Welt aus Stein
Schwärze. Selten ist der Himmel so schwarz wie jetzt, hier, mitten in der Nacht. Er ist deswegen so schwarz, weil ich im Moment noch im Licht stehe – das künstliche, kalte Licht, das ich hinter mir lassen werde. Zumindest werde ich es versuchen. Und weil ich noch geblendet bin vom Licht erscheint mir die mich nun umgebende Dunkelheit so viel undurchdringlicher. Und doch ist die Dunkelheit irgendwie – ehrlicher. Sie spiegelt diese Welt deutlich besser wieder als die Illusion von falscher Wärme und Freundlichkeit, die das gelbe Licht des schmalen Flures hinter mir vermittelt. Ich trete über die Schwelle, und die Schwärze verschluckt mich. Selten habe ich einen so schwarzen Himmel gesehen. Sie scheint alle Wärme zu schlucken, die Dunkelheit. Mir ist kalt, so kalt.
Es erscheint mir so passend – bis heute abend hatte ich sie verleugnet, die kalte Dunkelheit. Nicht mehr. Jetzt lasse ich zu, dass sie mich verschluckt, in der Hoffnung, dass es eines Tages wieder heller werden kann. Wirklich heller.
Zitternd hülle ich mich noch ein wenig fester in meinen Mantel, und dann gehe ich los, zunächst langsam, dann immer schneller, bis ich schon fast renne. Manchmal stolpere ich über die unebenen Pflastersteine, und einmal falle ich, fange mich mit den Handflächen ab. Kleine Kieselsteine bohren sich schmerzhaft in meine Handflächen, doch ich zucke nicht zusammen. Schweigend rappele ich mich wieder auf und gehe weiter, ein wenig vorsichtiger, aber immer noch schnell. Das heiße Brennen der kleinen Schürfwunden ignoriere ich. Es gibt Schlimmeres. Weit Schlimmeres.
Das leise Klappern meiner Absätze hallt von den Hauswänden wider, ein seltsam hohler Laut. Er klingt so einsam in der Stille der Nacht. Jene Stille, die nur derjenige kennt, der einmal mitten in der Nacht durch eine schlafende Stadt gegangen ist. Sie hat etwas Gespenstisches, diese Stille, und zugleich strahlt sie einen seltsamen Frieden aus.
Feuchter Nebel steigt auf, umwabert mich, isoliert mich noch mehr. Nun bin ich umgeben von feuchten, kalten Schwaden, die selbst das Geräusch meiner Schritte schlucken. Wie Geister scheinen die Nebelfinger nach mir zu greifen, ihre Lautlosigkeit und scheinbare Zerbrechlichkeit lässt sie noch bedrohlicher erscheinen. Und doch fühle ich mich irgendwie sicher in der Stille der kalten, feuchten Nacht, die mich umgibt. Ich bin vollkommen alleine hier. Und das bedeutet, dass mir hier niemand etwas anhaben kann. Die Menschen sind es, die das Leben gefährlich machen. Wenn ich alleine bin, habe ich nichts zu befürchten.
Diese Stille.
Manchmal frage ich mich, ob es dieselbe Stille ist, die hier geherrscht hat, bevor die Menschen die Erde besiedelten. Ob dies eine Erinnerung aus vergangenen Zeiten ist, als die Erde noch atmen konnte, als der Grund unter meinen Füßen noch nicht von grauem, Stein erstickt wurde. Als die Flüsse noch fließen konnten, wie sie wollten, ehe sie von grauem Stein in ihr gerades, ebenes Bett gezwungen wurden. Als die Welt noch grün war, die Luft rein, das Wasser klar. Es ist der Beton, der alles erstickt. Er ist kalt, er kennt kein Mitleid. Und genauso wie der Beton sind auch die Menschen hier in der Stadt. Kalt und mitleidlos. Sie sind das eigentliche Gefängnis, sie halten mich gefangen, die Menschen hier. Ohne, dass sie es wissen, sind sie Gefangene und Wächter zugleich. Und sie bemerken es nicht einmal. Das ist das Schlimme daran. Dass sie es nicht einmal merken, wie sie selbst mehr und mehr zu dem künstlichen Stein werden, mit dem sie sich umgeben. Wie sie Stück für Stück das letzte bisschen Leben in ihrer Mitte vernichten. Was sich nicht einengen, nicht in Form pressen, nicht einordnen lässt, wird zerstört. So einfach ist das.
Keine dieser Optionen gefällt mir. Deswegen musste ich gehen, ehe die Kälte vollends von mir Besitz ergreifen konnte.
Ich weiß nicht, wann der Entschluss in mir gereift ist. Doch heute wurde mir bewusst, dass ich so nicht weiterleben kann. Ich brauche Luft zum Atmen.
Vielleicht lag es an Miriams Blick.
Ich habe mich ihr schon immer verbunden gefühlt, seit ich sie das erste Mal gesehen hatte. Sie war neu bei uns gewesen. Neu, lebensfroh, naiv. So haben sie mich auch immer genannt. Naiv. Weil ich nicht so war wie sie. Weil ich freundlich zu anderen war. Weil ich fühlte. Weil mein Herz noch nicht vollständig erstarrt ist. Deswegen habe ich auch nie hierher gepasst. Ich bin anders. Aber ich will nicht werden wie sie. Und so bin ich gegangen. Einfach so losgegangen. Mitten in der Nacht.
Ja, ich denke, ihr Blick war daran schuld.
Gestern hatten wir wieder eine gemeinsame Schicht. Ich habe immer am Liebsten mit Miriam zusammen gearbeitet. Mit ihr konnte ich reden. Sie hat mich verstanden, und ich verstand sie. Ihre Augen waren immer freundlich. Nicht so leer und tot wie die der anderen. Nicht so grau. Nicht so erstarrt. Wenn sie gelächelt hat, lächelten ihre Augen auch.
Doch dieses Mal hatte die Chefin wieder einmal beschlossen, uns zu beaufsichtigten. Ich hatte schon ein dunkle Vorahnung, als sie sich an der untersten Schublade am Tresen zu schaffen machte. Dort, wo nur die wirklich harten Sachen aufbewahrt werden. Als ich das seltsame Glitzern in ihren Augen sah, griffen die eisigen Finger der Furcht nach mir, stahlen sich in mein schlagendes Herz. Sie war immer so viel unberechenbarer, wenn sie getrunken hatte. Reizbar und gefährlich.
Es war ein anstrengender Abend. Zu viele Gäste, zu viele Bestellungen. Wir hätten mehr Personal benötigt, aber natürlich würde die Chefin uns die Schuld daran geben, wenn ein Tisch zu spät bedient wurde. Zusätzliche Kellnerinnen hätten mehr Personalkosten bedeutet, weniger Profit. Und es macht ihr Spaß, Menschen zu beschimpfen. Das habe ich sehr schnell herausgefunden. Es war besser, man schwieg, ließ die Tirade über sich ergehen und vergaß.
Doch heute war der erste Tag, an dem das mit dem Vergessen nicht mehr funktionierte.
Es war einer jener Tage, an denen alles schief zu gehen scheint.
Ich verwechselte zwei Bestellungen, Miriam verschüttete zwei Drinks am Tresen, einen davon über das Hemd eines Kunden, der sich natürlich lautstark beschwerte, und die beiden jungen Männer an Tisch 21 verschwanden im Laufe des Abends spurlos, ohne zu zahlen. Die Chefin kam immer wieder hinter den Tresen, um ihr Glas zu füllen. Irgendwie hatte ich ein dumpfes Gefühl in der Magengegend. Als wüsste ich, dass heute noch etwas geschehen würde.
Irgendwann gegen Mitternacht war es dann so weit. Die Chefin hatte die Flasche geleert. Und ich wusste, was nun folgen würde. Die Tirade würde wieder losgehen. Seufzend wappnete ich mich. Normalerweise war es immer ich. Ich war ihr bevorzugtes Opfer. Vielleicht liegt es daran, dass ich so klein und zierlich bin. Ich wirke zerbrechlich, und ich kann es nicht so gut verbergen wie die anderen, wenn ich verletzt bin. Man sieht den Schmerz in meinen Augen.
Doch heute war es nicht ich, die die Tirade abbekam. Es war Miriam.
„Mädel, kannsch du nisch schnella mache? Wofür besahl ich disch, he? Wofür? Da is je ne Schnegge schnella!“, lallte die Chefin. Mit blitzenden Augen baute sie sich vor Miriam auf. Ihre grauen Augen waren gegen das gedämpfte Licht des Tresens zusammengekniffen, ihre Hände zu Fäusten geballt, und ihre Worte trugen durch den ganzen Raum. Ich sah, wie sich Köpfe zu uns umwanden, und ich schluckte. Das war immer das Schlimmste – Publikum. Es trieb sie immer zu noch derberen Beschimpfungen an, wenn sie Publikum hatte. Und es war so viel schlimmer, hinterher zu tun, als sei nichts geschehen, wenn man wusste, dass alle gesehen hatten, wie man erniedrigt worden war.
Erniedrigt? Was waren das für Gedanken? Hastig schob ich das Wort hinter die Mauer in meinem Inneren zurück und konzentrierte mich wieder auf die Szene, die sich eben vor meinen Augen abspielte.
Ich sah besorgt zu Miriam hinüber, die mit einem Tablett in Richtung Gastraum hatte losgehen wollen. Sie erstarrte erschrocken. Ich presste verzweifelt die Lippen aufeinander. Bitte, Miriam, geh einfach! Geh einfach, bleib nicht stehen, das macht alles nur noch schlimmer!
Doch das Mädchen hatte sich noch immer nicht gerührt.
„Und wasch hasch du da eigentlisch an, he? Soll das...soll das gud ausseha? Isch will doch, dass die Männa hier was zum anseha haba! Und du? Du siesch aus wie...wie ei zugeknöpfta...jetzt zieh scho den Pulli aus, du! So, weisch, wie des gahd? Komm, isch zeigs dir...“
Und dann riss sie ihr mit einem heftigen Ruck den Pullover vom Leib. Einfach so. In der atemlosen Stille, die sich auf einmal über den überfüllten Raum legte, glaubte ich sogar, eine Naht reißen zu hören. Ich war wie erstarrt, sah fassunglos auf das Mädchen, das nur wenige Schritte neben mir stand. Auch sie rührte sich einen langen Augenblick nicht von der Stelle.
Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war die seltsame Leere in Miriams Augen, als sie sich wortlos umdrehte. Mit ruckartigen Bewegungen legte sie den Pullover neben mir auf den Tresen, schenkte mir einen toten, grauen Blick und ging dann mit halboffener Bluse und dem gefüllten Tablett in den Gastraum zurück.
Es war, als würde eine Mauer in mir zerbrechen. Eine Mauer, hinter der ich all die unliebsamen Erinnerungen versteckt hatte, die ich vergessen wollte. Doch als ich diesen leeren, toten Blick in den Augen des Mädchen gesehen hatte, das sonst immer so fröhlich, so sorglos gewesen war, da gelang es mir nicht mehr, sie in jene verborgene Ecke meines Bewussstseins zu drängen. Und mit den Bildern kamen die Gefühle zurück – Gefühle, die ich ebenfalls hatte vergessen wollen. Weil es einfacher war, sie zu vergessen. Weil ich mir so einreden konnte, es sei niemals geschehen. Doch jetzt waren sie wieder da. Gnadenlos und unerbittlich wie ein heftiger Sturm fielen sie über mich her, nahmen mich gefangen, drohten, mich zu verschlingen. Keuchend klammerte ich mich an dem kühlen Stein des Tresens fest, als sei die Kälte der Anker, der mich in der Wirklichkeit halten könnte. Es war zwecklos. Einmal entfesselt, war es unmöglich, die Erinnerungen wieder einzufangen.
Der verächtliche Blick in den Augen der Chefin, als sie mir erklärte, ich sei zu nichts nütze, ich sei ein wertloses Stück Dreck. Das gierige Starren, mit dem mich einer der Stammkunden immer Abende lang anstarrte, wie er mich mit Blicken wieder und wieder entkleidet hatte. Die blauen Flecke auf meinem rechten Unterarm, die noch Tage später sichtbar gewesen waren, nachdem mich die Chefin eines Abends brutal gepackt und zur Seite gestoßen hatte, weil ich den Tresen nicht sauber genug gewischt hatte. Das Gefühl der Erniedrigung, der Demütigung. Das Gefühl, für das wenige Geld, das ich so bitter zum Überleben benötigte, mich selbst zu verkaufen.
Als ich am Ende meiner Schicht die Grimasse des falschen Grinsens fallen ließ und in den Spiegel sah – zum ersten Mal seit Monaten, auch wenn es mir sehr schwer fiel, mir das endlich einzugestehen – da sog ich entsetzt die Luft ein. Meine Augen...
Sie waren noch nicht vollständig erstarrt. Sie waren noch nicht vollständig leer und tot. Doch in diesem Moment wusste ich – es war nur eine Frage der Zeit.
Ja, und da bin ich gegangen. Einfach so. Habe meine Schicht beendet, meine Sachen zusammengepackt, viel war es nicht. Das Wenige, das ich beim Kellnern verdiente, reichte gerade so, um meine Mahlzeiten zu bezahlen und ab und an neue Kleidung zu kaufen. Kost und Logis bekam ich dafür, dass ich dreizehn Stunden am Tag Kisten schleppte, Wein einschenkte, Cocktails mixte und die ganze Zeit mit einem freundlichen Lächeln Beschimpfungen über mich ergehen ließ, weil ich wieder einmal nicht schnell genug bedient hatte, weil die Kaffeemaschiene nicht sauber genug gewesen war, weil der Kuchen wieder einmal alle geworden war (wobei es nicht meine Schuld gewesen war, dass kein neuer bestellt worden war). Und ab und an durfte ich mir dann auch noch von einem Kunden anhören, dass ich ja schließlich selbst Schuld daran sei, hier gelandet zu sein. Niemand, der sich ordentlich anstrengt, endet bei einem solchen Job, hieß es dann. Und es war meine Schuld, dass ich nicht zu den Besten der Besten gehörte, ganz klar. Es war meine Schuld, dass meine Mutter beschlossen hatte, dass sie mich nun lange genug ernährt habe, und mich mit fünfzehn Jahren auf die Straße gesetzt hatte, weil sie zu ihrem neuen Freund ziehen wollte, der nun einmal keine Kinder haben wollte, schon gar nicht welche in meinem Alter. Es war meine Schuld, dass ich die Schule hatte abbrechen müssen, da ich ja irgendwie Geld verdienen musste, um für mein Essen zu sorgen, für Kleidung, für ein Dach über meinem Kopf.
Als das erste Licht den neuen Morgen ankündigt und sich die schwarze Nacht allmählich grau verfärbt, sind meine Beine unglaublich schwer, mir ist kalt, und ich würde mich am Liebsten auf den Boden sinken lassen, einschlafen und nie wieder aufwachen. Und ich bin ich immer noch von Beton umgeben. Von grauem, kaltem Beton.
Ich zwinge mich, einen Schritt vor den anderen zu setzten. Jeder Schritt bringt mich meinem Ziel näher. Zumindest hoffe ich das. So weit wie jetzt war ich noch nie von Zuhause fort. Wenn man den Ort, an dem ich gelebt habe, als Zuhause bezeichnen kann.
Ob es wohl einen Ort auf dieser Welt gibt, der noch nicht grau ist?
Ich werde nicht aufhören, danach zu suchen.
***
Seufzend lehne ich mich mit dem Rücken gegen eine Hauswand zu meiner Linken, versuche, das schmerzhafte Pochen in meinen Fußsohlen zu ignorieren. Ich bin es gewohnt, lange auf den Beinen zu sein. Für irgendetwas müssen die langen Schichten, die oft bis weit in die Nacht hinein andauerten, schließlich auch gut gewesen sein. Doch ich bin nun schon so viel länger unterwegs. Und die Kälte setzt mir zu.
Einen Augenblick schließe ich die Augen, versuche, an nichts zu denken, zur Ruhe zu kommen.
In diesem Moment höre ich es. Ein leises Räuspern. Es klingt so...schüchtern. So unaufdringlich. Ich kann nicht anders, meine Neugierde ist geweckt. Langsam öffne ich die Augen, blinzle in das immer heller werdende Licht des neuen Morgens.
Mir gegenüber sitzt ein junger Mann im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken an die Hauswand gelehnt, die die andere Seite der Gasse begrenzt. Seine Jacke sieht alt aus, verschlissen und an mehreren Stellen geflickt. Sein Haar ist zerzaust. Er wirkt auch, als habe er lange Zeit keinen Ort mehr gehabt, den er als Zuhause bezeichenen könnte. Er lächelt mich an – ein ehrliches Lächeln, das seine Augen erreicht, auch wenn seine Mundwinkel ein wenig beben und verraten, wie schwer es ihm tatsächlich fällt, die notwendiger Kraft hierfür aufzubringen.
„Lange Nacht gehabt?“, murmelt er leise.
Und dann geschieht es. Ein so ungewohnter Laut erfüllt auf einmal die enge Gasse, dass ich tatsächlich überrascht zusammenzucke. Es klingt bitter, das Lachen, und ironisch, aber es ist dennoch eindeutig ein Lachen. Ich weiß nicht, wann ich das das letzte Mal gehört habe.
„So könnte man es auch ausdrücken“, antworte ich nach einer kleinen Weile, ebenso leise.
Er sieht mich lange Zeit nachdenklich an – es ist ein seltsam warmer, verständnisvoller Blick, und seine Augen sind nicht grau und kalt, sondern hellblau, wie der Himmel über unserem Köpfen. Das Grau der Dämmerung weicht allmählich den Farben des Tages.
Irgendwann steht er wortlos auf und reicht mir seine Hand. Und ebenso wortlos lege ich meine Hand in die seine. Sie ist warm, seine Hand. So warm. Und seine Augen sind so blau. Blau wie der Himmel.
(c) by schneeflocke
Text: (c) by schneeflocke
Publication Date: 02-14-2011
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