Mein Weg führt durch ein kleines Waldstück, dessen Erdboden ich jetzt zum ersten Mal betrete. Die unzähligen Bäume, an denen sich der Pfad vorbeischlängelt, wirken hier lebendiger und vitaler als all jene, die ich bislang in anderen Wäldern oder Parkanlagen zu Gesicht bekommen habe. Das Laub an ihren Zweigen leuchtet in einem eigentümlichen Grün, welches je nach Lichteinfall seine Farbnuance schimmernd wechselt. In jedem Windzug, der von Zeit zu Zeit durch das sommerliche Wäldchen streift, und mit jeder Böe, welche aus allen vier Himmelsrichtungen zu mir herüber weht, vermischt sich das Geräusch der raschelnden Blätter mit dem anmutigen Gesang der Vögel, um mich an der Unbekümmertheit und Lebensfreude aller Waldgeschöpfe teilhaben zu lassen, welche uns Menschen im Dunst der Großstadt und der Hektik des modernen Alltags oft verwehrt bleibt. Hier jedoch, in diesem kleinen, unscheinbaren, und doch unsagbar wertvollen Paradies, das heute zum ersten Mal seine Pforte für mich öffnet, scheint es das Natürlichste und Selbstverständlichste von der Welt zu sein, seine Sorgen zu vergessen und die lang ersehnte Ruhe in sich selbst wieder zu finden.
Während ich in den leuchtend blauen Himmel schaue, hellt sich mein Gemüt zunehmend auf. Mein Kummer schmilzt in den Strahlen der Morgensonne dahin und kondensiert zu feinen Tröpfchen, die sich, feinem Tau gleich, auf die zarten Grashalme legen. Ein Ausflug in die Natur kann so manches Mal wesentlich mehr Entspannung und Erholung schenken als ein Wochenende in den eigenen vier Wänden, sei es mit einem noch so spannenden Buch in der Hand oder vor dem eingeschalteten Fernseher, und um einiges heilsamer sein, als die Tabletten und Kapseln, die man als zivilisierter Mensch auf Rezept verschrieben bekommt. Womöglich wären wir Menschen sehr viel seltener krank, wenn wir ein naturverbundeneres Leben führen und der Melodie unserer Seele mehr Gehör schenken würden. Doch die Gegenwart der Großstadt lässt dafür kaum Raum. Und so werden die sanften Klänge in unserem Inneren vom Lärm auf den Straßen und vom turbulenten Treiben in den Bauwerken überlagert, bis sie zur Gänze verstummen. Doch hier, im Grünen, abseits von Asphalt und Beton, können wir uns, wenn sich alles um uns herum beruhigt hat und wir die Stille in uns selbst wieder spüren, erneut mit dem Lied der Seele verbinden und uns von ihrer wundersamen Melodie in himmlische Gefilde hinfort tragen lassen, wo die Gedanken schweigen und der Friede über allem ruht.
Heute ist ein besonders schöner Tag und ich bin glücklich darüber, ihn in diesem Wäldchen verbringen zu dürfen, seine noch von mir unbeschrittenen Pfade zu erkunden, die Pracht der unzähligen in ihm wachsenden Pflanzen zu bewundern und mich davon überraschen zu lassen, was mich hinter jeder einzelnen Weggabelung erwartet. Eine traumgleiche Atmosphäre liegt in der Luft, als hätte sich für mich beim Betreten des Waldes eine andere Daseinsebene jenseits unserer gewohnten Alltagsrealität geöffnet. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Womöglich spielt mir meine Wahrnehmung einen Streich, da ich zu erschöpft von der kräftezehrenden Arbeitswoche bin.
Doch nein, etwas ist hier tatsächlich anders, als ich es von der Welt her kenne, aus der ich komme. Dass mich mein Gefühl dieser Ahnung nicht trügt, erlebe ich im nächsten Moment, als feiner Regen vom blauen, wolkenlosen Himmel herniederfällt und meine Haut benetzt. Die Regentropfen fühlen sich vollkommen real an, aber sie schimmern in bunten Farben. So etwas habe ich nie zuvor gesehen. Sie dringen in meine Poren ein, was sich für mich sehr wohltuend anfühlt, als würden sie mich von innen her reinigen und jeglichen seelischen Ballast, Kummer und Leid, Angst und Schmerz, aus mir heraus an die Oberfläche spülen, um ihn anschließend mit dem Wasser im Erdboden versickern zu lassen. Wann habe ich mich zuletzt so befreit und so lebendig gefühlt? Vermutlich ist es das erste Mal. Und ich genieße es in vollen Zügen, beschwingt von einer leichten, aber auffordernden Brise, mich tiefer in den Wald hineinführen zu lassen.
Nach einiger Zeit der Wanderung begegne ich einem Mann. Er kommt aus dem Dickicht der Büsche neben dem Pfad heraus und läuft mir direkt entgegen. Allein und wehrlos, wie ich hier stehe, wird mir ganz mulmig zu Mute. Schließlich bin ich nur eine kleine, zierliche Frau und hätte dem kräftigen Mann, der mit resoluten Schritten in meine Richtung voranschreitet, an Körperkraft nichts entgegen zu setzen, wäre ihm vollends ausgeliefert, sollte er böse Absichten verfolgen. Da er mich sicher bereits bemerkt hat, ist Verstecken oder Wegrennen wohl keine Option. Eine gute Sprinterin war ich noch nie. Ohne jeden Zweifel würde er mich einholen. Also bleibt mir nichts weiter übrig, als den Wald um seinen Schutz zu bitten.
Als der Mann mich fast erreicht hat, stelle ich fest, dass sein Blick ins Leere geht, als wäre ich gar nicht anwesend. Im nächsten Moment schreitet er einfach durch mich hindurch, so, als wäre ich ein Geist. Sonderbares geht hier vor sich. Doch ich bin der Natur für ihr schützendes Gewand dankbar, das sie mit ihren Regentropfen über mich gelegt hat. Nachdem ich mich umdrehe, sehe ich den Mann hinter der nächsten Wegbiegung verschwinden. Nur das Knirschen seiner Schuhsohlen auf dem Kies ist noch zu hören. Mit zunehmender Entfernung verstummt es und wird vom Gesang der Vögel überlagert. Beruhigt setze ich meinen Weg fort. Nach dieser Erfahrung bin ich mir sicher, dass mir keinerlei Gefahr droht, da ich unter der Obhut des Waldes stehe.
Weiter geht es an Bäumen und Büschen vorbei, bis ich eine kleine Brücke erreiche, die über einen Bach führt. Sein klares Wasser schimmert silbrig in den Strahlen der Sonne und plätschert munter vor sich hin. Für einen Moment bleibe ich in der Mitte der Brücke stehen, halte mich mit beiden Händen am fein gearbeiteten Geländer fest und schaue in das Bächlein hinab, auf dessen Grund ich wie Diamanten funkelnden Sand sehe. Mein Spiegelbild jedoch kann ich nicht im Bächlein erkennen. Vermutlich hat es sich im Rauschen des Bachlaufs verloren, sich mit dem Wasser vermischt und treibt nun mit der Strömung über etliche Kilometer davon, bis es sich am anderen Ende des Universums mit dem unermesslichen Ozean vereinigt und, nachdem es eine neue Gestalt angenommen hat, in anderen Gefilden wiederfindet.
Auf der anderen Seite der Brücke angekommen, stehe ich vor einem Tor, das den Blick auf eine imposante Villa freigibt, von der ein besonderes Licht ausgeht. Die strahlende Fassade der Villa changiert in sich je nach Lichteinfall und Betrachtungswinkel abwechselnden Tönen von einem sonnengleichen Gelb und einem leuchtenden Orange bis hin zu einem zarten Apricot. Das Dach besteht aus goldenen Ziegeln, in denen sich die Strahlen der Sonne brechen und mit den üppig wachsenden Pflanzen im Garten, welcher die Villa umgibt, spielen. Ich sehe Blumen, Bäume und Sträucher, wie ich sie aus meiner Welt her kenne, aber auch wunderschöne, exotisch anmutende Gewächse in den unterschiedlichsten Formen und Farbgebungen, wie sie mir nie zuvor begegnet sind. Ebenso wie von der Villa geht auch von den Pflanzen ein sonderbares Licht aus, das mich mit seiner wohlwollenden Wärme zu sich lockt.
Als ich das Tor durchschreite und mich der Villa mit ihrer üppigen Flora nähere, werde ich einer Melodie gewahr, welche von allen Seiten her in mich eindringt. Sie schwingt sehr subtil und leise, gleich Harfenmusik in einem Wasserfall, und dennoch ist die Botschaft, welche sie mir zu übermitteln versucht, unverkennbar. Fremdartig und neu dringen die hellen Töne an mein Ohr und in mein Bewusstsein, und doch sind sie mir in ihrem Wesen vertrauter als alles, was ich bislang in meinem Leben gekannt habe. Ein Teil meiner Seele, der lange Zeit geruht hatte, ohne dass ich es bemerkte, erwacht aus seinem traumlosen Schlaf, wiederbelebt durch das, was mir in dieser magischen Welt geschieht. Auch wenn ich diesen Ort nun zum ersten Mal betrete, fühlt es sich für mich so an, als würde ich ihn schon ewig kennen, seit Anbeginn des Universums und darüber hinaus. Und mir wird klar, dass ich mich mein Leben lang danach gesehnt habe, hier anzukommen, in meinem wundervollen Paradiesgarten jenseits von Raum und Zeit, der bereits vor Äonen in mir angelegt war und den ich nur in meinem tiefsten Inneren zu betreten brauche, um mich sicher und geborgen, lebendig und frei, glücklich und zufrieden zu fühlen, anstatt in der äußeren Welt die Erfüllung zu suchen, sei es in Menschen, in materiellen Dingen oder worin auch immer…
Verschiedene kleine und größere Vögel mit farbenfrohem Gefieder haben sich auf den Ästen und Zweigen der Bäume niedergelassen, schauen zu mir herüber und begrüßen mich in meinem Zuhause mit einem himmlischen Lied, lassen ihre Arien im leichten Wind davon wehen, der sich hier und da in den Blättern der Bäume fängt und diese, anstatt sie einfach nur rascheln zu lassen, in den hellsten Glockentönen erklingen lässt.
Während ich mich von all dem Wunderbaren, das mich umgibt, verzaubern lasse, diesen einzigartigen Augenblick, der niemals enden zu wollen scheint, tief in mir aufnehme, werde ich einer tonlosen Stimme gewahr, die aus dem Inneren der Villa nach mir ruft und deren Hall unmissverständlich in mir nachklingt. Und ich weiß, jetzt ist der Moment gekommen, die Villa zu betreten. Also steige ich die weißen Marmorstufen zu ihrer Eingangstür hinauf, drücke die Klinke herunter, öffne die Tür und trete ein.
Text: © Träumerin
Publication Date: 03-13-2025
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