"Wie konnte es nur soweit kommen?". Sein wunderbar verständnisloses Gesicht war meine Bestätigung. Meine Bestätigung dafür, dass er sich nie wirklich für mich interessiert hat. Wie alle anderen hat er auch nie verstanden, was mit mir los war. Dabei gab es doch so viele Anzeichen: die Narben an meinen Armen; die herumliegenden Messer und Rasierklingen; die Gürtelmahle an meinem Hals... um nur einige zu nennen.
Nun laufe ich schon seit Minuten hier lang. Mit trotzigem und trostlosem Blick. Ich folge meinem letzten Weg, dem letzten Gang. Hin und wieder schweift mein Blick nach links, auch mal nach rechts. In ihren Zellen beobachten sie mich.
Der Gang ist dunkel. Lediglich ein paar Lampen erleuchten den Weg.
Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Doch plötzlich traue ich mich einfach nicht mehr, die Blicke zu erwidern. Kein Lächeln. Doch ich habe keine Angst. Warum auch? Ich wollte es doch so. Es passiert alles auf meinem eigenen Wunsch hin.
Klaviermelodien ertönen. Dazu singt sanft eine leise und beruhigende Stimme. Ein heiliges Lied aus berufenem Mund. Jetzt kehre ich zu euch zurück. Geheilt. Gesund. Doch ich fühle mich nicht wohl dabei. Ab in die Todeskammer. Die Todeskammer, die sich Leben nennt. Ich kann nicht mehr. Weitermachen!
Ich sehe das Messer. Hebe es auf und setze an. Drücke auf die Haut und ziehe. Langsam und ruhig. This is me alone. Schatten suchen mich heim. Hüllen mich ein. Blut läuft an meinem Arm entlang. Es ist doch alles so einfach. Eine rote Linie zieht sich über meinen ganzen Arm. Bis hin zu den Fingerspitzen. Und sie endet in einem leisen, unerhörten Tropfen auf dem Boden. Doch ich fühle keinen Schmerz. Not every pain hurts. Und noch ein Schnitt. Gedanken an meine grausame Vergangenheit kommen wieder hoch. Noch mehr Schnitte zieren meine Arme. Verschönern meinen Untergang. Da ist schon kein kleiner Fleck mehr auf dem Boden. Nein, schon eine ganze Blutlache. Eine große rote Pfütze. Und meine Finger in ihrer Mitte.
Von allen werde ich beobachtet. Tausend Blicke. Ein Blickpunkt. ICH. Einsam und allein, wie ich meinen Weg verfolge. Nach oben auf das Dach. Ich habe den Gang hinter mir gelassen und schlürfe langsam die Treppen hoch. Eine Stufe. Zweite Stufe. Und die Nächste. Nun bin ich angekommen, hier oben auf einer riesigen Plattform.
Ich wandere bis zum Rand. Ich könnte so einfach einen Fuß auf die Mauer setzen, das Gleichgewicht verlieren und fallen. Auf dem Boden aufschlagen. Tot sein. Aber wer will das schon? Leicht beuge ich mich nach vorne. Ich will doch nur frische Luft schnappen.
Plötzlich geben meine Beine nach. Und ich falle. Nach hinten weg. Doch nach ein paar Sekunden schon spüre ich seine warmen Hände auf meinem Rücken. Mit voller Kraft hält er mich fest und versucht mich, wieder hoch zu ziehen. Doch da beginnt er plötzlich zu lächeln. Seine gesamte Mimik verzieht sich und dann lässt er mich fallen. Ohne Vorwarnung.
Ich falle tief, tiefer und tiefer.
Oh du wundervolle Welt. Noch 5 Augenblicke bis zum Aufprall. Ja, dachte ich. Ja! Nun ist es endlich vorbei. Freiheit, wahres Leben, ich komme! Noch 3 Herzschläge bis zur Unendlichkeit meines neuen Lebens als wandelnder Geist, als gefallener Engel. Im wahrsten Sinne des Wortes 'gefallener' Engel. Ich, den man immer als "Sonnenschein" bezeichnete.
Adrenalin durchschießt meine Adern. Ich spüre das Pumpen des Blutes überall in meinem Körper. Jetzt. Plötzlich durchfährt es mich. Eiskalt. NEIN! Noch nicht. Ich will noch leben. NOCH will ich nicht aufgeben. Noch ist die Zeit nicht gekommen. Oh Gott, bitte lasse es jetzt noch nicht zu Ende sein.
... bitte noch nicht! Die Zeit ist noch nicht reif dafür.
Die Sirenen waren Stimmen. In meinem Kopf. "Bleibe doch bitte noch etwas. Nur noch eine kleine Weile." Ich hatte das Gefühl in Glassplittern zu liegen. Überall nur Blut und blutige Klingen. Blut lief überall hinunter. An meinen Armen und meinen Beinen. Überall. Ich glaube, als ich wieder aufgewacht bin, hörte ich die Stimme meiner Mutter, wie sie schrie. Und zugleich weinte. Ihr Gesicht war rot und nass. Es war von Angst und Tränen gezeichnet. Langsam kam ich wieder zu mir. Die Tür meiner Zelle ging auf.
Voller Entsetzen glitt mir das Messer aus der Hand. Ich lag in einer Ecke. Und war gar nicht da, war schon frei. In meiner eigenen kleinen Welt. Ich habe sie zu diesem Zeitpunkt schon alle verlassen.
Kleine Bluttropfen fielen langsam zu Boden. Das Blut sammelte sich überall. Ich saß in einem Kreis aus Blut, der sich pro Sekunde immer weiter vergrößerte. Dunkle Schatten umhüllten mich und plötzlich war ich wieder einmal ganz allein und einsam.
"Wieso nur? Warum?" Und dazu ihre wunderbaren verständnislosen Gesichter. Überströmt mit Tränen standen sie beide um mich herum. Meine Mutter zu meiner Linken und mein Freund zu meiner Rechten. Das war das letzte, was ich sah und hörte und insgesamt noch mitbekam. Schade eigentlich. Aber irgendwie auch nicht.
Ich hätte mich gerne noch bei ihnen für alles entschuldigt. Traurig, dass ich da schon weg war.
Alles nur noch ein blasser Traum weit hinter mir. Und ich stecke mitten drin, kurz vor der Vergessenheit. Ein Schlückchen Erinnerungen an mich ist noch geblieben, mehr nicht.
Dann ein feuerrotes Licht, auf das undurchdringliche Dunkelheit folgt.
Publication Date: 12-25-2010
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