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Inhalt

1. Kapitel: Die magische Badekappe

 

2. Kapitel: Untergetaucht

 

3. Kapitel: Die Tür zum Schattenreich

 

1. Kapitel: Die magische Badekappe

S. war bis zu seinem rätselhaften Verschwinden an jenem verhängnisvollen Morgen ein guter Freund von mir. Oft gingen wir zusammen ins hiesige Schwimmbad und zogen dort gemeinsam unsere Bahnen durch das riesige, wenig besuchte Schwimmbecken. Trotz seiner beachtlichen Leibesfülle war S. ein ausgezeichneter Schwimmer und ein wahrer Zauberkünstler im Wasser. Stets überholte er die anderen Badegäste, egal ob er kraulte oder auf dem Rücken liegend dahintrieb. Sowohl ich als auch die anderen Besucher des Schwimmbads staunten nicht schlecht darüber, dass er ihnen jedes Mal davonschwamm, obwohl er mit seinen wohl gepolsterten Armen und Beinen gemächlich durch das Wasser ruderte. Ohne jegliche Eile bahnte er sich in aller Seelenruhe seinen Weg an den anderen Schwimmern vorbei, während diese ihn mit allem Eifer zu überholen versuchten. Dies war für viele Badegäste zu einer Art Wettkampf geworden und jeder gab sich alle erdenkliche Mühe, S. im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser zu reichen. Doch niemandem sollte es gelingen. S. war trotz seines langsamen, besonnen Tempos schneller als alle anderen am Ziel, was an Magie zu grenzen schien.

 

In der Tat hatten seine außergewöhnlichen Schwimmkünste in gewisser Weise mit Zauberei zu tun, wie mir S. eines Tages im Vertrauen erzählte. Es ging dabei um seine Badekappe, die er immer beim Schwimmen auf seiner Glatze trug. Sie war blau mit großen weißen Punkten, also relativ unspektakulär anzusehen, wäre da nicht das kleine Bild eines Tintenfisches auf der Vorderseite. S. schrieb dieser Badekappe die magische Fähigkeit zu, dass sie ihn im Wasser schneller voranbrachte als jeden, der seinen Weg kreuzte, ganz gleich, wie stark S. sein Tempo drosselte. Ich dachte, mein Freund wolle sich einen Scherz mit mir erlauben und lachte über seine Worte. Doch er schaute mich ernst an und versicherte mir, dass er mir soeben die Wahrheit gesagt habe. Also fragte ich ihn, woher er diese Badekappe denn hätte und ob für mich vielleicht auch noch eine übrig wäre. Daraufhin erzählte er mir, was sich vor nicht allzu langer Zeit in seinem Leben ereignet hatte:

 

„Anfang Mai bin ich nach dem Schwimmen ins kleine Fischrestaurant hier im Haus gegangen. Mein Magen fühlte sich wie ein gähnendes schwarzes Loch an, weil ich mich zuvor im Wasser ordentlich ausgepowert hatte.“

 

Bei diesen Worten strich er liebevoll über seinen großen, kugelrunden Bauch.

 

„Ich bin eine ganze Stunde länger geschwommen als sonst, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Im Fischrestaurant war außer mir nur ein einziger anderer Gast: Ein älterer Herr mit langem weißen Haar und einem längeren weißen Bart saß an einem Tisch in der Ecke. Durch seine schlanke Statur wirkte er nahezu zerbrechlich. Vor ihm auf dem Tisch standen eine Tasse Tee und eine Schale mit Fischsuppe. Doch er ließ beides unbeachtet stehen. Ich setzte mich auf der anderen Seite des Restaurants an einen Tisch und drehte dabei dem alten Herrn den Rücken zu, um ihn nicht zum Augenzeugen meiner unsäglichen Gefräßigkeit zu machen. Du weißt ja, wie sehr ich das Essen liebe. Es nimmt in meinem Leben einen mindestens genauso großen Stellenwert ein wie das Schwimmen. Doch nun, nachdem ich mich so lange im Wasser verausgabt hatte, war ich noch hungriger als sonst und hätte mich geschämt, wenn jemand mit ansehen würde, wie ich einen Gang nach dem anderen ohne Unterlass in mich hinein schaufele.“

 

Er machte eine Pause und schaute mich leicht verlegen an.

 

„Doch dazu kam ich gar nicht. Denn nachdem ich mein Essen bestellt und sich die Kellnerin mit ihrem Notizblock von meinem Tisch entfernt hatte, legte plötzlich jemand seine Hand auf meine Schulter. Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Sofort war mir klar, dass es nur der ältere Herr sein konnte. Wie eine Ewigkeit erschien mir der Moment, als seine knochige Hand ruhig und federleicht auf meiner Schulter lag. Seine Berührung fühlte sich bedeutungsvoll an, ohne dass ich genau sagen kann, weshalb. Ich hatte das Gefühl, er wolle mir dadurch etwas überaus Wichtiges mitteilen. Kurz darauf wurde ich sehr müde, schloss meine Augen, tauchte in die sich vor mir auftuende Finsternis ein und verlor mich immer mehr in ihr, bis ich ein Teil von ihr wurde.“

 

Ein weiteres Mal legte er eine Pause ein und ließ dabei seine Augenlider herabsinken.

 

„Ich öffnete meine Augen wieder, als ich spürte, wie mich jemand an der Schulter rüttelt.

 

‚Hey, wachen Sie auf! Ist alles in Ordnung mit ihnen?‘

 

Es war die Kellnerin. Sie machte ein besorgtes Gesicht. Langsam wurde mir bewusst, wo ich mich befand und weshalb ich hierhergekommen war. Vor mir auf dem Tisch standen nebeneinander all die erlesenen Fischgerichte, die ich bestellt hatte. Obgleich sie köstlich aussahen und fein aromatisch dufteten, hatte ich auf einmal den Appetit verloren. Das Loch in meinem Magen hatte sich wie von Zauberhand geschlossen. Ich stand auf und drehte mich um. Der ältere Herr war verschwunden. Ich war jetzt der einzige Gast im Fischrestaurant. Doch hinter meinem Stuhl lag etwas auf dem Boden. Ich bückte mich und hob es auf. Es war die blaue Badekappe mit den weißen Punkten und dem Tintenfischbild, die ich seither immer beim Schwimmen trage. Damals sah ich sie zum ersten Mal. Mich überkam die unerschütterliche Gewissheit, dass der ältere Herr sie absichtlich dort drapiert hatte, damit ich sie an mich nehme - warum auch immer. Also tat ich es.

 

‚Wo ist er hin?‘ Fragte ich in den Raum hinein, mehr an mich selbst, als an die Kellnerin gerichtet, die noch immer an meinem Tisch stand.

 

‚Wen meinen Sie?‘ Fragte mich die Kellnerin etwas verwundert.

 

‚Einen älteren Mann. Er hat langes weißes Haar und einen weißen Bart. Vorhin saß er dort hinten in der Ecke am Tisch.‘ Ich wies mit meiner Hand in die entsprechende Richtung.

 

‚Ich muss Sie leider enttäuschen. Doch heute Abend sind Sie bislang unser einziger Gast. Es muss sich um einen Irrtum handeln.‘

 

Nun stand ich vor einem Rätsel. Doch vielleicht würde mir die Badekappe dabei helfen, es zu lösen.“

 

Hier machte er wieder eine Pause und sah mich fragend an.

 

„Möchtest du wissen, wie es weiterging?“

 

Ich war mir nicht sicher, ob sich die Dinge wirklich so zugetragen hatten oder ob er mich mit seiner Geschichte auf den Arm nehmen wollte. Doch sein Bericht hatte mich durch seine ungewöhnlichen Details in den Bann gezogen und so bat ich ihn, fortzufahren.

 

„Also gut. Drei Tage später ging ich wieder ins Schwimmbad. Diesmal nahm ich die Badekappe mit, die mir der ältere Herr im Fischrestaurant dagelassen hatte. Mein Bauchgefühl sagte mir, es wäre besser, wenn ich sie aufsetzen würde.“

 

Wieder streichelte er seinen kugelrunden Bauch.

 

„Ich stand also am Beckenrand und schaute ins Wasser. Da es noch früh am Morgen war, wirkte das Schwimmbad wie ausgestorben. Außer mir waren nur wenige Badegäste anwesend. Ich setzte Die Badekappe auf. Sie saß wie angegossen auf meinem Kopf, als wäre sie wie für mich gemacht. Dann stieg ich langsam ins Becken hinein. Während ich eine Bahn nach der anderen schwamm, bemerkte ich, dass mich ein junger Mann von der anderen Seite des Beckens aus beobachtete. Auch wenn der Großteil seines Körpers im Wasser verschwand, so ragten doch seine breiten Schultern und muskulösen Oberarme heraus und verrieten einen durchtrainierten Körper. Nach einiger Zeit machte ich am Beckenrand Rast. Der sportliche junge Mann kam sogleich auf mich zu geschwommen.

 

‚Entschuldigen Sie bitte, ich möchte Sie nicht stören. Aber wo haben Sie diese Badekappe her?‘ Wollte er wissen.

 

‚Warum interessieren Sie sich dafür?‘ Fragte ich ihn verwundert.

 

‚Hmm, das ist eine etwas längere Geschichte… Vor einigen Jahren hat sich etwas Unerklärliches in diesem Schwimmbad ereignet. Ein alter Mann verschwand auf mysteriöse Art und Weise. Er kam, wie so oft, mit seinen beiden Enkeln am Wochenende zum Schwimmen hierher. An diesem Tag allerdings waren die drei allein in der Schwimmhalle. Die beiden Kinder schwammen um die Wette bis ans Ende des großen Beckens. Wie Sie wissen, wird es immer tiefer, je weiter man hineingeht. Die beiden Jungen tollten vergnügt im Wasser. Doch als der ältere von ihnen als erster das Ziel erreicht hatte, setzte plötzlich der künstliche Wellengang ein. Der Junge erschrak, als ihn die erste Welle mit ganzer Wucht im Gesicht traf, und schnappte nach Luft. Er hielt sich mit einer Hand am Beckenrand fest und drehte sich um. Da sah er ein Stück weiter weg seinen kleinen Bruder hilflos im Wasser planschen. Er wollte ihm zu Hilfe eilen, doch sein Körper war zu klein und zu schwach, um gegen die tosenden Wellen anzukommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich weiterhin an den Beckenrand zu klammern und zu hoffen, dass der Wellengang bald wieder abgeschaltet wird.‘

 

Der Großvater der beiden hatte sie eindringlich davor gewarnt, so weit hinaus zu schwimmen. Doch seine Enkel hatten nicht auf ihn gehört. Nun sah er aus der Ferne mit Entsetzen zu, in welche Situation sich die beiden gebracht hatten.

 

‚Sofort stürzte er sich in die Fluten, um zunächst den kleineren Jungen zu retten. Zum einen konnte er diesen schneller erreichen. Zum anderen würde der größere, da er am Beckenrand einigermaßen Halt fand, vermutlich länger durchhalten. Kaum war er beim kleineren Jungen angekommen, zog er ihn zu sich heran und brachte ihn aus dem Becken in Sicherheit. Sogleich schwamm er erneut los, um seinen anderen Enkel aus den tosenden Wellen zu befreien. In dem Moment, als diesem die Kräfte schwanden und er mit seiner Hand weinend den Beckenrand losließ, packte sein Großvater ihn und ließ sich mit ihm gemeinsam von den Wellen zurücktreiben.‘

 

Der junge Mann machte eine Pause und senkte seinen Kopf.

 

‚Nun kommt der unerklärliche Teil dieser Geschichte. Und ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden, was ich Ihnen gleich erzähle. Doch ich werde es Ihnen trotzdem sagen. Der ältere Mann trieb also mit seinem Enkel durchs Wasser. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte des Beckens durchquert, als plötzlich eine Welle dem Großvater seine Badekappe vom Kopf riss und ins Wasser zog. Vergeblich versuchte er, nach ihr zu greifen. Immer weiter trieben die Wellen sie von ihm weg. Mitsamt der Kappe schien er seine Kraft zu verlieren. Schon bald konnte er den Jungen nicht mehr festhalten, weil er sich alle nur erdenkliche Mühe geben musste, seinen eigenen Kopf über Wasser zu halten. Der Junge schwamm also aus eigener Kraft weiter. Allzu weit war der Weg zum Beckenrand nun nicht mehr. Sie hätten es locker beide geschafft. Doch als der Junge aus dem Wasser stieg und sich umdrehte, sah er, wie ein riesiges Tentakel, wie von einem gewaltigen Oktopus, aus dem Wasser aufragte, die Hüfte seines Großvaters umschlang und ihn mit sich zum tiefen Ende des Beckens hin zog, um dann mit ihm zusammen unter der Wasseroberfläche zu verschwinden. Seitdem hat den älteren Mann niemand mehr gesehen. Er ist übrigens, oder soll ich vielmehr sagen – war - mein Vater.‘

 

Der junge Mann sah mich aus traurigen Augen an. Ich hatte gespannt seinen Worten gelauscht und wusste intuitiv, dass er mir die Wahrheit erzählt hatte. Zumindest soweit er diese selbst kannte. Er war schließlich nicht Augenzeuge des Vorfalls, sondern seine beiden kleinen Söhne, die all dies miterlebt hatten, berichteten ihm davon. Es wäre gut möglich, dass die Phantasie dem durch die Wellen verängstigten Jungen einen Streich gespielt hatte, als dieser ein riesiges Tentakel gesehen haben wollte. Doch dies würde nichts an der Tatsache ändern, dass der ältere Mann nie wieder gesehen wurde, weder tot noch lebendig. Die Polizei suchte alles nach ihm ab. Ebenso wenig fand man im Schwimmbad ein Lebewesen, das einem Oktopus gleichkam, und auch keinerlei Hinweise darauf, was sich während des Unglücks in den Wellen zugetragen hatte. Die Polizei stellte ihre Untersuchungen aus Mangel an Hinweisen bald darauf ein. Doch der junge Mann wollte nicht aufgeben und sah sich unermüdlich nach Anhaltspunkten um, die darauf hindeuteten, was mit seinem Vater geschehen sein mochte.

 

‚Womöglich können Sie mir weiterhelfen.‘

Er sah mir mit festem Blick direkt in die Augen.

 

‚Ich? Wie kommen Sie denn darauf?‘


‚Nun, Sie tragen immerhin die Badekappe meines Vaters. Oder eine, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Wären Sie bitte so freundlich, mir zu verraten, wie diese in Ihren Besitz gelangt ist?‘

 

Bei dem Gedanken, dass ich die Badekappe eines Menschen, der auf mysteriöse Weise verschwunden, womöglich sogar von einem Monster getötet worden war, auf meinem Kopf sitzen hatte, wurde mir etwas mulmig zu Mute. Ich nahm sie schnell ab und musterte sie verlegen.

 

‚Wissen Sie, auch mir ist etwas Rätselhaftes passiert, und ich konnte mir bis zum heutigen Tag keinen Reim darauf machen. Doch nach dem, was ich jetzt von Ihnen gehört habe, lässt sich ein Zusammenhang erkennen.‘

 

So berichtete ich ihm von meinem Erlebnis im Fischrestaurant bis ins kleinste Detail. Der junge Mann hörte mir neugierig und mit leuchtenden Augen zu. Als ich am Ende meines Berichts angekommen war, stieß er einen leisen Seufzer aus. Eine schwere Last schien von ihm abgefallen zu sein.

 

‚Danke, dass Sie mir davon erzählt haben. Allem Anschein nach existiert mein Vater noch irgendwo. Vielleicht nicht mehr in dieser Welt, wo wir leben, sondern in einer Dimension jenseits von Raum und Zeit. Womöglich zeigt sich ein Weg, auf dem er wieder zu uns zurückfindet. Und die Badekappe ist der Schlüssel dazu. Über Ihre Worte bin ich wirklich froh. Jetzt geht es mir um einiges besser. Eine Frage wäre da noch, falls Sie nichts dagegen haben?‘

 

‚Nein, fragen Sie ruhig.‘

 

‚Ist Ihnen in Zusammenhang mit der Badekappe etwas Sonderbares aufgefallen? Spüren Sie irgendeine Veränderung, wenn Sie diese beim Schwimmen tragen?‘

 

Der junge Mann hatte Recht. Da war tatsächlich etwas.

 

‚Ja. Ich spüre einen enormen Kraftzuwachs, wodurch mir das Schwimmen leichter fällt. Und egal, wie langsam ich schwimme, niemand ist in der Lage, mich zu überholen.‘

 

‚Alles klar. Jetzt bin ich mir absolut sicher, dass Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Mein Vater hat Ihnen tatsächlich seine Badekappe überreicht. Auch wenn Sie beide sich nur das eine Mal im Fischrestaurant gesehen und dabei nicht einmal miteinander gesprochen haben, hielt er Sie allem Anschein nach für würdig, seine Kappe nach seinem Verschwinden als sein Nachfolger zu tragen. Vielleicht wollte er Sie auch vor etwas beschützen. Zum Beispiel vor dem Oktopus.‘

 

Ich sann über seine Worte nach. Vermutlich hatte er Recht und die Badekappe war ein magisches Abwehrmittel. Eine Art Schutz vor dem Ungeheuer, das für die meisten Menschen ungesehen und unentdeckt auf dem Boden des Schwimmbeckens hauste und sich nur in dem Moment zeigte, als es zuschlug, um ein wehrloses Opfer mit sich in die Tiefe zu reißen. Das erklärte nun auch, warum der ältere Mann in dem Augenblick, als ihm die Welle seine Kappe vom Kopf riss, schwach wurde und dem Tentakel des Oktopusses erlag. Warum der alte Mann ausgerechnet mich zum Träger der magischen Badekappe auserwählt hat, entzieht sich nach wie vor meiner Kenntnis. Doch ich bin ihm für seine Hilfe und den damit verbundenen Schutz zutiefst dankbar und trage seine Kappe in Ehren.“

 

Doch es dauerte nicht allzu lange, da sollte meinen Freund ein schreckliches Schicksal ereilen, dessen Augenzeuge ich wurde. Wie der ältere Mann vor ihm verschwand auch er während des Wellenganges im Schwimmbecken. Als ich sah, wie ihm eine Welle die Badekappe vom Kopf riss, ahnte ich bereits Fürchterliches. Kurz darauf beobachtete ich, wie ein riesiges Tentakel seinen massigen Körper umschlang und unter Wasser zog. Noch nie habe ich etwas so Grauenvolles erlebt und war vor Angst wie gelähmt. Außer S. und mir befanden sich zu dieser frühen Morgenstunde keine weiteren Badegäste in der Schwimmhalle. Vom Beckenrand aus konnte ich nichts weiter tun, als zuzuschauen, während S. in den Fängen des Tentakels in den Wellen verschwand.

 

***

 

Einige Tage später träume ich von S. Im Traum sitzt er zusammen mit dem alten weißhaarigen Herrn auf dem Boden des Schwimmbeckens. Der riesige Oktopus, der sich bedrohlich neben die beiden gekauert hat, hält jeden von ihnen mit je einem Tentakel am Arm fest. S. streckt den anderen Arm aus, um mir etwas zu überreichen. Es ist die blaue Kappe mit den weißen Punkten und dem Tintenfischbild auf der Vorderseite. Er sieht mich aus flehenden Augen an und aus seinem geschlossenen Mund dringt ein verzweifelter Hilfeschrei zu meiner Seele durch.

 

Als ich aufwache, bin ich am ganzen Körper durchnässt. Es fühlte sich an, als wäre ich mitsamt meiner Kleidung in ein Schwimmbecken getaucht. Dermaßen stark habe ich im Schlaf geschwitzt.

 

Ich knipse die Nachttischlampe neben meinem Bett an und gehe ins Bad, wo ich eine Dusche nehme, um die Unruhe, die dieser aufwühlende Traum in mir erzeugt hat, abzuspülen. Lange und ausgiebig lasse ich das warme Wasser über meinen Körper fließen, während sich meine Nerven allmählich beruhigen.

 

Auf dem Weg zurück in mein Schlafzimmer sehe ich im Schein der Nachttischlampe von weitem etwas auf meinem Bett liegen. Es ist die Badekappe, die mir S. im Traum gegeben hat. Sie trieft vor Wasser und riecht nach Chlor.

 

In diesem Moment verstehe ich, was es damit auf sich hat. Der Sohn des alten Mannes hat Recht: Die Badekappe ist der Schlüssel zur Befreiung der Gefangenen des Oktopusses. Meine Aufgabe ist es nun, auf den Boden des Schwimmbeckens hinab zu tauchen, dort dem Monstrum zu begegnen und mich meiner Angst zu stellen. Dazu benötige ich Dreierlei: Entschlossenheit, Mut und den unübertrefflichen Schutz der magischen Badekappe.

2. Kapitel: Untergetaucht

Bevor ich meine Wohnung verlasse, um zum Schwimmbad aufzubrechen, bereite ich mich gründlich vor. Es geht heute schließlich nicht um einen gewöhnlichen Badeausflug, sondern um ein riskantes Abenteuer, das mich Leib und Leben kosten kann, wenn ich mich nicht entsprechend dafür ausrüste. Mein Freund S. und der ältere weißhaarige Herr warten auf dem Boden des großen Schwimmbeckens darauf, dass ich sie aus den Fängen des Oktopusses befreie, der sie mit seinen Tentakeln fest umschlungen hält. Damit mir dies gelingt und ich nicht selbst dem Ungeheuer zum Opfer falle, mache ich mir einen genauen Plan, welche Schritte ich einzuleiten habe, bevor ich mich ins finstere Revier des Kraken begebe.

 

Als allererstes greife ich zu Nadel und Faden, um einen Gummizug an der Badekappe zu befestigen. Diese darf mir im Wasser keineswegs vom Kopf rutschen. Sonst bin ich ein für alle Mal verloren, dem Ungeheuer und seinen Tentakeln hoffnungslos ausgeliefert. Mit großer Sorgfalt nähe ich den Gummizug an der Badekappe fest. Dabei lasse ich mir alle Zeit und Ruhe der Welt. Denn hierbei handelt es sich um den wichtigsten Schritt meiner Vorbereitungen. Anschließend setze ich die Badekappe auf, ziehe das Gummiband unter mein Kinn und überprüfe den Sitz. Perfekt. Jetzt fühle ich mich viel sicherer.

 

Ich überlege, was ich noch für mein Vorhaben benötige. Eine Taucherausrüstung wäre vermutlich angebracht oder würde zumindest nicht schaden. Immerhin läuft es darauf hinaus, dass ich für längere Zeit unter Wasser bleibe. So leicht wird sich der Oktopus nicht geschlagen geben, nehme ich an. Er ist ein mächtiger Gegner und einige Nummern größer als ich. Zudem hat er acht riesige Tentakel und ich im Vergleich dazu nur zwei mickrige Arme. Es ist mir im Übrigen noch unklar, auf welche Weise ich mit dem Oktopus fertig werden könnte. Ich weiß nur, dass ich es schaffen kann, wenn ich es wirklich will. Und ich glaube fest daran, dass sich mir der Weg zum Sieg zeigen wird, wenn der Moment dafür gekommen ist.

 

Da ich meine Urlaube meist zu Hause verbringe, besitze ich keine Taucherausrüstung. Doch ich habe Glück: Ein paar Häuser weiter gibt es ein Geschäft, das Wassersportausrüstung anbietet. In den vielen Jahren, die ich hier schon lebe, bin ich unzählige Male an diesem kleinen Laden vorbeigekommen und hätte niemals gedacht, dass er eines Tages so wichtig für mich werden würde. So plötzlich können sich die Dinge auf einmal ändern. Ich schlüpfe in meine Sandalen und verlasse die Wohnung.

 

Draußen scheint bereits die Sonne mit unbändiger Kraft, obwohl es noch früh am Morgen ist. Kein einziges Wölkchen trübt den Himmel. Der heutige Sommertag verspricht, besonders heiß zu werden. Was bin ich froh, dass ich heute noch Abkühlung im, und vor allem auch unter Wasser finden werde. Fragt sich nur, wie lange die besagte Abkühlung anhalten wird, falls der Oktopus mich erwischt. Und ob ich bei dessen Anblick von Angesicht zu Angesicht nicht bereits kalte Füße bekomme und das Weite suche. Doch das darf nicht passieren. Das Leben von meinem Freund S. und dem alten Mann hängt davon ab, ob ich es schaffe, das Ungeheuer zu besiegen. Und womöglich auch die Leben weiterer Badegäste, auf die der Oktopus vom Boden des Schwimmbeckens bereits ein Auge geworfen hat. Ich muss diesem Spuk unbedingt ein Ende setzen.

 

Der Verkäufer im Wassersport-Laden scheint sehr kompetent zu sein, soweit ich das als blutiger Laie einschätzen kann. Nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich eine Taucherausrüstung benötige, präsentiert er mir einige verschiedene Modelle, die sich im Großen und Ganzen jedoch nicht unterscheiden. Ich wähle das teuerste Produkt, in der Hoffnung, dass es sein Geld wert ist und im entsprechenden Moment nicht versagen wird. In diesem Fall hier geht es um Leben und Tod. Da darf man nicht mit Geld geizen, sondern muss auf den Tisch legen, was man hat. Der Verkäufer versichert mir, ich hätte eine gute Wahl getroffen, und zählt mir die einzelnen Vorzüge des Produkts überschwänglich ein weiteres Mal auf. Ich werde meinen Kauf nicht bereuen, sagt er. Dies sei eine Ausrüstung für Profisportler, nicht für Kinder, die damit in der Badewanne planschen wollen. Dass ich vorhabe, in wenigen Stunden mit meiner teuren Neuanschaffung die Unterwasserwelt eines Schwimmbeckens zu erkunden, verschweige ich ihm. Er würde mich bloß für verrückt halten.

 

Zu Hause angekommen, stelle ich die Taucherausrüstung ab. Eine stabile Tasche war im Kaufpreis mit inbegriffen. Das finde ich praktisch. So übersteht meine Ausrüstung mit hoher Sicherheit unbeschadet den Transport zum Ort ihrer Bestimmung. Ich frage mich, was ich noch für meinen Kampf mit dem Tintenfisch benötige. Mir fällt ein, dass sich eine Waffe als überaus nützlich erweisen würde. Doch wenn mich jemand im Schwimmbad damit erwischt, bin ich geliefert. Vermutlich holt man dann sofort die Polizei und mein Ding mit dem Oktopus ist gelaufen. Die Wohltat einer erfrischenden Abkühlung im Schwimmbecken ebenso. Das kann ich mir nicht leisten. Wenn mich nicht der Oktopus tötet, dann wird es die unsägliche Hitze sein. Gegen Ersteren habe ich zumindest den Hauch einer Chance - versuche ich, mir Mut zu machen.

 

Nun fällt mir ein, dass ich in meiner Taucherausrüstung, mit Schwimmflossen, Sauerstofftank, Taucherbrille und allem Drum und Dran, höchstwahrscheinlich Aufsehen erregen werde, und dass der Bademeister bei meinem Anblick die Leute in den weißen Kitteln ruft, sobald ich ihm mit meinem Schnorchel ins Auge springe. Doch was soll ich tun? Mir fällt nichts Besseres ein, als es zu riskieren. Vielleicht habe ich ja Glück, und es schaut keiner hin. Weitere Badegäste wird es zu dieser frühen Stunde vermutlich sowieso nicht im Schwimmbad geben.

 

Ich lasse mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. Was mir da gerade widerfährt, ist doch wirklich total abgefahren. Mir ist auch vollkommen klar, dass ich dieses Erlebnis mit niemandem teilen kann. Von meinen Freunden würden die einen wohl denken, ich mache Scherze, und die anderen würden mir einen Vogel zeigen. Die Geschehnisse der letzten Tage sprengen ja auch in der Tat den Rahmen jeglicher Normalität. Das mysteriöse und grauenvolle Verschwinden meines Freundes S. in den Wellen des Schwimmbeckens, das ich starr vor Schreck tatenlos mit ansehen musste. Mein vielsagender Traum von letzter Nacht. Und nun will ich also im Taucheroutfit die Abgründe des Schwimmbeckens erkunden, auf der Suche nach einem gigantischen Kraken. Das erscheint mir wirklich makaber. Doch sei es drum. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.

 

Bevor ich mich auf den Weg ins Revier des Ungeheuers begebe, bleibt mir nur noch Eins: In meine Badehose schlüpfen, die magische Badekappe aufsetzen und die Taucherausrüstung anlegen. In voller Montur stelle ich mich vor meinen Ganzkörperspiegel im Schlafzimmer und betrachte mich von allen Seiten. Sieht gar nicht mal so übel aus. Ich gebe darin eine gute Figur ab. Für einen Schwimmbadbesuch allerdings ist meine äußere Erscheinung etwas überdimensioniert. Ich lege alles wieder ab und verstaue es sorgfältig in der Tasche. Nun ist es soweit – ich packe meine sieben Sachen und öffne die Wohnungstür.

 

Auf dem Weg in die Schwimmhalle komme ich an einem Café vorbei und beschließe, eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen. Ein Stück Kirsch-Marmor-Kuchen und dazu einen Eiskaffee. Dieser kommt mir bei der Hitze wie gerufen und hilft mir dabei, später unter Wasser nicht einzuschlafen. Ich weiß ja nicht, was für Tricks der Oktopus auf Lager hat. Vielleicht verspritzt er Tinte, die einen müde macht. Dem wirke ich nun in weiser Voraussicht entgegen.

 

Es ist ruhig im Café. Wenn man hier so friedlich sitzt, glaubt man gar nicht, was alles in der Welt vor sich geht und was mich in naher Zukunft erwartet. Zwei Tische weiter hat soeben eine hübsche Blondine Platz genommen. Als sie meinen Blick auffängt, lächelt sie mir von der Seite zu. Ich scheine ihr zu gefallen. Ob das auch noch dann der Fall wäre, wenn sie wüsste, was ich gleich zu tun gedenke? Vermutlich würde sie das Weite suchen. Und das mache ich jetzt auch. Schließlich habe ich eine Mission vor mir und keine Zeit zu verlieren.

 

Etwa eine halbe Stunde später stehe ich am Beckenrand. Am Körper trage ich alles, was für einen Badeausflug üblich ist und darüber hinaus noch einiges mehr. Schwimmflossen und Sauerstofftank inklusive. Die blaue Badekappe mit den großen weißen Punkten und dem kleinen Tintenfischbild auf der Vorderseite bedeckt mein Haupt. Ich zupfe vorsichtig am Gummiband unter meinem Kinn, um seine Festigkeit zu überprüfen. Es sitzt einwandfrei. In Schwimmflossen zu laufen, ist etwas gewöhnungsbedürftig für mich. Doch ich bin ja sowieso gleich im Wasser.

 

Zu meinem Glück ist außer mir fast niemand da. Vom Kinderbecken aus höre ich Geplansche und freudige Schreie. Doch da sich dieses Becken hinter der Ecke befindet, können die Kinder mich ebenso wenig sehen, wie ich sie. Es ist natürlich gut möglich, dass ich dem Bademeister auffalle. Doch niemand scheint von mir Notiz zu nehmen. Vielleicht macht dieser gerade eine Toilettenpause. Es sieht gut für mich aus. Zumindest vom Beckenrand aus betrachtet.

 

Nun muss ich also ins Wasser. Ein wenig schlottern mir die Knie bei dieser Vorstellung. Das muss ich ehrlich zugeben. Doch ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass ich mich fabelhaft auf mein verrücktes Abenteuer vorbereitet habe. Was soll schon schiefgehen? Und falls mein Vorhaben, den Oktopus zu besiegen, wortwörtlich ins Wasser fällt und ich zu dessen Geisel werde – na und? Womöglich ist es auf dem Grund des Schwimmbeckens gar nicht so ungemütlich. Irgendwie komme ich schon durch. Der alte Mann hat es ja auch geschafft. Nachdem der Tintenfisch ihn geholt hatte, brachte er es immerhin irgendwie zustande, im Fischrestaurant herumzugeistern. Ausgang scheint der Krake seinen Opfern also zu gewähren. In meinem Traum von letzter Nacht machte der weißhaarige Mann zwar kein besonders glückliches Gesicht. Aber allzu schlecht scheint es ihm auch nicht zu gehen. Zumal mein Freund S. ihm seit einigen Tagen unter Wasser Gesellschaft leistet. Wenn ich nun auch noch hinzukomme, verspricht das doch, eine lustige, kleine Runde zu werden. Und wahrscheinlich sind wir nicht die Letzten, die sich dort ansiedeln. Vielleicht erbeutet der Oktopus zur Abwechslung ja auch mal ein paar Frauen. Dann wird es da unten ganz gewiss nicht langweilig. Dabei fällt mir die hübsche Blondine aus dem Café ein.

 

Doch mir ist natürlich vollkommen klar, dass dies alles nur meine Wunschträume sind und mit der Realität nichts gemein haben müssen. Sollten sie es aber, dann möchte ich mich dennoch nicht meiner Freiheit berauben und vom Kraken in einen Käfig stecken lassen, wie golden dieser auch sein mag. Letzten Endes läuft es also doch darauf hinaus, das Monstrum zu besiegen. Und ich habe nicht mal eine Waffe dabei. Womöglich hätte ich doch ein Messer ins Schwimmbad schmuggeln können. Doch ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, erwischt zu werden. Vermutlich ist dieses im Kampf gegen den Oktopus sowieso unnütz. Gegen so ein großes Ungetüm müsste man schon schwerere Geschütze auffahren, mindestens einen Panzer. Nun ja, irgendwie wird es mir auch unbewaffnet gelingen, den Oktopus zu besiegen. S. weiß doch, dass ich an und für sich kein Kämpfer bin, und vertraut dennoch darauf, dass ich ihn aus seiner Misere heraushole. Warum sonst hätte er mir letzte Nacht die magische Badekappe übergeben? Er glaubt einfach daran, dass ich es schaffe.

 

Ich will schon den ersten Schritt ins Becken setzen, da fällt mir noch etwas ein: Ich hätte einen Brief auf meinem Küchentisch hinterlassen sollen, in welchem ich die Vorfälle mit dem Oktopus Wort für Wort niederschreibe, angefangen bei dem verhängnisvollen Tag, als der alte Mann mit seinen Enkeln schwimmen gegangen ist und dann vom Kraken erwischt wurde. Dann wüsste im Falle meiner Niederlage die Menschheit immerhin, was mir zugestoßen ist, auch wenn es mir wohl niemand glauben würde. Warum bin ich nur früher nicht darauf gekommen? Egal. Nun ist es zu spät. Und die Stunde ist günstig. Bislang scheint mich keiner im Schwimmbad gesehen zu haben und niemand wird versuchen, mich aufzuhalten. Wer weiß, ob sich später noch einmal so eine Gelegenheit bietet. Also darf ich keine Zeit vertrödeln. Ich streiche über das Tintenfischbild auf der Badekappe, als würde diese Handlung meinen Schutz verstärken, und steige hinein ins Wasser.

 

Kaum bin ich im Becken, setzt auch schon der künstliche Wellengang ein. Da habe ich ja direkt den richtigen Augenblick abgepasst. Immer weiter schreite ich hinein, was mir durch die Wellen erschwert wird. Doch es tut gut, im kühlen Nass zu sein, fern der sommerlichen Hitze, die draußen brodelt. Und ich bin schon ein wenig neugierig darauf, was mich in den unergründlichen Tiefen des Beckens erwartet, auch wenn ich gleichzeitig vor Nervosität eine gewisse Anspannung verspüre. Nach einigen weiteren Schritten kann ich den Boden nicht mehr ertasten und schwimme los.

 

Irgendwie ist es auch schön, das ganze große Becken für mich allein zu haben. Wenn man mal absieht, dass ich es mit dem Oktopus und seinen Gefangenen teile. Doch diese sehe ich von hier aus noch nicht. Bei meinen bisherigen Besuchen war mein Freund S. immer mit mir gemeinsam Becken. Vollkommen allein durchs Wasser zu treiben, ist eine neue Erfahrung für mich. Mit jeder Sekunde, die ich mich im Wasser aufhalte, scheint sich das Schwimmbecken immer weiter in alle vier Himmelsrichtungen auszudehnen. Die Wellen rollen eine nach der anderen auf mich zu. Ich höre ihr Rauschen in meinen Ohren. Es wirkt mit seinem monotonen Getöse ein wenig einschläfernd auf mich. Ein Glück, dass ich vorhin den Eiskaffee getrunken habe.

 

Nach einer Zeitspanne, die sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlt, komme ich am anderen Ende des Schwimmbeckens an. Unmittelbar unter mir liegt sein tiefster Punkt. Wenn ich will, kann ich jetzt einen Rückzieher machen, sage ich mir. Es ist meine letzte Chance, umzukehren und die Dinge dabei zu belassen, wie sie sind. Doch den alten Mann und meinen Freund S., der mich im Traum so inständig um Hilfe gebeten hat, im Stich zu lassen, kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Und was wäre ich denn für ein Feigling, wenn ich jetzt den Schwanz einziehen würde? Zudem ist das Geld, das ich für die Taucherausrüstung ausgegeben habe, nun weg. Allein schon mit meinem Sinn für Sparsamkeit - andere würden diesen als Geiz betiteln - lässt es sich nicht vereinbaren, dass ich zur Kehrtwende antrete. Und das ist ja nicht der einzige Grund. Hinzu kommt noch, dass mich S. bestimmt keine einzige Nacht mehr ruhig schlafen lassen würde, bis ich zu ihm in den finsteren Abgrund herunterkomme. Er würde mich regelrecht in meinen Träumen verfolgen, damit ich was zu seiner Rettung unternehme. Und wäre es nicht S., der mich heimsuchen würde – dann eben mein schlechtes Gewissen. Feigheit ist für mich also keine Option.

 

„Hey, guck mal, was hat der Mann denn da an?“ Ich höre plötzlich lachende Kinderstimmen ganz in meiner Nähe. Vermutlich sind die Kinder aus dem kleinen Becken um die Ecke herumgekommen und sehen mich nun in meinem Taucherkostüm. Zumindest den Schnorchel, den oberen Teil vom Sauerstofftank, die Taucherbrille und meine mit dem Gummizug bestückte Badekappe können sie noch erkennen, so wie ich im Wasser treibe. O nein, man hat mich bemerkt, wird mir mit einem Schlag bewusst. Und die Eltern der Kinder sind bestimmt auch gleich vor Ort und nehmen mich in Augenschein. Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr. Es hilft nur noch eins: Untertauchen.

 

Ich hole aus Gewohnheit, auch wenn dies nun wegen dem Sauerstofftank nicht nötig ist, tief Luft, schließe die Augen, was dank der Taucherbrille ebenso entbehrlich wäre, und sinke hinab in die Fluten. Das Echo der Kinderstimmen verblasst unter Wasser. Im nächsten Augenblick betrete ich eine neue, mir noch unbekannte Welt, mit all ihren Gefahren und Geheimnissen…

3. Kapitel: Die Tür zum Schattenreich

Unter die Wasseroberfläche abgetaucht, kann ich zunächst nichts Ungewöhnliches erkennen. Allem Anschein nach befinde ich mich in einem normalen Schwimmbecken. Sein Boden ist mit hellblauen Fliesen versehen. Die Wände sind in ebendiesem Farbton gekachelt. Doch irgendwo hier unten muss sich das Versteck des Oktopusses befinden. Also halte ich danach Ausschau, inspiziere alles genau. Vermutlich ist im Boden oder in den Wänden ein spezieller Mechanismus verbaut, der eine geheime Tür öffnet. Diesen gilt es, zu finden.

 

Zunächst nehme ich mir die Wände vor, taste mich an ihnen mit meinen Händen entlang. Der Wellengang erschwert mir die Ausführung meines Vorhabens, indem er mich immer wieder zurücktreibt. Doch ich halte mich wacker und gebe nicht auf. Unverrichteter Dinge werde ich das Schwimmbecken auf gar keinen Fall verlassen. An die Oberfläche aufzutauchen, wäre aktuell ohnehin keine Option, weil ich bereits ins Visier der Kinder geraten bin, welche bestimmt schon mit ihren Eltern am Beckenrand stehen und ungeduldig darauf warten, dass ich in meiner seltsamen Aufmachung wieder auf der Bildfläche erscheine.

 

Nachdem ich die linke Seitenwand des Schwimmbeckens sorgfältig mit beiden Händen überprüft habe, was aufgrund der mir entgegenkommenden Wellen ein echter Kraftakt war und mich einiges an Zeit kostete, nehme ich mir die Front vor. Irgendwo muss doch etwas sein. Ein versteckter Knopf, eine Delle, eine Erhebung - was auch immer. Nach einer Weile werde ich endlich fündig: An einer Stelle in etwa der Mitte der Frontalwand ertaste ich die Umrisse einer Klappe. Kreisrund und mit einem Durchmesser von geschätzt etwa einem Meter fünfzig. Das heißt, ich würde mühelos hindurchpassen. Von außen ist die Klappe durch ein Kachelmuster getarnt, wodurch sie sich optisch nahtlos in die Frontalwand einfügt, ohne Aufsehen zu erregen. Sie mit bloßem Auge zu erkennen, ist daher unmöglich.  Probehalber schlage ich mit der Faust gegen die Klappe, nur um zu überprüfen, aus welchem Material sie wohl besteht. Ein metallischer Klang ertönt, der durch die Wassermassen zu einem gespenstisch anmutenden Geräusch verzerrt wird. Im nächsten Moment höre ich ein Rumpeln hinter der Klappe, welches sich dem Ausgang in Windeseile nähert. Ich bin direkt dankbar, als mich die nächste heranrollende Welle ein ganzes Stück zurücktreibt. Andernfalls hätte mich die Klappe, die plötzlich von innen aufgeschlagen wird, mit voller Wucht erwischt.

 

Aus der Öffnung in der Wand schaut mir der gefürchtete Oktopus, vor dem man mich gewarnt hat, entgegen. Seltsamerweise verspüre ich gar keine Angst. Irgendwie finde ich es sogar drollig, wie er mich aus keinen Kulleraugen anstiert. Der Schrei allerdings, den er bei meinem Anblick ausstößt, lässt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Gefällt ihm etwa mein Taucheroutfit nicht? Habe ich ihm damit unbeabsichtigt einen Schrecken eingejagt, dass er so fürchterlich aufjaulen muss? Nein. Es ist natürlich die magische Badekappe, die ich stolz auf meinem erhobenen Haupt trage, welche ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Warum auch immer, jagt sie ihm einen riesigen Schrecken ein, und er will prompt nichts mehr mit mir zu tun haben. Dass es mir nicht gelungen ist, bei ihm Sympathiepunkte zu sammeln, demonstriert er mir kurzerhand auf besonders unangenehme Weise: Er spritzt mir eine ganze Ladung Tinte ins Gesicht, welche das gesamte Wasser im Schwimmbecken zunehmend schwarz färbt, so dass ich bald die Hand nicht mehr vor Augen sehen kann. Als besonders gastfreundlich kann man den Oktopus wahrlich nicht bezeichnen. Ich höre, wie die Klappe mit einem metallischen Scheppern zugeschlagen wird. Anscheinend hat er sich aus dem Staub gemacht, sucht das Weite. Ich fühle mich verhökert. Eigentlich hatte ich mich auf einen Kampf um Leben und Tod eingestellt. Und nun flieht das Ungetüm vor mir? Das will und werde ich nicht auf mir sitzen lassen. Volle Kraft voraus und dem Feind entgegen! Auch wenn ich aufgrund des schwarz eingefärbten Wassers nichts mehr erkennen kann, weiß ich ja nun, wo ich den Oktopus finde.

 

Gegen die Wellen ankämpfend, taste ich nach der Klappe an der Wand. Mit etwas Glück hat der Oktopus seine Haustür nicht abgeschlossen. Es dauert nicht lange, dann habe ich sie auch schon gefunden und ziehe sie mühelos auf, halte mich an ihr fest, während ich meinen Körper in die Öffnung, die sich dahinter verbirgt, hineinschwinge. Schnell schließe ich die Tür leise hinter mir. Vielleicht hat der Krake noch nicht mitbekommen, dass ich dabei bin, seine unheiligen Gefilde zu betreten. Doch wenn er den Lärm der durch das Schwimmbecken tosenden Wellen vernimmt, wird er ohne jeden Zweifel hellhörig und begibt sich hierher, um nachzuschauen, was vor sich geht. Es wäre besser, nicht als Erster von ihm gefunden zu werden, sondern ihn selbst in einem unbedachten Moment zu überraschen. Vielleicht ist es auch gar nicht nötig, ihn zu bekämpfen, sondern es würde vollkommen ausreichen, seine Geiseln zu befreien: Meinen Freund S., den alten Mann und möglicherweise noch weitere Gefangene, falls er denn welche genommen hat.  Ich beschließe, mich vorsichtig und mit so viel Mut, wie ich in meinem tiefsten Inneren in dieser makabren Situation auftreiben kann, erst einmal umzuschauen, mich Schritt für Schritt voranzutasten, darauf vertrauend, dass sich mir der Weg zeigt, während ich ihn gehe. Wo er mich hinführen wird, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.

 

Seitdem ich die Metallklappe hinter mir geschlossen habe, bin ich wortwörtlich in Stille eingetaucht, was für meine Ohren nach dem Wellenlärm im Becken eine wahre Wohltat ist. Positiv fällt mir des Weiteren auf, dass ich, auf beiden Beinen stehend, problemlos meinen Kopf über Wasser halten kann. Ich muss mich zwar etwas ducken, um nicht an der Decke anzustoßen. Aber das ist nicht weiter der Rede wert. Offensichtlich befinde ich mich in einer Art Röhre, an deren Decke in regelmäßigen Abständen Lämpchen angebracht sind, welche den Gang erleuchten - gerade genug, um sich in der näheren Umgebung umschauen zu können. Viel zu sehen gibt es hier allerdings nicht. Ich frage mich, was das wohl für ein Ort sein mag, an dem ich mich befinde. Wer hat ihn erbaut? Und aus welchem Grund? Es wird doch nicht wohl der Oktopus höchstpersönlich sein Baumeister gewesen sein? Vermutlich hat dieser ihn bloß auf der Durchreise zu seinem Domizil auserkoren, weil ihm hier unten die Nahrung nicht so schnell ausgeht. Badegäste kommen und gehen. Manchmal verschwindet der eine oder andere in den Fluten. Das juckt die breite Masse jedoch nicht. Denn niemand rechnet damit, dass er der Nächste sein könnte, der den Tentakeln des Oktopusses zum Opfer fällt. Zumal bislang kaum jemand von den Untaten des Monstrums gehört zu haben scheint. Sonst wäre dieser ganze Alptraum ja längst in den Medien publik gemacht worden. So leibt und lebt der Monsterkrake hier unten in aller Seelenruhe und lässt sich nicht öfter blicken als nötig, damit das Geheimnis seiner Existenz unter allen Umständen gewahrt bleibt und er sein Unwesen ungeschoren weitertreiben kann. Doch seitdem ich Wind davon bekommen habe, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Tage des Oktopusses gezählt sind. Unter dem Schutz der magischen Badekappe stehend, fühle ich mich wie Superman – stark, schnell und unverwundbar. Ein Glück, dass mir vorhin zu Hause die Idee kam, einen Gummizug an ihr festzunähen, um besten Halt zu garantieren. Sonst wäre sie mir im Wellenbad längst vom Kopf gerutscht - und ich wäre somit verloren, in der unergründlichen Tiefe des Schwimmbeckens verschollen, dem Kraken und seinen finsteren Gelüsten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

 

Je länger ich den Gang entlangschreite, desto heller wird das Licht, das die an der Decke der Röhre befestigten Lämpchen ausstrahlen. Ich weiß nicht, wie lange ich bereits unterwegs bin. Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Erstaunlicherweise erzeugen die Schwimmflossen an meinen Füßen keinerlei Geräusch auf dem Boden, während ich mich fortbewege. Sind in der Röhre etwa Schalldämpfer verbaut, die meine Schritte abfedern? Tatsächlich fühlt sich der Untergrund so an, als wäre er mit einer dicken Schicht Sand bedeckt. Was hat dieser hier zu suchen? Schließlich befinde ich mich in einem Schwimmbad, nicht an einem Strand. Dieser Gedanke versetzt mich fast ein wenig in Urlaubsstimmung. Wann habe ich zuletzt das Meer gesehen? Es mag Jahre zurückliegen, fühlt sich aber jetzt, wo ich über den Sand hinwegschreite, wie gestern an.

 

Auf Kreta war es wunderschön gewesen, nicht nur, weil ich dort eine bezaubernde junge Dame kennengelernt habe, mit der ich mehrmals gemeinsam hinausgeschwommen bin. Kristina war ihr Name. Ihr langes blondes Haar trug sie stets zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, damit die Sonne es nicht austrocknet, wie sie mir erklärte. Ihre Augen waren grün wie die einer Katze. Und ich nahm während unserer kurzweiligen Verbindung, die nur etwa eine Woche währte, unwissend und naiv, die Rolle der Maus ein. Sehr gerne hätte ich zu Kristina auch nach Urlaubsende weiterhin Kontakt gehalten, zumal wir innerhalb Deutschlands gar nicht so weit auseinander wohnten. Und auch Kristina schien daran interessiert zu sein. Sie stimmte meinem Vorschlag, einander zu schreiben, jedenfalls zu. In meiner Phantasie sah ich uns schon Hand und Hand durchs Leben spazieren, zusammenziehen, heiraten, eine Familie gründen. So sehr hatte sich diese Frau in mein Herz gestohlen. Doch es sollte anders kommen. Kristina beantwortete keinen einzigen meiner Briefe, den ich ihr nach meiner Ankunft schrieb. Ich hätte natürlich bei ihr an der Haustür klingeln können. Doch so weit wollte ich nicht gehen. Dass sie offensichtlich nichts von mir wissen wollte, betrübte mich zutiefst, und ihr Schweigen legte sich für mehrere Monate wie ein Schatten auf mein Gemüt. Doch ich respektierte ihren Entschluss und unterließ es, mich ihr aufzudrängen. Nachdem ich meinen Schmerz einigermaßen überstanden hatte, zeigte sich mir erneut das Licht am Ende des dunklen Tunnels, in welchem ich mich seit Kristinas Kontaktabbruch eingesperrt fühlte. Und ich ging auf das Licht in der Ferne zu - ebenso wie ich es jetzt, genau in diesem Moment, umgeben von den Wänden der Röhre, tue. Was mag dort vor mir liegen? Frage ich mich. Eigentlich kann es sich dabei nur um den Wohnsitz des Oktopusses handeln.

 

Die Röhre mündet schließlich in einen größeren Raum, in welchem das Wasser nur noch knöchelhoch steht. An seiner hohen Decke ist ein quadratisches Gitter angebracht, durch welches etwas Sonnenlicht hereinscheint. Ich kann das Blau des Himmels und die begrünten Zweige der Bäume erkennen, die sich leise raschelnd im Wind wiegen. Dort oben, hinter dem Gitter, wartet die Freiheit auf mich, während ich mich unter der Erde im Reich des Oktopusses selbst eingesperrt habe. Hier habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen, bevor ich wirklich bereit bin, mich in die Welt jenseits der Dunkelheit aufzumachen.

 

Direkt vor mir sehe ich, wonach ich gesucht habe: Den Oktopus. Er hat es sich direkt unter dem Gitter gemütlich gemacht und lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Auch wenn er gemeinhin ein Wesen der Finsternis sein mag, so hat offensichtlich auch er seine lichtvollen Momente, selbst wenn er von diesen, in tiefen Schlaf versunken, nur einen Bruchteil wahrzunehmen vermag. Die Augen hat er geschlossen. Rhythmisch hebt und senkt sich sein Tintensack, während er ein schnurrendes Geräusch von sich gibt. Fast wie ein kleines Kätzchen. Hin und wieder reckt sich eines seiner acht Tentakel mit kräuselnden und kringelnden Bewegungen ein Stück vom Boden ab. Wovon er wohl gerade träumt? Hoffentlich nicht von mir! Wobei ich aufgrund der magischen Badekappe ja eigentlich keine Gemeinheiten von seiner Seite zu befürchten brauche.

 

Bevor ich in blinden Aktivismus verfalle, sondiere ich zunächst einmal sorgfältig die Lage, schleiche um den Oktopus herum, darauf achtend, ihn nicht aufzuwecken. Solange ich unter dem Schutz der magischen Badekappe stehe, kann er mir zwar nichts zu Leide tun. Doch er würde beim Anblick der Kappe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erneut flüchten. Und ich habe weder die Zeit noch die Lust, bist zum Sankt-Nimmerleins-Tag Verstecken mit ihm zu spielen, zumal ich nicht weiß, wer alles sich hier unten noch so herumtreibt, möglicherweise auch Monster, gegen welche die Magie der Badekappe machtlos ist. Von diesem Raum zweigen mehrere dunkle Gänge ab. Ich will gar nicht wissen, auf wen oder was ich dort stoßen könnte.

 

Als ich den schlummernden Kraken zur Hälfte umrundet habe, kommt es zum erhofften Wiedersehen mit meinem Freund S. Wie in meinem Traum hält der Krake dessen Arm mit seinem mächtigen Tentakel umfangen. Mit einem weiteren Tentakel, direkt daneben, hat er den weißhaarigen Mann fest im Griff. Beide Herren der Schöpfung sind wach und schauen mir freudestrahlend ins Gesicht. Wir nicken einander wissend zu, ohne ein Wort über unsere Lippen zu bringen. Noch weiß ich nicht, wie ich die beiden retten kann. Schließlich kann ich sie nicht einfach aus der Umarmung des Ungeheuers lösen. Daher lasse ich meinen Blick hilfesuchend durch den Raum schweifen. Wie es aussieht, gibt es hier nichts, was mir dienlich wäre. Kahle Wände, der Sand unter meinen Füßen, glasklares Wasser – mehr kann ich weit und breit nicht erkennen. Und doch muss es möglich sein, S. und den älteren Mann aus ihrer Misere zu befreien, so ausweglos diese Situation zunächst auch erscheinen mag.

 

Dann springt mir etwas förmlich ins Auge: Der gewaltige Schatten des Kraken zeichnet sich an allen vier Wänden des Raumes ab. Seltsamerweise wirkt er viel lebendiger als sein massiger Leib. So, als würde der Großteil seiner Kraft im Schlaf auf seinen Schatten übergehen. Während der Oktopus, nichtsahnend von meiner Präsenz, im Land der Träume verweilt, agiert sein Schatten hellwach und quicklebendig mit mir. Je länger ich in seine Betrachtung versinke, desto mehr wird mir bewusst, dass er mich zu sich ruft. Wie hypnotisiert starre ich ihn an, ohne meinen Blick auch nur für den Bruchteil einer Sekunde von ihm lösen zu können. Ich kann mich ihm einfach nicht erwehren – und will es aus mir unerfindlichen Gründen auch gar nicht. Auch die magische Badekappe scheint dagegen nichts ausrichten zu können. Schließlich geht es hier nicht um den Oktopus in Person, sondern um den Schatten seiner selbst. Der innerste Kern meines Wesens löst sich nach und nach aus meinem Körper und wird vom Schatten zunehmend absorbiert. Als ich den gellenden Schrei des Kraken in meinem tiefsten Inneren vernehme, weiß ich, dass ich mich bald zur Gänze verloren haben werde. Kurz darauf schwindet mir die Sicht.

 

Als ich mein Bewusstsein wiedererlange, stelle ich fest, dass ich mich im Körper des Kraken befinde und die Welt durch seine Kulleraugen betrachte. Schwer fühle ich mich an, auf eine bisher unbekannte Weise aber auch entspannt und ruhig. Probeweise hebe ich eins der Tentakel – es gelingt mir einwandfrei direkt beim ersten Versuch. Spaßeshalber fahre ich mit allen acht Tentakeln einen kleinen Kringeltanz auf, was, von außen betrachtet, sicher megalustig aussieht.

 

Ein Blick zur gegenüberliegenden Wand verrät mir, dass mein menschlicher Körper reglos auf dem Boden im Wasser liegt. Ist er tot? Oder schläft er nur? Meinen Freund S. und den älteren Herrn habe ich losgelassen, während ich mit meinen Tentakeln herumspielte. In ihren Gesichtern steht Erleichterung geschrieben. S. beugt sich zu dem Körper herunter, welchen ich bis gerade eben noch bewohnt habe, und checkt die Sachlage. Dann schüttelt er mit traurigem Blick den Kopf. Anscheinend bringt diesen Körper nichts mehr wieder so schnell auf die Beine. Aber was solls. Auch ein Oktopuskörper hat einiges zu bieten. In erster Linie eine neue Art der Wahrnehmung und für mich noch unbekannte Möglichkeiten, mit denen ich mich nun erst noch vertraut machen werde. Der Körpertausch fühlt sich für mich ein wenig so an, als hätte ich meine Kleidung ausgewechselt. Es bedarf noch etwas Zeit, mich daran zu gewöhnen. Gänzlich unbequem sitzt das neue Gewand jedoch nicht.

 

Erstaunlicherweise scheinen sich weder S. noch der weißhaarige Herr vor mir zu fürchten. Vermutlich strahle ich trotz meiner imposanten Gestalt nichts Furchteinflößendes aus. S. hebt seine Hand, deutet mit dem Zeigefinger Richtung Deckengitter. Ich strecke eins meiner Tentakel aus und stoße mehrmals mit aller Kraft dagegen: Keine Chance, das Gitter sitzt bombenfest und bietet folglich keinen Ausweg. Mal davon abgesehen, dass es hier keine Leiter gibt, um die Decke zu erreichen, und die beiden Herrschaften meinen glitschigen Körper niemals erklimmen könnten, wollten sie es über diesen zur Decke hinauf schaffen. Es wäre ein sinnloses Unterfangen, da sie auf meiner schleimigen Haut pausenlos hinunterrutschen würden. Entweder die beiden schreiten den Weg zurück, den ich gekommen bin. Oder sie suchen sich einen anderen. Sie entscheiden sich schließlich dafür, in meinen Fußstapfen zu wandeln. Sie haben hier unten bereits genug erlebt. Ihr Abenteuerdurst ist vorerst gestillt. Daher wählen sie den Weg, der sich bereits bewährt und ausgezahlt hat – zumindest für mich.

 

S. nimmt meinem reglos am Boden liegenden Körper die Taucherausrüstung ab und überreicht sie seinem Begleiter. Er selbst kommt auch ohne solchen Firlefanz zurecht. Nachdem der alte Mann Taucherbrille, Sauerstofftank, Schnorchel und Schwimmflossen angelegt hat, tätscheln mir die beiden jeder freundschaftlich ein Tentakel, was wohl einer Dankesbekundung für ihre Rettung gleichkommt. Die magische Badekappe lassen sie zurück. Seitdem das Monster seinen Schrecken verloren hat, ist diese überflüssig geworden und wird nicht mehr benötigt. Man könnte sie zwar auch nutzen, um andere Badegäste beim Schwimmen zu überholen. Doch was hat man auf lange Sicht davon? Schließlich geht es dabei um Schummelei. Stolz sein kann man darauf also nicht.

 

Am Eingang zur Röhre drehen die beiden sich ein letztes Mal nach mir um und winken mir zu. Ich lasse zum Abschied alle meine acht Tentakel für sie tanzen und verdrehe dabei lustig meine Kulleraugen. S. hält sich lachend seinen Bauch, dessen Rundung während seiner Gefangenschaft im Schattenreich abgebaut hat. Es wird Zeit, dass er wieder was zu essen bekommt. Sicher knurrt ihm schon der Magen. Der magere Alte lacht fröhlich mit. Auch er sollte sich das Hauptmenü mit doppeltem Nachtisch im Fischrestaurant bestellen. Das würde ihm sichtlich guttun. 

 

Nachdem sich die beiden wieder einigermaßen gefasst haben, begeben sie sich in die Röhre und sind bald darauf nicht mehr zu sehen. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, mit welchen Blicken ihnen die Badegäste begegnen werden, sobald sie aus dem Schwimmbecken steigen. Und wie groß wird die Wiedersehensfreude sein, wenn sich der Alte und seine Familie nach so vielen Jahren der Trennung endlich wieder in die Arme schließen.

 

Auch wenn ich nun einen Oktopuskörper als neues Gewand trage, möchte ich dennoch behaupten, dass alles gut gegangen ist. S. und der alte Mann befinden sich in Sicherheit. Dem Monstrum wurde seine Grauenhaftigkeit genommen. Und ich habe ein mietfreies Quartier entdeckt, in welchem ich mich den lieben langen Tag sonnen kann, während ich mich in den Nächten in aller Heimlichkeit ins leere Schwimmbecken schleiche, um dort ungestört meine Bahnen zu ziehen, während alle Welt um mich herum schläft. Nahrung werde ich hier sicher genug finden. Damit meine ich natürlich nicht die Badegäste, sondern die dunklen Wesen, die in den finsteren, unterirdischen Gängen hausen, welche von meinem Sonnenstudio abzweigen. Jemand muss sich doch um das Wohlergehen der Schwimmbadbesucher kümmern und Acht geben, dass sie im Wasser keinen ungebetenen Besuch erleben. Ich werde mich hier mal in aller Seelenruhe umschauen. Zeit habe ich vorerst genug.

 

Etwas schlägt mit einem kaum wahrnehmbaren Echo von oben auf das Metallgitter auf, fällt hindurch und mit einem leisen Plätschern direkt vor mir ins Wasser. Eine kleine Muschel hat aus buchstäblich heiterem Himmel ihren Weg in meine einsame Kammer gefunden. In zarten Pastelltönen changierend, schimmert sie mir, unter dem Wasser auf dem Sand liegend, entgegen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mir gesandt wurde. Als eine Art stille Botschaft von jemandem, der sich in Schweigen hüllt, weil dieses mehr zum Ausdruck bringt, als tausend Worte jemals sagen könnten. Während ich mit meinem Tentakel zärtlich über den Deckel der Muschel streichele, öffnet sich dieser und eine Perle kommt zum Vorschein.

 

Kristina, mein Herz - wo bist du?

 

Imprint

Text: © Träumerin
Publication Date: 04-14-2022

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