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Inhalt

Kapitel 1: Spät am Abend

 

Kapitel 2: Zwölf Uhr mittags

 

Kapitel 3: Im Morgengrauen

Kapitel 1: Spät am Abend

An diesem Abend begegnete sie ihm erneut, dem Mann mit dem Tintenfisch-Tattoo. Sie befand sich auf dem Heimweg in der fast leeren Bahn und konnte an nichts anderes denken, als so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Wie so oft in den letzten Wochen war der Mann still und heimlich in ihrer Nähe aufgetaucht, wobei er stets bewusst eine gewisse Distanz zu wahren schien, um Körperkontakt zu vermeiden. Allerdings musterte er sie in Momenten, wo sie nicht in seine Richtung sah, mit einem dermaßen eindringlichen und beobachtenden Blick, dass sie sich davon fast noch mehr berührt fühlte, als es eine körperliche Berührung vermocht hätte. Wie ein unheilvoller Schatten legte sich dieser auf ihre Haut, drang tief ein in ihre Seele, in ihr ganzes Sein - und ließ ihr keine Ruhe.

 

***

 

Es war ein anstrengender, kräftezehrender Arbeitstag gewesen. Ungewöhnlich viele Kundinnen hatten die kleine Boutique aufgesucht, in welcher sie seit geraumer Zeit als Verkäuferin arbeitete. Der Herbst war seit wenigen Tagen in der Stadt eingekehrt, brachte Wind, Regen und viele bunte Blätter mit sich. Die Damen der Schöpfung ergossen sich nahezu sintflutartig in ihre Boutique, auf der Suche nach Jacken und Mänteln, die in der Lage wären, sie vor der hereinbrechenden Kälte zu schützen. Für alle unerwartet und plötzlich hatte sich die Herbstluft bereits Anfang September über die Stadt gelegt, wehte durch ihre Straßen und Gassen, vertrieb die letzten Spuren, die vom Sommer noch übrig waren, und nahm den Bewohnern der Stadt jede Hoffnung, dass die warmen Tage in diesem Jahr noch einmal zurückkehren würden.

 

Müde und erschöpft schloss sie die Ladentür hinter sich ab, nachdem auch die letzte Kundin endlich gegangen war. Es war bereits nach einundzwanzig Uhr. Sie sehnte sich nach einer entspannenden Dusche und einer heißen Tasse Tee. Anschließend würde sie vermutlich nur noch ins Bett fallen, ihre Augen schließen und traumlos bis zum nächsten Morgen durchschlafen.

 

An ihn, den Mann mit dem Tintenfisch-Tattoo, hatte sie während der letzten Stunden gar nicht mehr gedacht. Ihre Tätigkeit in der Boutique hatte sie vollends in Beschlag genommen und abgelenkt. Jetzt, wo ihre Schicht zu Ende war und sie den Kopf wieder frei hatte, tauchte er auf der Bildfläche auf, schlich ihr, einem Schatten gleich, an der mittelalterlichen Stadtmauer entlang hinterher, folgte ihr auf Schritt und Tritt, unablässig, unaufhaltsam. Zu zweit zogen sie durch die enge Gasse, sie und der Tintenfischmann. Weit und breit war niemand sonst zu sehen. Die Bewohner der Stadt hatten sich längst in die Geborgenheit ihrer Wohnungen geflüchtet, es sich vor dem Fernseher oder mit einem Buch gemütlich gemacht, während sie hier draußen in der Abenddämmerung mit einem Regenschirm in der Hand durch den Regen eilte. Der Bahnhof war ihr Ziel. Und der Weg von der Boutique bis dorthin war eigentlich gar nicht weit. Ein Katzensprung, könnte man sagen. Doch durch die Präsenz des Tintenfischmannes, der sie verfolgte, ihr hinterherjagte, mit ihr geflissentlich Schritt hielt, zog sich die kurze Strecke für sie gefühlt endlos in die Länge. Ihr Herz pochte heftig, fing an zu rasen. Ihr Atem ging schneller. Hier, in der einsamen, abgelegenen Gasse, wäre sie ihm wehrlos ausgeliefert, würde er sie einholen. Sie war vollkommen auf sich allein gestellt. Niemand würde ihr eine helfende Hand reichen und sich ihrem Verfolger in den Weg stellen. Sie musste sich selbst von ihm befreien, seiner bedrohlichen Aura entkommen. Eine andere Wahl blieb ihr nicht.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie vor sich die Lichter des Bahnhofs. Endlich! Sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Nur noch die Treppe hinauf zum Bahnsteig und hoffen, dass die Bahn pünktlich einfuhr. Dann wäre sie in Sicherheit. Oben sah sie einige Fahrgäste stehen. Deren unmittelbare Nähe würde ihr Schutz bieten. So lange sie sich unter Menschen befand, würde der Tintenfischmann nicht zuschlagen. Das wusste sie. Er würde sich unter die Menge mischen, sich wie ein Chamäleon darin tarnen, nahezu mit seiner Umgebung verschmelzen, unbemerkt für die anderen. Einer von vielen - das war seine Rolle, die er spielte, wenn er sich in der Masse aufhielt. Eine Maske, die sein wahres Wesen verborgen hielt, setzte er dann auf, um unerkannt zu bleiben, nicht beachtet zu werden. Bei den anderen mochte dieser Trick Wirkung zeigen, nicht jedoch bei ihr. Seinen stechenden Blick vermochte sie selbst hinter der breitesten Mauer zu spüren. Wie ein Fels lastete er auf ihrem ganzen Sein, zwang es nieder. Da konnte er sich noch so verstecken – das Feuer in seinen Augen würde ihn jederzeit verraten, ihn ihr preisgeben. Wie sie bereits vermutete, lag genau dies in seiner Absicht. Ebenso sehr, wie er sich vor der Aufmerksamkeit der anderen Menschen zu verbergen bemühte, buhlte er förmlich darum, von ihr beachtet zu werden. Er machte keinerlei Hehl daraus, dass sein uneingeschränktes Augenmerk ihrer Person galt, und schien ebendieses Interesse auch von ihrer Seite erzwingen zu wollen, indem er ihr unaufhaltsam nachstellte. Doch war dies wirklich sein einziges Motiv? Bislang trat er ausschließlich als Voyeur in Erscheinung. Was aber, wenn er sich eines Tages in einen Mann der Tat verwandeln würde?

 

Mit schnellen Schritten erklomm sie die vor ihr liegende Treppe. Oben auf dem Bahnsteig angekommen, blieb sie kurz stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Belebend strömte die kühle Septemberluft in ihre Lungen, ließ sie für einen winzigen Moment ihre Angst vergessen. Dann hörte sie Schritte hinter sich auf der Treppe und drehte sich blitzschnell um. War es ihr Stalker, der da gerade heraufstürmte? Nein. Ein junger Mann mit Kopfhörern, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, eilte zur Bahn, die gerade einfuhr. Sie tat es ihm nach und stieg wie er in den vordersten Waggon ein, entschied sich dafür, an seiner Seite zu bleiben. Auch wenn er ihr fremd war, schenkte seine Nähe ihr in Anbetracht der Umstände ein Gefühl von Geborgenheit. Sie setzte sich in den Vierer unmittelbar neben dem, in welchem er Platz genommen hatte. Zu solch später Stunde gab es nur eine Handvoll Passagiere in der Bahn. Eine Frau in mittleren Jahren las in einem Taschenbuch. Weiter hinten saßen drei hip gestylte Jugendliche, die einander laut gackernd und Sprüche klopfend allem Anschein nach die neuesten TikTok-Videos auf ihren Smartphones präsentierten. Die Dame mit dem Taschenbuch schaute immer wieder verärgert mit dem Kopf schüttelnd in deren Richtung. Der junge Mann im Vierer neben dem ihren schloss seine Augen und vertiefte sich in die Musik, deren Klänge in geminderter Lautstärke aus seinen Kopfhörern drangen.

 

Das automatische Signal ertönte und die Türen schlossen sich. War der Tintenfischmann ebenfalls eingestiegen? Sie schaute sich um, soweit dies aus ihrer Position möglich war, konnte ihn aber nirgends entdecken. War es ihr etwa gelungen, ihn abzuhängen? Sie wollte daran glauben - konnte es aber nicht.  

 

Der Regen peitschte unaufhaltsam gegen die Fensterscheiben. Als der Mann mit dem Tintenfisch-Tattoo nach den ersten drei Stationen immer noch nicht auf der Bildfläche erschienen war, fing sie an, sich in Sicherheit zu wiegen, holte tief Luft und schloss für einen langen Moment ihre Augen. Allem Anschein nach würde sie ihm heute ausnahmsweise nicht begegnen. Doch da sollte sie sich bitter getäuscht haben.

 

Der Zug passierte mehrere Bahnhöfe, während sie ihre Augen weiterhin geschlossen hielt. Sie war einfach zu müde und konnte es kaum erwarten, ihr Zuhause zu erreichen. Sie war nahe daran, einzuschlafen, befand sich bereits an der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit. Da gab sie sich einen Ruck und schlug die Augen auf. Denn der nächste Halt wäre der ihre, und diesen wollte sie auf gar keinen Fall verpassen.

 

Inzwischen war die Bahn fast leer. Sowohl die Jugendlichen als auch die lesende Dame waren bereits ausgestiegen. Der Mann mit den Kopfhörern saß allerdings immer noch an seinem Platz und war trotz der lauten Musik, von der er sich weiterhin berieseln ließ, eingeschlafen. Hin und wieder wurde er wach, richtete sich gerade auf, um innerhalb der nächsten Sekunden erneut zusammenzusinken.

 

Als sie sich dem anderen Ende des Waggons zuwandte, gefror ihr für einen Moment das Blut in den Adern. Auf einem der hinteren Plätze saß er, der Tintenfischmann. Klammheimlich und nicht das leiseste Geräusch von sich gebend, war er aus seinem Versteck im tiefen Ozean an die Oberfläche geschwommen, während sie sich in der Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern verloren hatte. Mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen schaute er, in eine alte, abgewetzte, braune Lederjacke gehüllt, aus dem Fenster, tat so, als würde er keinerlei Notiz von ihr nehmen. Auf der Oberseite seiner rechten Hand prangte ein Tattoo. Aus dieser Entfernung konnte sie es zwar nicht in allen Details erkennen. Und doch wusste sie genau, worum es sich dabei handelte: Einen finster dreinblickenden Oktopus. Rote, zu schmalen Schlitzen verengte Augen auf einem schattengleichen Körper.

 

Der Oktopus hatte sich ihr bereits bei ihrer ersten Begegnung offenbart, noch ehe sie das Gesicht des Mannes zum ersten Mal sah. Es war etwa einen Monat her. Sie hatte an diesem Tag bereits nachmittags Feierabend und fuhr in der zu dieser Stunde überfüllten Bahn nach Hause. Alle Plätze waren besetzt. Die Passagiere standen dicht gedrängt beieinander. Raum, um Luft zu holen, blieb kaum in dieser erdrückenden Enge. Da fiel ihr die Männerhand auf, welche sich an einer der Haltestangen festhielt. Eigentlich eine schöne, gepflegte Hand. Eine Hand, die sie zu gern berührt hätte. Wäre da nicht dieses unheilvolle Tattoo, das sich wie ein finsterer Schatten auf sie legte. Es war ihr unmöglich, dieser Hand näher zu kommen. Denn der Oktopus hatte bereits von ihr Besitz ergriffen und trieb damit sein Unwesen, wenn niemand hinsah.

 

Die Bahn fuhr in den Bahnhof ein. Kurz bevor diese hielt, erhob sie sich von ihrem Platz und bewegte sich Richtung Tür. Da hörte sie plötzlich Schritte hinter sich. Im Waggon befanden sich außer ihr nur noch der junge Mann mit den Kopfhörern und der Tintenfischmann, wie sie bei ihrem Gang zur Tür bemerkt hatte. Ohne sich umzudrehen, wusste sie, welcher von beiden in diesem Augenblick hinter ihr stand. Wie zur Bestätigung legte sich die ihr bereits vertraute tätowierte Hand auf die Haltestange seitlich neben ihr, schlang ihre fünf Finger Tentakeln gleich um sie herum. Auch wenn ihr Herz bei diesem Anblick erneut wild zu pochen anfing, beruhigte sie die Tatsache, dass es sich dabei nur um fünf Finger, nicht um derer acht, handelte.

 

Noch hielt sich der Oktopus an der Haltestange fest. Doch was, wenn er seine Tentakel eins nach dem anderen von dieser lösen und stattdessen um ihren Hals legen würde? Bei dieser Vorstellung musste sie unweigerlich nach Luft schnappen. Sie spürte den Atem des Mannes in ihrem Nacken. Ein Gefühl der Lähmung befiel ihren Körper, und sie hoffte inständig, dieses würde wieder abklingen, sobald der Zug halten und sich die Tür zu ihrer Rettung öffnen würde.

 

Dann hörte sie plötzlich erneut Schritte hinter sich. Diese konnten nur zu dem musikhörenden, jungen Mann gehören. Auch er hatte im Sinn, auszusteigen. Sehr gut! Seine Präsenz schenkte ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Solange er in ihrer Nähe war, würde der Tintenfischmann sie nicht anrühren. Tatsächlich löste sich dessen Hand von der Stange, als der andere neben ihm auftauchte. Er trat sogar einen Schritt zurück. Sein heißer Atem streifte nicht mehr ihren Hals. Doch weshalb? Bedeutete dies, dass er Abstand von ihr nehmen wollte, so lange der andere Mann Augenzeuge war? Oder ließ der Oktopus die Haltestange los, um sein Opfer packen zu können? Sie - oder den jungen Mann hinter ihr?

 

Sobald die Bahn hielt und sich die automatischen Türen öffneten, rannte sie los, rannte, so schnell sie konnte, durch die Dunkelheit dieser alptraumhaften Nacht um ihr Leben!

Kapitel 2: Zwölf Uhr mittags

Am nächsten Tag sah sie den Tintenfischmann zum ersten Mal vor der Boutique, in der sie arbeitete. Der Regen war über Nacht abgeklungen und der Himmel aufgeklart. Ihr Stalker saß auf der Bank, welche der Boutique genau gegenüberstand, eine Zeitung wie zur Tarnung vor sein Gesicht geschlagen. Doch das Tattoo auf seiner Hand, welche die Zeitung festhielt, verriet ihn. Am liebsten hätte sie die Polizei zu Hilfe gerufen. Doch sie schämte sich, diesen Schritt zu tun. Vielleicht würde man sie nicht ernst nehmen und ihr sagen, sie solle sich beruhigen, es sei ja nichts weiter vorgefallen. Sie hoffte einfach darauf, dass ihr Stalker so urplötzlich wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, wie er darin aufgetaucht war.

 

Kurz vor Beginn ihrer Mittagspause um zwölf Uhr klingelte das Glöckchen an der Eingangstür. Sie hängte gerade neue Ware auf, die am heutigen Vormittag geliefert worden war, und konnte, mit dem Rücken zur Tür, nicht sehen, wer den kleinen Laden betreten hatte. Zudem wagte sie es kaum, sich umzudrehen, weil sie eine weitere Begegnung mit dem Tintenfischmann fürchtete.

 

Da hörte sie auf einmal eine ihr sehr vertraute Stimme: „Hey Schatz! Ich dachte, ich komm dich mal in deiner Pause besuchen.“ Unverkennbar ihr Mann Lukas - was für ein Glück!

 

Er nahm sie in seine Arme und küsste sie.

 

„Wie schön, dich zu sehen!“ Sie blickte ihm freudestrahlend entgegen.

 

Die beiden hatten sich seinerzeit über gemeinsame Freunde kennengelernt und waren schon länger miteinander verheiratet, an die zehn Jahre. Ihre Ehe gestaltete sich auch heute noch überaus harmonisch. Nur selten stritten sie miteinander. Und wenn es mal doch zu einer Unstimmigkeit zwischen den beiden kam, so wurde diese alsbald mit vereinter Kraft aus dem Weg geräumt. Lukas war für sie seit jeher ihr Lichtschein am dunklen Horizont, ihr sicherer Hafen bei Sturm, ihr Retter in der Not. Vor allem heute, jetzt in diesem Moment, wo ihr der Mann mit dem Tintenfisch-Tattoo draußen, vor der Tür der Boutique, versteckt hinter seiner Zeitung auflauerte. Sie konnte ihre Dankbarkeit für Lukas´ Erscheinen kaum in Worte fassen. Bis ihr Blick auf die Oberseite seiner rechten Hand fiel und sie vor Schreck zusammenzuckte: Der schattenartige Oktopus starrte ihr aus rotglühenden Augen entgegen. Es war derselbe, den sie bereits kannte, oder war diesem zumindest wie aus dem Gesicht geschnitten.

 

„Schatz, was hast du?“ Lukas´ Stimme klang bekümmert.

 

„Das Tattoo…“ Stammelte sie.

 

Nun schaute auch er auf seinen Handrücken. „Ach so! Ja, das ist eigentlich der Grund, warum ich zu dir hereingeschneit bin. Ich komme nämlich gerade vom Tätowierer, und die Boutique lag auf dem Weg. Warum machst du denn ein so entsetztes Gesicht? Gefällt dir mein Tattoo etwa nicht?“ Er klang etwas traurig, so dass ihr ihre Bestürzung fast leidtat.

 

„Nun ja, ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Ich bin einfach überrascht, weißt du? Wir beide kennen uns nun schon so lange, und du hast all die Jahre immer behauptet, du würdest Tinte auf der Haut nicht mögen. Anscheinend hast du deine Meinung inzwischen geändert?“

 

„Ich erzähl dir, wie das zustande gekommen ist. Meine alten Freunde aus Schulzeiten, der Felix und der Andy, kamen neulich auf die Idee, dass wir uns doch ein Freundschaftstattoo stechen lassen können. Ja, ich weiß, so was machen eher Frauen untereinander. Aber irgendwie hat uns das gereizt - weshalb auch immer.“

 

„Aber warum muss es denn ausgerechnet ein Oktopus sein?“

 

„Warum nicht? Der sieht doch ganz fesch aus.“ Lukas bedachte seinen Handrücken mit einem gewissen Stolz. „Ein Faible fürs Meer haben wir alle drei schon unser Leben lang. Und, na ja, bei einem rosa Seepferdchen oder einer Meerjungfrau mit Schleifchen im Haar wäre ich wohl ausgestiegen.“ Er grinste sie unschuldig an.

 

Dass ihr Mann sich ein Tintenfisch-Tattoo stechen lassen hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Diese Angelegenheit beunruhigte sie zutiefst. Zumal es sich für sie so anfühlte, als würde sich durch diesen Schritt etwas in seinem Wesen verändern. Es mochte nur eine Tätowierung sein. Doch ihre Wirkung war viel größer, als man auf den ersten Blick erkennen konnte. Der Tintenfisch hatte Lukas bereits seinen Stempel aufgedrückt und würde sich von nun an zunehmend in seine Seele stehlen, mehr und mehr sein ganzes Wesen in Beschlag nehmen und transformieren. Wo sollte das noch hinführen? Konnte man all das Schreckliche aufhalten, während es im Begriff war, zu entstehen? Wann genau hatte es angefangen, seinen Lauf zu nehmen? Wie lange wütete der Oktopus bereits in Lukas´ Innerem, bevor er sich durch das Tattoo auch der Außenwelt allmählich zu erkennen gab?

 

Sie wusste sich keinen Rat. Zu ihrem tiefsten Bedauern stellte sie nun fest, dass man noch so innig miteinander verbunden sein, Jahr um Jahr gemeinsam Seite an Seite verbringen kann – und doch weiß man nur einen Bruchteil über den wahren Kern des anderen, kennt nur seine gepflegte, beschönigte Fassade. Bis dieser plötzlich eines Tages aus heiterem Himmel seine Maske herunter reißt und sein echtes Gesicht zu erkennen gibt. Sie wusste, das war erst der Anfang. Der Anfang vom Ende. Von nun an würde es nur noch bergab gehen in ihrer Ehe. Der Oktopus hatte bereits seine Tentakel nach ihrer beider Herzen ausgestreckt und würde sie, fest umschlungen, mit aller Kraft zerdrücken. Davor fürchtete sie sich. Und auch vor dem damit verbundenen Schmerz. Um diesen nicht fühlen zu müssen, fasste sie den einzig richtigen Entschluss: „Lukas, es ist vorbei. Wir müssen uns trennen.“

 

 

 

 

Kapitel 3: Im Morgengrauen

Nach Feierabend suchte sie ein Hotel auf. Die Vorstellung, auch nur einen Tag länger mit Lukas in der gemeinsamen Wohnung zu verbringen, war für sie unerträglich. Kein Auge würde sie mehr neben ihm zubekommen. Jetzt, wo der Oktopus in seinem Wesen kauerte und sich zum Angriff bereit machte, war sie bei Lukas nicht mehr sicher.

 

Auf dem sonst einfach eingerichteten Zimmer gab es glücklicherweise einen Fernseher. Kaum hatte sie es sich im Bett gemütlich gemacht, schaltete sie ihn ein, um sich die Zeit mit einer Talkshow zu vertreiben. Die Sorgen und Nöte anderer Menschen vermochten es, sie von ihrem eigenen Leben mit den darin unverhofft aufgetretenen Problemen abzulenken. Während der ersten halben Stunde geisterten Lukas und der Tintenfischmann noch alle paar Sekunden in ihrem Kopf herum. Doch schließlich zogen sie die Ereignisse, welche sich auf dem Bildschirm abspielten, immer mehr in ihren Bann, so dass sie kaum noch einen Gedanken an die beiden verschwendete. Ihre Muskeln entspannten sich. An der einen oder anderen Stelle der Talkshow musste sie sogar lachen. Eigentlich hielt sie von solch anspruchslosen Sendungen nicht sonderlich fiel. Doch jetzt begrüßte sie die damit verbundene Ablenkung, welche sie in ihrer aktuellen Lebenssituation nur zu gut gebrauchen konnte.

 

Mit einem Schlag brachte das Klingeln ihres Handys sie ins Hier und Jetzt zurück. Wer mochte das sein? Um sich diese Frage zu beantworten, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre bequeme Position im Bett zu verlassen und zu ihrer Handtasche hinüberzugehen, die neben dem Kleiderschrank auf dem Boden lag. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Bevor sie sich aus dem Bett erhob, stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

 

Auf dem Display ihres Handys leuchtete Lukas´ Name auf. Dass er anrief, hatte ihr gerade noch gefehlt, obgleich sie damit gerechnet hatte. Kurz überlegte sie, ob sie abnehmen sollte, bevor sie auf den grünen Knopf drückte.

 

„Hey, was ist denn los? Ich versteh´ die Welt nicht mehr!“ Lukas klang sichtlich aufgebracht und verzweifelt. „Wegen eines blöden Tattoos machst du einfach Schluss und ziehst los? Soll das dein Ernst sein? Nach zehn Jahren Ehe? Also gut, wenn dir mein Tattoo dermaßen missfällt, lasse ich es weglasern. Gleich morgen hole ich mir einen Termin und gut ist. Aber sag mir bitte, ist das wirklich der Grund für die Trennung? Oder liebst du mich einfach nicht mehr?“

 

Während er wie ein Wasserfall plätschernd auf sie einredete, ging sie zum Fenster hinüber, um einen Blick auf den Mond zu werfen. Schon immer hatte sie es geliebt, in die Betrachtung des Mondes zu versinken. Heute war allerdings Neumond, wie ihr im nächsten Moment einfiel. Demnach war es vergeblich, nach ihm Ausschau zu halten. Er würde sich ihr an diesem Abend nicht zeigen, ganz gleich, wie lange sie auch auf ihn warten mochte. Dafür erblickte sie etwas anderes, womit sie hier an diesem Ort überhaupt nicht gerechnet hatte: Neben der Straßenlaterne, die mit ihrem orangefarbenen Licht die Dunkelheit der Nacht erhellte, hatte der Tintenfischmann Stellung bezogen. Wie immer trug er seine abgewetzte Lederjacke und hatte sein längeres Haar nach hinten gekämmt. Mit seiner rechten, tätowierten Hand hielt er ein Handy ans Ohr gelegt. Jetzt, in diesem Augenblick, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass er keinen Schatten warf. Dieser Umstand stürzte sie in Verwirrung. Ein Mann ohne Schatten – ja, handelte es sich bei seinem Wesen womöglich um den personifizierten Schatten, vor dem sie ihr Leben lang davongelaufen war, in der Hoffnung, seine Existenz dadurch verdrängen zu können? War er in all den Jahren, wo sie ihn unbewusst genährt hatte, herangewachsen und hatte schließlich eine feste Gestalt angenommen? Und nun verfolgte er sie, mit der Absicht, sich auf sie zu stürzen und sie unter seinem tonnenschweren Gewicht zu begraben, welches er bis dahin in ihrem Namen auf sich genommen hatte?

 

Lukas´ Stimme drang erneut an ihr Ohr: „Hallo? Sag doch mal was! Bist du überhaupt noch dran?“

 

Die Frage stand etwa zwanzig Sekunden lang schwebend im Raum, ohne dass sie ihm darauf eine Antwort zu geben vermochte. Sie starrte dem Tintenfischmann entgegen, der, den Kopf ihrem Fenster zugewandt, seinerseits in ihre Richtung blickte.

 

„Hallo, hallo?“ Lukas gab keine Ruhe.

 

Langsam nahm sie das Handy vom Ohr und legte auf. Auch der Tintenfischmann nahm seine Hand, in welcher er das Handy hielt, herunter. Mit seiner anderen, freien Hand, winkte er ihr vorsichtig zu. Anschließend trat er einige Schritte zurück, verschmolz mit der Dunkelheit und löste sich darin auf.

 

Etwas hatte sich in ihr geregt. Doch das, was sie fühlte, war keine Furcht mehr, eher eine abgrundtiefe Müdigkeit. Sie war es leid, vor dem Tintenfischmann davonzulaufen und weiterhin zu leugnen, was sie in den verborgensten Winkeln ihrer Erinnerung vergraben hatte, um den Schmerz darüber zu vergessen. 

 

Sie ging zu Bett und schaltete das Licht aus.

 

Im Traum fand sie sich an einem Strand wieder. Nicht in ihrer Heimat, sondern weit weg in einem fernen, warmen Land, in welchem die Sonne mit geballter Kraft vom Himmel herab brannte und alles in ihr strahlendes Licht tauchte. Der Mann mit dem Tintenfisch-Tattoo stand am Ufer und schaute aufs Meer hinaus, ohne sie zu beachten, während der Oktopus auf seinem Handrücken sie aus rot funkelnden Augen anstarrte. Sie schaute ihm gelassen entgegen, fand in ihrem Inneren weder Angst noch Verzweiflung, mit der sie ihm begegnen konnte. Wie als Antwort darauf erlosch das Leuchten in seinen Augen. Langsam stülpte er sich auf dem Handrücken des Mannes aus, während er an Größe zunahm und sich in ein leibhaftiges Tier verwandelte. Nach und nach löste er sich von der Haut ab, die ihn so lange beherbergt hatte, und sprang mit einem gezielten Satz in den Ozean. Nachdem er fort war, zerfiel der Mann zu Sand, welcher von einer Windböe über den Strand geweht wurde.

 

Als sie im Morgengrauen aufwachte, bemerkte sie, dass Frieden in ihre Seele eingekehrt war. Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen. Mit dem Ende des Tintenfischmannes war der Neustart für ihr Leben eingeläutet worden, und sie überlegte, womit sie diesen am besten beginnen würde. Sollte sie zu Lukas zurückkehren? Auf einmal schien ihr alles möglich.

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Text: © Träumerin
Publication Date: 07-06-2025

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