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Prolog



Ich fasste es nicht! War mein Leben denn nicht schon schwierig genug? Warum mischte sich mein Vater bloß immer ein? Und dabei merkte er nicht mal, dass er eigentlich alles schlimmer machte.

Ein Austauschschüler, ausgerechnet, und dann auch noch aus Amerika! Erst dachte ich, dass er mich wohl nun doch loswerden und nach Amerika abschieben wollte, aber es war anscheinend eher so ein Gastfamilien-Programm, wo man Wildfremde Haus und Hof öffnet und sie herzlichst willkommen heißt.
Und dieser war auch noch ein Junge und diese sind ja wohl schwanzgesteuert und das auch schon immer gewesen. „In deinem Alter, Ariella, damit du endlich mal Anschluss findest, wäre das nicht wunderbar?“- Ha, wunderbar? Was war wunderbar daran, nach den ersten zwei Minuten als Gestörte abgestempelt zu werden und sich für den Rest der Zeit hämische Bemerkungen anhören zu dürfen?

Mir kam jetzt schon der Ekel hoch, von Verzweiflung und Wut bis zu Brechreiz war alles dabei, wenn ich auch nur für einen kleinen Augenblick daran dachte, dass bald die Schule losging und ich wieder mit Getuschel und Blicken konfrontiert werden würde, die soviel sagten wie: Verzieh dich in die Psychiatrie. Denn ich war ein Freak, von dem alle dachten >Die hat sie doch nicht mehr alle, bloß fern bleiben, sonst fällt sie mich irgendwann an.<

Ich verfluchte den Tag an dem es anfing. Der Tag an dem ich fast gestorben wäre.

*Nun sei nicht so voller Selbsthass. Ich bin da und helfe dir.* Ich ließ mich wieder zurück in meine Kissen fallen. Da war sie wieder gewesen. Die Stimme in meinem Kopf. Die, wegen der mich alle noch mehr verachteten. Ich ekelte mich vor mir selbst. Und ich hasste diese Stimme, diese - wunderschöne, glockenhafte Stimme. 

Und doch ist es die Stimme, die mir das Leben rettete.

"Hallo, Ariella.



“ Ich war gerade dabei vor meinem Spind meine Bücher für den nächsten Kurs zu wechseln, doch wurde anscheinend wieder einmal gestört. Diese Stimme war mir nur zu bekannt.
Ich wandte meinen Kopf zur Seite und schaute den Beschwörer dieser Worte an. Antoine Dupont. Wer hätte es auch sonst sein sollen? Da lehnte er vor mir an seinem Spind.


„Hallo, Antoine! Wie waren deine Ferien?“, rief ich freudestrahlend aus und sprang ihm um den Hals. „Wow, Vorsicht! Ich hätte nicht gedacht, dass du so forsch bist. Wir können's ja direkt hier auf dem Flur treiben!?“ Schnell drückte ich ihn von mir weg und zwickte ihn in die Seite.

„Aua! Das tat weh!“, jammerte er gespielt getroffen. Ich musste schmunzeln. Obwohl er was von mir wollte, nahm er es mir nicht übel, dass ich ihn abblitzen ließ. Und trotzdem wurden wir die besten Freunde! Die meisten behaupten ja, dass das nicht gut ginge, es würden sich Gefühle entwickeln, doch ich glaubte nicht daran. Man konnte auch so befreundet sein. Außerdem hatten Antoine und ich diese Epoche unserer Freundschaft schon hinter uns. Er sah auch nicht schlecht aus. Hatte langes, wirres, etwas welliges, kastanienbraunes Haar, das süß von seinem Kopf Abstand und gelegentlich auf und ab baumelte und ein unauffälliges Lippen-Piercing auf der rechten Seite. Tja, aber nicht mein Typ.


„Vergiss das Training heute nicht, dieses Mal fängt es gleich nach der Schule an.“ Gut, dass er mich daran erinnerte. Das hätte ich schon fast vergessen. Meine größte Leidenschaft, seit Antoine es mir gezeigt hatte. Ich wagte nicht einmal dran denken, was mein Vater dazu sagen würde. Ich wusste nicht wirklich, was er von Katanas hielt, obwohl er sich mit mir regelmäßig raufte.

Lange Geschichte.

„Wir treffen uns dann am Parkplatz?“, fragte ich.

„Oui, madame. C’est une idée geniale!“ Und damit war er auch schon weg und ich hatte Philosophie.


Im Klassenzimmer kamen auch schon Bliss und Tamsin an, Tamsin sah wegen irgendeinem Grund wütend aus, und Bliss war ganz bestimmt nicht freiwillig dabei. Ich hatte das Gefühl, dass das Mädchen aus einem mir unempfindlichen Grund Angst vor mir hatte ...
Tamsin kannte ich schon von klein auf, damals waren wir gemeinsam als Kinder zum Tae Kwon Do Training gegangen. Sie war die Art Mädchen, die sich nichts sagen ließ und alles tun würde, um ihre beste, und vollbusige, Freundin neben sich zu verteidigen. Bliss hatte es nicht immer leicht auf dieser Schule wegen ihrem tollen roten, langen Haaren gehabt. Es gab viele die eifersüchtig waren. Bliss war, soviel ich wusste, ein ruhiges nettes und schlankes Mädchen. Tamsin, mit ihrem kurzen dunkelbraunen Haar eher wie ein Junge, direkt, offen und sportlich gebaut.

„Ariell! Was war denn in der letzten Woche los, du warst gar nicht beim Training?“ Ariell. Ich mochte es nicht so genannt zu werden und das wusste sie genau, sie mochte es nur, mich auf die Palme zu bringen und irgendeine Reaktion von mir zu bekommen. Ich meine Ariella war schon krank genug. Zu meinem Bedauern hatte ich aber eben meinen Vater als Vater ...
Bei ihrer Frage verdunkelte sich meine Miene mehr, als sie ohnehin schon war. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und mühsam hielt ich die Tränen zurück, die ich mir untersagte zu vergießen. Seit ihrem Tod ... "Ich ... hab' mich nicht danach gefühlt", flüsterte ich kaum hörbar.

„Oh“, machte Tamsin. „Ich verstehe. Entschuldige.“ Sie verstand und zog ihre Freundin mit sich. Sie war einer der wenigen, die mich ein wenig kannte, auch wenn ich nicht viel mit ihr zu tun hatte. Bliss schaute etwas verwirrt und unbequem drein, drehte sich noch einmal zu mir und sagte in ihrer zurückhaltenden weiblichen Stimme: „Tschüss, Ariella-Chan...“

„Ciao.“


Die meisten hatten sich angewöhnt mich Ariella-Chan zu nennen, nur weil ich eine halbe Asiatin war. Eigentlich hatte ich nichts gegen die asiatischen Höflichkeitsformen, manchmal konnte mich die Verniedlichung meines Namen aber sehr stören.


Die Stunde hatte sich in die Ewigkeit gezogen. Philosophie war nie eines meiner Lieblingsfächer gewesen, was mir nur noch mehr Kopfschmerzen bereitete. Als ich nach dem Klingeln aus der Klasse rausstolzierte, hörte ich nur noch, wie Tamsin aus dem Kurs nebenan hinter Bliss her rief.

"Hey, Bliss! Wohin läufst du denn so eilig?!" 

Besagte kam aus der Klasse gestürmt, hatte ihren Kopf über die Schulter gedreht und rief: "Ich wollte noch einkaufen gehen! Sonst schaffe ich es nicht etwas Ordentliches für uns für heute Abend zuzubereiten!"

Ich hatte vor meinem inneren Auge Tamsin, wie sie eine gequälte Grimasse zog. Bliss' Kochkünste waren... etwas für sich. "Du wirst dich freuen, Tamsin! Es gibt Fleischklößchen mit Mayo und Gummibärchen!" Jetzt war es an mir eine Miene zu ziehen. "Yum!"

Im nächsten Augenblick, lief auch schon etwas voll in mich rein und fiel zu Boden, wobei Bücher aus dessen Händen zu Boden glitten. Irritiert blickte ich runter, wo Bliss versuchte sich aufzurappeln. Ich kniete mich hin und hob ihre Bücher auf.

"Oh mein Gott, das tut mir so leid! Ich-" Als sie ebenfalls aufblickte und mich sah, änderten sich ihre Gesichtszüge, ihre Augen weiteten sich. "Ariella-... Chan... Es- es tut mir leid!"

"Was ist denn hier passiert?", fragte Tamsin, die uns dort bemerkte, als sie ebenfalls aus der Klasse trat.

"Kann ich dir helfen?", fragte ich Bliss, welche wiederum hastig und fast schon panisch den Kopf schüttelte.

"Nein, nein. Das kommt nicht wieder vor! Ich muss auch schon los, tschüss Ariella-Chan, Tamsin-Chan!" Damit drehte sie sich um und machte sich schnellen Schrittes davon.

"Sie und ihre Obsession mit diesem japanischen Zeugs...", murmelte Tamsin neben mir.

"Warum reagiert die denn immer so, wenn ich mit ihr rede?", fragte ich aufrichtig verwirrt.

Tamsin drehte sich grinsend zu mir. "Wenn du nicht immer so verbittert und böse gucken würdest, hätte sie auch keine Angst vor dir", stellte sie klar. "Ich nehme besser ihre Bücher mit. Die kann ich ihr dann heute Abend vorbeibringen. Ciao, Ariell!"


Kopfschüttelnd verließ ich das Schulgebäude, da sah ich auch schon Antoine auf mich warten. Er stand da, lächelte mich erleuchtet an und ein freudiges Funkeln schlich sich in seine Iriden. Sein langes Haar wurde vom Wind so zerzaust, dass es ihm herrlich ins Gesicht fiel. Unwillkürlich musste ich kichern. Etwas Besseres hätte nicht passieren können, als er vor zwei Jahren hierher zog. Wie Glück ich doch hatte mit so einem treuen Freund.

EINEM Freund.

„Hab ich ein Popel irgendwo hängen, oder warum kicherst du?“ Belustigung wich in sein Gesicht.

„Ich war grad' nur in Gedanken“, grinste ich ihm verschmitzt entgegen. Jetzt war er erstmal verdattert. Und im nächsten Moment hob er warnend seinen Finger. Nein! „Wehe! Tu das nicht Freundchen!“ An den Seiten war ich immer so empfindlich!

„Was gab es so zu kichern?!“

Ich druckste herum. „Sagte ich doch schon … Schau mal da! Ein fliegender Emo-Elefant!“

„Darauf fall ich nicht rein, auch wenn es noch so kreativ klang …“ Er grinste rotzfrech. „Du sagst es mir jetzt.“

„Nein.“

„Doch.“

„Nein.“ 

„Bei drei… Eins…“ Das durfte doch nicht sein! Hilfe! Hiilfe… Niemand da? Mist.

„Gib mir Zeit!“

„Zwei.“

„Du bist immer so bestimmend!“

„Drei!“ Er stürzte sich auf mich und kitzelte mich. So richtig. Ich quiekte laut auf und wich zurück, doch konnte vor seinen Pranken nicht fliehen. „Du hast keine Chance!“, lachte er.

Ich kriegte mich nicht mehr ein vor lauter kichern. „Erbarmen!“, keuchte ich unter aufkommenden Lachern hervor. Dann sackten mir auch schon die Beine weg und ich landete mit den Knien auf dem Boden und krümmte mich prustend.

Doch es stimmte irgendetwas nicht. Er hatte aufgehört, was sehr untypisch für unseren Antoine war! Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und schaute ihn an. Sein Gesicht war plötzlich so nah an meinem gewesen, dass mir vor Überraschung fast meine Tasche aus der Hand gefallen wäre. Er strich mir mit einer Hand über die Wange und steckte eine Strähne von mir hinters Ohr.

"Ich werde dich vor allem beschützen", flüsterte er plötzlich ganz ernst. Merkwürdig ...

Und dann … grinste er wieder schelmisch, woraufhin ich noch misstrauischer wurde. Seine Hände wanderten an meinen Seiten zärtlich bis zur Taille, so, dass es leicht kribbelte, und verharrten dort. Als sie weiter bis zu meinem Bauchnabel fuhren, machte es bei mir das nötige „Klick“ und ich wusste was er vorhatte. Schnell versuchte ich mich aus dem Staub zu machen, wollte aufstehen, doch es war zu spät. Er packte mich und warf mich über seine Schulter. Mein Hintern war mal wieder ein wunderbarer Blickfang für alle Augen. Ja, schaut nur! Ihr Spanner!

„Lass mich runter, verdammt!“ Als mich lautes Fluchen und Gefuchtel mit Armen und Beinen nicht gerade weiter brachte, gab ich mich geschlagen. „Ich hab daran gedacht was für ein Idiot du doch bist, Antoine Dupont!“

Wieder zwickte er mich in die Seite sodass ich zum zweiten Mal laut aufquiekte. Es sahen auch schon viele Schüler der Szenerie zu, was mir gewaltig durch den Strich ging. „Ich glaube dir das aber nicht“, hauchte er. Ich konnte den Schalk aus seiner Stimme hören. Ich seufzte. Gegen ihn nützte es nicht sich aufzulehnen.

„Ich hab mir gedacht wie glücklich ich mich doch schätzen kann, dass ich einen so wundervollen Freund wie dich habe … Sturkopf!“ Und das meinte ich ernst, es war die volle Wahrheit.

Er setzte mich ab und nahm mich in den Arm. Sagte jedoch nichts. Es musste ihn wohl gerührt haben. Denn ich vermied sonst immer so etwas zu sagen, ich wollte nur ungern unsere Freundschaft aufs Spiel setzen weil er sich falsche Hoffnungen machte.

Zusammen gingen wir anschließend zu seinem Auto. Er holte die Schlüssel aus der Hosentasche und war gerade dabei die Türen aufzuschließen, als uns ein scharfes quietschendes Geräusch zusammenfahren ließ. Was zur Hölle?! Ich wusste nicht was das sollte, blickte herum und erstarrte. Die Gänsehaut schoss mir durch Mark und Bein. Zu keiner Bewegung im Stande gefror ich zum Eisblock und starrte das Auto an, das auf uns zugeschleudert kam. Immer näher.

*Hey!* Ich vernahm eine leise Stimme, wusste aber im nächsten Moment nicht ob ich es wirklich gehört hatte und dachte ich hätte es mir nur eingebildet. Dem sollte aber nicht so sein.

*Beweg dich, sonst wirst du sterben!* Nein, ich konnte nicht. Am liebsten hätte ich fassungslos meinen Kopf geschüttelt, war aber noch nicht mal in der Lage auch nur zu blinzeln. Nur einen dicken, fetten Kloß spürte ich im Hals und das Brennen meiner vor Schrecken aufgerissenen Augen.

Wie? Was sollte ich denn tun?

*Spring links zur Seite!* Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ein bekanntes Kribbeln ging auf einmal durch Mark und Bein. Kurz verstand ich nicht, weshalb es gerade jetzt passierte, doch plötzlich erwachten meine Glieder aus ihrer Starre. Das Glück schien jedoch nicht auf meiner Seite. Noch einmal schleuderte das Ende des Wagens auf mich zu.

*Schmeiß dich auf den Boden, roll unter das rote Auto!* Noch im letzten Moment schmiss ich mich zu Boden und konnte mich unter Antoines Auto schieben. Um ein Haar hätte es mich erwischt.

Zum zweiten Mal innerhalb fünf Sekunden hatte ich dem Tod ins Auge gesehen. Es knallte laut über mir und ich wusste in diesem Moment, dass das rote Auto die volle Wucht zu spüren bekam und nicht ich zwischen ihnen zerquetscht worden war.

Dann vernahm ich nichts mehr. Alle Stimmen wurden in den Hintergrund gestellt und ich konnte nur noch den zerfetzten, blutüberströmten, leblosen Körper meines Freundes anstarren, der vor mir lag. Es zerbrach etwas in mir in diesem Moment dass meine Kehle zuschnüren ließ.

„Antoine“, doch meine Stimme brach, war es ohnehin schon ein Flüstern gewesen. Mir traten schwer die Tränen in die Augen und mir entwich ein Keuchen. Ich fühlte mich wie Tot, war es aber nicht. Meine Tränen rinnen mir kalt die Wangen herab, doch ich spürte sie nicht.

Ich selber war blutbespritzt. Gefangen, in diesem Albtraum.

 

 

 

Zwei Monate später...



Das Auto war schwarz gewesen, schwarz wie das Böse, schwarz wie die Nacht, wie die Nacht, in der die Überfälle und Verbrechen geschehen. Sie verschluckt dich, unwiderruflich, und nur schwer kannst du ihr entkommen.
Alle waren außer sich gewesen. Denn so etwas passierte nicht oft in unserer Kleinstadt Nilopolis

Sie hatten es mitangesehen. Waren dabei gewesen, doch nicht im Geschehen mittendrin. Sie hatten Mitleid mit mir und sorgten sich, sehr, um meinen Zustand. Besonders als mich einpaar helfende Hände unter dem Auto von Antoi- nein, nicht an den Namen denken- hervorgezogen hatten und mein aufgelöstes, emotionsloses Gesicht sahen. Da lag ich, wie ein Häufchen Elend, zu einer Kugel zusammengerollt und konnte nichts mehr verinnerlichen oder aufnehmen. Die Stimmen hörten sich gedämpft an, als alle nach Antoine und mir riefen. Und es zerrten die Schreie am Gehörgang, als sie ihn neben mir vorfanden. Die bescheuerten Fragen ob es mir gut ging, musste ich nicht mal absichtlich ignorieren. Wie ging es wohl jemandem, der knapp dem Tod entfliehen konnte, dabei den leeren, grauen Augen des besten Freundes entgegen starrte und mit dessen Blut befleckt war? Mir geht es prächtig, danke der Nachfrage!

"Ariella-Chan!" (-chan => jap. für Verniedlichung.)

Ich hatte mitansehen müssen wie das Leben aus seinen Augen wich. Wie diese intensiv blauen Iriden, mit diesen schönen Sprenkeln, die mich immer so unglaublich warm angesehen hatten, auf einmal in die Leere blickten und die Farbe verblasste.

"Nee-San!" (jap. Schwester bzw. ältere Schwester) Ich wurde unangenehm aus meinen Gedanken gerissen und sah Faye vor mir mit den Armen fuchteln. Ein überaus komisches Bild meiner Zwillingsschwester und wenn ich könnte, würde ich sogar lächeln. Doch das hatte ich schon vor einer ganzen Weile aufgegeben. Es misslang mir kläglich und ging einfach nicht mehr. Seit zwei Monaten schon nicht mehr.
Die letzten Wochen hatte ich mich vollkommen zurückgezogen. Ich wollte und konnte nichts mehr von meiner Umwelt mitkriegen.

"Gib dir wenigstens etwas Mühe beim Konzentrieren. Mrs O'Chel hat gemeint, dass du unglaublich nachgelassen hast in der Schule. Und ich als deine Nee-Chan fühle mich schuldig dafür." Ich gab mir Mühe, ich versuchte es wirklich. Doch andauernd schweiften meine Gedanken zwei Monate in die Vergangenheit. Ich konnte nicht erklären warum, doch anscheinend war ich mit ihm gestorben. Ich seufzte und verstand die Logik in ihren Worten nicht. Sie hatte keine Schuld an dem, was geschehen war. Aber so war Faye nunmal.

"Hör auf dich schuldig zu fühlen, Faye. Es ist nicht deine Schuld. Und tut mir Leid, was wolltest du denn wissen?" Sie schüttelte den Kopf und legte das Biologie Buch zur Seite. Zu etwas anderem als die Stirn zu runzeln und sie anzustarren war ich nicht in der Lage. 

Faye blickte wieder zu mir auf, wir saßen auf ihrer Seite unseres Zimmers, welche in rosa und blumig gehalten war. Meine Seite war schwarz und die Wände mit Postern von Fußball-Stars tapeziert. Obwohl wir zweieiige Zwillinge waren, hatten wir rein gar nichts gemeinsam, bis auf die Liebe zueinander und den Sinn, zu fühlen wie sich die jeweils andere fühlte- meistens wenn es der anderen schlecht ging. Faye kümmerte sich um jeden liebevoll, weshalb es auch für die Leute in der Schule schwerfiel sie zu hassen. Jeder musste sie lieben und dies beruhigte mich. Sie war nicht stark genug mit sinnlosem Hass umzugehen.

Es reichte schon, dass unser Bruder und ich nicht gerade beliebt waren. Wer könnte sie schon nicht mögen? Sie war so hübsch mit ihrem langen welligen, blonden Haar, den blassen grünen Augen und der süßen Kirsch-Spange, welches ihr Pony in einem Seitenscheitel hielt. Sie war diejenige von uns, die gerne Röcke und Kleider anzog. Sie war so ... weiblich. Die Jungs beteten sie an.

Seit dem Tot unserer Mutter hatte sie in der Familie die Mutterrolle übernommen. Wahrscheinlich lag es zum Teil auch an meiner Erscheinung und meinem Auftreten, dass die Leute mich nicht recht mochten. Es war mir allerdings nur recht. Ich liebte normale Jeans, mit einigen Rissen und darüber einem schlichten T-Shirt. Mein Haar blieb immer glatt und schulterlang, mit einem Mittelscheitel. Schwarz-Blau. Ich färbte mein Haar nicht, ich verstand selbst die Farbe meiner Haare nicht. Niemand tat es. Und mittlerweile nervte es, jedem der fragte sagen zu müssen, dass es meine Natur-Haarfarbe war. Am meisten hasste ich meine Augen. Sie waren grau. So ... grau. Es war pure Leere in ihnen, kein Leben. Dies erinnerte mich zu sehr an die Szene auf dem Parkplatz ...

Faye und ich waren auf ihrem Bett und sie fing an in sanftem Ton mit mir zu sprechen. Dabei nahm sie meine Hand in ihre und drückte sie tröstend.
"Ariella-Chan, du wirst sehen, der Schmerz wird nachlassen, Zeit heilt die Wunden."

Ich nahm sie stumm in den Arm, denn ich wusste, dass auch sie litt. Nach einer Zeit, hörte ich wie sie leise schluchzte und drückte sie näher an mich. So war es zwischen uns. Ich weinte nie, doch sie weinte für mich mit. Ich blendete die Welt um mich herum mit meinem iPod aus, sie hielt die Augen für mich offen.

Ich dachte über ihre Worte nach.

'Zeit heilt die Wunden.'


Mein Blick fiel auf meinen rechten Arm, der um ihre Schultern geschlungen war, auf den großen roten Fleck, der dort seit dem Vorfall erschienen war und gelegentlich ganz merkwürdig kribbelte, jedoch keine Anstalten machte zu verblassen. Ich machte mir Sorgen, ob die Zeit wirklich meine Wunden heilen würde. Ob sich alles wirklich zum Besseren wenden würde. Ich hatte nicht nur meinen besten Freund verloren, sie hatte auch einen Bruder verloren ...

Nach einer Weile löste ich mich von ihr, nachdem ich bemerkt hatte, dass sie sich beruhigt hatte. Mit meinen Handflächen wischte ich ihre Wangen trocken, setzte ein Lächeln für sie auf. "Komm Faye! Lass uns das Abendessen vorbereiten und dann schauen wie es bei Dad in der Klinik läuft!"

Jetzt lächelte sich mich auch leicht an. "Nein, Ariella-Chan, DU gehst zu Papa und ICH mache das Essen." Das erste Mal seit langem lachte ich belustigt auf und stimmte ihr zu. Sie hatte nicht vergessen, dass ich das letzte Mal die Küche in Brand gesetzt hatte.

 

Die kühle Nachtbrise wirbelte um ihn herum und ließ seinen schwarzlilanen Mantel wild flattern, als er auf der Dachspitze der höchsten Kirche stand und nachdenklich über das Städtchen Nilopolis blickte. Er hatte ein ernsten Gesichtsausdruck, seine himmelblauen Augen schienen kälter denn je.

"Ich spüre eine starke spirituelle Energie..."

Der Mondschein brach sich in seinem weiß-silbrigen Haar und ließ es in einem zarten lila schimmern. Er hätte nicht gedacht, dass er in einer so unbedeutenden Kleinstadt überhaupt auf eine spirituelle Energie treffen würde, anders als die verlorenen Seelen, die herumwanderten und seelenfressende Sindaren anzogen. Als er dieser Stadt zugewiesen wurde, mit seinem hohen Status, war er unglaublich verärgert. Seinen Verwandten in Herenya hatten die Neuigkeiten gar nicht gefallen. Aber als in der Zentrale dann gemeldet wurde, dass nun auch stärkere Sindaren anfingen aufzutauchen und immer mehr Seelen verschlingen ... Hatte man gemerkt, dass Nilopolis einen leeren Posten hatte, wieso auch immer.
Doch jetzt, dachte er, würde es vielleicht doch interessant werden.

Er schloss die Augen und fing an zu spüren.
Dann öffnete er sie wieder und blickte gelangweilt drein. Vielleicht würde es doch nicht so interessant werden ... Er sollte abwarten, abwarten und zu dem Unterschlupf gehen, um das er sich schon einen Monat vorher gekümmert hatte.

Doch vorher musste er noch zum Nakahara Shoten.



Das Seraphin Hospital wurde geführt von meinem überaus bescheuerten Vater, Kayne Seraphin. Das Praktische war, dass es gleich neben unserem Haus stand und ich nur durch eine bestimmte Tür im Wohnzimmer, auf der dick und fett 'Seraphin Hospital' stand, zu gehen brauchte, um dort zu sein.


Als ich nun also in der Klinik stand und mich umsah, ob er zufälligerweise hier war, sah ich wie plötzlich ein Fuß von meiner rechten Seite auf meinen Kopf zugesaust kam, woraufhin ich mich noch in letzter Sekunde bückte und diesem Idioten eine linke Kinnharke versetzte und derjenige auf die Knie fiel. Ich seufzte schwermütig auf und strich mein Haar wieder glatt.
"Dad, du BAKA. (jap. Idiot) Warum greifst du mich im Hospital an? Es gucken schon alle komisch! Meinst du wirklich, die werden dir später noch abkaufen, du würdest ihnen helfen können? Ich frage mich manchmal ernsthaft, wie du Arzt werden konntest...", sagte ich genervt und blickte auf meinen Vater herab. Er sah mich nur mit großen Augen an. Dann weiteten sich meine Augen.
Na fabelhaft, jetzt würde das wieder losgehen...

"OOH, Mirima, meine bezaubernde Mirima! Schau nur wie erwachsen deine Tochter, Ariella-Chan, geworden ist! Du wärst so stolz!!", rief er aus und klammerte sich an meine Beine. Ich massierte mit Zeigefinger und Daumen meinen Nasenrücken und redete mir ein ruhig zu bleiben.

Musste er sich denn immer so kindisch verhalten?

Warum konnte ich keine normale Familie haben?

"Hey, Alter Mann, beeil dich mal, deine Patienten warten."
Als ich die Stimme hörte, blickte ich ruckartig auf und sah meinen Bruder dankend an. Er war nur ein Jahr älter als Faye und ich und half hier ab und zu aus. Mit kleineren Sachen, wie das Zunähen einer Platzwunde, was ich mittlerweile auch konnte. Er schenkte mir ein schiefes Grinsen und sah unseren Vater dann mit gerunzelter Stirn an. Am ähnlichsten sahen sich in der Familie wohl diese beiden. Denn er hatte, genau wie Dad, schwarzes Haar. Nichts blond. Nichts blau.
Auf die Persönlichkeit bezogen, waren wohl mein Bruder und ich uns am ähnlichsten. Wir hatten denselben Humor, dieselbe Ausstrahlung, und meistens denselben Gesichtsausdruck.

Als sich Dad nicht von der Stelle rührte und weiterhin trockene Tränen an meinen Beinen weinte, wurde er wütend und ungeduldig, weshalb er herstapfte, Dad am Kittelkragen packte und ihn mich ganzer Kraft in Richtung Behandlungszimmer riss. Dann machte er noch schnell die Tür zu, doch man konnte trotzdem hören, wie Dad weinerlich rief: "Mirima! Schau nur was für ein Bengel unser Sohn, Chase-Chan, ist! Womit habe ich das nur verdient?!"

"Nenn mich nicht Chase-CHAN, Alter Mann!! Wie oft muss ich das noch sagen?!" Mein Bruder drehte sich mit zusammengezogen Augenbrauen zu mir und stieß seine angesammelte Luft aus. "Manchmal frage ich mich, wieso ich mir das eigentlich antue", sagte er grummelnd. Genau das hatte Faye von Dad übernommen. Er hatte sich immer viel Mühe gegeben uns so viel japanisch beizubringen wie nur möglich, im Gedenken an unsere Mutter, welche Japanerin war. Eine Japanerin mit blondem Haar und ein Fernsehstar. Faye lag unheimlich viel an diesen Ausdrucksformen, wogegen sie mich und meinen Bruder nur auf die Palme brachten.

Ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust. "Du liebst uns eben zu sehr." Dann löste ich meine Arme wieder und sagte mit einer sanften Stimme: "Danke, Chase. Ich hätte eines seiner Shows jetzt echt nicht vertragen. Ich bin in deiner Schuld."

Chase grinste mich schelmisch an. "Ach was, ich bin schon längst an diesen Baka gewöhnt. Du schuldest mir nichts."

Ich nickte nur. Ich wollte nicht mehr sagen, denn für meine Verhältnisse, hatte ich in der letzten Stunde mehr gesagt, als die letzten zwei Monate. Ich hatte gemerkt, wie dies auch meine Familie einigermaßen von ihrer Sorge um mich befreite. Ich wusste auch, dass sie das alles für mich taten. Mein Vater hatte mich bis heute die letzten zwei Monate eher in Ruhe gelassen. Ich liebte sie alle sehr, egal wie nervig und unnormal meine Familie ab und zu mal sein konnte. "Ich geh ein wenig frische Luft schnappen. Sag Dad, dass es in einer Stunde Abendessen gibt. Dann ist sowieso Feierabend."
Auch er nickte jetzt mit einer festeren Miene. "Danke, aber Ariella..."
Ich drehte mich nochmal zu ihm um und sah ihn fragend an. "... Pass auf dich auf. Bleib in der Nähe. Ich finde es nicht gut, dass du so spät noch rausgehst."

Mit einer abwehrenden Handbewegung ließ ich ihn verstummen. "Ich bin schon ein großes Mädchen, Bruderherz. Ich habe nicht ohne Grund den Schwarzgurt in Tae Kwon Do."

 



'Nimm das!', dachte ich, als ich mit voller Wucht gegen meinen Fußball trat, welcher dann auf die Mauer am großen Hügel gleich neben dem Spielplatz, welcher einpaar Blocks vom Seraphin Hospital entfernt war, zuraste und dann abprallte.


Dampf ablassen.


Meine Kopfhörer waren wieder mal eingesteckt, die Welt um mich herum ausgeblendet.
Ich stand geduckt, fast schon in Kampfstellung. Dann stellte ich mich wieder normal hin. Als ich meinen Ball wieder holen wollte, erblickte ich zwei Figuren, die auf einer Bank im Spielplatz saßen. Die eine schien die andere, welche weinte, zu trösten.
Ich erkannte sofort an ihrer transparenten Haut, was sie waren und ging auf sie zu.

Unmittelbar vor ihnen blieb ich stehen. Der eine war ein Junge, wahrscheinlich in meinem Alter, das andere ein kleines Mädchen, welches wie acht aussah.

Und dann traf es mich.

"Ranen...", murmelte ich fassungslos vor mich hin und zog die Kopfhörer aus meinen Ohren. Der Junge sah sofort auf und blickte mich misstrauisch an.
"Du kannst uns sehen?", fragte er, doch ich ging gar nicht auf seine Frage ein. Die Kleine, von der ich wusste, dass es seine Schwester war, schaute nun auch neugierig auf. Ich nickte ihr mit einer ernsten Miene zu. "Zazu", grüßte ich.
Dann wandte ich mich an den Jungen. "Hai, kann ich. Es ist meine Gabe. Doch manchmal kann diese Gabe zum Fluch werden."

[A/N: "Hai" ist japanisch und bedeutet so viel wie "ja"...]



"Woher kennst du unsere Namen?", fragte nun das Mädchen mit den zwei braunen Zöpfchen und ihrer zarten kinderlichen Stimme.
Sofort versteifte ich mich. "Es... stand in den Zeitungen", sagte ich unsicher und sah dann zu Boden. Es war keine Woche her, dass die zwei hebräischen Geschwister durch einen Brand im Schlaf verbrannt und gestorben waren.

Dann sah ich vom Augenwinkel den fragenden Blick des Jungen und wusste genau, welche Frage ihm auf der Zunge lag. Ich schloss die Augen und sagte bestimmt: "Frag gar nicht erst, ich weiß selber nicht, weshalb ich Geister sehen kann... Sagt mir lieber was passiert ist, das die Süße hier zum weinen gebracht hat."

Ranen sah seine Schwester an, welche ihm zunickte und dann mich wieder ansah. "Da sind ein paar Typen auf dem Friedhof und machen unglaublichen Lärm. Das ist ja nicht so schlimm, aber sie haben dabei Zazus Grab verunstaltet."

Jetzt fingen der Kleinen wieder an Tränen in die Augen zu springen. "Die ganzen schönen Blumen sind alle kaputt!", schluchzte sie.

Und ich war sauer.

"Ich erledige das." Mit diesen Worten machte ich mich auf den Weg zum Friedhof.

Die Zwei sahen sich erstaunt an und sprangen schnell auf, um mir zu folgen.

 



"Was soll das, ihr hirnamputierten Hornochsen!?!"

Die Gruppe junger Männer drehte sich mit finsteren Blicken in meine Richtung, als ich näher auf sie zuging.

"Wer bist du denn, du kleine Göre, was fällt dir ein?!"
"Wer bist du überhaupt!?"

"Hey, wartet, das'is.. doch dieses Mädchen, dessen Freund vor einiger Zeit verreckt is, oder?"

Ich untersagte es mir zu knurren. Diese Arschlöcher. Sie wussten ja gar nicht auf was sie sich einließen...

Ich stand mitten auf einem Friedhof, allein. Mit diesen ekelhaften Typen. Andere Mädchen würden jetzt Angst kriegen, doch ich kochte.

Ich war WÜTEND.

"Lass es lieber, sie werden dir wehtun! Bitte!", hörte ich das kleine Mädchen hinter mir rufen. Sie stand mit ihrem Bruder, der sie zurückhielt in den Schatten der Bäume.
"Keine Sorge, es passiert schon nichts, ich packe das!", rief ich aus. Die Typen sahen mich ganz merkwürdig an und verzogen ihre fratzenartigen Gesichter. "Mit wem labert die denn?", fragte einer dümmlich.
Ich beobachtete sie achtsam, bis jemand grob sagte: "Ach, ist doch scheiß egal, ich mach die Kleine jetzt fertig!!", und aus der Gruppe trat. Ich erkannte sofort, dass er der "Anführer" dieser Gang sein musste.
Gerade, als er seine Faust zurückzog, in der Absicht weit auszuholen, drehte ich mich, holte mein rechtes Bein aus und trat rückwärts seinen Kopf gewaltsam zur Seite. Es riss ihn von den Füßen, daraufhin er sofort ohnmächtig zu Boden fiel.
Ich stand wieder aufrecht und blickte den Horst auf dem Boden finster an.

Doch plötzlich... fing der rote Fleck wieder ganz komisch an zu kribbeln.

Das verhieß nichts Gutes.

Besorgt biss ich die Zähne zusammen, irgendwie musste ich diese Idioten hier wegschaffen, bevor sie ernsthaft verletzt wurden.

"Oh mein Gott, habt ihr gesehen, was die mit Mo gemacht hat?", fragte einer der vier Übrigen ängstlich.

"Ja, und ganz ohne Grund!", sagte ein anderer.

Noch finsterer blickte ich auf und sah die Vollpfosten blitzend an. "Ihr BAKAS. Seht ihr wo ihr steht!?"

Die Bande sah irritiert zu Boden und dann wieder zu mir. "Wisst ihr, wem dieses Grab gehört, das ihr so belanglos zerstört habt!?"

Panisch rückten die vier zusammen und meinten: "Öhm... diesem Mädchen, das vor paar Tagen... verreckt ist?" Ihr absurder Wortschatz war mir ekelerregend.

"GENAU! UND WENN IHR SOWAS NOCHMAL MACHT, DANN MACHE ICH SICHER, DASS DIE NÄCHSTEN VIER GRÄBEN FÜR EUCH SIND!! Jetzt nimmt euren Capt und verschwindet

mir aus den Augen!!!"

Sie kreischten wie kleine verängstigte Mädchen auf, liefen zu ihrem Boss, hoben ihn auf und waren in Null Komma Nichts verschwunden. Ich seufzte und fuhr mit einer Hand durch mein Haar.

"Danke", hörte ich Ranen hinter mir sagen. Ich drehte mich zu ihm um, er hatte eine Hand auf der Schulter seiner kleinen Schwester.
"Kein Problem. So schnell lassen die sich hier nicht mehr blicken." Dann blickte ich zu Zazu herab. "Morgen werde ich dir wieder frische Blumen bringen", versicherte ich ihr und lächelte sie aufmunternd an.
Ich streckte meine Hand aus und tätschelte sie auf den Kopf.

Es war merkwürdig. Ich konnte Geister sehen und anfassen. Seit längerem hielt ich schon Ausschau nach Antoine. Aber es war, als sei er vom Erdboden verschluckt...

Im nächsten Augenblick drang ein lautes, unmenschliches Schreien aus dem Wald. Ich hörte Bäume umknicken und tosend zu Boden krachen. 'Verdammt!', dachte ich mir.

Zazu klammerte sich ängstlich an ihrem Bruder. "Wa-Was ist das, Ranen?"

Im nächsten Augenblick lief ich auch schon drauf zu. "Hey, bist du verrückt, das ist doch Selbstmord!", rief der Junge mir nach. Ich behielt meinen emotionslosen Gesichtsausdruck auf und kam zum stocken, als ich vor mir eine ekelerregende Kreatur sah. Es hatte die Größe eines PKW, der Körper war ungewöhnlich proportioniert und haarig. Beine hatte es keine, doch die Arme eines Krebs. Es war schwarz, das Gesicht verdeckt von einer weißen verunstalteten, dreckigen Maske.
Das Ding schwebte mitten in der Luft.

Automatisch griff meine rechte Hand hinter mich, über meiner Schulter, nach dem Haltegriff. Als sie nichts fand, biss ich erneut nervös die Kiefer aufeinander.

'Dann muss ich heute wohl wieder mit meinem Fußball auskommen', dachte ich bitter und ließ den Ball in meiner Linken auf den Boden fallen, nur um es dann mit einem Fuß zu stoppen. Ich sah auf, und wartete, bis mich dieses Vieh entdeckte.


"Ich rieche zwei Seelen...", knurrte es mit einer tiefen Stimme. Ich verzog das Gesicht in eine angeekelte Miene.

"Du wirst den beiden nichts tun, das werde ich nicht zulassen!!", brüllte ich gereizt und selbstbewusst. Ich merkte wie das Kribbeln des roten Flecks am Arm stärker war, als zuvor, sah dann, wie das Ding mich mit einem seiner Arme angriff. Schnell dribbelte ich mit dem Ball der Attacke aus, holte mein Schussbein weit aus und trat feste zu. Der Fußball schoss wie eine Rackete mit Licht los, genau auf das dämliche maskenartige Gesicht der Kreatur.

Die Maske zerbrach und alles, was man noch hören konnte, war das gequälte aufkreischen des Monsters, bevor es sich auflöste.
Mein Ball fiel wieder zu Boden und rollte mir vor die Füße.

 

 

 

"Das war's mit dem Biest

 

  

", sagte ich und drehte mich zu den beiden Geschwistern um. Für einen Moment hätte ich schwören können, etwas hinter einem der Bäume hinter den Beiden gesehen zu haben, doch vertrieb es anschließend aus meinen Gedanken. Es war bestimmt nur wieder ein anderer Geist.

Ranen hatte seine Augen geweitet. An der Bewegung seines Adamsapfels sah ich, dass er schluckte. Seine kleine Schwester Zazu hatte sich an seinen Pullover geklammert. 

 

"Du lebst noch", stellte Ranen fest und hob skeptisch seine rechte Augenbraue. Das nannte ich mal Vertrauen in mich haben!

"Gern geschehen", antwortete ich ihm sarkastisch und hob meinen Fußball auf, welchen ich mir unter den linken Arm klemmte. 

Zazu boxte ihren Bruder in die Seite und lächelte mich an. "Vielen Dank, das Ding hatte uns schon die ganze Zeit verfolgt."

Ich runzelte die Stirn. "Verfolgt? Warum denn das?" Ich wusste, dass sie hin und wieder auftauchten, was auch immer diese Monster waren, und Unruhe stifteten, sogar Menschen angriffen. 

Ranen ergriff wieder das Wort: "Wir haben vor einigen Tagen gesehen, wie es einen anderen … unserer Art … angegriffen hat. Sah aus, als würde es ihn aufessen wollen. Doch dann ist so ein blonder Typ mit einem merkwürdigen Hut aufgetaucht, woraufhin das Ding verschwunden ist und der Junge ist mit dem Mann mitgegangen." Ich sah ihn vollends verwirrt an. Ein Junge? Ein Kerl mit merkwürdigem Hut? Na wenn das nicht absolut Sinn machte … 

 

Ich schenkte beiden ein Lächeln. "Wenn das so ist, dann solltet ihr in Zukunft besser aufpassen. Solche Zufälle wie das letzte Mal und Heute passieren nicht häufig genug, um euch zu retten.“

 

Sie nickten beide. Ich hoffte für sie, dass so bald kein neues dieser Monster auftauchen würde.

Obwohl ich gemerkt hatte, dass seit zwei Monaten mehr, und das stärker, auftauchten, als zuvor.  Aber das sagte ich den beiden nicht, als ich davonging. Sie hatten im Moment mit genug zu tun ...

 

 

„Ich bin wieder zu Hause.“ Ich warf die Tür mit dem Fuß hinter mir zu. Während sich mein Vater und Chase wieder mal lautstark stritten, bekam ich am Rande die Begrüßung von Faye mit, die munter den Tisch deckte.

„Ah, Nee-San, du bist auch endlich da. Wie wunderbar! Du hast übrigens wieder einen Geist angelockt.“

„Es sind zwei!“, rief Chase aus, während er Dad in die Mangel nahm. So hatte er Zeit aufzublicken. „Hey, sind das nicht diese zwei Geschwister ... ?“

Was? Zwei Geschwister? Sag mir nicht, dass ...

„Das ist so schön, ich wünschte ich könnte auch Geister sehen wie ihr. Aber leider spüre ich sie nur ...“, seufzte Faye, am liebsten hätte ich ihr widersprochen, doch ich war mit was anderem beschäftigt. Außerdem konnte ich sie bis vor Kurzem selber nicht sehen. Warum hätte es nicht so bleiben können? Anklagend sah ich Ranen und Zazu an, die mich entschuldigend anblickten. Sie mussten mir gefolgt sein. Wahrscheinlich hatten sie die Bedrohung gespürt und wollten nicht auf sich gestellt sein. Nachvollziehbar. Aber am liebsten wollte ich mit diesen Dingen gar nichts zu tun haben.

Anders als sonst motzte und verjagte ich die Geister nicht, die mir gefolgt waren. Diese beiden waren zwei der weniger nervigen Sorte. „Geht ihr beiden hoch in mein Zimmer, die erste Tür auf der linken Seite. Und baut keinen Mist“, sagte ich, woraufhin Zazu’s Augen anfingen glücklich zu funkeln.

Am Küchentisch sah mich meine Familie hingegen an, als sei ich etwas Absonderliches. Ich hob eine Augenbraue und fragte trocken: „Was?“

Genauso trocken antwortete Chase mir zurück. „Du hast gerade zwei Geister auf dein Zimmer eingeladen.“

Ach, das war’s. 

Ich stieß einen langen Seufzer aus, griff nach meiner Gabel und setzte an zu antworten, bevor ich mir eines der Nigiri in den Mund schob, die Faye zubereitet hatte. Die warme Küche empfing einen wundervoll mit dem Geruch von Sushi und Garnelen. „Fragt erst gar nicht ...“

 

 

 

 "Nakahara-San (1), hast Du in letzter Zeit eine spirituelle Energie bemerkt?" Auch wenn er das letzte Mal nicht auf anhieb etwas gespürt hatte, brauchte das nicht heißen, dass dort nichts war. Jemanden wie ihn würde man nicht ohne Grund hierher schicken. Und ohne Grund würden die stärkeren Sindaren nicht speziell in dieses Städtchen angezogen werden. 

Nakahara-San lachte nur ungeniert auf und klopfte ihm mehrmals feste auf den Rücken. Er musste sich ein Stirnrunzeln entsagen. Man hatte ihm schon geschildert, dass der Leiter des Nakahara-Shotens eigentümlich sei, aber das hier hatte er sich nicht darunter vorgestellt.

"Hohoi!", lachte er. "Camael, so formal wie eh und je. Du nimmst es mit den Höflichkeits-Suffixen zu ernst. Du bist nicht mal Asiate. Aber das ist nicht anders zu erwarten von jemandem aus Herenya!" Spätestens jetzt wurde sein Stirnrunzeln bemerkbar. Man hatte es ihm nicht anders in Henerya beigebracht. Es war wichtig in Angelegenheiten wie diesen fokussiert und ernst zu bleiben. Er wusste nicht, wie sie es Nakahara-San in Umea beigebracht hatten ... 

Camael antwortete mit zusammengezogenen Augebrauen und geduldiger Stimme: "Das ist selbstverständlich, Nakahara-San. Du gehörtest einst der Sophia 12-"

"Genug", unterbrach ihn der Mann vor ihm, der in einem Schneidersitz saß. In seinem Ton schwang plötzlich etwas Bestimmendes und Abschließendes mit. Camael wurde bewusst, dass der Mann vor ihm unwillig war über seine Vergangenheit zu reden, also beließ er es dabei. Sie waren vom Thema abgekommen.

"Ich habe in der Tat eine bestimmte Energie gespürt", sagte der Mann ernster und mit finsterer Miene, der nicht älter aussah als wie einer in seinen mitte 30ern. Doch Camael wusste es besser. Er selbst zeigte sein Alter weniger als alle anderen in seinem Status. Auch Camaels Gesichtzüge verhärteten sich und sofort konzentrierte er sich wieder auf das Gespräch. 

Doch wieder lachte der Mann nur heiter und lautstark auf und wuschelte Camael spielerisch durch's silbrige Haar.

"Hohohoi! Du bist wieder so ernst, Camael. Komm mal ein wenig runter!"

Am liebsten hätte er ihn ablehnend angeknurrt, stattdessen schenkte er dem skurillen Typen nur einen empörten Blick. Wieso musste ihn jeder wie ein Kind behandeln?!

 

 

Grummelnd knallte ich die Tür zu meinem Zimmer zu, so dass meine Pokale auf dem Regal neben der Tür kurz erzitterten. Anschließend schmiss ich mich auf's Bett. Warum, herrgott! Warum tat man mir das an? Am liebsten wäre ich sofort vom Abendessen weggelaufen, als Dad die ach so frohe Botschaft überbrachte. Aber es wäre unfair Faye gegenüber gewesen. Und die freute sich auch noch! 

Ich fasste es nicht! War mein Leben denn nicht schon schwierig genug? Warum mischte sich mein Vater bloß immer ein? Und dabei merkte er nicht mal, dass er eigentlich alles schlimmer machte.

Ein Austauschschüler, ausgerechnet, und dann auch noch aus Amerika! Erst dachte ich, dass er mich wohl nun doch loswerden und nach Amerika abschieben wollte, aber es war anscheinend eher so ein Gastfamilien-Programm, wo man Wildfremde Haus und Hof öffnet und sie herzlichst willkommen heißt.

Und dieser war auch noch ein Junge und diese sind ja wohl schwanzgesteuert und das auch schon immer gewesen. „In deinem Alter, Ariella, damit du endlich mal Anschluss findest, wäre das nicht wunderbar?“- Ha, wunderbar? Was war wunderbar daran, nach den ersten zwei Minuten als Gestörte abgestempelt zu werden und sich für den Rest der Zeit hämische Bemerkungen anhören zu dürfen?

Mir kam jetzt schon der Ekel hoch, von Verzweiflung und Wut bis zu Brechreiz war alles dabei, wenn ich auch nur für einen kleinen Augenblick daran dachte, dass bald die Schule losging und ich wieder mit Getuschel und Blicken konfrontiert werden würde, die soviel sagten wie: Verzieh dich in die Psychiatrie. Denn ich war ein Freak, von dem alle dachten >Die hat sie doch nicht mehr alle, bloß fern bleiben, sonst fällt sie mich irgendwann an.<

Ich verfluchte den Tag an dem es anfing. Der Tag an dem ich fast gestorben wäre.

*Nun sei nicht so voller Selbsthass. Ich bin da und helfe dir.* Ich ließ mich wieder zurück in meine Kissen fallen. Da war sie wieder gewesen. Die Stimme in meinem Kopf. Die, wegen der mich alle noch mehr verachteten. Ich ekelte mich vor mir selbst. Und ich hasste diese Stimme, diese - wunderschöne, glockenhafte Stimme. 

Und doch ist es die Stimme, die mir das Leben rettete ... 

Am liebsten würde ich schreien, was ich sehr wahrscheinlich auch getan hätte, wenn ich nicht die verwirrten und fragenden Blicke von Ranen und Zazu auf mir gespürt hätte, die auf Fayes Bett saßen. Sofort setzte ich mich wieder auf. Ich war schon Freak genug, weil ich sie sehen konnte. Ich wollte nicht auch noch in ihren Augen ein Freak sein, weil ich 'Stimmen hörte'. Abgesehen davon, was es nur eine Stimme, die ich glücklicherweise nicht allzu oft hörte. Es würde mich wahnsinnig machen. Na ja, inwiefern man das Glück nennen konnte blieb jedem selbst überlassen ...

"Ihr beiden, wo wollt ihr eigentlich bleiben? Ihr könnt kaum auf Fayes Bett bleiben ..."

"Das ist uns schon klar gewesen, deshalb haben wir es uns nicht nehmen lassen, uns etwas umzusehen", sagte Ranen. Zazu fiel ihm ins Wort: "Der Wandschrank von dir ist völlig in Ordnung, Ariella! Außerdem sind wir Geister, wir spüren weder Wärme noch Kälte. Immerhin waren wir Wochen dort draußen." 

Ich sah sie alarmiert an. Aber meine Unterwäsche ... Das fing ja schonmal super an ... Als ich zu meinem Wandschrank blickte, sah ich meine Katana dagegen angelehnt. Das wäre heute praktischer gewesen, im Kampf gegen dieses Mistvieh ... Ich schüttelte gestresst den Kopf und fuhr mir erschöpft durch's Haar. "Hört zu, ich weiß nicht, wie lange ihr hier bleiben könnt. Faye wird das nach einer Zeit sicher unangenehm. Sie kann euch zwar nicht sehen, aber spüren. Sogar ich fühle mich beobachtet."

"Ach, was, Nee-San, lass die beiden, ich hab nichts dagegen!" Perplex blickte ich zur Tür, in der meine Schwester stand und mich zuckersüß anlächelte. So zuckersüß, dass es gruselig wurde. Ich kannte diese Masche ... "Oder willst du die beiden hilflosen Kinder etwa alleine dort hinausschicken?" Da war es, ihre berühmberüchtigte schaurige Aura hinter der lieblichen Facade, die einen warnte, dass ihn bei Widerreden etwas Unangenehmes widerfahren würde ... 

"Ich bin kein Kind", brummte Ranen. Ich ignorierte ihn und lachte nervös auf. "Eheh, quatsch, Faye. Wenn du damit einverstanden bist, ist alles okay!"

Sofort verschwand die düstere Aura und wurde von einer Frohlockenden, Fröhlichen ersetzt. Faye strahlte über das ganze Gesicht. "Nee-San ist die Beste!", sagte sie. "Ich wusste doch, dass du sowas nie tun würdest ..." Na, wer das glaubt ... Manchmal konnte ich meine Schwester selber nicht einschätzen. Sie konnte Menschen echt gut manipullieren ... Bevor meine Gedanken noch weiter ausschweifen konnten, holte sie mich wieder zurück auf den Planet Erde.

"Ach ja, könntest du morgen nach dem Training zum Nakahara-Shoten gehen? In der Küche fehlen einige Zutaten, und ich muss Dad im Hospital aushelfen?"

 

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(1) -San:  Neutrale Anrede unter erwachsenen Personen, die sich nicht kennen oder beruflich miteinander zu tun haben. Wird meist mit dem Nachnamen benutzt und entspricht damit „Herr/Frau“ im Deutschen.

 

 Feedback? :3 <3

 

 

 

Imprint

Text: ANMERKUNGEN: Inspiriert zur Idee dieser Geschichte wurde ich durch den Anime 'Bleach', den 'Kalten Krieg' in Deutschland und den Song 'Hall of Fame' von The Script.
Publication Date: 11-02-2010

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