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Baum auf dem Meeresgrund

Heute möchte ich von einem rätselhaften Vorfall berichten, der sich im vergangenen Sommer ereignet hat. Ein Freund von mir, der in einem gemütlichen Häuschen im Harz direkt am Waldrand lebt, lud mich im Urlaub für zwei Wochen zu sich ein. Als großer Naturfreund und natürlich auch, um meinen Freund nach längerer Zeit wieder zu sehen, nahm ich seine Einladung sofort und ohne zu zögern an.

 

Während ich die letzten Tage vor Urlaubsbeginn im Büro verbrachte, träumte ich bereits von meinem Aufenthalt im Grünen, von der klaren Bergluft und den dichten Wäldern. Den Harz hatte ich zuletzt in meiner Kindheit besucht, gemeinsam mit meinen Eltern. Das lag nun schon etliche Jahrzehnte zurück. Wie mochte sich die Landschaft inzwischen wohl verändert haben? Würde ich die Bäume, Sträucher und Berge wiedererkennen? Und würden sie sich ebenso an mich erinnern können? Während ich, in Gedanken versunken, darüber nachsann, erntete ich einen bösen Blick meines Kollegen, dem aufgefallen war, dass ich das Tippen auf der Tastatur eingestellt hatte und mich stattdessen entspannt im Bürostuhl zurücklehnte. Anscheinend befürchtete er, ich würde ihm einen Haufen Arbeit hinterlassen, wenn ich bereits jetzt schon in meiner Fantasie in den Urlaub flog. Um ihn zu beruhigen, schob ich mich mit dem Bürostuhl also wieder dicht an die Tischplatte heran, schaute auf den Monitor des Computers und fuhr fort, zu tippen. Nur noch drei Tage - dann wäre ich in den Bergen.

 

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Bald darauf war es soweit und ich saß im Zug, der mich zu meinem Freund in die Wälder hinausbrachte. Die Reise verlief überaus angenehm. Wunderschöne Naturlandschaften zogen draußen vor dem Fenster an mir vorbei. In meinem Abteil saß lediglich ein älteres Ehepaar, vermutlich Rentner. Als die Frau ihrem Mann aus einer Thermoskanne Tee einschenkte, stieg mir das herrliche Aroma von Kräutern in die Nase. Bestimmt stammten sie aus ihrem eigenen Garten. Der gesamte Raum war von dem frischen Duft erfüllt.

 

Nach wenigen Stunden erreichte der Zug den Bahnhof. Das Rentnerehepaar stieg gemeinsam mit mir aus. Anscheinend wollten die beiden ebenso wie ich im Harz Urlaub machen. Oder aber sie kehrten aus ihrem Urlaub hierher in ihre Heimat zurück. Ich half dem Mann und seiner Frau dabei, ihren Koffer aus dem Zug zu heben, wofür sie sich mit einem Lächeln bedankten und mir ein Päckchen frischer Kräuter schenkten. Über diese liebevolle Geste freute ich mich natürlich sehr.

 

Die Junisonne schien vom tiefblauen Himmel herab und hüllte den fast menschenleeren Bahnsteig in eine geheimnisvolle, verträumte Aura. Mein Freund lehnte, einen Strohhut auf dem Kopf, an einem der Pfeiler. Nachdem er mich erblickt hatte, kam er mit einem Lächeln im Gesicht auf mich zu.

 

„Schön, dich zu sehen. Hattest du eine angenehme Reise?“ Fragte er mich.

 

„Ja, die hatte ich in der Tat. Es war so still im Zug, dass man den Tee dampfen hören konnte.“ Gab ich mit lachenden Augen zurück.

 

„Welchen Tee? Soweit ich weiß, bist du kein ausgesprochen großer Teetrinker, sondern hast mehr für Cola übrig.“ Lächelte er mich spitzbübisch von der Seite an.

 

„Es war ja auch nicht mein Tee, sondern der von einem Rentnerehepaar, das mir während der Fahrt Gesellschaft leistete. Sie stiegen mit mir gemeinsam aus und ich trug ihren Koffer nach draußen. Zum Dank schenkten sie mir ein Päckchen voll von diesem Tee, den sie im Zug getrunken haben.“

 

„Zeig mal her!“ Er streckte seine Hand aus, während seine Augen bittend blickten.

 

Ich drückte ihm das Päckchen in die Hand. Er schaute hinein, schnupperte an den Kräutern und zog ein einzelnes Blatt heraus, um es genauer in Augenschein zu nehmen.

 

„Das ist überaus sonderbar…“ Ließ er verlauten, während er das Blatt untersuchte. „Wie du weißt, interessiere ich mich seit eh und je für Pflanzen und habe etliche Bücher über die verschiedensten Arten gelesen. Doch diese hier ist mir noch nie begegnet. Darf ich ein Blatt davon behalten? Ich würde es gerne zu Hause näher untersuchen.“ Er warf mir einen fragenden Blick zu.

 

„Aber natürlich. Das ist ja wohl das Mindeste, was ich für dich tun kann, wenn du mich schon hier bei dir in dieser wunderschönen Gegend Urlaub machen lässt. Du kannst gerne das ganze Päckchen behalten.“ Ich war im Begriff, es ihm in die Hand zu drücken.

 

„Nein! Auf gar keinen Fall! Du hast es doch geschenkt bekommen!“ Wehrte er ab. „Das eine Blatt genügt mir vollkommen.“

 

Wir verließen den Bahnhof und nahmen im Wagen meines Freundes Platz. Während der Autofahrt unterhielten wir uns angeregt miteinander. Doch den Tee erwähnten wir nicht mehr. Das Haus meines Freundes lag am Waldrand. Ich war begeistert über die herrlich ruhige Lage.

 

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Nun war ich bereits seit mehreren Tagen bei meinem Freund zu Besuch, als mir eines schönen Morgens das Päckchen mit den Kräutern wieder einfiel. Während mein Freund die duftenden Brötchen aus dem Ofen holte und den Küchentisch mit selbst eingekochter Marmelade, Käse und Frühstückseiern seiner Hühner eindeckte, goss ich für uns beide eine Kanne des aromatischen Tees auf.

 

„Hier bitte, ich habe auch für dich einen Tee zubereitet.“ Bot ich ihm eine Tasse an.

 

„Vielen Dank. Das ist wirklich freundlich von dir. Doch du kennst mich ja. Wie heißt es so schön? Der Bauer isst nicht, was er nicht kennt. Und in meinem Fall betrifft das auch das Trinken. Ich habe überall im Internet nach dieser Pflanze gesucht und auch Menschen aus der Nachbarschaft, die Experten in Kräuterkunde sind, danach befragt. Doch niemand konnte mir eine Antwort geben. Womöglich muss der Name für dieses Kraut erst noch erfunden werden.“ Er lachte. „Jedenfalls bin ich lieber vorsichtig und lasse dich erst einmal probieren.“ Zwinkerte er mir zu. „Beim nächsten Mal traue ich mich dann vielleicht auch.“

 

„Na gut.“ In meiner Stimme schwang etwas Enttäuschung mit. „Dann muss ich heute wohl die ganze Kanne alleine leer machen.“

 

„Du wirst es überleben…hoffentlich.“ Neckte mich mein Freund.

 

So saßen wir also am Frühstückstisch in der sonnendurchfluteten Küche und verputzen warme Brötchen mit Käse und Marmelade, deren köstlicher Duft sich mit dem feinen Aroma des Kräutertees vermischte. Ich hielt die Vorsicht meines Freundes für übertrieben, ja sogar für überflüssig. Die beiden Rentner aus dem Zug waren bestimmt keine bösartigen Menschen und meinten es gut mit mir. Zudem hatten sie diesen Tee ja selbst vor meinen Augen getrunken und fühlten sich allem Anschein nach pudelwohl. Aber so war mein Freund nun mal. Da konnte man nichts machen. Immerhin blieb auf diesem Wege mehr von dem schmackhaften Getränk für mich, auch wenn ich dieses sehr gerne mit ihm geteilt hätte.

 

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Einige Stunden waren inzwischen vergangen, ohne dass der mysteriöse Tee auch nur den geringsten Schaden bei mir angerichtet hätte. Ganz im Gegenteil, wirkte er sogar überaus belebend auf mich. Voller Energie und Tatendrang beschloss ich, ein wenig allein durch den Harz zu wandern, und fragte meinen Freund, ob er mir für meinen Ausflug eine besondere Strecke empfehlen könne.

 

„Ungefähr drei Kilometer von meinem Haus entfernt gibt es ein hübsches kleines Fleckchen mitten in der Natur, an dem man ungestört die Stille genießen kann. Geh nur an der Kirche und dem Haus mit dem Wetterhahn oben auf dem Dach vorbei und dann immer weiter geradeaus in den Wald hinein. Dann gelangst du zu einem Teich. Er ist von riesigen Trauerweiden umsäumt, und manchmal schwimmen Enten darin. Nur baden ist verboten. Also komme mir nicht auf dumme Gedanken.“ Scherzte er.

 

Bevor ich mich auf den Weg machte, gab mir mein Freund eine Landkarte sowie einen Kompass mit.

 

„Jetzt bist du auf der sicheren Seite und dürftest dich eigentlich nicht verlaufen. Falls doch, komme ich dich suchen. Da draußen in der Pampa gibt es keinen Handyempfang. Du kannst die Technik also direkt hier liegen lassen. Sie wird dir im Wald nichts nützen.“

 

Es war früher Nachmittag, als ich mich auf den Weg machte und meinem Freund, der an der Haustür stand und mir nachschaute, zum Abschied winkte. Die Sonne brannte vom Himmel herab, im großen Gegensatz zu den vergangenen Tagen, an denen der Himmel die meiste Zeit über wolkenverhangen gewesen war. Die Hitze hatte sich im Haus meines Freundes gestaut. Doch draußen im Wald hoffte ich im Schatten der Bäume etwas Abkühlung zu finden. Mineralwasser hatte ich genug mitgenommen und auch einige belegte Brötchen, die vom Frühstück übriggeblieben waren, im Rucksack verstaut.

 

Die Wanderung gestaltete sich doch etwas anstrengender als erwartet. Zum einen lag das an den dicken, aus dem Erdboden ragenden Wurzeln, auf die ich Acht geben musste, um nicht zu stolpern und hinzufallen. Zum anderen hatte ich nicht auf den Ratschlag meines Freundes gehört, anstatt von Sandalen besser doch festes Schuhwerk anzuziehen. Es war einfach zu heiß für Wanderschuhe. In Sandalen war das Wetter gerade so noch erträglich. Aber mit ihnen war das Vorankommen in diesem holprigen Gelände erschwert. Die hier und da auf dem Boden liegen Ästen, die vermutlich beim letzten Sturm abgebrochen waren, knarrten unter jedem meiner Schritte.

 

Doch letzten Endes erreichte ich mein Ziel. Als ich aus dem Wald trat, breitete sich ein unglaublich schönes Panorama vor mir aus, das idyllischer nicht hätte sein können. Der Teich, von dem mein Freund gesprochen hatte, lag da wie ein glatter Spiegel, in dem sich die Trauerweiden, die ringherum am Ufer standen, abzeichneten. Ihre üppigen Zweige reichten bis ins Wasser hinab. Ich war ganz allein. Selbst die Enten waren ausgeflogen. Lediglich aus dem Wald drang der Gesang der Sommervögel an mein Ohr.

 

Ich trat dicht ans Ufer heran und sah zu, wie das Licht der Sonne die Wasseroberfläche, auf der sich das Abbild der Trauerweiden spiegelte, zum Glänzen brachte. Sie schienen sich überhaupt nicht zu bewegen, als wären sie in tiefem Schlaf versunken. Ich fragte mich, ob ein Teil ihres Wesens im Teich weiterlebte und ob ihr Spiegelbild auf seiner Oberfläche eine Art Verbindungslinie zwischen ihrem Leben diesseits und ihrer Existenz jenseits des Gewässers darstellte. Womöglich führte auch ein Teil von mir, der ich in diesem Moment in den Teich hinabschaute, auf seinem Grund eine Art Parallelexistenz. Wer konnte das schon so genau wissen? Ich zumindest hatte dies noch nicht überprüft.

 

Während ich so dastand und die Wasseroberfläche genauer betrachtete, fiel mir auf, dass etwas nicht stimmte. Sowohl mein Spiegelbild als auch das der Trauerweiden konnte ich klar und deutlich erkennen. Doch es zeigte sich mir etwas im Teich, was hier auf dieser Lichtung eindeutig nicht zu sehen war. Verdutzt schaute ich mich um. Nein, da war tatsächlich nichts. Nicht hier auf der Erde. Aber dort im Wasser sehr wohl. Mehrmals blickte ich auf den Teich und dann wieder zu den Weiden hinüber. Vielleicht erlag ich auch einfach einer optischen Täuschung?

 

Auf der Wasseroberfläche erschien klar und deutlich das Spiegelbild einer prächtigen Eiche vor meinen Augen. Sie schien sehr alt zu sein. Und doch strotzte sie nur so vor Vitalität. Die leuchtend grünen Blätter an ihren Zweigen raschelten leise, während sie anscheinend von einer Windböe sanft berührt wurden. Allerdings war es hier auf der anderen Seite der Wasseroberfläche nach wie vor windstill.

 

Je länger ich hinschaute, mich in die Erscheinung der Eiche vertiefte, desto mehr nahm das Leuchten ihrer grünen Blätter zu, ebenso wie sich deren Rascheln verstärkte, während ich ihm lauschte. Das war wirklich sonderbar. Doch ich ließ es geschehen, da all dies ein Gefühl des tiefen Wohlbehagens und einer allumfassenden Vertrautheit in mir auslöste, wie ich es nie zuvor gekannt hatte.

 

Dann geschah auf einmal etwas höchst Sonderbares. Meine Seele schwang sich empor und tanzte einmal um den Teich herum, flog von Baumkrone zu Baumkrone, um sich anschließend in der Mitte des Gewässers in seine Tiefe fallen zu lassen. Währenddessen rauschte das Wasser durch mich hindurch und ich hörte das Rascheln der Eichenblätter in meinem Herzen. Der Teich verwandelte sich erst in ein Meer, dann in einen riesigen Ozean der Erfüllung, dessen Grund ich mit geschlossenen Augen entgegentrieb. Als meine Füße den Meeresboden berührten, öffnete ich meine Lider.

 

Ich befand mich weder in einem Teich, noch in einem Meer. Keinerlei Fische oder andere Meereslebewesen kreisten um mich herum, wie ich es zunächst vermutet hatte. Ich stand mitten in einem Park vor einem riesigen Baum, der mich mit dem Rascheln seiner Blätter, die im Licht der Sommersonne funkelten, begrüßte. Es war die prachtvolle Eiche, die sich mir auf der Wasseroberfläche gezeigt hatte, um mich in ihre Welt zu locken. Auf ihren Zweigen hatten sich unzählige kleine Sommervögel niedergelassen, die vereint ein Lied zum Himmel hinauf sangen.

 

Die ganze Szenerie umgab etwas Traumartiges. Und doch schien mir die Realität, in die ich hinab getaucht war, wirklicher zu sein als die Welt auf der anderen Seite des Teiches, aus der ich kam. Solch leuchtende Farben wie hier hatte ich nie zuvor gesehen. Zudem war das Rauschen des Windes in meiner Welt nicht von sanften Harfentönen begleitet. Ich wusste nicht, in was für einer Daseinsebene ich geraten war. Doch es durchströmte mich tiefe Dankbarkeit dafür, hier zu sein und dieses Glück mit anderen teilen zu dürfen. Denn ich war nicht allein.

 

Gegenüber dem Stamm der alten Eiche stand eine Holzbank, auf der ein Mann mit einem kleinen Jungen, anscheinend seinem Sohn, Platz genommen hatte. Sie nahmen mich anscheinend gar nicht wahr, so sehr vertieft waren sie darin, den Baum vor sich zu zeichnen. Ich schlich für sie unbemerkt zu ihnen herüber und stellte mich hinter ihre Bank, um ihnen dabei über die Schulter zu schauen. Niemand der beiden störte sich daran.

 

Der Mann war ohne jede Frage ein begnadeter Künstler. Präzise und in allen Details brachte er die Erscheinung der prächtigen Eiche zu Papier, während sein Sohn eine einfache Kinderzeichnung von ihr anfertigte. Zum Schluss malte der Kleine ein riesiges Herz um den Baum herum. Dann legte er Stift und Papier zur Seite und rannte auf die Eiche los, um sie zu umarmen. Ich lächelte freudvoll der Welt um mich herum zu und wollte schon weitergehen, als ich die Stimme des Jungen hinter meinem Rücken hörte.

 

„He warte! Baum hat ein Geschenk für dich! Ich soll es dir übergeben!“

 

Als ich mich umdrehte, stand der Junge vor mir, wobei er etwas in seiner kleinen Hand hielt, die er mir entgegenstreckte: Einen goldenen Schlüssel.

 

„Bitte. Das ist für dich. Damit du Baum niemals vergisst. Wenn du dich einsam fühlst oder Hilfe brauchst, erinnere dich an ihn. Er ist immer an deiner Seite. Auch wenn du ihn nicht immer sehen kannst.“

 

Mit strahlenden Augen überreichte mir der Junge den goldenen Schlüssel und ich nahm ihn vorsichtig an mich. Daraufhin drehte sich der Junge um und rannte zu seinem Vater zurück, um wieder neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen. Die beiden lächelten mir zu und ich erwiderte ihr Lächeln. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass auch die Eiche uns aus ihrer tiefsten Baumseele heraus ihr Lächeln schenkte. Sie zeigte es uns, indem sie das Rascheln ihrer leuchtend grünen Blätter für uns ertönen ließ, das zunehmend lauter wurde und um mich herum wirbelte, während sich die Umgebung vor meinen Augen anfing, im Kreis zu drehen, schneller und schneller, bis ich die Schranke von Raum und Zeit zurück in meine Welt passierte.

 

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„Hey, du bist ja ganz nass!“ Vernahm ich plötzlich die Stimme meines Freundes dicht an meinem Ohr. Ich schlug die Augen auf und sah ihn im Licht des Vollmondes neben mir knien. „Du warst seit gut acht Stunden verschwunden. Als die Dämmerung einsetzte, habe ich mich auf den Weg gemacht, dich zu suchen. Immerhin hattest du mir vorhin gesagt, wohin du wandern möchtest. Sonst hätte ich dich vermutlich sehr viel länger suchen können. Was ist passiert? Bist du etwa ins Wasser gefallen?“ Lachte er.

 

Meine Kleidung war in der Tat komplett durchnässt. Nicht eine einzige Faser war trocken geblieben. Doch ins Wasser war ich gewiss nicht gefallen, sondern freiwillig auf den Grund des Teiches hinab getaucht, um das Geheimnis der alten Eiche zu ergründen. Allerdings war mir jede Erinnerung daran, wie ich wieder nach oben gelangt war, abhandengekommen. Anscheinend hatte mich niemand aus dem Wasser gezogen, da sich weit und breit keine Menschenseele in der Nähe befand. Mein Freund war erst auf der Bildfläche erschienen, als ich bereits am Ufer lag. Sollte ich ihm von meinem sonderbaren Erlebnis erzählen? Wohl lieber nicht. Er würde bloß denken, dass ich ihn auf den Arm nehmen wollte. Also entschied ich mich für eine andere Antwort, um es uns beiden leichter zu machen:

 

„Tja, sieht ganz so aus, was.“ Ich schaute an mir herab, während ich mich aufrichtete. Dann warf ich ihm einen verschmitzen Blick zu. „Alles gut. Es ist nichts weiter passiert. Mir fiel nur vorhin aus Versehen mein Glücksbringer in den Teich, und das konnte ich ja kaum so gut sein lassen. Also habe ich mich auf einen kleinen Tauchgang begeben. Doch es ist ja heiß heute, selbst zu so später Stunde noch. Meine Kleidung trocknet sicher schnell.“

 

Mit dem „Glücksbringer“ meinte ich natürlich den goldenen Schlüssel, den mir der Baum auf dem Meeresgrund geschenkt hatte. Seit diesem Moment trage ich ihn immer bei mir, um die Wunder dieser anderen, zauberhaften Welt auf ewig in Erinnerung zu bewahren. Ich weiß auch, dass ich nach dem Schloss, zu welchem dieser Schlüssel gehört, weder in Häusern noch in Baumärkten zu suchen brauche. Denn die richtige Tür, welche sich mit dem goldenen Schlüssel öffnen lässt, befindet sich im gesamten Universum nur an einem einzigen Ort: In mir selbst. Und ich kann sie jederzeit öffnen und hindurch schreiten, auf den Meeresboden jenseits von Raum und Zeit hinabtauchen, um dort dem prächtigen Baum zu begegnen, der von nun an bis in alle Ewigkeit in mir weiterlebt und seine Blätter für mich rascheln lässt.

 

Oft denke ich an das Rentnerehepaar aus dem Zug zurück und frage mich, wie es den Beiden wohl geht und ob sie mit dem Baum auf dem Meeresgrund ebenso Bekanntschaft gemacht haben. Ohne es erklären zu können, spüre ich, dass die Beiden meine Verbindung zu der alten Eiche teilen. Manchmal frage ich mich, ob sie die Kräuter in der Dimension jenseits des Teiches gesammelt haben, da sie in unserer Welt anscheinend vollkommen unbekannt sind.

 

Mein Freund hat den Tee übrigens einige Tage nach mir, als er sich von meiner anhaltenden Lebendigkeit überzeugen konnte, doch probiert und trinkt ihn seither voller Begeisterung an jedem Morgen. Auch mich haben das Aroma der Kräuter und ihr außergewöhnlich guter Geschmack wie auch ihre belebende Wirkung vollkommen überzeugt, so dass ich mir von nun an öfters diesen Tee gönne, anstatt wie früher zur Cola zu greifen. Doch ich fand mich bislang nie wieder auf dem Meeresboden wieder. Und mein Freund scheint auch nichts Derartiges erlebt zu haben, obwohl er manchmal drei Tassen dieses Tees am Tag zu sich nimmt. Vielleicht hüllt er sich aber, seine Erlebnisse betreffend, ebenso wie ich nach meinem abenteuerlichen Tauchgang in Schweigen, weil er befürchtet, nicht ernst genommen zu werden.

 

Gemeinsam mit meinem Freund habe ich eine kleine Firma gegründet, um auch andere Menschen am Genuss und an der belebenden Wirkung dieses edlen Getränks teilhaben zu lassen. Mein Freund war bereits vorher erfahrener und erfolgreicher Geschäftsmann, weswegen es für ihn ein Leichtes gewesen ist, unsere Idee in die Tat umzusetzen und die Menschen für diesen Tee zu begeistern.

 

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Während draußen ein Schneesturm tobt und ich mich am Kaminfeuer wärme, nehme ich einen großen Schluck des Kräutertees, lasse ihn mir auf der Zunge zergehen und genieße ihn mit allen Sinnen. Es ist später Abend und ich bin bereits schläfrig. Doch eine Tasse davon gönne ich mir noch, bevor ich ins Traumland reise. Mal schauen, was mich heute dort erwartet und ob mich die prachtvolle Eiche erneut in ihre wundervolle Welt einlädt. Oder ob sie meiner Seele mit dem Gesang der Sommervögel auf ihren Zweigen einfach tiefe Erfüllung schenkt.

Imprint

Text: © Träumerin
Publication Date: 10-19-2022

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