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1. Harte Schale, harter Kern?

Die Tür seines Sprechzimmers klappte hinter der kleinen Magdalene und deren Mutter zu. Mikael tippte ein paar Notizen, rief das Stammdatenblatt des nächsten Patienten auf und runzelte die Stirn. Milo Beckinsale war erst in der letzten Woche mit einer Erkältung bei ihm gewesen. Entweder hatte sich der Junge noch nicht davon erholt oder schon wieder etwas Neues eingefangen. Diesbezüglich war Milo ein armer Wicht. Egal welche Infektion gerade grassierte, der Kleine nahm sie fast alle mit.

Er erhob sich aus seinem schweren Ledersessel, ging zum Wartezimmer und spähte hinein. „Milo? Du bist dran.“

Das Kerlchen rutschte von dem Schoß einer Grauhaarigen, Roswitha Kuhl, Milos Kindermädchen, von dem Kleinen stets Tante Rosi genannt. Den Vater hatte er bisher bloß einmal gesehen, bei einem der ersten Besuche. Ein Mann mit schwarzen Haaren und unterkühltem Blick. Ansonsten wurde Milo ab und zu von einem anderen Angestellten begleitet, an dessen Namen er sich momentan nicht erinnerte. Nur daran, dass der Kleine Ernie zu dem Typ sagte. Na ja, es reichte wohl, wenn die genaueren Bezeichnungen der Begleitpersonen in Milos Akte standen. Schließlich war er kein wandelndes Adressbuch.

An der Hand von Tante Rosi folgte Milo ihm über den Flur ins Sprechzimmer. Während er hinterm Schreibtisch Platz nahm, setzte sie sich auf den davor stehenden Stuhl und hievte Milo erneut auf ihren Schoß.

„Ist die Erkältung von letzter Woche noch nicht abgeklungen?“, erkundigte sich Mikael.

„Eigentlich ging es Milo besser, aber gestern hatte er Halsschmerzen. Ich habe ihm einige Lutschtabletten gegeben. Heute Morgen tat ihm der Hals so weh, dass er nichts essen wollte. Wahrscheinlich sind es mal wieder die Mandeln.“

Angina war eine von Milos Dauerkrankheiten. Zweimal pro Jahr suchte den Jungen dieses Leiden garantiert heim, manchmal sogar dreimal. Eigentlich müssten die Dinger raus, doch bisher hatte sich Mikael davor gescheut das zu veranlassen. Zum einen wegen Milos Alter, der Junge war erst fünf, zum anderen barg eine Operation gewisse Risiken.

„Ich guck mir das mal an.“ Als er aufstand, glitt Milo von Tante Rosis Beinen, ging zur Untersuchungsliege und kletterte mithilfe eines Tritthockers auf die Sitzfläche.

Der süße Blondschopf war ein mustergültiger Patient. Nie klagte der Kleine, zeigte irgendwelche Launen oder verweigerte sich einer Untersuchung. Lediglich aufgerissene blaue Kinderaugen verrieten, dass Milo der anstehenden Inspektion der Mandeln mit etwas Angst entgegensah. Entsprechend verfolgten sie jede seiner Bewegungen: Dem Überziehen von Latexhandschuhen, dem Griff nach einem Holzspatel, seinen Schritten zur Liege.

Während er sich vorbeugte, sperrte Milo gehorsam den Mund auf. Sanft umfasste er das Kinn des Jungen, um dessen Mundhöhle ins optimale Licht zu rücken. Anschließend drückte er vorsichtig Milos Zunge mit dem Spatel nieder. Wie vermutet handelte es sich um eine Angina tonsillaris, also eitrige Mandelentzündung.

Er warf den Spatel in eine Nierenschale, die Handschuhe in den Mülleimer, hob den leichtgewichtigen Milo von der Liege und stellte ihn auf dem Boden ab. „Die gute Nachricht ist, dass du in nächster Zeit ganz viel Pudding und Eis essen darfst.“

„Und die schlechte?“, mischte sich Tante Rosi ein, bevor der Junge reagieren konnte.

„Er muss Antibiotika nehmen. Außerdem möchte ich ihn Ende der Woche noch mal sehen.“ Mikael ging zurück zu seinem Schreibtischsessel, ließ sich hineinplumpsen und begann auf der Tastatur zu tippen.

„Mein armer Spatz“, hörte er Tante Rosi gurren. „Auf dem Heimweg kaufen wir ganz viel Wackelpudding für dich.“

„Grünen?“, vernahm er Milos mühsames Krächzen und die schleppenden Schritte, mit denen der Junge zu der Frau ging und sich gegen deren Bein lehnte.

Als Kind hatte er auch die Sorte Waldmeister, seine Schwester Kara hingegen Himbeere bevorzugt. Oft war darüber Streit ausgebrochen. Letztendlich hatte ihre Mutter stets zwei Sorten Pudding zum Nachtisch gekocht, um dem Einhalt zu gebieten.

Er zog ein Rezept aus dem Drucker, unterschrieb die Verordnung und notierte auf einem Zettel den Termin für Freitag. Beides schob er zu Tante Rosi rüber.

„Dann wünsche ich dir gute Besserung“, verabschiedete er sich von Milo und von dessen Begleitung mit den Worten: „Wir sehen uns am Freitag.“

Die beiden verließen den Raum. Armes Kind reicher Eltern. Milos Mutter war kurz nach der Geburt gestorben. Laut Auskunft von Tante Rosi ein Verkehrsunfall. Seitdem kümmerte sie sich um den Kleinen. Mikael verstand nicht, warum Milos Vater keine jüngere Frau engagiert hatte. Tante Rosi ging gut und gerne als Oma durch, aber als Mutterersatz taugte sie wohl kaum.

 

Am Freitag saß zu seinem Erstaunen, neben Milo und Tante Rosi, auch der Vater im Wartezimmer. Auf seine Aufforderung hin folgten ihm die drei ins Sprechzimmer.

Während der Untersuchung blieb Milos Vater stumm und meldete sich erst zu Wort, nachdem er seine Zufriedenheit über den Genesungsverlauf verkündet hatte.

„Ich würde Sie gern kurz unter vier Augen sprechen“, bat Beckinsale.

Noch bevor er seine Einwilligung geben konnte, griff Tante Rosi nach Milos Hand und führte den Jungen aus dem Raum. Die Tür fiel hinter den beiden zu. Mikael begab sich hinter den Schreibtisch und nahm im Sessel Platz.

Um seine Ungeduld zu demonstrieren, warf er einen auffälligen Blick auf seine Armbanduhr und fragte in kühler Tonlage: „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich muss für ein halbes Jahr nach Zürich. Milo wird mich begleiten, daher brauche ich einen Arzt, der sich mit seinen Wehwehchen auskennt.“

Typisch für den rohen Kerl, Milos Krankheiten derart verharmlosend zu bezeichnen. „Ich kann mich gern mal umhören, ob einer der Kollegen Kontakt zu einem verlässlichen Schweizer Mediziner hat.“

„Sie verstehen mich falsch. Ich möchte, dass Sie sich um Milo kümmern.“

„Das ist ja wohl ein Scherz. Zum einen kann ich meine Praxis nicht so einfach im Stich lassen, zum anderen stehe ich für private Engagements nicht zur Verfügung.“

„Die Praxis können doch Ihre Kollegen weiterführen und was das andere angeht ...“ Beckinsale schlug ein Bein über das andere und zog arrogant eine Augenbraue hoch. „...dürfte das ja wohl nur eine Frage des Preises sein.“

Was für ein Arschloch! Mikael war kurz davor aufzuspringen und den Kerl rauszuwerfen. Allerdings wäre das geschäftsschädigend. In Anbetracht des Darlehens, das er für sein Haus aufgenommen hatte, sollte er sich besser zusammenreißen. Angespannt ballte er seine Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen.

„Überlegen Sie es sich. Ich zahle Ihnen das dreifache von dem, was Sie normalerweise verdienen, dazu freie Kost und Logis.“ Lässig fischte Beckinsale eine Visitenkarte aus der Innentasche des Sakkos und warf sie auf den Schreibtisch. „Das Angebot gilt eine Woche. Ich stehe ein bisschen unter Druck, sonst würde ich Ihnen längere Bedenkzeit einräumen. Es soll nämlich bereits in einem Monat losgehen.“

Es drängte ihm den Kerl ein ‚Leck mich‘ entgegenzuschleudern. Stattdessen setzte er ein professionelles Lächeln auf. „Sie werden sicher einen kompetenten anderen Arzt finden, der interessiert ist.“

„Milo möchte keinen anderen. Diesbezüglich kann mein Sohn ziemlich stur sein.“

Der erste sympathische Wesenszug an Beckinsale. „Entschuldigen Sie, aber meine Patienten warten. Ich muss daher unsere Unterhaltung beenden.“

„Es ist eh alles gesagt“, gab Beckinsale zurück, stand auf, ging zur Tür und verabschiedete sich im Hinausgehen: „Ich erwarte Ihren Anruf.“

„Da kannst du warten, bis du schwarz wirst“, murmelte Mikael, sobald der Mann außer Hörweite war, schnappte sich die Visitenkarte und schleuderte sie in den Papierkorb.

Es dauerte ein paar Momente, bis sich sein Puls soweit beruhigt hatte, dass er den nächsten Patienten empfangen konnte.

 

Um eins war das Wartezimmer leer. Wie üblich hatte Mikael noch einen Haufen Papierkram zu erledigen. Im Laufe der nächsten halben Stunde wünschten ihm die Sprechstundenhilfen nacheinander ein schönes Wochenende, bis nur noch er und die beiden Kollegen übrig waren.

Martin, der ältere der zwei, schlenderte gegen zwei in sein Sprechzimmer und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder. „Ich hau gleich ab. Meine Frau hat ein Wellnesswochenende an der Ostsee gebucht. Sie steht schon in den Startlöchern.“

„Bei diesem Wetter? Na, viel Spaß.“ Draußen regnete es Bindfäden bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.

„Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.“

„Ha, ha! Klar! Also wirst du im Astronautenanzug an der Ostseeküste spazieren gehen?“

„Vermutlich werde ich die meiste Zeit zwischen Sauna und Schwimmbad pendeln. Ein paar Massagen, vielleicht eine Fangopackung. Du solltest auch mal ausspannen. Siehst ganz schön fertig aus.“

„Zugegeben, diese Renoviererei schlaucht mächtig. Hab letztes Wochenende im Obergeschoss Tapeten abgekratzt.“ Mikael seufzte. „Irgendwie hatte ich mir das alles leichter vorgestellt.“

„Mach mal Pause. Die Arbeit läuft nicht weg.“

„Apropos!“ Er angelte mit ausgestrecktem Arm Beckinsales Visitenkarte aus dem Papierkorb und wedelte damit herum. „Der Vater eines Patienten sucht einen Kinderarzt in Zürich. Kennst du da einen Kollegen?“

„Ist das deine neue Ablagemethode?“, erkundigte sich Martin amüsiert.

„Der Typ hat mich so geärgert, dass ich meinen Zorn an irgendetwas auslassen musste.“

„Zeig mal.“ Martin nahm ihm die Karte aus der Hand. „Ach, das ist doch der Vater von dem niedlichen Milo.“

In Krankheits- und Urlaubszeiten vertrat ihn stets Dr. Martin Weinlaub und kannte daher einige seiner Patienten. „Richtig. Ein Riesenarschloch. Der wollte mich doch echt mit Geld überreden, ein halbes Jahr für Milo den Leibarzt zu spielen.“

„Klingt doch ganz lukrativ. Wie gesagt: Ein bisschen ausspannen würde dir guttun. Dazu noch am Zürichsee. Nette Gegend.“

„Und wer soll meine Arbeit erledigen?“

„Also, Angus und ich können das natürlich nicht über einen so langen Zeitraum abfangen. Eine Vertretung müsstest du schon besorgen. Du hast doch gerade erst die Uni verlassen. Da kennst du bestimmt noch den einen oder anderen Kommilitonen, der vielleicht händeringend eine Stelle sucht.“

Gerade erst bedeutete: Vor sechs Jahren. Aus Martins Sicht, im Alter von 59, eine kurze Spanne, aus seiner eine Ewigkeit.

„Na ja, ich muss dann mal los. Anja wartet.“ Martin schnippte ihm die Visitenkarte zu, stand auf und wünschte im Hinausgehen: „Schönes Wochenende.“

„Ebenso“, murmelte Mikael abwesend.

Im Grunde hatte Martin Recht: Er musste unbedingt mal raus. Die letzten sechs Jahre hatte er eisern mit seinen Einkünften gehaushaltet, um seinen Eltern die Schulden für den Erwerb eines Miteigentumsanteils an der Praxis zurückzuzahlen. Inzwischen war die Summe getilgt, dafür lastete ein neuer Kredit fürs Haus auf seinen Schultern. Urlaub konnte er sich somit erst in ferner Zukunft leisten.

Seufzend griff er nach der Karte und drehte sie in seinen Händen. Hier bot sich wirklich eine einmalige Chance, zugleich Geld zu verdienen und ein bisschen Energie zu tanken. Außerdem mochte er Milo sehr gern. Tja. Blieb aber immer noch die Frage, wer ihn für ein halbes Jahr ersetzen sollte.

 

Übers Wochenende manifestierte sich das Bedürfnis Beckinsales Angebot anzunehmen. Er merkte, dass seine Batterien allmählich ausgepowert waren. Seine Nachbarn, Kurt und Philip, halfen ihm zwar am Samstag die restlichen Tapeten im oberen Stockwerk zu entfernen, aber er fühlte sich ausgelaugt und empfand keinerlei Euphorie über den Arbeitsfortschritt.

Beim gemeinsamen Abendessen, das er den beiden für den Einsatz spendierte, kam die Sache zur Sprache. Sie kannten sich erst seit Silvester, dennoch herrschte zwischen ihnen eine Vertrautheit, als wären sie alte Kumpel.

„So ein Angebot möchte ich auch mal bekommen“, klagte Kurt. „Scheiße! Ich glaube, ich sattele noch mal um. Wie lange muss ich studieren, bis ich Kinderarzt bin?“

„Nur schlappe elf Jahre.“

„Okay. Ich bleibe lieber bei meinen Pflanzen.“ Kopfschüttelnd nahm Kurt das nächste Viertel Pizza aus dem Karton. „Das ist mir doch etwas zu happig.“

„Der Vater des Jungen ist ein Snob. Wie soll ich das bloß aushalten?“, lenkte Mikael aufs Thema zurück. „Zudem hab ich keinen Schimmer, wer mich vertreten soll.“

„Gibt’s keine Jobbörse für arbeitssuchende Ärzte?“, fragte Philip.

„Schon, aber es geht ja nur um sechs Monate.“

„Du kennst doch einen ganzen Studiengang angehender Kinderärzte. Da muss doch jemand darunter sein, der verfügbar ist.“ Kurt spähte in Philips Pizzakarton. „Darf ich ein Stück haben?“

„Nur zu“, willigte der ein und an Mikael gewandt: „Um deine Post können wir uns jedenfalls kümmern. Damit wäre doch schon mal ein Punkt abgehakt.“

„Das ist eine große Hilfe. Danke.“ Er schenkte Philip ein Lächeln, biss in sein Pizzastück und ging in Gedanken sämtliche Kommilitonen durch.

Einige waren weggezogen und schieden schon deshalb aus. Von dem Rest würde er die eine Hälfte niemals auf seine Patienten loslassen, die andere befand sich in Lohn und Brot. Zwei Wunschkandidaten gäbe es allerdings schon. Zum einen Isaac, der an der Universitätsklink Eppendorf arbeitete, zum anderen Thilo, im Klinikum Heidberg tätig. Er nahm sich vor, die beiden später anzurufen.

„Was genau sollst du denn eigentlich tun? Nur rumsitzen, bis das Kind krank wird?“, wollte Philip wissen.

„Das muss ich noch klären. Vielleicht erwartet Mr. Riesenarschloch, dass ich für das Kind eine Art Entertainer spiele.“

„Sieht das Arschloch denn wenigstens gut aus?“ Kurt zwinkerte ihm verschmitzt zu.

„Sofern er die Klappe hält, ist er durchaus ein ansehnlicher Typ“, gab Mikael widerstrebend zu.

Ehrlich gesagt war Ford Beckinsale höllisch attraktiv. Witziger Weise machte gerade die arrogante Art den Mann besonders interessant. Na ja, wer träumte nicht davon, unter einer rauen Schale einen weichen Kern zu entdecken? In Beckinsales Fall dürfte es sich allerdings eher um einen aus Kruppstahl handeln.

Wenig später verabschiedeten sich seine Nachbarn. Was die zwei mit dem Rest des Abends vorhatten, erkannte er an den lüsternen Blicken, mit denen sie einander bedachten.

Etwas wehmütig schloss er die Tür hinter den beiden. In seiner Studienzeit hatte er es tüchtig krachen lassen, doch seitdem herrschte Ebbe in seinem Sexualleben. Nur äußerst selten suchte er zum Druckausgleich einschlägige Clubs auf, ansonsten nahm er vorlieb mit seiner eigenen Hand und Spielzeugen. Das war weniger anstrengend, als sich in irgendwelchen Etablissements wie ein Ladenhüter anzupreisen. Außerdem hatte er anonyme Ficks eh satt.

Bei einer Flasche Pils, gemütlich auf die Couch gefläzt, setzte er sein Vorhaben in die Tat um. Als erstes rief er bei Thilo an und landete auf der Mailbox.

Isaac hingegen nahm das Gespräch sofort an: „Hi Alter. Du warst ja ewig nicht beim Stammtisch. Hab mir schon Sorgen gemacht.“

An jedem ersten Mittwoch des Monats fand im Schachcafé Barmbek ein Treffen der Ehemaligen statt. Anfangs war er regelmäßig hingegangen, aber im Laufe der Zeit hatte er die Lust verloren. Es kam eh nur noch der harte Kern, der größtenteils aus Pappnasen bestand.

„Vielleicht bin ich nächstes Mal wieder dabei. Wie läuft es bei dir?“

Isaac stöhnte. „Puh! Frag lieber nicht! Die beschissenen Schichtdienste bringen mich um. Und selbst?“

„Beruflich kann ich nicht klagen. Hab mich nur privat mit einem alten Haus etwas übernommen.“

„Ja, ja. Immer dieselbe Leier. Beim Kauf sparen und hinterher große Augen machen“, neckte Isaac ihn. „Gibt’s einen besonderen Anlass für deinen Anruf?“

„Ich bräuchte kurzfristig eine Vertretung für ein halbes Jahr. Interesse?“

„Ach? Und was machst du während dieser Zeit?“

„Man hat mir ein privates Engagement angeboten.“

„Du Glückspilz. Also: Generell bin ich natürlich interessiert. Wie es der Zufall so will, hab ich gerade Urlaub und könnte Anfang nächster Woche mal in deiner Praxis reinschauen. Wir müssen doch erstmal gucken, ob es überhaupt passt. Falls ja, werde ich mit der Personalabteilung reden. Mein Arbeitgeber bietet ein Sabbatical an. Vielleicht kann ich es so deichseln, dass ich die erforderliche Summe hinterher anspare.“

So einfach war das? Einen Moment war Mikael sprachlos.

„Hallo? Alles klar bei dir?“, drang Isaacs Stimme besorgt an sein Ohr.

„Ich bin bloß platt. Hätte eigentlich niemals damit gerechnet ... egal. Kommst du gleich Montag vorbei? Mittags, kurz vor Sprechstundenende, gegen zwölf? Dann könnte ich dir die Kollegen vorstellen und hinterher gehen wir was essen.“

„Abgemacht. Freue mich, deine zerknitterte Visage mal wiederzusehen. Bis Montag.“ Isaac beendete die Verbindung.

Grinsend legte er ebenfalls auf. Von allen Kommilitonen war ihm Isaac, mit der burschikosen Art, am liebsten. Thilo rangierte gleich dahinter. Beide hatten das Studium, genau wie er, glorreich abgeschlossen und besaßen bei Kindern ein geschicktes Händchen. Das konnte man leider nicht von allen Studenten des Fachs behaupten.

1. Ekelpaket?

Im Großen und Ganzen hatte das mit dem Sabbatical ganz gut geklappt. Isaac war freigestellt, allerdings unter einer Bedingung: Falls bestimmte Privatpatienten eingeliefert wurden, musste er für einige Stunden in der Klinik anwesend sein. Da es sich bloß um ein Dutzend handelte, von denen sich die meisten bester Gesundheit erfreuten, nahm er das in Kauf. Wahrscheinlich behelligte ihn keiner von denen innerhalb der nächsten sechs Monate.

Mit Mikaels Praxis-Kollegen kam er gut zurecht. Dr. Martin Weinlaubs rauer Charme war zwar manchmal gewöhnungsbedürftig, doch in dem fortgeschrittenen Alter durchaus akzeptabel. Mit neunundfünfzig hatte es der Mann nicht mehr nötig, sich irgendwem anzubiedern. Dr. Angus Wildbach, stets gutgelaunt, war die perfekte Ergänzung dazu.

Die ersten dreieinhalb Monate kam keine Nachricht vom Klinikum. Anfang Mai jedoch vibrierte sein Smartphone und die Nummer der Notfallaufnahme blinkte auf dem Display. Ausgerechnet an einem Samstagnachmittag. Er hatte sich gerade darauf gefreut, die ersten sommerlich anmutenden Sonnenstrahlen mit einem Buch auf seinem Balkon zu genießen. Na gut. Jeder andere Zeitpunkt wäre ebenso unpassend gewesen.

„Was gibt’s?“, meldete er sich barsch.

„Marten von Sachsenburg ist eingeliefert worden. Fraktur des rechten Oberschenkels, Verdacht auf Commotio cerebri.“

„Ich bin schon unterwegs.“ Um den Bruch kümmerten sich die Kollegen aus dem Fachbereich, doch die vermutliche Gehirnerschütterung gehörte in sein Ressort.

Rasch schloss er alle Fenster, bestellte dabei ein Taxi und kramte im Schlafzimmer seine Notfalltasche aus dem Kleiderschrank. Sie beinhaltete alles, was man für eine Übernachtung benötigte.

Als er vors Haus trat, wartete das Taxi bereits am Straßenrand. Er stieg ein, nannte dem Fahrer sein Ziel und lehnte sich ins Lederpolster zurück. Marten von Sachsenburg. Eigentlich ein ziemlich normaler Junge, aber der Vater ... ein absolutes Ekelpaket. Bisher hatte er zweimal das zweifelhafte Vergnügen gehabt und gehofft, nie wieder auf den Geldsack zu treffen.

Beim ersten Mal waren Marten die Mandeln operativ entfernt worden. Im Grunde ein Routineeingriff, doch es kam zu Nachblutungen. Fünf Tage hatte der Junge auf seiner Station gelegen. Beim nächsten Mal war Marten mit Verdacht auf Lungenentzündung eingeliefert worden. Fast zwei Wochen hatte ihn das den Launen des Vaters ausgesetzt. Nach seiner Meinung gehörte der Typ in eine geschlossene Anstalt für Riesenarschlöcher.

Kaum war er im Klinikum eingetroffen, vibrierte erneut sein Smartphone. Wieder die Nummer der Notfallaufnahme.

„Ich bin schon da. Muss mich nur noch umziehen“, bellte er ins Gerät.

„Bitte, beeilen Sie sich. Von Sachsenburg macht hier einen Riesenaufstand“, bat die diensthabende Schwester.

„Ich mache, so schnell es geht“, versicherte und beschleunigte seine Schritte.

Im Umkleideraum herrschte gähnende Leere. Es roch penetrant nach Schweiß, was er vor seinem Sabbatical gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Rasch holte er seine Sachen aus dem Spind, schlüpfte aus der Freizeitkleidung, stieg in die weiße Kluft und stopfte seinen Kram in den schmalen Schrank. Nachdem er abgeschlossen hatte, eilte er aus dem Raum und in Richtung Notaufnahme.

„Da sind Sie ja endlich“, begrüßte ihn David von Sachsenburg, als er durch eine Schwingtür den Trakt betrat.

Der Typ sah aus wie einem Hochglanzmagazin entstiegen. Perfekt frisierte blonde Haare, blaue Augen, dezente Sonnenbräune, ein attraktives Gesicht und Markenklamotten. Es juckte in Isaacs Faust, der schönen Nase einen Knick zu verpassen.

„Ich freue mich auch Sie wiederzusehen“, gab er trocken zurück und wandte sich an die Schwester hinterm Tresen. „Wie ist der Stand der Dinge?“

„Marten von Sachsenburg ist noch im OP. Er müsste aber demnächst in den Aufwachraum gebracht werden.“

„Also gibt es im Moment nichts zu tun“, konstatierte er.

„Ich verlange, dass bei meinem Sohn umgehend ein CT gemacht wird“, mischte sich von Sachsenburg ein und baute sich neben ihm vorm Tresen auf.

„Damit warten wir, bis ich mir von Martens Zustand ein genaues Bild gemacht habe.“

„Das können Sie hinterher immer noch.“

„Ich werde Ihren Sohn nicht ohne vorhergehende Prüfung röntgen lassen.“

„Das interessiert mich nicht. Ich bestehe darauf, dass ...“ „Moment!“, gebot er von Sachsenburg Einhalt. „Sofern das nötig ist, werde ich bei Marten ein MRT veranlassen. Das ist schonender, als ihn der Strahlenbelastung auszusetzen.“

Anscheinend sah der Mann ein, bei ihm auf Granit zu beißen. Zähneknirschend, die Hände zu Fäusten geballt, begann von Sachsenburg zwischen Wartebereich und Tresen hin und her zu tigern. Dem Augenrollen der Schwester zufolge, tat der Typ das schon eine Weile.

Isaac begab sich kopfschüttelnd zum Aufwachraum, spähte hinein und entdeckte zwei Kollegen, die Marten gerade auf einer Liege hereinrollten. Auf einen Wink hin betrat er den Raum, schloss die Tür und gesellte sich zu den beiden.

„Wie sieht’s aus?“

„Sport ist Mord“, meinte Christian, der Anästhesist. „Abgesehen von dem gebrochenen Oberschenkel, hat sich der arme Junge etliche Schürfwunden zugezogen. Der Typ, der die Ambulanz gerufen hat, berichtete von einem Sturz mit anschließendem Bodenkontakt des Schädels. Glücklicherweise hat der Bursche einen Helm auf.“

„Wo ist es denn passiert?“

„In dem Skatezentrum am Berliner Tor.“

„Er kommt zu sich“, meldete Schwester Mechthild von der anderen Seite des Bettes.

„Na also“, murmelte Christian, beugte sich über den Jungen und tätschelte dessen Wange. „Hallo? Alles klar bei dir?“

Martens Lider hoben sich flatternd.

„Wunderbar. Ich denke, wir können dich auf die Station verlegen. Mechthild? Sagst du bitte Bescheid?“ Christian richtete sich wieder auf und an ihn. „Bitte sehr. Dein Patient.“

Die zwei verließen den Raum. Mechthild durch die Tür, durch die er hereingekommen war, Christian in Richtung OP. Kurz hörte er die Stimme von Martens Vater: „... meinen Sohn sehen ...“, dann herrschte Stille.

Er trat an die Liege. Inzwischen hatte Marten beide Augen geöffnet und sah ihn verwirrt an.

„Hi. Weißt du, wo du dich befindest?“

„Im Krankenhaus“, kam heiser zurück.

„Richtig. Wir haben deinen Oberschenkel wieder zusammengeflickt. Gleich bringen dich zwei nette Herren auf die Station und dann gucken wir mal, ob dein Kopf was abbekommen hat.“

Marten hob eine Hand, fuhr sich übers Haupt und beäugte sie anschließend, vermutlich auf Blutspuren hin. „Scheint alles heil zu sein.“

„Äußerlich schon. Ist dir schwindlig oder übel?“

„Nö. Ich hab aber Durst.“

„Ich besorg dir was zu trinken. Geh nicht weg.“ Er zwinkerte Marten verschmitzt zu, was der mit einem schwachen Grinsen quittierte und begab sich auf den Flur.

Prompt wurde er mit von Sachsenburg konfrontiert. „Ich will zu meinem Sohn!“

„Sobald er auf die Station verlegt ist, dürfen Sie ihn sehen.“

„Dann machen Sie den Bettenschubsern mal Feuer unterm Arsch“, wetterte von Sachsenburg. „Ich warte hier schon eine halbe Ewigkeit.“

Im Universum von Millionären war das wahrscheinlich eine Stunde. Irgendwie verlor man wohl den Sinn für Dimensionen, wenn man tagtäglich ein Bad im Geldspeicher nahm.

„Ich kümmere mich darum“, log Isaac, ging an dem Typen vorbei und füllte an einem Wasserspender einen Plastikbecher, um damit zu Marten zurückzukehren.

Kurz darauf trafen die Kollegen ein, die für Verlegungen zuständig waren. Die beiden verfrachteten Marten auf eine Rolltrage und schoben sie durch die rückwärtige Tür, von der ein Gang zum Aufzug führte. Isaac folgte der Prozession in den Lift.

Während sie in den 3. Stock fuhren, wechselte er ein paar belanglose Worte mit den zwei Männern. Man kannte sich bloß vom Sehen, daher reichte es nicht für mehr.

Auf der Station empfing sie Schwester Annette und wies die Kollegen an, den Patienten in Zimmer drei zu bringen. Sie bat Isaac in den Dienstraum und händigte ihm Martens Unterlagen aus.

„Ganz schöner Mist, dass man dich wegen so einer Lappalie ruft. Das hätte auch Dr. Mogensen übernehmen können.“

„Tja. Was soll ich dazu sagen?“, erwiderte er etwas abwesend, da er die Schriftstücke überflog.

„Am besten nichts. Soll ich in der Notfallaufnahme Bescheid geben?“

Er warf Annette ein Lächeln zu. „Ja bitte. Ich guck mir mal den Patienten genauer an.“

Die beiden Kollegen waren bereits verschwunden, als er Zimmer drei betrat. Marten lag auf dem Rücken, die Hände über der Bettdecke gefaltet. Das Sinnbild eines lieben Jungen, doch Isaac ahnte, dass es das Bürschchen wohl faustdick hinter den Ohren hatte. Normal in dem Alter. Marten war zwölf, also kurz vor oder bereits in der Pubertät.

Er hockte sich auf die Bettkante. „Wir müssen ein paar Tests machen, um sicherzugehen, dass in deinem Oberstübchen alles am richtigen Platz ist.“

„Okay. Legen Sie los.“

Isaac stellte ein paar Fragen allgemeiner Natur, die Marten allesamt richtig beantwortete. Anschließend prüfte er die Reflexe und erkundigte sich nochmals nach Schwindelgefühl oder Übelkeit.

„Mir geht’s ganz gut. Hab bloß ein bisschen Kopfschmerzen“, gestand Marten leise.

„Ich werde die Schwester bitten, dir ein entsprechendes Mittel zu geben. Falls es morgen noch nicht besser ist, müssen wir wohl mal genauer nachschauen.“

„Wie lange muss ich denn hierbleiben?“

„Bis es ...“ Die Tür sprang auf, von Sachsenburg platzte herein und polterte los: „Mein Sohn bekommt natürlich ein Einzelzimmer! Er ist Privatpatient!“

„Sehen Sie hier irgendwo andere Patienten herumliegen?“, konterte Isaac.

„Ich sehe zwei freie Betten.“

Papa! du bist peinlich“, mischte sich Marten ein.

Im Geiste beglückwünschte er den Sprössling für diese Erkenntnis. Laut sagte er: „Ich gehe davon aus, dass Ihr Status bekannt ist und keine weitere Belegung erfolgt.“

„Klären Sie das bitte abschließend, anstatt es nur zu vermuten“, erwiderte von Sachsenburg kühl.

„Sehr wohl, der Herr.“ Isaac stand auf und ließ die beiden allein, um mit Schwester Annett die Schmerzmittel-Dosierung zu besprechen.

Absichtlich trödelte er herum, hatte aber bei seiner Rückkehr ins Krankenzimmer kein Glück. Von Sachsenburg saß am Bett, hielt Martens Hand und hob bei seinem Eintreten lauernd eine Augenbraue. Bestimmt hatte der Typ das ewig vorm Spiegel geübt.

„Die übrigen Betten bleiben leer, so lange Marten hier liegt“, gab Isaac bekannt. „Was weitere Untersuchungen angeht, warten wir den morgigen Zustand des Patienten ab.“

„Wieso morgen? Wofür zahle ich eigentlich so einen Batzen Geld?“

Papa! Ich will heute nur noch meine Ruhe haben“, murrte Marten.

„Und ich möchte nicht, dass du bleibende Schäden behältst.“

„Die wird Marten wohl eher davontragen, wenn wir ihn grundlos in die Röhre schieben.“ Isaac umrundete das Bett, klappte das Tischchen des Nachtschranks herunter und stellte einen Medikamentenbecher darauf ab. „Sofern die Kopfschmerzen bleiben, werden wir selbstverständlich auch an einem Sonntag die nötigen Untersuchungen vornehmen.“

„Das will ich ja wohl meinen“, brummelte von Sachsenburg und warf ihm einen scharfen Blick zu, der einen weniger robusten Menschen hätte zusammenzucken lassen.

Isaac war mittlerweile gegen solche Anfeindungen immun. Schließlich hatte er es in den letzten Jahren oft mit Standesdünkel zu tun. Allerdings stellte von Sachsenburg immer noch eine besondere Herausforderung dar.

„Papa? Ich muss bis Montag hier raus. Da ist doch das Konzert von Maroon 5“, warf Marten ein.

Das war eindeutig nicht seine Baustelle. „Denk bitte daran deine Medizin zu nehmen“, wandte er sich an den Jungen. „Wenn was ist: Klingel nach der Schwester. Sie wird mich dann holen.“

Beim Hinausgehen stahl sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Er wollte nicht in von Sachsenburgs Haut stecken. Marten zu erklären, dass man mit Gehirnerschütterung kein Konzert besuchen sollte, war bestimmt kein Zuckerschlecken.

Da seine Aufgabe somit fürs erste erledigt war verabredete er mit Annett, am nächsten Morgen gegen acht wieder aufzuschlagen. Sollte zwischendurch etwas sein, konnte sie ihn zu Hause erreichen.

 

Am folgenden Tag schwor Marten hoch und heilig schmerzfrei zu sein. Dagegen sprach die angespannte Miene bei jeder schnelleren Bewegung. Isaac blieb nichts anderes übrig, als ein MRT anzuordnen, um Gewissheit über Martens Zustand zu erlangen. Wegen der knappen Personaldecke am Wochenende dauerte es ziemlich lange, bis sich die Kollegen der Sache annehmen konnten. Glücklicherweise war die Untersuchung bereits beendet, als mittags von Sachsenburg eintraf. Andernfalls hätte er sich bestimmt wieder einiges anhören dürfen.

„Auf ein Wort“, bat er von Sachsenburg, der sich neben Martens Bett niedergelassen hatte, aus dem Zimmer.

Erstaunlicherweise gehorchte der Mann ohne aufzumucken, schloss die Tür und folgte ihm ein Stück den Flur hinunter.

„Das MRT hat ergeben, dass Martens Gehirn keinerlei Veränderungen aufweist. In Anbetracht der Symptome handelt es sich also sehr wahrscheinlich um eine leichte Gehirnerschütterung, aber auch mit der ist nicht zu spaßen.“

Von Sachsenburg runzelte die Stirn. „Was bedeutet das im Klartext?“

„Ich werde ihn noch ein paar Tage hierbehalten für den Fall, dass sich sein Zustand verschlechtert.“

„Mit anderen Worten: Sie werden mir Martens Entlassungspapiere nur auf mein eigenes Risiko hin aushändigen?“

„So sieht es aus.“

 

Imprint

Text: Sissi Kaiserlos
Images: shutterstock
Cover: Lars Rogmann
Editing: Aschure - danke
Publication Date: 02-05-2018

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