geld hinten und vorne nicht. Er musste ein hartes Sparprogramm fahren, um über die Runden zu kommen. Vorrangig waren stets Jojos Bedürfnisse, was dazu führte, dass Michael manchmal tagelang nur Haferflocken aß. Oder eine billige Müslisorte. Je nachdem, was gerade im Angebot war.

Vor Jojos Geburt war es ihm etwas besser gegangen. Sein Einkommen hatte für Miete und Lebensmittel vollauf gelangt und wenn er sich einige Monate etwas einschränkte, sogar für eine günstige Pauschalreise. Viel größer waren seine Ansprüche nicht. Er brauchte weder ein Auto, noch sonst welchen Luxus.

Michael stammte aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern hatten ihn gelehrt, dass Liebe wichtiger war als Geld. Die beiden waren inzwischen in Rente und mussten, genau wie er, sparsam leben. Wenn man sein Leben lang im Niedriglohnsektor gearbeitet hatte, reichte es später kaum fürs Nötigste.

Er klappte sein Notebook auf und startete es. Die alte Möhre benötigte fast eine Viertelstunde, bis sie betriebsbereit war. Die Wartezeit nutzte er, um sich aus der Küche eine Apfelschorle zu holen. Auf dem Rückweg spähte er ins Schlafzimmer. Jojo atmete tief und gleichmäßig.

Mit seinem Sohn hatte er großes Glück. Der Junge war überwiegend friedlich und schlief inzwischen die meisten Nächste durch. Überhaupt war Jojo ein liebes Kind, zudem außergewöhnlich hübsch. Na ja, das behaupteten bestimmt alle Väter von ihrem Nachwuchs.

Zurück auf der Couch begann er, auf eBay nach neuen Klamotten für Jojo zu suchen. Er hasste den Billigkram von KAK und Co, zumal das Zeug manchmal richtig giftig stank. Für Jojo musste es nicht Armani sein, aber schon ein Öko-Label, weil sein Sohn zu Hautreizungen neigte.

Zwei Stunden später hatte er einige Kleidungsstücke auf seine Beobachtungsliste gesetzt. Zufrieden mit seiner Ausbeute sah er noch ein wenig fern, bevor er sich bettfertig machte und zu Jojo gesellte. Nachdem er seinen Sprössling ein bisschen bewundert hatte, kroch er unter seine Decke und schlief rasch ein.


Am folgenden Tag stand Einkaufen auf seiner Agenda. Vorher wollte er seinen Eltern einen Besuch abstatten.

Erschöpft, vielleicht von den überschwänglichen Liebesbekundungen der beiden, schlief sein Sohn, als sie aus seinem Elternhaus in Richtung Supermarkt aufbrachen. In Michaels Rucksack befand sich selbstgebackener Kuchen, das Allheilmittel seiner Mutter gegen jede Art von seelischem Ungleichgewicht. Meist half es sogar, was bestimmt am hohen Zuckergehalt lag.

Das Verhältnis zu Jojos anderen Großeltern, seinen Schwiegereltern in Spe, war gespalten. Einerseits schoben sie ihm die Schuld an Tod ihrer Tochter zu, andererseits wussten sie, dass das Unsinn war. Nur äußerst ungern besuchte er sie, weshalb er bisher nur zweimal bei ihnen gewesen war. Einmal drei Wochen nach Jojos Geburt, einmal vor einem Monat.

Im Supermarkt, einem Laden mit großem Non-Food-Angebot, klapperte er als erstes diese Abteilung ab. Er fand jedoch nichts Brauchbares. Als nächstes steuerte er das Brotregal an. Eine Packung geschnittenes Feinbrot landete in seinem Einkaufskorb. Das Zeug schmeckte wie Pappe, war aber billig.

Als er sich anschickte weiterzugehen, fiel ihm ein Mann, der einige Meter entfernt stand, ins Auge. Ein attraktiver Typ, der genau seinem Beuteschema entsprach: Groß, dunkelhaarig, schlank. Der Mann beäugte etwas aus nächster Nähe, mit zusammengekniffenen Augen. Vielleicht war er weitsichtig.

Da Jojo weiterhin selig schlief, näherte er sich dem Typen. „Kann ich Ihnen helfen?“

Es ging wirklich um Nächstenliebe, nicht um einen Aufriss. Solche Männer waren ohnehin allesamt hetero.

„Das wäre lieb. Hab meine Lesebrille vergessen.“ Der Typ lächelte ihn an und reichte ihm die Packung. „Ist da Ingwer drin?“

In dem Tee befand sich welcher. Mit einem enttäuschten Seufzer stellte der Mann das Päckchen zurück ins Regal. „Schade. Mir gefiel die Verpackung.“

„Wie wäre es denn hiermit?“ Michael nahm eine Sorte mit unauffälligem Design in die Hand und studierte die Inhaltsangabe. „Kein Ingwer.“

„Wunderbar.“ Erneut schenkte der Mann ihm ein breites Lächeln, dann guckte er Jojo an. „Hübsches Kind.“

„Hübsch, stark und wahnsinnig klug. Eben mein Sohn“, brüstete sich Michael.

„So, so“, murmelte der Typ.

„Schönen Samstag noch“, verabschiedete er sich, tippte sich an einen imaginären Mützenschirm und ging weiter.

An der Kasse sah er den Mann erneut. In dessen Einkaufskorb lag, neben dem Tee, lediglich eine Tiefkühlpizza und ein Sixpack Bier. Also war der Typ Single, konstatierte er. Leider nützte ihm diese Erkenntnis gar nichts. Davon mal abgesehen war er eh nicht auf der Suche nach einem Partner. Erstmal musste Jojo aus dem Gröbsten rauswachsen.

Sein Hang zum gleichen Geschlecht war mit ein Grund, weshalb es mit Jojos Mutter nicht geklappt hatte. Obwohl er sie sehr mochte, war es im Bett nicht sonderlich gut gelaufen. Er hatte sich sogar dabei ertappt, an Männer zu denken, wenn er mit ihr schlief. Somit war sein Versuch, auf Hetero umzuschwenken, wieder mal fehlgeschlagen. Davor hatte er es schon ein paarmal probiert, stets mit dem gleichen Ergebnis. Manche lernten eben nie aus Erfahrungen.


Einige Tage später, als er erneut den Supermarkt aufsuchte, ertappte er sich dabei, nach dem Mann Ausschau zu halten. Obwohl er sich vorsagte, diesen Unsinn bitte zu lassen, schlug sein Herz jedes Mal schneller, wenn er einen Dunkelhaarigen in einem der Gänge erspähte.

Auch bei seinen nächsten Einkaufsausflügen schaute er jedem Mann mit dunklen Haaren hinterher.

Am Samstag, eine Woche nach ihrer Begegnung, traf er den Typen in der Frühstücksflockenabteilung wieder. Der Mann trug eine Lesebrille und inspizierte gerade eine Müslipackung.

„Diesmal benötigen Sie meine Hilfe offenbar nicht“, sprach er den Typen an.

Sein Gegenüber linste über den Brillenrand und begann zu grinsen. „Kommt drauf an. Ich kann mich nicht entscheiden, welches Müsli ich kaufen soll.“

„Meine Empfehlungen beschränken sich auf Preis-Leistung.“

Der Mann stellte die Tüte zurück und beugte sich zu Jojo runter. „Hi, junger Mann. Wie geht’s?“

„Jojo geht’s prima. Er hat mich heute mit Karottenbrei vollgespuckt und fand das urkomisch. Danach musste ich mich umziehen.“

Jojo giggelte, wobei Spuckebläschen entstanden.

„Das hat bestimmt sehr lustig ausgesehen“, schlug sich der Typ auf Jojos Seite. „Was hat denn seine Mutter dazu gesagt?“

„Ich bin alleinerziehend.“

„Wirklich ein süßer Junge“, stellte der Mann fest, richtete sich wieder auf und die Aufmerksamkeit auf das Müsliangebot. „Welche Marke empfehlen Sie?“

Kurzerhand nahm Michael seine Lieblingssorte aus dem Regal. „Die hier ist lecker. Manchmal gibt’s die im Sonderangebot.“

„Danke.“ Der Mann legte die Packung in den Einkaufskorb, in dem sich bereits eine Dose Ravioli befand. „Kann ich Sie auf einen Kaffee einladen?“

Perplex starrte er den Typen an.

„Als Danke für den Müsli-Tipp“, fügte der Mann hinzu.

„Das ist sehr freundlich, aber im Moment passt es nicht. Jojo muss gleich seine Zwischenmahlzeit haben.“

„Vielleicht ein anderes Mal?“

Was sprach eigentlich dagegen? Der Mann wollte nur nett sein, mehr nicht. „Gern.“

„Dann sollten wir unsere Handy-Nummern austauschen.“

Eine logische Konsequenz. Schließlich konnten sie nicht aufs Schicksal vertrauen, dass sie sich wiedertrafen. Michael zückte also sein Handy und tippte die Nummer, die der Mann ihm diktierte, ins Gerät.

„Rufen Sie mich an, wenn es mal besser passt“, bat der Typ, schenkte Jojo und ihm ein weiteres Lächeln und ging davon.

Nachdenklich schaute er dem Mann hinterher. Sein Gaydar war nicht sonderlich ausgeprägt, dennoch sagte ihm etwas, dass er es mit einem Gleichgesinnten zu tun hatte. Welcher Hetero lud denn einen Mann zum Kaffee ein? Er kannte jedenfalls keinen.

„Aaaaah!“, meldete sich Jojo zappelnd zu Wort.

„Hat da jemand in seine Windel gepupst?“, mutmaßte Michael und setzte sich in Bewegung, um rasch seinen restlichen Einkauf zu erledigen.

Bis er die Kasse erreichte, hatte sich Jojos Unbehagen in lauten Missmut verwandelt. Als er zahlte, warf die Kassiererin ihm einen mitleidigen Blick zu. Auf ein schreiendes Kind gab es zwei Reaktionen: Entweder Mitgefühl oder Missbilligung, dass man seine Brut so gar nicht im Griff hatte.

Sein Heimweg wurde begleitet von Jojos Gebrüll. Mit vollgepupster Windel war sein Schatz unerträglich. Dafür brachte Michael Verständnis auf. Er wollte auch nicht mit nasser Hose durch die Gegend geschaukelt werden.


Es dauerte drei Tage, bis er sich traute, bei seiner Supermarktbekanntschaft anzurufen. Er kannte ja noch nicht mal den Namen des Mannes. Wie peinlich!

„Kruse“, meldete sich eine sonore Stimme.

„Hi, hier ist Michael Mertins. Wir haben uns neulich in der Müsliabteilung getroffen.“

„Ich hatte schon Sorge, dass Sie sich nicht melden. Zum Glück unbegründet.“

„Na ja, ein bisschen komisch ist es schon, nicht wahr?“

„Zugegeben. Ich hab sowas noch nie gemacht.“

„Also ...“ Michael atmete tief durch. „Steht Ihre Einladung noch?“

„Natürlich. Wann passt es Ihnen denn?“

„Heute Mittag? Ich muss eh einkaufen und dachte, wir könnten im Steh-Café, vorn im Supermarkt ...“ „Das ist doch viel zu ungemütlich. Ein paar Schritte weiter gibt es ein uriges Café, mit Plüschsesseln und so“, unterbrach ihn der Mann. „Da bin ich häufig.“

„Hört sich gut an.“

„Also um eins im Café zu den drei Linden?“

„Ich werde da sein. Wir, meine ich. Jojo ist natürlich dabei.“

„Wunderbar. Dann bis nachher.“

„Bis nachher“, erwiderte Michael und beendete die Verbindung. Er betrachtete Jojo, der auf einer Decke lag und einen Kauring besabberte. „War das die richtige Entscheidung?“

Jojo streckte ihm den Ring entgegen. „Ah!“

Er wertete das als ja.


Um Punkt eins betrat er, Jojo im Tragetuch, das Café und schaute sich suchend um. Kruse saß an einem Tisch in einer Nische und winkte ihm zu. Erleichtert - insgeheim hatte er befürchtet, versetzt zu werden - hielt er darauf zu und ließ sich auf einem der beiden freien Stühle nieder.

„Hallo, ihr beiden“, begrüßte sie Kruse. „Ich bin übrigens Andreas.“

„Michael“, erwiderte er und zeigte auf seinen Sohn. „Jojo.“

„Ist das eigentlich sein richtiger Name?“

Michael nickte. „Seine Mutter wollte ihn so nennen. Ich war für Johannes, aber das fand sie zu spießig.“

„Darf ich fragen, was mit seiner Mutter geschehen ist?“

„Bei der Geburt gestorben.“

„Das tut mir leid.“

Er befreite Jojo aus dem Tragetuch und rückte ihn auf seinem Schoß zurecht. „Es ist ja schon eine Weile her.“

Ein Kellner tauchte auf. „Was darf ich den Herrschaften bringen?“

Andreas bestellte Kaffee und ein Sandwich. Angesichts seines knappen Budgets beließ Michael es bei einer Tasse Filterkaffee, obwohl er sich gern ein Stück Torte gegönnt hätte. Die Auslage sah verlockend aus.

Als der Ober gegangen war, fragte Andreas: „Darf ich Jojo mal halten?“

Eigentlich gab er seinen Sohn ungern in fremde Hände, doch in diesem Fall machte er eine Ausnahme. Jojo zeigte ein zahnloses Grinsen, als Andreas ihn übernahm. Sein Sohn war für Michaels Geschmack ein bisschen zu zutraulich, aber das würde sich bestimmt irgendwann ändern.

„Na du?“, säuselte Andreas und kitzelte Jojo am Kinn. „Hast du deinen Papi heute wieder bespuckt?“

„Zum Glück nicht. Es gab nämlich Kartoffel-Spinat-Brei.“


2.

Um drei endete ihr Treffen, weil Andreas zu einem Termin musste. Michael bedauerte das sehr. Er hätte gern noch länger mit Andreas geplaudert. Trotzdem sie sich kaum kannten, konnten sie über alles Mögliche reden und sogar schweigen, ohne dass es unangenehm wurde.

Vor der Tür verabschiedeten sie sich.

„Ruf wieder an, wenn du Lust auf einen Kaffee hast“, bat Andreas.

„Das mache ich.“

„Pass gut auf deinen Papa auf“, wandte sich Andreas an Jojo, der wieder im Tragetuch hing.

Auf dem Nachhauseweg ließ er ihre Unterhaltung Revue passieren. Im Gegensatz zu ihm war Andreas mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, dafür mit gefühlskalten Eltern. Da zeigte sich mal wieder, dass Geld nicht glücklich machte. Inzwischen leitete Andreas das Familienunternehmen, einen Papiergroßhandel. Auch darauf war er nicht neidisch. Derart viel Verantwortung zu tragen, war kein Zuckerschlecken.

Am liebsten hätte er gleich am folgenden Tag Andreas angerufen, doch das hätte aufdringlich ausgesehen. Er wartete also einen weiteren, bevor er Andreas‘ Nummer wählte.

„Schön, dass du dich meldest. Ich hätte dich sonst heute Abend angerufen“, legte Andreas sofort los. „Am Wochenende soll das Wetter sommerlich werden. Hättest du Lust zu grillen?“

„Klar.“

„Dann kaufe ich alles Nötige ein und hole dich und Jojo am Samstag um zwei ab.“

„Du brauchst uns nicht abholen.“

„Ich hab schon einen Kindersitz besorgt. Außerdem brauchst du mit Bus und Bahn dreimal so lange.“

Das stimmte. Michael hatte nämlich aus Neugier Andreas‘ Adresse auf Google angeschaut und bei der Gelegenheit gleich den Routenplaner benutzt. Sie wohnten zwar nicht weit voneinander entfernt, doch für den öffentlichen Nahverkehr absolut suboptimal. „Dann nehme ich dein Angebot an.“

Andreas lachte leise. „Ich kann dich förmlich mit den Zähnen knirschen hören.“

„Du irrst dich. Es ist mir total leichtgefallen einzulenken.“

„Grüß Jojo von mir. Wir sehen uns Samstag.“

„Bis dann“, erwiderte Michael, legte auf und wandte sich an Jojo, der neben ihm auf der Couch lag. „Ich glaube, Andreas steht auf dich.“

Aus großen Augen guckte sein Sohn ihn an.

„Also, auf Kinder im Allgemeinen“, präzisierte er.

Jojo runzelte die Stirn. Im nächsten Moment ertönte ein Furz. Man könnte das so deuten, dass es seinem Sohn pupsegal war, wie Andreas zu ihm stand.

Das Gegenteil bewies Jojo zwei Tage darauf, als Andreas sie abholte. Sein Sohn freute sich nämlich wie ein Schneekönig. Michael wurde sogar ein bisschen eifersüchtig, als Jojo Andreas aus Kulleraugen anhimmelte.

Der Kindersitz auf der Rückbank wirkte teuer. Als er seinen Sohn darin festschnallte, fiel ihm das Schild einer Luxusmarke ins Auge. Natürlich konnte sich Andreas sowas leisten, dennoch spürte er einen Hauch schlechten Gewissens. Er hätte doch mit dem Bus fahren sollen, um solche Anschaffung zu vermeiden. Andererseits hatte Andreas den Sitz schon vorher gekauft, außer es handelte sich um eine Lüge. Das wiederum glaubte Michael nicht.

Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Andreas‘ Anwesen - anders konnte man das moderne Stadthaus nicht bezeichnen - sah in Natura noch beeindruckender aus als auf dem Monitor. Eine schneeweiße Fassade mit Stuckelementen, davor ein schmiedeeiserner Zaun. Auf Knopfdruck öffnete sich ein Tor in demselben und gab den Blick frei auf eine Tiefgaragenzufahrt. In dieser Gegend wohl ein Must-have, da die Straße dicht an dicht mit Blechkarossen vollgestellt war.

Es wunderte ihn nicht, dass es einen Fahrstuhl gab, der sie vom Keller ins Erdgeschoss beförderte. Blanke Dielenböden, weiße Wände, edle Möbel, wohin man auch sah. Ein Ambiente, das bei Michael Unbehagen erzeugte. Er bevorzugte eine wohnliche Atmosphäre, nicht die eines Ausstellungsraumes.

Auf der Terrasse standen Teakholzmöbel. Bunte Kissen, eine farblich passende Tischdecke und ebensolcher Schirm vermittelten südliches Flair, genau wie die zu Kugeln geschnittenen Buchsbäume, die in Kübeln den Freisitz zum Rasen hin abgrenzten.

Das Laufgitter, in das Michael Jojo setzte, passte nicht zum Rest. Vermutlich war es in Teak nicht vorrätig gewesen, überlegte er sarkastisch. In dem Kinderknast befand sich eine gepolsterte Decke, auf der sich Spielzeug türmte. Sein Sohn schnappte sich eine Rassel und begann, Lärm zu veranstalten.

„Möchtest du Eistee oder lieber was anderes?“, erkundigte sich Andreas.

„Eistee ist in Ordnung.“ Er ließ sich auf einem der Stühle nieder und betrachtete die Umgebung.

Links und rechts war die Rasenfläche von grünem Maschendraht begrenzt. Am Ende des Grundstücks stand ein Baum, den er als Kirsche einschätzte. Auf der einen Seite der Terrasse bot eine hohe Mauer Sichtschutz, auf der anderen Büsche, die sich auch einige Meter an der Grenze entlangzogen. Im Ganzen wirkte der Garten heimelig und lud dazu ein, sich zu entspannen.

„Hast du einen Gärtner?“, wandte er sich an Andreas, der ihre Gläser gefüllt und neben ihm Platz genommen hatte.

„Nö. Das bisschen schaffe ich noch allein.“

Wie bereits im Café entwickelte sich eine Unterhaltung, die von einem Thema zum nächsten wanderte. Erstaunlicherweise waren sie in vielen Dingen einer Meinung. Deshalb erstaunlich, weil sie doch auch ganz verschiedenen Welten stammten. Michael hatte geglaubt, mit einem reichen Schnösel - wie er solche Leute wie Andreas nannte - gar nichts gemein zu haben. Stattdessen gewann er immer stärker den Eindruck, mit einem Seelenverwandten zu reden.

Zwischendurch verlangte Jojo Aufmerksamkeit. Immer, wenn das geschah, war Andreas sofort zur Stelle. Bei einer dieser Gelegenheiten verpasste sein Sohn dem schicken Designer-T-Shirt einen großen Sabberfleck. Andreas nahm das schmunzelnd zur Kenntnis und machte keinerlei Anstalten, das Shirt gegen ein sauberes auszutauschen. Auch in dieser Hinsicht schienen sie gleich zu ticken.

Gegen vier heizte Andreas den Grill an. Schon bald roch es auf der Terrasse nach würzigem Fleisch und gebutterten Maiskolben. Für seinen Sohn hatte Michael eine Zwischenmahlzeit, bestehend aus Karotten und Kartoffel, mitgebracht.

Im Anschluss ans Essen musste er Jojos Windel erneuern, was er auf dem Küchentisch erledigte. Im Gäste-Bad gab es nämlich keine geeignete Fläche dafür. Andreas schaute aufmerksam zu und bewunderte ausführlich Jojos niedliche Zehen. Die waren aber auch zum Reinbeißen süß.

Zurück auf der Terrasse wickelte er Jojo in eine Decke und legte ihn in den Laufstall. Seinem Sohn fielen die Augen zu, womit erstmals seit seiner Ankunft absolute Ruhe eintrat.

Andreas betrachtete den schlafenden Jojo mit wehmütigem Ausdruck. „Ich wollte schon immer Kinder, aber das ist ja bekanntermaßen als schwuler Mann etwas schwierig.“

Bisher hatten sie weder über das eine noch das andere gesprochen. Michael, überfordert von dem plötzlichen Themenwechsel, wusste darauf nichts zu erwidern.

Seufzend löste Andreas den Blick von Jojo und schaute ihn an. „Ich sag’s einfach mal rundheraus: Ich suche jemanden, der da ist, wenn ich nach Hause komme. Das klingt furchtbar nüchtern, aber ich hab keine Ahnung, wie ich es besser formulieren soll.“

Michael stand auf dem Schlauch. War er damit gemeint oder wie sollte er die Aussage deuten?

„Könntest du dir vorstellen, hier zu wohnen?“, fügte Andreas hinzu.

Ihm fiel die Kinnlade runter. Das konnte doch niemals Andreas‘ Ernst sein!

„Denk bitte in Ruhe darüber nach“, bat Andreas.

In seinem Kopf jagte ein Gedanke den nächsten. Er griff nach seinem Glas, leerte es und guckte sinnend in die Ferne. In diesem Haus zu leben, war eine wundervolle Vorstellung - trotz der musterhausmäßigen Einrichtung. Jojo hätte genug Platz, um die Welt zu entdecken. Sein Sohn würde bestimmt bald zu krabbeln anfangen.

„Ähm ... welcher Zeitraum schwebt dir denn vor?“, formulierte er eine seiner vielen Fragen.

„Unbegrenzt.“

„Und was genau erwartest du von mir?“

„Nichts. Na ja, wenn du ab und zu kochen würdest, wäre das toll.“

Keine sexuellen Gegenleistungen? Fand Andreas ihn denn gar nicht attraktiv? Idiot! Sei doch froh, dass er keinen Bettsport will. War Michael aber nicht. Vermutlich verletzter Stolz. „Ich könnte auch jeden Tag kochen. Du müsstest mir aber sagen, was auch dem Speiseplan stehen soll, sonst gibt es nur Jojo-Essen.“

„Also bist du generell nicht gegen meinen Vorschlag?“

Er schüttelte den Kopf. „Du lädst mich aufs Schloss ein. Wie könnte ich da nein sagen?“

Aufs Schloss.“ Andreas lachte.

Da die Möglichkeit bestand, dass morgen Andreas‘ Traumprinz auftauchte und er zum Störenfried wurde, betrachtete er das Ganze wohl besser als eine Art Urlaub. Mit viel Glück dauerte das Arrangement bis zum Herbst. Dann würde es ihm weniger schwerfallen, den Gartenanschluss wieder aufzugeben. „Wann starten wir das Projekt?“

„Von mir aus gleich.“

„Und wo genau darf ich logieren?“

Andreas stand auf. „Ich zeig’s dir.“

Im ersten Stock gab es zwei Bäder und drei Räume. In einem befand sich Andreas‘ Schlafzimmer, im zweiten ein französisches Bett, Kleiderschrank, Tisch und Stuhl und im dritten eine Kommode und ein Reisekinderbett. Überrascht beäugte Michael letzteres.

„Hast du öfter Kinder zu Besuch?“, fragte er.

„Öhm, nein.“ Andreas grinste verlegen. „Das hab ich gekauft, falls du hier probeschlafen möchtest.“

Wie süß! Trotzdem zog er es vor, diese Nacht in seinem eigenen Bett zu verbringen.


Am nächsten Tag setzten sie den Plan in die Tat um. Andreas‘ Wagen war groß genug, um alles Notwendige unterzubringen. Als sie losfuhren kam es Michael vor, als würde es auf Urlaubsreise gehen. Jojo, ebenfalls total aufgekratzt, sabberte und brabbelte in seinem Kindersitz in einem fort vor sich hin.

„Verstehst du, was er sagt?“, wollte Andreas wissen.

„Er freut sich unbändig, mit deinem Rasen Bekanntschaft schließen zu dürfen.“

„Dann setzen wir ihn am besten gleich in den Garten.“

„Vielleicht brauchst du hinterher keinen Rasenmäher mehr, wenn er die ganzen Soden rausreißt.“

„Ich wollte schon immer ein Blumenbeet haben.“

Mit Andreas‘ entspannter Einstellung ließ es sich gut leben. Zum Glück gab es in Bodennähe keine kostbaren Kunstwerke, die Jojo zerstören könnte. Davon hatte sich Michael am Vortag bei einer kurzen Inspektion des Erdgeschosses überzeugt.

Nach ihrer Ankunft in Andreas‘ Haus setzten sie Jojo in den Laufstall, damit sie sich ums Gepäck kümmern konnten. Die meisten Sachen gehörten seinem Sohn. Michaels Habe bestand lediglich aus einem Koffer, einer Reisetasche und einem Karton, in dem sich ein paar Bücher, sein Notebook, Wecker und so weiter befanden. Jojos hingegen umfasste vier blaue Säcke und zwei Sporttaschen.

Während Andreas seinem Sohn Gesellschaft leistete, packte Michael aus. Er fragte sich, wie Jojo mit der getrennten Schlafsituation zurechtkommen würde. Vielleicht sollten sie das Kinderbett ins Gästezimmer schaffen. Schließlich entschied er jedoch, es so zu belassen und erstmal auszuprobieren. Jojos Vater hatte auch mal wieder ein bisschen Privatsphäre verdient. Seit Monaten traute er sich nicht, im Bett selbst Hand anzulegen und erledigte das nur unter der Dusche. Es erschien ihm falsch, in Gegenwart seines Sohnes solche nicht jugendfreien Dinge zu tun.

Sie verbrachten einen wundervollen Tag mit Spazierengehen im Eichtalpark, grillen auf der Terrasse und plaudern - als Jojo im Bett war - auf der Couch. Andreas wuchs ihm mit jeder vergehenden Minute mehr ans Herz. Wie konnte es sein, dass ein so liebenswerter, attraktiver Mann noch solo war?

Montag bis Freitag war Andreas jobtechnisch ziemlich eingespannt. Zweimal stand abends ein Essen mit Kunden an, was jedoch - wie Andreas betonte - nicht ständig vorkam. An diesen Abenden kam er erst kurz vor Mitternacht nach Hause.

Das Wochenende gehörte ganz Jojo und Michael. Wieder gingen sie viel spazieren, faulenzten im Garten und guckten sich abends zusammen Filme an.

Auf diese Weise vergingen die Wochen. Michael merkte, dass er sich mit seinem Einzug bei Andreas einen Bärendienst erwiesen hatte. Seine Sehnsucht nach dem Mann hielt ihn immer öfter nachts wach und führte häufig zu schlechter Laune. Ein Zustand, der schon aus Rücksicht auf Jojo nicht tragbar war. Andererseits täte es ihm weh, seinem Sohn den Garten wieder zu entziehen. Jojo liebte es, auf dem Rasen herumzurollen, Halme auszureißen und darauf rumzukauen. Außerdem gab es in der Nachbarschaft ein gleichaltriges Mädchen, auf das sein Sohn ein Auge geworfen hatte. Wann immer Jojo Melissa sah, strahlte er bis über beide Ohren.

Samstagnacht, genau vier Wochen nach seinem Einzug, beschloss er, dass er alles auf eine Karte setzen musste. Entweder fand er den Weg in Andreas‘ Herz oder er sollte seine Zelte abbrechen. Vorläufig würde ihm schon der Weg in Andreas‘ Bett reichen.

Er knipste die Nachttischlampe an und guckte auf die Uhr. Halb eins. Also wälzte er sich schon wieder eine Stunde schlaflos hin und her.

Barfuß tapste er über den Flur, rüber zu Andreas‘ Schlafzimmer. Auf sein zaghaftes Klopfen hin passierte nichts. Er drückte die Türklinke runter und spähte in den dunklen Raum. „Andi?“

„Mhm?“, kam verschlafen zurück.

„Schläfst du schon?“ Was für eine dämliche Frage. „Ich muss was mit dir besprechen.“

Licht flammte auf. Andreas, die Haare völlig zerstrubbelt, blinzelte ihn an. „Dann komm rein.“

Es gehörte verboten, im zerzausten Zustand derart heiß auszusehen. Andreas‘ braune Augen wirkten bei der Beleuchtung nahezu schwarz, genau wie der Bartschatten an Oberlippe und Kinn.

Michael schlüpfte ins Zimmer, lehnte die Tür an und hockte sich auf die Bettkante. „So geht es nicht weiter.“

Fragend hob Andreas die Augenbrauen.

„Ich bin verrückt nach dir“, platzte er heraus und hätte sich im nächsten Moment am liebsten die Zunge abgebissen. Andreas musste ja denken, er wäre nur auf das eine aus. „Wollte sagen, rein gefühlstechnisch“, besserte er nach.

Andreas‘ Mundwinkel zuckten hoch. „Und wo ist das Problem?“

Nun lachte der Mistkerl ihn auch noch aus! „Das ist nicht lustig!“, polterte er los. „Ich mache hier einen Seelenstriptease und du findest das komisch!

„Pst! Weck Jojo nicht auf.“

Michael ballte die Hände zu Fäusten. „Es geht dir doch nur um meinen Sohn. Ich bin bloß lästiges Beiwerk.“

„Komm mal her, du lästiges Beiwerk“, säuselte Andreas, packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit einem Ruck in die Horizontale.

Plötzlich waren die dunklen Plüschaugen ganz nah. Michaels Herz hämmerte wie verrückt. Er hielt den Atem an, als sich die Distanz zwischen ihren Gesichtern noch mehr verringerte. Warme Lippen auf seinen. Ein zarter Kuss, dem einer mit mehr Nachdruck folgte.

Andreas wich wieder zurück und musterte ihn intensiv. „Hab ich das richtig interpretiert, dass du mich sehr magst?“

Sprechen war gerade nicht. Seine Kehle war höllisch eng vor überbordendem Gefühl. Er nickte.

„Ich dich auch“, flüsterte Andreas. „Hab mich gleich in dich verknallt.“

Erneut bekam er einen Kuss, bei dem ihm ein erleichterter, zugleich glückseliger Seufzer entwich. Heureka! Andreas war in ihn verliebt! Aber ... Moment mal! Er schob Andreas ein Stück weg und runzelte die Stirn. „Wieso hast du mich dann ständig auf Abstand gehalten?“

Das war so nicht ganz richtig, denn er hatte ja selbst stets Distanz gewahrt. Tja, die verkorkste Sichtweise eines Verliebten, schoss es ihm durch den Kopf.

„Damit du nicht denkst, dass ich nur das eine von dir will.“

Merkwürdige Logik. Egal. „Willst du trotzdem das eine von mir?“

Ein breites Grinsen schlich sich auf Andreas‘ Gesicht. „Du ahnst gar nicht wie sehr.“

Beim nächsten Kuss schmuggelte er sich unter Andreas‘ Decke und spürte den Willkommensgruß an seiner Mitte. Sein Schwanz beeilte sich, ebenfalls zu salutieren.

Mitten in ihrer Knutscherei fiel ihm ein, dass Andreas im Grunde von vornherein mit offenen Karten gespielt hatte. Er war bloß zu blöde gewesen, um das zu erkennen. Diese Erkenntnis brachte ihn zum Schmunzeln.

„Wieso grinst du?“, nuschelte Andreas an seinen Lippen.

„Weil wir zwei blinde Idioten sind.“

„Dann passen wir doch prima zusammen“, fand Andreas, ließ eine Hand in seine Shorts wandern und beendete damit jeglichen vernünftigen Gedankengang.

Als Michaels Verstand wieder einsetzte, klebte kostbares Genmaterial an ihren Bäuchen. Daraus hätte man bestimmt locker zehn weitere Jojos zeugen können. Eine Vorstellung, die ihm sehr gefiel.

„Morgen mache ich dir einen Heiratsantrag“, verkündete Andreas gähnend und kuschelte sich an ihn. „Muss nur noch einen Ring kaufen.“

„Morgen ist Sonntag.“

„Dann musst du noch einen Tag warten.“

Er würde auch Wochen, Monate oder sogar Jahre warten. Andreas war ein Hauptgewinn, für den sich das lohnte. Ein Geräusch veranlasste ihn, die Ohren zu spitzen. Jojo jammerte.

„Bin gleich wieder da.“ Er gab Andreas einen Kuss, krabbelte aus dem Bett und lief ins Kinderzimmer.

Es stellte sich heraus, dass Jojos Windel trocken war. Dennoch weinte sein Sohn weiter. „Was hast du denn?“, erkundigte er sich flüsternd.

„Kriegt er vielleicht einen Zahn?“, fragte Andreas in seinem Rücken.

„Das könnte sein.“ Er nahm Jojo auf den Arm und drehte sich zu Andreas um. „Nehmen wir ihn mit ins Bett?“

„Natürlich.“

Andreas, wieder in Shorts und T-Shirt, was ihn auf seinen mangelhaften Bekleidungszustand aufmerksam machte, ging voraus. Im Schlafzimmer übergab er seinen Sohn an Andreas, um seine Klamotten vom Boden zu sammeln und hineinzusteigen.

Als sie zu dritt im breiten Bett lagen, Jojo in der Mitte, beruhigte sich sein Sohn. Andreas glotzte Jojo derart vernarrt an, dass man eifersüchtig werden könnte. Da Michael aber nun wusste, woran er war, fand er es bloß wundervoll.

War ihm zwischen Brot- und Teesorten tatsächlich sein Märchenprinz begegnet? Es schaute ganz danach aus. An Andreas‘ romantischer Ader mussten sie noch arbeiten, genau wie am innenarchitektonischen Ambiente, doch ansonsten sah die Zukunft rosig aus.


... und sie lebten glücklich, bis an das Ende ihrer Tage.


Dschinn in Öl - Tess Noctua


Raphael

… strich mit den Fingerspitzen über seine neueste Eroberung. Leichter Flugrost hatte sich auf der kühlen, weiß-rot gestreiften Oberfläche gebildet. Für manche Sammler ein Ausschlusskriterium. Für Raphael ein Grund mehr, sich in das seltene Stück aus den 50ern zu verlieben. Wenn die Spuren der Zeit nicht sichtbar waren, konnte er sich auch gleich Repliken ins Regal stellen.

Die Motoröl-Dose stammte aus Amerika, würde also einen Platz direkt neben dem Fenster bekommen. Die Exemplare aus Deutschland reihten sich in ihrer bunten Pracht in einem Regal zwischen Schlafzimmertür und dem schwarzen Ledersofa auf. Damit seine Sammlung gut zur Geltung kam, hatte Raphael bei der restlichen Einrichtung bewusst auf Farbe verzichtet, weshalb auch die lackglänzende Küchenzeile in U-Form sowie der Langflorteppich und sein Couchtisch schwarz waren.

Heute hatte ihn seine morgendliche Joggingrunde an dem alten Industriegelände vorbeigeführt. Die Fabrikhallen wurden abgerissen und so Platz für heiß begehrten Wohnraum geschaffen. Als er am Bauschuttcontainer vorbeigekommen war, hatte Raphael sein Glück kaum fassen können. Und war gleichzeitig entsetzt gewesen. Wie konnte man so ein Schätzchen einfach entsorgen? Durch den vermutlich unsanften Wurf in den Container hatte die obere Kante der Dose gelitten und war an einer Stelle eingedellt.

Kopfschüttelnd kramte Raphael einen weichen Lappen unter der Spüle hervor, befeuchtete ihn und begann im Licht der Vormittagssonne behutsam den Staub abzutupfen, um den Lack nicht weiter zu beschädigen. Sein Fuß wippte derweil im Takt des Rock’n’roll-Oldies, der aus seinem Handy erklang.

Der Duft der frischen Brötchen, die er sich jeden Morgen holte, stieg ihm in die Nase, doch diese mussten heute warten. Er arbeitete im Homeoffice für ein Marketingbüro, also konnte er es sich auch leisten, mal etwas später anzufangen.

Unter dem Schraubverschluss der Öldose hatte sich ebenfalls der graue Betonstaub festgesetzt, weswegen Raphael versuchte ihn zu öffnen. Zuerst klemmte er etwas, doch dann gab er mit einem Ruck nach.

Ein Zischen erklang.

Raphael wich zurück.

Weißlicher Dampf trat aus und sein Magen zog sich zusammen.

Was passierte hier? Waren irgendwelche Gefahrenstoffe in der Dose? Sollte er das Fenster öffnen oder besser gleich aus der Wohnung flüchten?

Er stieß mit dem Rücken gegen die Küchentheke, schob sich daran entlang und stolperte dann weiter zurück, in den Wohnbereich.

Mittlerweile hatte der Nebel die Decke erreicht und fiel nun wie in einem Wasserfall zu Boden. Raphael roch nichts, glaubte nicht, dass er bereits giftige Dämpfe oder Ähnliches einatmete, und doch bildete er sich ein, der weiße Rauch würde anfangen zu glitzern, dichter zu werden.

Hektisch wandte er sich ab und riss das Fenster auf. Als er sich wieder umdrehte, weiteten sich seine Augen.

Raphael keuchte. Seine Finger krallten sich um das kühle Fensterbrett.

Es musste sich eindeutig um eine gesundheitsgefährdende Substanz handeln.

Wie sonst war es zu erklären, dass plötzlich ein Mann in seiner Küche stand, der nur so vor Öl triefte?


Kamil

… sog tief die frische Luft in seine Lungen. Unglaublich, wie gut das tat.

Bisher hatte er es vermieden zu atmen. In seiner Geistform konnte er auch ohne Sauerstoff und Nahrung überleben.

Jetzt stieg ihm dafür umso deutlicher der ekelhafte Geruch des Motoröls in die Nase. An das schmierige Gefühl auf seiner Haut hatte er sich während der Zeit, in der er nun schon in dieser verfluchten Dose festsaß, fast gewöhnt.

Kamil sah an sich hinab und rümpfte die Nase. Er bot ein grauenvolles Bild. Bevor er jedoch seinen desolaten Zustand beheben konnte, lenkte ihn ein Keuchen ab.

Derjenige, der offenbar der neue Besitzer seines Geistbehältnisses war, wich so weit zurück, dass er schon beinahe auf dem Fensterbrett saß.

Kamil musterte ihn. Im Moment war der Mann weiß wie Wüstensand, was durch das schwarze Shirt mit Oldtimer-Motiv nur betont wurde. Eine vorwitzige, dunkelbraune Strähne hatte sich aus ihrem Gel-Gefängnis befreit und fiel ihm in die Stirn.

Langsam breitete sich ein Grinsen auf Kamils Gesicht aus. Er hätte es eindeutig schlechter treffen können.

Mit einem Fingerschnippen verschwand das Öl von seiner Haut. Seine Kleidung versetzte sich wieder in ihren ursprünglichen Zustand. Manchmal war sein Schicksal doch zu etwas nutze, denn ansonsten wäre er das klebrige Zeug vermutlich nie wieder vollständig losgeworden. Andererseits wäre er dann auch gar nicht in dieser Situation gewesen …

Energisch verdrängte Kamil diese Gedanken, die ohnehin zu nichts führten, und stemmte stattdessen zufrieden grinsend die goldberingten Hände in die Hüften.

„Keine Angst“, meinte er, „ich bin keine Einbildung.“


Raphael

… blinzelte.

Seine Einbildung sprach mit ihm …

Und zu allem Übel hatte sie sich auch noch in einen verwirrend gut aussehenden Typ verwandelt. Milchkaffeefarbene Haut stand im Kontrast zu weißer Pumphose und goldbestickter Weste. Raphaels Blick wurde jedoch wie magisch von der schwarzen Lockenmähne angezogen. Augen in der Farbe geschmolzener Schokolade betrachteten ihn mit einem Funkeln.

„Sorry für meinen Aufzug. Da drinnen nützt mir meine Magie nichts.“

Der Blick des Typen … nein, seiner Einbildung, fiel auf die Motoröldose. Kurz zuckte er zusammen, dann wandte er sich schnell wieder ab.

„Also, was wünschst du dir?“

„Wünschen …?“

Das Wort entschlüpfte Raphaels Lippen, bevor er es verhindern konnte.

Er durfte nicht mit seiner Einbildung sprechen! Das war bestimmt nicht gut.

„Ich muss von den giftigen Dämpfen weg …“, murmelte er.

Das Blöde war nur, dass er dazu erst noch näher heranmusste, denn die Wohnungstür lag direkt neben der Küchentheke.

„Giftige Dämpfe?“, fragte seine Einbildung gerade ungläubig. „Das hat sich auch noch niemand gewünscht. Ist auch ’ne blöde Idee! Hm …“ Sein nicht reales Gegenüber tippte sich ans Kinn. „Wie wäre es stattdessen mit einer Ananasplantage in der Antarktis?“, wurde er mit einem gewinnenden Lächeln gefragt.

„Nein!“ Raphael schüttelte panisch den Kopf. „Verschwinde!“

Er tat es schon wieder!

Es half alles nichts … Tief atmete er ein und stürmte dann mit angehaltenem Atem zur Wohnungstür, drehte den Schlüssel …

Aus dem Augenwinkel sah er, wie seine Einbildung in seine Richtung hechtete. Raphael hatte den Türgriff bereits in der Hand, als sie ihn mit erstaunlicher Kraft, über die Theke hinweg, am Ellbogen packte.

Ein Prickeln durchfuhr seinen Körper.

Wie war es möglich, dass er die warmen Finger auf seiner Haut spürte?

Seine Lungen verlangten nach Sauerstoff, doch er kämpfte dagegen an, versuchte freizukommen.

„Bitte!“, flehte seine plötzlich viel zu reale Einbildung, die bäuchlings über dem Küchentresen hing. „Schick mich nicht wieder da rein! Das kannst du mir nicht antun!“

Raphael schüttelte den Kopf und versuchte freizukommen. Wie konnte es sein, dass ihn seine Einbildung festhielt? Lag er schon bewusstlos auf dem Boden und das war nur eine Art Traum?

„Bitte! Irgendetwas willst du doch bestimmt!“, flehte seine Einbildung ihn weiter an, während er glaubte, seine Lungen hätten Feuer gefangen. „Macht? Reichtum?“

Raphael verlor den Kampf und atmete hektisch ein. Kurz tanzten bunte Punkte vor seinen Augen.

Super. Jetzt hatte er bestimmt die volle Dosis intus.

Was sich auch gleich bestätigte, als seine Einbildung fragte: „Gibt es eine unerwiderte Liebe? Ich kann dir helfen!“


Kamil

… hätte beinahe laut geseufzt.

Jetzt hatte er ihn.

Er hätte es sich auch denken können. Es war immer das Gleiche.

Im Gesicht des anderen konnte Kamil sehen, wie er mit sich kämpfte.

Trotzdem ließ er dessen Arm noch nicht los.

Schon allein, weil er den Duft nicht zuordnen konnte, der von dem Kerl ausging. War es Lakritz?

Kamil schalt sich selbst einen Idioten. Worüber zerbrach er sich da den Kopf? Hatte er nicht gerade erfahren, dass der andere verliebt war?

Kamil wusste aus Erfahrung, dass einer der drei Wünsche immer zog. Letzteren fand Kamil allerdings am abscheulichsten. War den Leuten nicht klar, dass sie die Liebe nur erzwangen, wenn er mit seiner Magie nachhalf? Aber den meisten schien es einfach egal zu sein.

Solange er nicht wieder zurückmusste, in diese stinkende Öldose, sollte es ihm recht sein. Die Skrupel hatte er sich schon lange abgewöhnt.

„Wie heißt sie?“, fragte er.

Der Typ räusperte sich. Einen Moment starrte er Kamil nur an, schien zu überlegen, ob er antworten sollte.

„Er“, meinte er dann.

Na klar … Kamil seufzte nun wirklich. Sollte er sich jetzt darüber freuen?

Auch wenn er es kaum für möglich gehalten hätte, nachdem er endlich seinem Geistbehältnis entkommen war, sank seine Laune auf einen neuen Tiefpunkt. Er löste seinen Klammergriff und stützte sich stattdessen auf der Theke ab.

„Also?“, hakte er nach und musste sich zwingen, das Lächeln im Gesicht zu behalten.

„Ich bilde mir das doch alles nur ein …“, erwiderte sein Gegenüber und rieb sich die Stirn.

Bei allen Fata Morganen, jetzt auch noch das! Kamil konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie oft er bereits hatte beweisen müssen, dass er kein Hirngespinst war.


Raphael

… rieb sich die Stirn, hinter der Kopfschmerzen pochten.

„Setz dich erst einmal.“

Energisch schob ihn seine seltsam reale Einbildung zur Sitzecke und drückte ihn auf die Couch. Die Schokoladen-Augen musterten ihn, während er sich ans Kinn tippte. Dann erhellte sich sein Gesicht.

Ein Fingerschnippen und Raphael zuckte zusammen. Neben ihm schwebte ein geflochtenes Blatt und wedelte ihm Luft zu. Süßlicher Duft stieg ihm in die Nase und er beobachtete seine Einbildung dabei, wie sie Tee in ein kleines, goldverziertes Glas schenkte. Dieses stand zusammen mit pistazienbestreuter Baklava auf einem silbernen Tablett auf seinem Couchtisch.

„Mein Name ist übrigens Kamil“, stellte sich seine Einbildung vor.

„Raphael“, erwiderte er und hätte sich im gleichen Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.

Kamil musterte ihn erneut, den Kopf leicht schief gelegt, während Raphael versuchte möglichst unauffällig von dem gruseligen Blatt wegzurutschen.

Wieder ein Fingerschnippen und alles verschwand.

Raphaels Atmung beschleunigte sich. Der Duft hing immer noch in der Luft.

Kamil machte sich an seinen Küchenschränken zu schaffen, bis er ein Glas gefunden hatte. Er füllte es am Wasserhahn und kehrte damit zu ihm zurück.

„Hier“, sagte er und drückte es ihm in die Hand. „Vielleicht ist das überzeugender.“

Raphael starrte auf das Glas, das sich kühl anfühlte.

Er schüttelte den Kopf.

Wenn er seine Theorie, dass er bewusstlos auf dem Boden lag, einmal außen vor ließ …

Er sah auf und beobachtete, wie Kamil sich auf eine türkisblaue Ottomane fläzte, die plötzlich mitten in seiner Wohnung stand. Durch ein weiteres Fingerschnippen hielt er eine Schale Weintrauben in der Hand.

„Was bist du?“, fragte er, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Bestimmt war es ein sehr schlechtes Zeichen, wenn man auf einmal dazu überging, zu glauben, dass seine Einbildung real war.

„Dschinn“, antwortete Kamil und stopfte sich zwei Trauben in den Mund.

Genüsslich schloss er die Augen.

Raphael umklammerte das Glas fester. Ein Dschinn … Natürlich …

Kurz überlegte er, ob ihm nicht vielleicht jemand einen Streich spielte. Doch wie sollte man so etwas bewerkstelligen?

„Dann habe ich jetzt drei Wünsche frei, oder was?“, wollte er wissen.

Kamil winkte ab. „Keine Ahnung, wer sich diesen Schwachsinn ausgedacht hat. Solange du die da hast“, meinte er und deutete auf die Öldose, die immer noch in seiner Küche stand, „lese ich dir jeden Wunsch von den Augen ab.“

Das schiefe Lächeln brachte Raphael ganz durcheinander.

„Also zurück zum Thema“, meinte der Typ, der behauptete ein Märchenwesen zu sein. „Wie heißt er? Hast du ein Foto oder weißt zumindest, wo er sich aufhält?“, fragte er. „So ein Liebeszauber geht ganz schnell. Ich garantiere dir, in kürzester Zeit steht er vor deiner Tür!“


Kamil

… fragte sich, ob man vom Lächeln einen Krampf in den Wangen bekommen konnte.

Wenn er schon so einen Schwachsinn erfüllen sollte, hätte er am liebsten eine Bedingung daran geknüpft. Zum Beispiel, dass Raphael versprach, ihn nach der Erfüllung seines Wunsches nicht wieder in diese abscheuliche Dose zu stecken. Aber das hatte er schon einmal versucht und würde es garantiert nicht wieder tun. Er erschauderte, als er daran zurückdachte. Anscheinend verstieß das gegen irgendeine Art von Dschinn-Kodex, damit man den Besitzer des Geistbehältnisses nicht übers Ohr hauen konnte.

Zu Beginn hatte er alle möglichen Tricks probiert, um seiner Existenz zu entkommen. Mittlerweile hatte er eingesehen, dass es sinnlos war. Er musste eben das Beste daraus machen.

„Äh, was …?“, fragte Raphael und riss ihn aus seinen Gedanken. Mit einem Knall stellte er das Glas auf den Tisch, sodass Wasser überschwappte.

„Hast du mir gerade vorgeschlagen, Falk zu verzaubern?“

Fasziniert beobachtete Kamil, wie er aufsprang und ihn mit in die Hüften gestemmten Händen anfunkelte.

„Denkst du, ich würde es nicht so schaffen, ihn von mir zu überzeugen?“, wollte er wütend wissen.

Kamil verkniff sich ein Grinsen. Seine Stimmung stieg wie ein Sandteufel.

„Und warum hast du es dann nicht längst geschafft?“, fragte er und wählte sorgfältig eine Weintraube aus.

Raphael zuckte zusammen. Er setzte sich wieder.

„Ich … Also …“, stammelte er. „Das ist nicht so einfach“, gestand er dann seufzend.

„Du weißt nicht, ob er auf Männer steht?“

Raphael schüttelte verneinend den Kopf.

„Er hat bereits einen Freund?“, versuchte Kamil es erneut.

Wieder schüttelte Raphael den Kopf, was die schwarze Strähne zum Hüpfen brachte.

„Ich hab ihn mal sagen hören, dass er Single ist“, erwiderte er.

„Ich … hab mich nicht getraut, ihn anzusprechen“, gestand er dann stockend und musterte dabei eingehend die Wasserpfütze. Kamil sah trotzdem, wie sich seine Wangen rosig färbten.

„Also eigentlich schon“, setzte er eilig nach. „Aber eben nicht … privat.“

Kamil hob eine Augenbraue.

Raphael seufzte.

„Er arbeitet seit einigen Wochen als Aushilfe in der Bäckerei Zuckerwolke.“

„Lass mich raten“, erwiderte Kamil trocken. „Seitdem bist du dort Stammkunde.“


Raphael

… räusperte sich.

„Na ja …“

Unwillkürlich wanderte sein Blick in Richtung der Brötchentüte. Kamil entdeckte sie und grinste.

„Also kein Liebeszauber“, resümierte der Dschinn.

Er schüttelte den Kopf.

Am liebsten hätte sich Raphael die Hand vor die Stirn geschlagen, weil er diesen Schwachsinn überhaupt in Betracht zog, doch angesichts der Vorkommnisse wirkte die Erklärung des Typen irgendwie … logisch.

„Dann müssen wir also irgendetwas einfädeln, damit du ihm auffällst“, sinnierte Kamil und tippte sich mit dem Finger ans Kinn.

Raphael wollte protestieren, doch da Falk ihm bisher wirklich kaum einen Blick geschenkt hatte, schluckte er seinen Stolz herunter und gab stattdessen ein zustimmendes Murmeln von sich.

„Ha! Ich hab’s!“, rief Kamil und setzte sich auf. „Wie wär’s mit einem Sandsturm, der euch in der Bäckerei einschließt?“

Raphael atmete tief ein. Es konnte sich nur um einen Scherz handeln, doch der Dschinn blickte ihn fragend an. Unsicher meinte er: „Sandsturm? In Deutschland?“

Kamil verzog schmollend die Lippen.

„Gut“, meinte er leicht verschnupft. „Dann zeig ihn mir erst einmal.“

Kamil stand auf, Ottomane und Weintrauben verschwanden mit einem Fingerschnippen und er bedeutete ihm, vorzugehen.

„Ähm“, machte Raphael. „Jetzt gleich?“

„Gibt es einen Grund zu warten?“

Raphaels Blick wanderte über Kamils Kleidung. Wie sollte er ihm beibringen, dass er so nicht auf die Straße konnte?

Kamil rollte mit den Augen.

„Keine Sorge“, meinte er. „Niemand sonst wird meinen Anblick genießen können.“

Raphael fühlte, wie seine Wangen warm wurden. „Ich … Also …“

„Außer dir kann mich niemand sehen oder hören“, erklärte Kamil und überging damit sein Gestotter einfach.

Er beschloss, es darauf beruhen zu lassen, und eilte an dem Dschinn vorbei zur Tür.


Kamil

… hielt die Hand über die Augen, um Falk durch das Schaufenster besser sehen zu können.

Wären nicht die eisblau gefärbten Haare gewesen, hätte der Typ vollkommen unscheinbar gewirkt. An einem Ohrring baumelte die Regenbogenfahne. Es war kaum zu übersehen, dass er am liebsten ganz woanders gewesen wäre, während er die leeren Stellen in der Glastheke auffüllte, denn seine gesamte Körperhaltung strahlte Desinteresse aus. Und auf so jemanden stand Raphael?

Im Augenwinkel sah er, wie dieser sich immer wieder nervös umsah. Kamil fragte sich, ob es wirklich so schlimm wäre, mit ihm gesehen zu werden.

Er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuseufzen.

„Und jetzt?“, fragte Raphael.

Er schenkte dem Mann hinter der Theke einen letzten bösen Blick und wandte sich dann um.

Gerade noch rechtzeitig wich er einer Mittdreißigerin aus, die an Raphael vorbei stöckelte, das Handy am Ohr.

Auch wenn ihn niemand sonst sehen oder hören konnte, hieß das nicht, dass er körperlos war. Und der Zusammenstoß mit einem unsichtbaren Hindernis warf zwangsläufig Fragen auf.

„Mach dir keine Gedanken, ich hole die Torte gerade ab …“, hörte er die Frau sagen, bevor sich die Eingangstür mit einem Klingeln hinter ihr schloss.


Raphael

… sah, wie sich ein breites Grinsen auf Kamils Gesicht ausbreitete.

„Los! Rein mit dir!“, befahl der Dschinn, zog ihn zur Tür, öffnete und schob ihn in den Laden.

Raphael kam stolpernd zum Stehen.

Die Frau, die vor ihnen die Bäckerei betreten hatte, musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

Seine Wangen glühten, als Falks flüchtiger Blick ihn streifte. Er hatte nicht einmal mehr seine Frisur kontrollieren können, so wie er es sonst tat. Damit er nicht verschwitzt hier ankam, schleppte er sogar lieber die Brötchen während seiner Joggingrunde mit.

„Ich hole sie. Einen Moment“, sagte Falk zu der Frau und verschwand im hinteren Bereich.

Kamil lehnte sich unterdessen mit verschränkten Armen gegen die Glastheke.

Zu Raphaels Verwunderung hatte ihn bisher wirklich niemand beachtet. Die Leute schienen alle durch ihn hindurchzusehen.

Sprach das nicht doch dafür, dass er sich alles nur einbildete? Vielleicht lag er ja mittlerweile im Krankenhaus? Aber gerade war ganz sicher nicht er es gewesen, der die Tür aufgeschoben hatte. Er hatte sie nicht einmal berührt.

Falk lenkte Raphaels Aufmerksamkeit auf sich, als er mit einem großen Karton mit dem Logo der Bäckerei Zuckerwolke zurückkam, den er auf der Theke abstellte.

Die Frau bedankte sich und hievte ihn in die Höhe.

Raphael warf Kamil einen flehenden Blick zu. Was taten sie hier? Falk würde sich bestimmt nicht in ihn verlieben, nur weil er plötzlich mittags Brötchen kaufte.

Der Dschinn zwinkerte ihm zu und schnippte mit den Fingern.

Mit einem Ratschen riss der Boden des Pappkartons auf und die Torte klatschte auf den Boden. Keuchend stolperte die Frau zurück.

Erstaunlicherweise hatte ihre lavendelfarbene Hose keinen einzigen Fleck, die Front der Theke war jedoch halbhoch mit Schokocreme beschmiert.

Das Brautpaar war noch ganz, wirkte allerdings, als nähme es, umgeben von goldenen Blüten, gerade ein Bad im Schlamm.

Geschockt blickte Raphael zu Kamil, doch dieser grinste nur zufrieden. Beinahe hätte er ihn angeschrien, ob er verrückt geworden sei, biss sich jedoch gerade noch rechtzeitig auf die Unterlippe. Er wollte ja nicht, dass Falk ihn für irre hielt.

„Wie …“, stammelte die Frau. „Meine Schwester wird mich umbringen!“

Falk kam um die Theke herum und besah sich die Sauerei.

„Der Karton muss beschädigt gewesen sein …“, meinte die Frau.

„Tut mir leid.“ Falk zuckte mit den Schultern. „Nachdem sie nicht mir heruntergefallen ist … Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie das Geld wiederbekommen.“

„Bitte?“, ächzte die Frau, schüttelte dann unwillig den Kopf. „Mein größeres Problem ist, wo ich jetzt auf die Schnelle eine neue Torte herbekomme. Meine Schwester heiratet heute!“

Raphael starrte Kamil an und versuchte ihm stumm klarzumachen, dass er etwas unternehmen sollte.

„Was ist denn hier passiert?“ Frau Wolke, die Eigentümerin des Ladens, die eigentlich schon lange im Rentenalter war, kam aus dem Büro und betrachtete stirnrunzelnd das Chaos.

„Oje …“, seufzte sie und war im Begriff, der geschockten Kundin die Hand auf die Schulter zu legen. Mitten in der Bewegung hielt sie jedoch inne.

„Ich … glaube … Falk, wir haben hinten doch noch mal dieselbe Torte“, meinte sie mit einem seltsam abwesenden Ausdruck in den Augen. „Sei so gut und hol sie.“

Der Angesprochene runzelte die Stirn, tat jedoch wie ihm geheißen. Und tatsächlich kam er mit einem weiteren Karton zurück, wirkte jedoch irritiert.

„Zufrieden?“, fragte Kamil, während er gelangweilt seine Fingernägel betrachtete.

Raphael biss die Zähne zusammen, um nichts zu erwidern. Was sollte das?

Als die Kundin erleichtert mit einer identischen Hochzeitstorte das Geschäft verlassen hatte, meinte der Dschinn: „Und jetzt kannst du ihm beim Putzen helfen.“

Der Typ machte ihn noch wahnsinnig!

Tatsächlich bat Frau Wolke Falk darum, aufzuwischen, da ihr Rücken das nicht mehr mitmachen würde.

Seufzend ergab sich Raphael in sein Schicksal. Irgendwie hatte er sich die Hilfe des Dschinns anders vorgestellt, aber vermutlich sollte er nicht wählerisch sein, wenn Falk ihn dafür vielleicht endlich einmal bemerkte.

„Ich helfe dir“, bot er also an und nahm sich einen der Lappen, die Falk gebracht hatte.

„Oh, das ist ja lieb von dir, Junge!“, strahlte Frau Wolke.

Falk hingegen blinzelte ihn nur misstrauisch von der Seite an.

„Ich bin Raphael“, stellte er sich vor, während er den Lappen im Eimer auswrang.

„Hm.“

„Du heißt Falk, oder?“, versuchte er nach einigen Sekunden erneut unbeholfen ein Gespräch in Gang zu bringen.

Er machte sich daran, die Glastheke abzuwischen und gleichzeitig zu verbergen, wie sehr seine Hände vor Aufregung zitterten.

„Ja“, entgegnete Falk nur. War er genervt?

Fieberhaft überlegte Raphael, was er noch sagen könnte. Dass er Kamils Blick im Nacken spürte, machte es nicht eben besser.

Viel zu schnell war alles beseitigt und Falk verschwand ohne ein weiteres Wort in den hinteren Räumen.

Enttäuschung wallte in Raphael auf, als er ihm hinterherblickte. Zumindest bedanken hätte er sich ja können …

„Hier, mein Junge!“

Frau Wolke tauchte neben ihm auf und drückte ihm eine prall gefüllte Tüte in die Hand.

Für einen Augenblick kam es ihm so vor, als wandere ihr Blick zu Kamil, doch dann wandte sie sich ihm zu und meinte lächelnd: „So nette junge Leute findet man heutzutage selten.“

Raphael bedankte sich und floh dann förmlich aus dem Laden.


Kamil

… saß inmitten der dicken Bodenkissen, die er sich herbeigezaubert hatte, und ließ sich ein Stück Obstkuchen schmecken, das ihnen die ältere Dame zusammen mit etlichen anderen Leckereien mitgegeben hatte. Dabei beobachtete er Raphael, der auf der Couch saß und sein Plunderteilchen nur anstarrte.

Am liebsten hätte er ihm gesagt, dass er den Idioten in den Wind schießen sollte. Der Typ musste ohnehin blind sein. Er selbst würde Raphael ganz sicher nicht so behandeln …

Kamil schüttelte den Kopf und vertrieb diese Gedanken eilig. Von der Erfüllung seines Wunsches abgesehen, wollte Raphael nichts mit ihm zu tun haben.

Da er nicht mit ansehen konnte, wie niedergeschlagen er war, fragte er: „Was wolltest du schon immer mal machen?“

Raphael sah auf. „Was meinst du?“

„Du hast jetzt einen Dschinn zu deiner freien Verfügung“, entgegnete Kamil grinsend. „Solltest du das nicht ausnutzen?“

Stirnrunzelnd glitt Raphaels Blick in Richtung eines Modellautos, das im Regal zwischen den Öldosen stand. Kamil konnte nicht verstehen, wie er etwas so Grauenhaftes sammeln konnte. Andererseits war es sein Glück. Wer wusste schon, wie lange er noch in dem Ding hätte ausharren müssen oder wo er gelandet wäre.

„Mein Dad hatte mal so einen“, meinte Raphael. „Er musste

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: bei den Autoren
Images: shutterstock, siehe Einzelaufstellung
Cover: Lars Rogmann
Proofreading: Aschure, Bernd Frielingsdorf, Bettina Barkhoven, Sissi Kaiserlos
Layout: Sissi Kaiserlos
Publication Date: 05-13-2021
ISBN: 978-3-7487-8382-4

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