Eines Nachts hatte Baum einen seltsamen Traum. Darin fand er sich in einem ihm vollkommen fremden Wald wieder, der so ganz anders war als die Wälder der Welt, aus der er kam. Nicht, dass er bereits sehr viele Wälder gesehen, geschweige denn besucht hätte. Den größten Teil seines bislang achthundertjährigen Daseins verbrachte er an seinem angestammten Platz im Park, wo er sich die Sonne auf die Krone scheinen ließ, den anmutigen Liedern der Vögel auf seinen Zweigen lauschte und aufmerksam die Menschen beobachtete, die an ihm vorüber schlenderten. Sein Leben verlief im Großen und Ganzen in ruhigen Bahnen, ausgenommen der stürmischen Tage, während denen ihm der Wind um den Stamm wehte und seine Äste auf und ab wiegte. Nur in seinen Träumen reiste Baum oftmals an andere Orte, schaute sich das Leben in anderen Ländern und Dimensionen an und erlebte dort so manches Abenteuer, an das er sich gerne an wolkenverhangenen, trüben Tagen mit einem Lächeln im Herzen zurück erinnerte. Im Übrigen war ihm nie vollkommen klar, ob es sich bei seinen nächtlichen Ausflügen in andere Breitengrade und Wirklichkeiten tatsächlich um bloße Träume handelte oder ob sich dabei seine Baumseele wahrhaftig auf den Weg machte, andere Gefilde zu erkunden, die in fernen Regionen diesseits und jenseits seiner gewohnten Welt existierten.
Seine allerersten Kindheitstage hatte Baum in einem Wald verbracht, bis eines Tages, warum auch immer, ein Mann des Weges kam, ihn ausgrub und in den Park übersiedelte, der seitdem sein Zuhause war. Nicht dass er sich im Stadtpark unwohl fühlte. Inzwischen hatte er sogar viele Freunde hier gefunden: Andere Pflanzen, Insekten, Tiere und sogar den einen oder anderen Menschen. Mit allem um sich herum tauschte er sich aus. Doch nicht von jedem Lebewesen erhielt er eine Antwort. Vor allem die Menschen schienen sehr schweigsame Wesen zu sein. Anstatt mit Baum oder auch einfach miteinander zu reden, starrten sie meist wie Roboter auf ihre kleinen, kalten technischen Geräte, die sie unentwegt vor sich hertrugen, und tippten eifrig auf ihnen herum, ohne das blühende Leben, das sie umgab, wahrzunehmen. Nicht nur für Baums Worte waren sie taub, nein, auch für die bunten Frühlingslieder der Rosen, Tulpen und Osterglocken. Baum konnte nicht begreifen, womit die kalte Welt, die sich in den kleinen technischen Geräten verbarg, die Menschen dermaßen in ihren Bann zog, dass sie die Pracht der lebendigen Wesen darüber vergaßen. Was konnte es denn Schöneres auf der Welt geben als die Lebendigkeit des Seins? Technischen Gerätschaften konnte Baum nichts abgewinnen. Dazu war er einfach zu sehr mit seinem natürlichen Ursprung verwurzelt. Manchmal kamen Männer in den Park, um die Hecken mit furchtbar lauten Gerätschaften zu beschneiden. Dabei blutete jedes Mal Baums Seele, da er den Schmerz der entstellten Pflanzen spürte. Gepeinigt von dem Lärm, den die Gerätschaften verursachten, wünschte er jedes Mal, er wäre vorübergehend taub. In solchen Momenten reiste er wie zum Schutz in seiner Erinnerung in seine Heimat, den Wald zurück, wo ihn vom frühen Morgen bis in die späten Abendstunden und die ganze Nacht hindurch wohltuende Stille umgab, die allenfalls vom Gesang der Vögel durchbrochen wurde, der sich jetzt, während Baum seiner Kindertage gedachte, wie Balsam auf seine müde Seele legte.
Baum liebte das Träumen. Denn in Träumen war alles möglich. Und Träume gaben ihm Kraft. Meist träumte er von schönen Ereignissen, die ihn beglückten. Doch selbst dann, wenn ein Traum ausnahmsweise nicht so angenehm, ja vielleicht sogar etwas unheimlich war, fand er darin Positives, und wenn es auch nur die Tatsache war, dass er das alles nur geträumt und anschließend in seine Welt zurückgefunden hatte. Die Dinge und Ereignisse, die ihn im Park umgaben, inspirierten ihn oft zu neuen Träumen. So war es also keineswegs verwunderlich, dass er eines Nachts, nachdem ihn die Amsel in den Schlaf gewiegt hatte, vom Roboterwald träumte.
Als er im Traum seine Baumaugen öffnete, war zunächst alles schwarz, so dass Baum fast annehmen musste, er wäre in eine Daseinsebene zwischen Traum und Wirklichkeit geraten. Eine Dimension, in welcher noch alles ruht, was im nächsten Augenblick bereits im Begriff sein wird, zu entstehen. Langsam, nach und nach, lichtete sich die Dunkelheit vor Baums Augen. Doch schon bevor er die Konturen der skurrilen Bäume, von denen er umgeben war, erkennen konnte, wusste er, dass hier etwas ganz und gar falsch lief, da sich alles um ihn herum kalt, tot und seelenlos anfühlte. Auch der Gesang der Vögel hörte sich merkwürdig an, mechanisch. Er konnte zwar die einzelnen Vogelstimmen unterschiedlichen Vogelarten zuordnen, die er aus seiner Welt kannte. Doch in ihnen fehlte das Leben. Auch das Summen und Brummen der Insekten erklang in Baums Ohren künstlich, unecht, wie eine Nachahmung der wahren Geschöpfe der Natur. Was war hier nur los? Was ging hier vor sich? Durch welches Versehen war der gute, alte Baum nur hierher geraten? Was hatte all das zu bedeuten? Doch die allerwichtigste Frage, die sich Baum zunehmend aufdrängte, lautete: Wie kam er auf dem schnellsten Wege wieder von hier weg, zurück in seine lebendige Welt?
Inzwischen hatte sich die Schwärze vor Baums Augen komplett aufgelöst und er sah dem vollen Ausmaß der Katastrophe unmittelbar ins Auge: Dies hier war kein gewöhnlicher Wald. Hier lebte nichts. Kein Käfer, keine Blume, kein Vogel und kein Baum – mit Ausnahme von Baum selbst. Sogar die Sonne, die soeben aufgegangen war, strahlte kalt und leblos vom Himmel herab. Ihre Strahlen wärmten nicht, sondern legten sich wie eisige Polarluft über die ohnehin schon kalte Welt. Von irgendwoher wehte eine Windböe. Während sie über die Wiesen und durch die Baumkronen streifte, gaben alle Pflanzen, jeder Blütenkelch und jeder einzelne Grashalm, ächzende Geräusche, schlecht geölten Maschinen gleich, von sich. Selbst die Luft schmeckte künstlich und leicht nach Maschinenöl. Hier schien überhaupt nichts lebendig zu sein. Es war entsetzlich! Baum wusste weder ein noch aus. Doch es sollte sogar noch schlimmer werden.
In seiner Verzweiflung rief Baum in seiner Seele alle guten Geister zu Hilfe. Allerdings vernahmen nicht nur die guten Geister, die gerade am anderen Ende des Universums Aufgaben zu erledigen hatten, sondern ihnen voran die Roboterwesen in seiner unmittelbaren Nähe mit ihren Antennen und Sensoren seine Hilferufe.
„Hast du das auch gehört?“ Fragte der eine Roboterbaum, eine Kiefer, den anderen, während er angespannt seine Äste und Zweige nach oben streckte, als würde er seine Ohren spitzen.
„Was meinst du?“ Antwortete ihm die Tanne. „Ich habe überhaupt nichts gehört. Was weckst du mich überhaupt? Lass mich schlafen.“
„Ach herrje, dir geht wohl einfach der Saft aus, so wie deine Gelenke knarzen. Du müsstest mal wieder zum TÜV, damit man dir die Schrauben und Muttern nachzieht.“ Seufzte die Kiefer.
„Aber ich hab es gehört!“ Meldete sich eine Buche mit Roboterstimme zu Wort. „Ich fürchte, wir haben einen Eindringling! Und wir sollten ihn auf schnellstem Wege loswerden!“
Die Kiefer drehte sich zur Buche um, wobei sie dermaßen laut quietschte, dass Baum sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. „Du sagst es! Der Eindringling hat nichts bei uns verloren! In unserer perfekten, makellosen Roboterwelt! Er stört bloß unser Gleichgewicht mit seinem jämmerlichen Dasein als lebendiges Wesen, das sich den Gesetzen der Natur zu unterordnen hat und von Tag zu Tag immer mehr verfällt, ohne dass es aufgerüstet und repariert werden kann. Im Gegensatz zu uns, die wir für die Ewigkeit bestimmt sind! Alles an uns ist austauschbar, unsere Wurzeln, Äste, Zweige, Blätter. Unsere ganze Existenz lässt sich im Nu durch Ersatzteile aus der Fabrik wiederherstellen. So können wir unendlich viele Jahre bestehen bleiben. Doch ein Naturbaum, der stirbt unweigerlich eines Tages! Deswegen ist er minderwertiger als wir Roboterbäume, ein Baum zweiter Klasse sozusagen, und wir sollten verhindern, dass er mit seiner unvollkommenen Natürlichkeit unser mechanisches Gleichgewicht stört. Also raus mit dem Naturbaum aus unserem perfekten Roboterwald!“
„Raus mit dem Naturbaum aus unserem perfekten Roboterwald!!!“ Stimmten nun auch andere Bäume ein, erst fünf oder sechs, dann wurden es immer mehr, bis schließlich der ganze Roboterwald mit all seinen Kunstpflanzen und Kunsttieren diese Parole dem armen, verwirrten Baum entgegen brüllte, dem von dem lauten Geschrei ganz schwindelig wurde, bis er in tiefe Ohnmacht versank.
Als er erneut seine Augen öffnete, nahm er zunächst wieder nur abgrundtiefe Schwärze wahr. Dann spürte er, wie etwas sanft gegen seinen Stamm drückte. Und im nächsten Moment vernahm er eine freundliche Stimme: „Lieber Baum, ist alles gut bei dir? Du siehst so unglücklich aus. Da dachte ich mir, eine Umarmung würde dir vielleicht guttun.“
An Baums Stamm hatte sich eine junge Frau geschmiegt, umarmte ihn mit all ihrer Herzenswärme. War sie der rettende Engel, der seinem Hilferuf in seinem furchtbaren Traum gefolgt war? Dass gute Geister zuweilen Menschengestalt annehmen können, das wusste Baum schon lange. Und manchmal waren sie einem näher, als man vermuten würde. Baum sendete der jungen Frau zum Dank all jene Wärme aus seinem Baumherzen, die er im Roboterwald so elendig vermisst hatte. Sie schien es zu spüren, denn während sie mit einem Lächeln zu seiner Krone hochblickte, sagte die junge Frau: „Dir geht es anscheinend schon besser, lieber Baum. Das freut mich sehr. Ich komme dich bald wieder besuchen und schaue, wie es dir geht. Danke für dein Sein.“ Langsam und andächtig löste sie sich von seinem Stamm und winkte ihm zu, bevor sie leicht und beschwingt davon schlenderte.
Baum sann über seinen sonderbaren Traum nach. Dies war ohne jeden Zweifel der bislang gruseligste Traum gewesen, den er je geträumt hatte. Doch auch daraus war er letzten Endes erwacht. Auch dieser Traum hatte sein Ende genommen, wie angsteinflößend er auch gewesen sein mochte. Und nun war Baum zurück in seiner Welt, in seinem Park, geweckt durch die liebevolle Berührung eines anderen Lebewesens, das den finsteren Alb vertrieben hatte. Man ist nie allein. Wer um Hilfe bittet, dem wird sie zuteil, und das mitunter auf den erstaunlichsten Wegen. Oder aber war es der Roboterwald mit all seinen künstlichen Wesen, der Baum vertrieben und in seine eigene Welt zurück katapultiert hatte, weil er so ganz und gar nicht dazugehörte? Womöglich hatte auch diese Gegebenheit Anteil an Baums Rettung genommen, der sich von vornherein unglücklich im Roboterwald gefühlt hatte. Wie dem auch sei, Baum beschloss, sowohl der jungen Frau als auch den Roboterwesen dankbar zu sein, die ihn ebenso wenig bei sich haben wollten, wie er sich unter ihnen fremd fühlte. Sollten sie doch dort drüben in ihrer mechanischen Welt glücklich werden, während er sein lebendiges Dasein hier im Park genoss, mit all seinen Pflanzen, Schmetterlingen, Vögeln und Bienen, deren künstliche Gelenke nicht bei jeder Bewegung unangenehm ächzten und knarzten und wo die Luft von fröhlichem Gesumm und Gebrumm erfüllt war statt vom Gestank nach Maschinenöl. Auf einmal wusste Baum sein Leben im Stadtpark wieder mehr zu schätzen, auch wenn er ursprünglich aus einem Wald stammte.
„Schlimmer geht’s immer.“ Sagte er zu sich selbst. Denn das hatte er soeben im Traum erlebt. „Und was sind schon so ein paar technische Gerätschaften im Gegensatz zu einer Welt, in der absolut alles, jede kleinste Bewegung, mechanisch abläuft? Noch ist nicht aller Tage Ende. Möglicherweise haben die Menschen den übermäßigen Technikkonsum eines Tages sowieso satt, auch deswegen, weil technische Geräte oftmals nicht richtig funktionieren, und kehren zu einem naturverbundenen Lebensstil zurück.“ Darauf wollte Baum zumindest hoffen. Und davon träumen.
Als in der kommenden Nacht der Vollmond den Park und Baums Krone in sein magisches Licht tauchte, die Nachtigall auf Baums Zweig ihr Lied anstimmte und Baum seine müden Augen schloss, um ins Land der Träume hinüber zu wandern, fand er sich in einer Welt wieder, welche sich nach Heimat anfühlte, die aber sein Zuhause im Wald aus Kindertagen bei Weitem übertraf. Glücklich lächelte er in sich hinein. Denn er wusste, dass diese wunderschöne Welt viel mehr war als nur ein Traum und dass sie bereits im Begriff war, zu entstehen. Im Hier und Jetzt.
Text: © Träumerin
Publication Date: 04-15-2025
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