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Ein ganz normaler Tag

Ein ganz normaler Tag


Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg aus hohen Baumkronen zu mir herunter. Kleine, milchige Sonnenlichter erreichen den Waldboden. Ich atme tief durch und spüre die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Ein sattes Grün umgibt mich. Mücken tanzen in Schwärmen zwischen den Bäumen. Ich spüre den weichen Boden und Tannennadeln aus dem vergangenen Winter knirschen unter meinen Füßen. Begleitet vom melodischen Zwitschern der Vögel gehe ich mit langsamen Schritten weiter. Brombeerbüsche säumen meinen Weg und die reifen Früchte glänzen verführerisch. Ich bleibe stehen, bücke mich und pflücke ein paar Beeren. Sie schmecken köstlich.


Allmählich verliert die Sonne ihre Kraft und es wird kühler. Leichter Wind zieht auf. Einige Schritte von mir entfernt sehe ich eine große Pfütze. Das Regenwasser darin funkelt und glitzert. Ich bin verwundert, denn es hat in den letzten Wochen nicht geregnet. Als ich bei der Pfütze ankomme bleibe ich wie erstarrt stehen.


Das Wasser ist blutrot.


Ich habe Angst. Die Sonne ist verschwunden und es ist totenstill. Das Zwitschern der Vögel ist verklungen. Ich laufe an der Pfütze vorbei und sehe an den sich im stärker werdenden Wind wiegenden Blättern Blutspuren. Blutstropfen perlen von den Blättern hinunter und versickern in der Erde. Meine Fußspuren hinterlassen auf dem Boden klebrige, blutige Abdrücke. Wie von Sinnen renne ich weiter.


Ein mächtiges Rauschen umgibt mich. Ich weiß nicht, woher der dröhnende Lärm kommt. Voller Verzweiflung und Angst laufe ich auf eine Lichtung zu. Das Rauschen wird unerträglich laut.

Jäh bleibe ich wie angewurzelt stehen. Vor mir liegt ein riesiger See. Donnernd stürzt das Wasser eines Wasserfalls in den See und lässt große Gischtfontänen aufsteigen. Der tosende Krach der herabstürzenden Wassermassen ist kaum auszuhalten und dennoch zieht es mich magisch an das Seeufer.


Sofie, Sofie“ ruft jemand.

Ganz still und innerlich ruhig stehe ich am Ufer. Kleine, rote Wellen schwappen mir entgegen. Das fallende Wasser ist tiefrot. Ich beuge mich nach vorn und schaue durch das rötlich gefärbte Wasser auf den Grund des Sees. Hin und her wiegt sich ein lebloser Körper auf dem sandigen Boden.

Ich bin es, die dort unten im See liegt.

Das Wasser des Sees färbt sich blutrot.

 

Mir wird schwindelig und ich sacke zu Boden.



Ich schreckte hoch. Mein Smartphone kreischte mir unmissverständlich entgegen, dass es sieben Uhr am Morgen sei.

„Sofie, Schlafmützchen aufstehen“, rief meine Mutter an der Tür.

Was für ein komischer Traum. Ein Alptraum! Ich hatte einen eigenartigen Eisengeschmack im Mund und fühlte mich schlapp und benommen. Im Bad schaute ich in den Spiegel und streckte mir die Zunge heraus.

Frisch geduscht und fertig angezogen hörte ich das unaufhörliche Geplapper meiner Eltern, die am Küchentisch saßen.

„Hast Du ausreichend für die Biologiearbeit gelernt?“ Meine Mutter sah mich fragend an. Ich nickte bejahend mit dem Kopf und schaute auf die Küchenuhr. Mit einer Scheibe Käse bewaffnet eilte ich zur Haustür. „Sofie, denk dran, dass wir heute Nacht im Hotel übernachten und uns erst Morgen wieder sehen. Du weißt doch, die Tagung“.

„Ja, ja“, rief ich in Küchenrichtung und verschwand nach draußen. Ich musste mich beeilen, mein Bus in Richtung Schule fuhr in zehn Minuten ab. Schnaufend erreichte ich den Linienbus und wurde von Alissa, meiner besten Freundin lächelnd begrüßt.


In der zweiten Stunde verteilte unser Biolehrer die Aufgaben.

„Lächerlich einfach“, dachte ich und war als Erste fertig. Bio war mein absolutes Lieblingsfach. Mit Schrecken dachte ich an den frühen Nachmittag. Mein Sportlehrer hasste mich und sicherlich würde er mich auch heute wieder quälen und vor der gesamten Klasse bloßstellen. Der Gedanke an den Sportunterricht ließ mich innerlich erzittern.

Ich hatte unbeschreibliches Glück, der Sportunterricht fiel aus. Mir fielen Gesteinsbrocken vom Herzen.


„Was stellen wir mit dem freien Nachmittag an?“, fragend sah mich Alissa an. „Wollen wir bei M&H shoppen gehen?“. Ich wich aus. „Dort finde ich nichts“, murmelte ich.

„Ach komm, nur mal gucken“. Alissa war hartnäckig. Widerwillig sagte ich zu und Alissa hakte mich unter und wir fuhren zu dem Modeladen. Schon von weitem sah ich einige Mädchen aus unserer Klasse am Eingang des Geschäfts stehen. Als sie Alissa und mich erblickten, fingen sie an zu tuscheln.

„Ach, ihr auch hier?“ Ich sah in hämische Gesichter.

Hässlich, hässlich, egal was ich von den Kleiderstangen hervorzog war grauenhaft.

„Lass uns hier verschwinden Alissa“, rief ich meiner Freundin zu. Sie nickte.

 

Wir gingen in unser Lieblings-Café. Nur hier gab es den leckersten Kakao von der ganzen Welt. Meine Busenfreundin und ich tratschten und lachten und so wurde es doch noch ein toller Nachmittag.

Alissa schaute auf ihr Smartphone. „Du, ich muss gehen, meine Eltern warten auf mich“.

„Du hast es gut, meine Eltern sind wie fast immer beruflich unterwegs“, erwiderte ich traurig. Alissa drückte mich, gab mir einen Kuss auf die Wange und ging zum Ausgang des Cafés. Sie drehte sich noch einmal zu mir um und winkte in meine Richtung.

„Bis morgen Sofie“.



Ich nahm mein Smartphone und surfte noch ein wenig im Netz.

„Egal, die können mich mal“, dachte ich. Auf dem Heimweg kam ich am Supermarkt vorbei und beschloss, mir für das einsame Abendbrot eine Tiefkühlpizza zu kaufen.


Wieder war ich alleine. Im Fernsehen lief nichts Besonderes, meine Bücher hatte ich alle gelesen. Ich ging in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Die SMS von Alissa ließ mich fröhlich werden.

„Doofe Kuh“. Sie hatte mir Bilder zugeschickt, über die ich herzlich lachen musste. Wir vertrieben uns per SMS ein paar Stunden.

„Ciao, bin müde, bis morgen am Bus“, stand in ihrer letzten SMS. Noch einmal schaute ich ins Netz und legte mein Smartphone auf den Nachttisch.


Ich ging ins Badezimmer und zog mich vor dem großen Spiegel aus.


Das Spiegelbild zeigte eine sehr hübsche Fünfzehnjährige. Sie war schlank, aber nicht dürr und mager. Kleine Rundungen ließen erahnen, dass sie eine wunderschöne Frau werden würde. Die glatten, hüftlangen, natürlich blonden Haare glänzten im Licht der Spiegelbeleuchtung.

 

Das Mädchen musterte sich im Spiegel. Abrupt drehte sie sich um und ließ Wasser in die Badewanne einlaufen. Etwa zehn Minuten später drehte sie den Hebel der Mischbatterie auf Aus. Vorsichtig stieg sie in die heiße, fast volle Wanne.


Sofie lehnte sich zurück und ließ nochmals heißes Wasser in die Wanne laufen. Das Rauschen des in die Badewanne plätschernden Wassers glich einem Wasserfall. Sie drehte das Wasser ab.

Stille umfing sie.

Dampfende Nebelschwaden durchzogen den Raum und beschlugen den großen Spiegel.

Sie zuckte kurz zusammen. Sofie spürte keine Schmerzen.


Ganz langsam färbte sich das Wasser in der Badewanne tiefrot. Während sie das Bewusstsein verlor, rutschte ihr Körper sanft ins Wasser.


In dieser Nacht verloren Sofies Eltern ihre innig geliebte Tochter.

Alissa verlor ihre allerbeste Freundin.


Am nächsten Tag verlor das „Social Nice Book“ die öffentliche Seite „Das fette Sofie Monster“.

 

Die User der Fotocommunity „Pic of the Day“ verloren ein mit bösartigen Kommentaren versehenes Bild.

Dieses Bild zeigte eine per Bildbearbeitung manipulierte Fotografie eines dicken, extrem pausbäckigen blonden Mädchens, welches herzhaft in einen riesigen Hamburger biss.

 

Die Welt verlor Sofie.






Imprint

Text: Ute Look
Publication Date: 10-31-2015

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