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Vampirblut


Prolog

Vergangenheit


Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und nichts ist mehr so, wie es einmal war.
Eben hast du noch in den Armen deines Verlobten gelegen. Doch jetzt befindest du dich allein in einem Wald.
Irgendwo in der Dunkelheit rauscht ein Bach.
Du bist allein. Und hast keine Ahnung wo du dich befindest.
Wie bist du hierher gekommen?
Was ist passiert?
Deine Hände sind aufgekratzt und dein Kopf pocht.
Du versuchst nach Hause zu gehen, doch egal wo du hinläufst, nicht einmal eine Straße ist in der Nähe.
Genau das ist mir passiert.
Was in jener Nacht auch immer geschehen sein mag, es hat mein Leben grundlegend verändert.
Ich fand wieder nach Hause. Irgendwann und irgendwie.
Doch das Haus war verlassen.
Niemand war da. Nicht meine Mutter, nicht mein Vater und auch mein Verlobter war im ganzen Haus nicht zu finden.
Ich ging in unser Schlafzimmer.
Das Bettlacken war voller Blut, ebenso der Boden.
Das Fenster stand sperrangelweit offen. Der Wind zog eiskalt durch den großen Raum des Herrenhauses.
Ich war nur in einem leichten Nachthemd gekleidet, doch es war zerrissen und von Erde und Blut verdreckt.
Mir war nicht kalt, obwohl es November war.
Von Weitem hörte ich Schreie. Schreie einer Frau.
Meine Mutter?
Was tat sie draußen? Mitten in der Nacht?
Wie spät war es?
Mitternacht?
Nun hörte ich, was geschrien wurde. Mein Name.
Anna.
Warum riefen sie nach mir?
Suchten sie mich?
Ich war doch hier, in ihrem Haus!
Ich konnte nicht rufen. Meine Stimme war weg. Vielleicht konnte ich aber auch aus einem anderen Grund nicht schreien, es spielt keine Rolle.
Ich stand nur da und starrte aus dem Fenster.
Die Sonne ging auf, doch meine Familie kam nicht heim.
Als die ersten Strahlen durch das Fenster drangen, sprang ich zurück. Fauchend.
Das grelle Licht tat weh in den Augen. Und es brannte auf der Haut wie Holzkohle.
Was war bloß mit mir los?
Ich spürte Hunger.
In der Küche, die sonst immer unsere Köchin betrieb, fand ich ein Stück Brot. Es war hart, doch der Hunger war zu groß um lange nach etwas anderem zu suchen.
Ich weiß nicht, wie ich es beißen konnte.
Na ja, vielleicht weiß ich es ja doch.
Auf jedem Fall knackte das Brot zwischen meinen Zähnen durch, als wäre es Kuchen.
Ich schluckte und bekam sofort einen Würgereiz.
Das Brot musste schlecht sein. Es schmeckte wie Schlamm.
Na ja, zumindest dachte ich das. Ich hatte ja noch nie Schlamm gekostet, also woher sollte ich das wissen?
Ich trank ein wenig Wasser, doch auch das spuckte ich wieder aus.
Nicht sehr vornehm und wenn meine Eltern das gesehen hätten, würden sie mich tadeln.
Doch wie konnte ich etwas trinken, das schmeckte wie Abwasser?
Außerdem waren sie ja nicht da.
Ich wartete den ganzen Tag, doch sie kamen nicht zurück.
Ich hielt mich von der Sonne und allen Fenstern, durch die sie hinein schien, fern.
Ich zog die Vorhänge zu, doch die waren nicht sehr dick und nutzten nicht viel.
Irgendwann beschloss ich, dass herumstehen nichts brachte.
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und wusch mich mit dem Wasser aus der Schüssel.
Für ein Bad hatte ich jetzt nicht genug Geduld.
Ich zog mein Lieblingskleid aus eisblauem Brokat an.
Es war schwierig, das Mieder allein zuzuschnüren, aber da selbst die Zofe nicht da war, musste ich es tun.
Doch als ich mich in den Spiegel sah, zuckte ich erschrocken zusammen.
War das wirklich ich?
Meine Haare fielen in rotblonden, wunderschönen Locken auf meine Schulter.
Sie waren immer schon schön gewesen, aber diese Locken glänzten wie die eines Engels.
Meine Sommersprossen waren weg. Nicht einmal das kleinste Muttermal war zu erkennen.
Nichts.
Ich war seltsam blass. Nicht, dass ich jemals viel Farbe gehabt hätte.
Doch meine Haut sah eher aus als sei sie aus heller Seide.
So fühlte sie sich auch an.
Sanft, ohne jeden Makel.
Doch am meisten erschreckten mich meine Augen.
Solche Augen hatte ich noch nie gesehen.
Sie waren nicht mehr blau, wie früher. Sie hatten die Farbe von Moos. Sehr dunklem Moss, doch die Farbe war sehr intensiv.
Ich erkannte mich selbst nicht mehr.
Was war mit mir passiert?
Der Tag ging endlich zu Ende.
Die Sonne verschwand und hinterließ Dunkelheit.
Ich befand mich gerade im Salon, als ein heftiger Schmerz meine Brust durchzuckte.
Mein Herz schlug unregelmäßig. Es stolperte immer wieder.
Ich spürte, wie die Abstände zwischen den Schlägen größer wurden.
Ich krümmte mich am Boden.
Ich litt Qualen.
Irgendwann war es dann vorbei.
Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Man sollte meinen ich wäre tot.
Doch ich stand auf und öffnete das Fenster.
Ich fühlte mich gut.
Seltsam, aber gut.
Ich setzte mich auf sie Couch.
Ich weiß nicht, worauf ich gewartet habe.
Es vergingen Stunden.
Plötzlich stand ein Mann mit langen schwarzen Haaren vor mir.
Ich war nicht erschrocken. Als hätte ich gewusst, dass er kommt.
Eine Weile sahen wir uns nur an.
Dann sagte er zu mir: „Deine Verwandlung ist abgeschlossen.
Du kannst nicht länger hier bleiben.“
„Warum?“ fragte ich. „Wo muss ich hin?“
„Wohin du möchtest.
Doch weg von hier.“
„Warum?“ hackte ich ein weiteres Mal nach.
Ich spürte keine Gefühlsregung wie Angst oder Verwunderung.
Ich nahm alles hin, was er sagte.
„Du bist jetzt ein Vampir.“


Kapitel 1

Sibiu – Rumänien/ Transsylvanien 2008


Anna ging die Treppen zum Unsiversitätsgebäude hoch.
Es war alt, vermutlich aus der Zeit der Habsburger.
Es befand sich in der Mitte der Stadt Sibiu in Rumänien und war vermutlich auch das größte Gebäude dort.
Vor dem Eingang stand ein großer Brunnen, der gerade restauriert wurde.
Kein Wasser schoss aus dem Maul des Pferdes, das sich über einem Mann aufbäumte.
Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie sich schon gefragt hatte, was es darstellen sollte.
Dass Pferde Menschen töten konnten?
Wohl eher nicht.
Anna betrat das Gebäude.
Es war angenehm kühl in den Gängen, aber Anna fiel das nicht auf.
Sie war ja praktisch schon seit 500 Jahren tot.
Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
Sie hatte so viele Dinge gesehen.
500 Jahre waren eine lange Zeit. Den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Napoleon, all das hatte sie miterlebt.
Sie hatte in Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien und Englang gelebt.
Und die ersten 50 Jahre ihres Vampirlebens hatte sie in Schottland bei dem Vampirältesten George verbracht.
Er hatte sie gefunden, nachdem sie allein in ihrem Haus auf die Rückkehr ihrer Eltern gewartet hatte.
Er hatte sie mit nach Schottland auf sein Schloss genommen und ihr so vieles erklärt.
Zum Beispiel, dass sie nie altern würde.
Oder, dass sie sich allein von Tierblut ernähren durften.
Auf Mord eines Menschen stand die Todesstrafe, vollzogen von einem Vampirältesten.
Vampirältester, so hatte er es ihr erklärt, wurde man, wenn man über 1000 Jahre ein Vampir war.
Sie hatten die Aufgabe ihre Existenz zu schützen und dafür zu sorgen, dass kein Mensch durch ihre Hand starb.
Des Weiteren hatten sie die Gabe, neue Vampire aufzuspüren, bevor sie jemanden töten konnten.
Anna hatte vieles von George gelernt.
Er hatte ihr beigebracht, wie man jagte oder sich unter Menschen verhielt.
Und, wie sie ihre übernatürlichen Kräfte einsetzen musste.
Vampiren war es zum Bespiel möglich, so schnell zu rennen wie ein Gepard.
Oder so hoch zu springen wie ein Puma.
Oder so zu klettern wie Spiderman.
Na ja, ohne die Fäden und Spinnenhaare.
Nach einem halben Jahrhundert hatte Anna ihren Mentor dann verlassen.
Sie war nach Österreich gereist, ins schöne Oberösterreich.
Dort hatte sie vier Jahre gelebt.
Doch dann war sie das erste Mal gezwungen weg zu ziehen.
Andernfalls wäre es aufgefallen, dass sie nicht alterte.
Als Anna verwandelt wurde, war sie gerade einmal 21 gewesen.
Doch das war noch nicht schlimm.
Einmal war sie einem Mädchen begegnet, das mit 13 verwandelt worden war.
Ein Vampirpaar hatte es aufgenommen und gab es seitdem als ihre Tochter aus.
Anna war allein. Sie hatte keinen Partner.
Seit der Verwandlung, seit sie ihren Verlobten verloren hatte, hatte sie keinen Mann, keinen Vampir heißt das, an sich herangelassen.
Viele hatten es versucht.
Sie alle waren gescheitert.
Nun war Anna nach Sibiu gezogen.
Den Ort, an dem sie früher gelebt hatte.
Bevor ihr neues Leben als Untote begann.
Sie wusste nicht, was sie an diesen Ort gezogen hatte.
Mit ihren hellen Haaren und der noch viel helleren Haut war sie so exotisch wie ein Zebra im Dschungel.
Ihre Eltern mussten wo anders geboren worden sein. Sie waren nicht von hier.
Andernfalls hätte ihre Mutter nicht die gleichen rotblonden Haare gehabt wie sie.
Anna hatte nie danach gefragt.
Es war auch unwichtig.
Aber nun war Anna wieder in ihrer Heimat. Dort, wo sie gelebt hatte.
Es fühlte sich komisch an.
Alles sah so anders aus.
Überall Straßen und Autos, moderne Häuser aus Glas, und Bars.
All das hatte es früher nicht gegeben.
Damals waren noch Kutschen durch die Gassen gefahren und Frauen mussten gehorsam sein und Kleider tragen.
Tausende Leute waren an Krankheiten gestorben, die man heute in einem Krankenhaus leicht heilen konnte.
Mittlerweile war Anna im Seminarraum angekommen.
Er war noch leer. Sie war früh dran.
Sie ging die Stufen hoch und setzte sich in die hinterste Reihe.
Ihre Tasche ließ sie zu Boden gleiten.
Sie sah sich im Raum um.
Vor ihr stand ein Tisch, darauf befanden sich ein Beamer und ein Computer.
Die Wand war weiß gestrichen.
Sie war nun seit einer Woche hier.
Vorher hatte sie in einer kleinen Stadt in Deutschland gelebt und dort Jus studiert.
Doch sie hatte sich dort schon als 25 ausgeben müssen und da sie mit dem Studium fertig war, hatte sie beschlossen einen neuen Ort aufzusuchen.
Hier hatte es nicht sehr viel Auswahl gegeben.
Schließlich hatte Anna sich entschieden, Historik zu studieren.
Sie besaß eine kleine Wohnung in einem der modernsten und teuersten Wohnhäuser der Stadt.
Natürlich hatte Anna hier nach anderen Vampiren gesucht, aber anscheinend lebte außer ihr niemand in der Umgebung.
Langsam füllte sich der Raum.
Studenten kamen und setzten sich auf die gepolsterten Sessel.
Übertriebener Luxus, wenn man die Armut der meisten Leute in Rumänien bedachte.
Jeder Mann und jede Frau, die den Raum betraten, starrten Anna an, als sei sie ein Löwe im Zoo.
Sie musterten sie von oben bis unten.
Ihnen schien das nicht peinlich zu sein, oder ihnen fiel das gar nicht auf.
Ein junger Mann wagte es sogar, sich neben Anna zu setzen.
Er sprach sie an.
„Hallo, mein Name ist Marcus.
Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie gesehen.“
Anna hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie schon jemand angesprochen hatte oder wie oft Männer sie schon angeflirtet hatten.
Diese armen Trottel hatten wirklich geglaubt sie hätten eine Chance bei ihr.
Keiner von ihnen ahnte, dass es schon von vornherein aussichtslos war.
Erstens war Anna in Männern nicht interessiert.
Zweitens würde sie nie mit einem Menschen ausgehen.
Er würde altern, sie nicht.
Es hatte in ihrem langen Leben – wenn man es so nennen konnte – nur einen Mann gegeben, den sie je geliebt hatte.
Das war ihr Verlobter gewesen.
Doch er war tot. Das war keine Ahnung, das war Gewissheit.
Seit ihrer Verwandlung hatte sie ihn nicht mehr wieder gesehen.
Sie hatte sich nicht von ihm verabschieden können oder ihm sagen können, dass sie ihn liebte.
„Ich bin neu.
Es wäre nett, wenn du mich in Ruhe lassen könnest.“ sagte Anna unfreundlich.
Marcus sah sie erschrocken an – und ging.
Er setzte sich wo anders hin, weit weg von ihr.
Er war es anscheinend nicht gewohnt abgewiesen zu werden.
Anna bemerkte die verachtenden Blicke der Mädchen und Frauen.
Ihnen war nur zu gut bewusst, dass keiner der Männer sie auch nur ansah.
Nicht, wenn sie im Raum war.
Dafür hassten sie sie.
Deshalb war Anna auch den Umgang mit Menschen nicht gewohnt.
Sie hatte nie eine Freundschaft gehabt. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, was sie sagen sollte.
Selbst unter den Vampiren hatte sie nie Freunde gehabt. Aus dem gleichen Grund.
George war immer nur ihr Mentor gewesen.
Er war zwar freundlich zu ihr, aber er war ihr Lehrer gewesen.
Seit sie ihn verlassen hatte, war sie nur ein oder zwei Mal einem anderen Vampir begegnet.
Anna musste zugeben, dass sie gern Freunde gehabt hätte.
Sie fühlte sich einsam.
Doch nie würde sie auf die Idee kommen einen Menschen als Freund zu haben.
Eher blieb sie allein, freundlos, einsam.
Und einen Partner zu suchen kam für sie nicht in Frage.
Auch kein Vampir würde sie um den Finger wickeln können.
Dafür hatte sie ihren Verlobten Manuel zu sehr geliebt.
Der Raum füllte sich.
Nun waren fast alle Plätze besetzt.
Sogar neben Anna saß jemand.
Eine kleine Frau, die sie gekonnt ignorierte.
Doch Anna sah in ihrem Blick, dass sie ihr nicht egal war.
Sie war eifersüchtig.
Anna sah zum Eingang, in Erwartung den Professor zu sehen.
Wer stattdessen den Raum betrat, nahm ihr den Atem.
Es war ein ziemlich gut aussehender Mann. Nicht älter als sie, also 21.
Seine schokobraunen Haare standen ihm wirr vom Kopf.
Sein Sang war aufrechter als bei den anderen Männern und seine Haut so hell wie Kreide.
Anna wusste sofort, dass er ein Vampir war.
Sie spürte seine Aura.
Er warf Anna einen Blick zu.
Sie sah seine Augen.
Sie wirkten freundlich. In seinem Blick lag Verblüffung.
Er hatte dieselben leuchtend grünen Vampiraugen wie sie. Wie alle Vampire.
Anna wandte den Blick ab.
Ihr war sein Interesse nicht verborgen geblieben.
Kaum dass er sich in die erste Reihe, zwischen zwei Mädchen gesetzt hatte, begann er auch schon aufs heftigste mit ihnen zu flirten.
Ihre Gesichter waren rot vor Freude und Aufregung.
Anna war vergessen.
Wen interessierte schon das hübscheste Mädchen der Stadt, wenn der schärfste Junge einen ansprach?
Anna wusste nur zu gut, dass aus ihnen nichts werden würde.
Was sollte er ihr auch schon sagen, wenn er nicht alterte, während sie alt und runzelig wurde?
Es schien ihm Spaß zu machen, mit Mädchen zu flirten und zu reden.
Anna fragte sich, wie viele Jahre sein Vampirleben zählte.
Da fiel ihr auf, dass sie über den Vampir nachdachte und ihn ansah.
Sofort wandte sie den Blick wieder ab.
Er war ein Mann! Was war bloß in sie gefahren?
Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf den alten Professor, der gerade den Raum betreten hatte.
Der Vortrag handelte über den Ersten Weltkrieg, doch er war nur halb so spannend wie erwartet.
Vielleicht lag es ja auch nur daran, dass Anna alles selbst miterlebt hatte.
Doch die Stimme des alten Mannes war einschläfernd.
Mehrere Studenten gähnten, doch ihm schien das nicht auf zu fallen.
Anna spürte, dass der Vampir sie mehrmals ansah und musterte.
Sie versuchte es zu ignorieren, doch ihren scharfen Vampirsinnen
entging es nicht.
Bei George hatte sie gelernt, sich zu benehmen wie ein Mensch.
Wenn sie länger an einen Ort war, musste sie ab und an so zu tun als müsse sie auf die Toilette. Oder sich hin und wieder durchs Haare fahren oder kratzen.
Die letzten beiden Dinge tat sie schon fast automatisch. Und das erste hatte sie noch nie gebraucht, denn sie hatte bisher mit noch keinem Menschen länger als 1 Stunde gemeinsam verbracht.
Endlich war der Vortrag zu Ende.
Der Professor verstaute seinen USB Stick in seiner Ledertasche, dann stürmte er mit großen Schritten aus dem Raum.
Anna beeilte sich nicht.
Sie brauchte absichtlich so lange, bis sie allein war.
Sie wollte sicher gehen, dass der Vampir nicht mehr da war, wenn sie den Raum verließ.
Doch er wartete am verlassenen Gang.
Er stand lässig an die Wand gelehnt da und schien sich dabei besonders cool
vorzukommen, so wie er dreinschaute.
Als er sie sah, sagte er: „Als ich hierher kam hatte ich nicht erwartet eine so scharfe Vampirbraut anzutreffen.“
Anna blieb stehen und sah ihn an.
Er sah süß aus, das musste sie zugeben.
Und ganz anders als Manuel.
Er hatte blondes, langes Haar gehabt und war um einiges kleiner gewesen als der Vampir.
Doch dafür hatte der Muskeln, die sich unter seinem schwarzen T-Shirt deutlich hervorhoben.
Anna brach den Vergleich mit Manuel ab.
Das war der Hauptgrund, dass sie nie näher mit einem Mann zu tun hatte.
Immer verglich sie sie mit ihrem Verlobten und immer wieder kehrte der Schmerz zurück, sodass sie keinerlei Lust verspürte mit jemanden zu reden.
Dann wollte sie immer allein sein.
Jetzt wusste sie nicht, ob sie das Gesagt als Kompliment auffassen sollte.
Wenn ja, wie sollte sie darauf reagieren?
„Ich habe dich hier noch nie gesehen.“ sagte sie stattdessen.
Der Vampir zuckte mit den Schultern.
„Wie auch, wenn ich heute erst gekommen bin?
Du bist aber auch noch nicht lange hier.“
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Anna beachtete es nicht. Ihr war es egal, woher er es wusste.
„Wie heißt du?“ fragte der Vampir nach einer Weile, als Anna nichts gesagt hatte.
Sie zögerte.
Doch was konnte es schaden ihm ihren Namen zu nennen?
„Anna.“
Ihr Gegenüber lächelte.
„Hübscher Name.
Ich bin Christian.“ stellte er sich vor.
Anna nahm es mit einem knappen Nicken zur Kenntnis.
„Warum hast du mich aufgehalten?“ fragte sie.
Christian zuckte wieder mit den Schultern.
Anna sah ihm nun direkt in die weichen Augen.
Sein Verhalten passte gar nicht zu ihm.
Sein Gesicht sagte, dass er freundlich war und Anna hätte sich ihn charmanter vorgestellt.
„Ich wollte dich kennen lernen.
Ist das falsch?“
Er stellte sich gerade hin. Sein Blick war ernst.
„Wenn du willst, kann ich auch gehen.“
Er wandte sich schon um, aber Anna sagte: „Nein.
Ist schon gut.“
Im nächsten Moment wusste sie nicht, warum sie das gesagt hatte.
Doch als er angeboten hatte zu gehen, hatte sie seinen wirklichen Charakter gesehen.
Rücksichtsvoll und zuvorkommend.
So wie Manuel gewesen war.
Stopp! befahl Anna sich.
Nicht schon wieder Manuel!
Christian drehte sich wieder zu ihr um.
„Warum bist du hier in Sibiu? Ich meine, wäre London oder New York nicht interessanter?“ fragte Christian.
Anna zuckte die Schultern und lehnte sich an die Wand.
„Vielleicht.
Aber ich wollte die Stadt meiner Geburt wieder einmal sehen.“
Warum hatte sie ihm das gesagt?
Sie verfluchte sich dafür.
Doch Gott sei Dank fragte Christian nicht weiter nach.
Er nickte nur.
„Was machst du hier?“ fragte Anna.
„Ich hielt es für einen guten Einstieg.“ sagte er schulterzuckend.
„Guter Einstieg?“ Anna verstand nicht, was er damit meinte.
„Na ja, mein erstes Leben in einer Stadt, unter Menschen, meine ich.“ sagte Christian.
„Die letzten 400 Jahre habe ich in einem verlassenen Tal in den Anden gelebt.“
Anna runzelte ihre bleiche Stirn.
„Warum hast du das getan?“ fragte sie.
Christian zögerte.
„Ich möchte nicht darüber sprechen.
Doch etwas kann ich sagen: Ich tat es, um über einen……. schrecklichen Verlust hinweg zu kommen.“
Er hat auch jemanden verloren.
Anna verspürte eine tiefe Verbundenheit zu ihm. Er hatte ähnliches durchmachen müssen wie sie, das war ihr aus seinen Worten klar geworden.
„Das tut mir leid.“ sagte sie.
„Nun, ich will dich nicht länger aufhalten.
Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder.
Mich würde es freuen!“
Mit diesen Worten verschwand Christian.
Anna sah ihm nach.
So viel hatte sie schon sehr lange nicht mehr gesprochen und sie war erstaunt, wie gut ihr das tat.
Doch das durfte nicht so sein.
Sie durfte sich nicht an das Gefühl gewöhnen.
Wenn sie wieder wegzog, würde sie es vermissen.
Das durfte nicht geschehen.
Sie durfte sich nicht mehr so gehen lassen.
Anna war erleichtert, als sie aus dem Gebäude trat.
Sie musste eine Weile gehen, ehe sie ihr Auto erreichte.
Es war ein dunkelgrüner Jaguar – ein neues Modell.
Anna fuhr in die Stadtmitte, wo sie vor einem hoch aufragenden Glashaus hielt.
Es war nicht nötig den Lift zu nehmen – sie war so viel schneller im 8. Stock.
Ihre Wohnung war groß.
Alle Wände, die nach außen zeigten, waren aus Glas.
Es war sehr geschmackvoll eingerichtet. Modernste Technik und Designermöbel füllten die Räume.
Doch das meiste davon brauchte Anna gar nicht.
Das einzige, was in Verwendung war, waren Dusche, Waschbecken, Bett und der begehbare Kleiderschrank.
Ana legte den Autoschlüssel auf den Frisiertisch und betrat das Schlafzimmer.
In der Mitte des Raumes stand ein riesiges Doppelbett, der Bezug aus purer Seide.
Der Schrank war größer als das Bad und darin befanden sich mehr als 200 Kleidungsstücke und noch mehr Schuhe.
Anna legte ihre Tasche auf den Schreibtisch.
Neben dem Computer lag ein Handy. Doch darin war keine einzige Nummer gespeichert.
Von wem auch?
Anna ließ ja niemanden an sich heran.
Seufzend ließ sie sich auf das bequeme Ledersofa fallen.
Sie hatte nichts mehr zu tun.
Am Vormittag erst war sie jagen gewesen, geduscht hatte sie sich in der Früh.
Aufräumen übernahm eine Putzfrau und Fernseher besaß sie keinen.
Es war mittlerweile 5 Uhr.
Von der Universität bis zum Wohnhaus war es ein weiter Weg.
Man musste die ganze dicht befahrene Stadt durchqueren.
Anna legte eine CD von Linkin Park ein und schlüpfte aus ihrem Satinkleid und den Stillethos.
In ihrem schwarzen Spitzen-BH legte sie sich in das weiche Bett und zog die Decke hoch.
In Sibiu wurde es früh dunkel, auch im Frühling.
Und Anna hatte nichts zu tun. Die Wohnung verlassen wollte sie auch nicht mehr.
Sie hätte lesen können, doch sie besaß kein Buch, dass sie nicht schon einmal gelesen hatte.
Also ließ sie sich in den tranceartigen Zustand fallen, der Vampiren den Schlaf ersetzte.


Alles um sie herum war schwarz. Sie hörte nichts, sah nichts und fühlte nichts.
Sie würde so lange in der Trance verharren, bis all ihre Kräfte wieder aufgeladen waren.
Vampiren war es zwar möglich, auch vier Tage ohne die Trance zu überstehen ohne in eine Art Koma zu fallen, allerdings hatten sie dann kaum genug Kraft um auch nur einen Meter zu springen.
Geübte Vampire waren in der Lage die Trance abzubrechen.
Doch das konnten nicht viele von ihnen.
Anna schon.
Doch dieses Mal benötigte sie das nicht.
Sie war vollkommen ausgeruht und erwachte, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
Heute hatte sie keine Vorlesung und nach lernen war ihr nicht zu Mute.
Außerdem wusste sie sowieso schon fast alles, was sie für die Prüfung wissen musste.
Also beschloss Anna zum Park zu gehen, den sie so gern mochte.
Er lag still in der Mitte der Stadt.
Alle zwei Meter entlang des Kiesweges standen alte Holzbänke.
In der Mitte stand ein Brunnen, darum herum standen hohe Buchen.
Es waren keine Leute im Park. Er lag verlassen da.
Die Rosen begannen gerade erst zu blühen, doch man konnte ihre Pracht jetzt schon sehen.
Hier war es fast immer ruhig.
Hier konnte Anna nachdenken, denn der Spielplatz befand sich ein paar Straßen weiter.
Sie setzte sich auf einer der hölzernen Bänke und reckte das Gesicht gen Himmel.
Die Sonne war durch die Wolkendecke gebrochen und erhellte die Stadt.
Man hätte meinen können, ein Vampir zerfällt zu Staub, wenn er ins Sonnenlicht kommt.
Doch dieser Mythos stimmte eigentlich nicht.
Ja, in den ersten 10 Jahren bedeutete die Sonne wirklich den Tod.
In den nächsten 50 hatte man einfach nur Schmerzen, wenn man hinaustrat.
Aber alles, was nach diesen ca. 60 Jahren kam, machte ihnen nichts mehr aus.
Gut, Weihwasser und ein Holzpflock waren tödlich.
Aber die Sonne verlor ihre Kraft umso älter ein Vampir war.
Anna spürte die Strahlen nur noch wie ein angenehmes Prickeln.
Sie schloss die Augen und genoss das Zwitschern der Vögel.
Sie liebte den Frühling.
Nicht, weil es wärmer wurde.
Vampire spürten keine Temperaturen wie Minusgrade oder so.
Was sie anfassten, hatte sehr wohl eine Temperatur, aber die Luft nicht.
Und Wasser ebenso wenig.
Nichts was flüssig oder gasförmig war.
Das war ziemlich unangenehm, wenn man unter Menschen lebte.
Wenn man im Winter mit einem Kleid umherlief, fiel das doch ein bisschen auf.
Einmal war Anna das schon passiert.
Ganz am Anfang ihres freien Vampirlebens.
Ihr erster Winter.
Da war sie mit ihrem Korsett in die Stadt gegangen, bei Schnee und Minus-was-weiß-ich-wie-viel-Grad.
Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln.
Wie die Leute sie angesehen hatten!
Das lag viele Jahre zurück.
Mittlerweile wusste Anna genau, wie man sich verhalten musste, um nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig zu bekommen.
Was ohnehin schwer genug war, wenn man so schön ist wie sie.
Kein Mann schaffte es, sie zu ignorieren. Selbst dann nicht, wenn seine bezaubernde Verlobte neben ihm hergeht.
Das war oft mehr als unangenehm und nicht mehr schmeichelhaft.
Hier in Transsylvanien war das noch schlimmer.
Wieder einmal schweiften ihre Gedanken an ihr früheres Zuhause.
Ob das Haus noch stand?
Sie hatte noch nicht nachgesehen, aus Angst von den Erinnerungen übermannt zu werden.
Sie erinnerte sich noch gut daran, dass man in der Ferne das Schloss von Dracula sehen konnte, auf einem Hügel.
Und, dass es damals in dem Schloss gespuckt hatte.
Anna hatte Nachforschungen angestellt.
Dracula hatte es wirklich gegeben. Er war auch ein Vampir gewesen, aber ein Vampirältester hatte ihn rund 100 Jahre vor Annas Geburt getötet.
Also war es nicht der dunkle Graf, der die Gegend in Panik versetzt hatte, auch wenn das damals viele Leute glaubten.
Anna nahm sich vor, herauszufinden, was in dem Schloss vor sich gegangen war.
Auch, wenn sie noch nicht recht wusste, wie.
Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken.
Ein Kind, nicht älter als 6, lag im Schatten einer Buche.
Es weinte und hielt sich ein Knie.
Anna sah sich um.
Kein Erwachsener in der Umgebung.
Komisch.
Sie seufzte und stand auf.
Wenn keiner da war, musste sie eben dem Kind helfen.
Bei dem Mädchen angekommen, kniete sie sich nieder und betrachtete das aufgeschürfte Knie.
Es war keine tiefe Verletzung.
Gut.
„Tut es sonst noch wo weh?“ fragte Anna.
Der Geruch von Blut kitzelte sie in der Nase, doch sie hatte ihren Durst schon lange unter Kontrolle.
Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.
„Wie heißt du denn?“ fragte Anna.
„Anja.“ meinte die Kleine.
„So Anja, dann helfe ich dir jetzt beim Aufstehen, okay?“
Anna stand wieder auf und nahm das Kind an den Armen.
Langsam und vorsichtig zog sie sie auf die Beine.
Plötzlich spürte sie ein Unangenehmes Kribbeln im Nacken.
Jemand beobachtete sie.
„Lauf zu deiner Mutter!“ sagte Anna dem Mädchen, weniger freundlich als vorhin.
Es nickte und humpelte auf den Ausgang des Parkes zu, wo eine Frau mit einem Kinderwagen stand und auf sie zu warten schien. Ob sie vorher auch schon da gestanden hatte?
Langsam drehte Anna sich um.
Ihr Blick fiel sofort auf ihren Beobachter.
Er stand 5 Meter von ihr entfernt unter einem weiteren Baum.
Er versuchte gar nicht erst zu verbergen, dass er sie anstarrte.
Doch etwas gefiel Anna an ihm nicht.
Er war ungewöhnlich groß, seine Haut hatte ein hässliches Schlammbraun und seine Haare waren hüftlang und er trug sie offen.
Doch es war eindeutig ein Mann, denn er trug kein Oberteil.
So stand er da: Halbnackt, riesig und furchteinflößend.
Sogar für einen so erfahrenen Vampir wie Anna.
Das hier war kein Mensch.
Das spürte sie bis ins Mark.
Eine Weile starrten sie sich gegenseitig an, Anna war nicht in der Lage sich zu bewegen.
Schließlich erhob der Mann das Wort. „Es ist nicht gut, dass jemand eurer Rasse hier ist.
Das ist nicht euer Gebiet.“
Seine Stimme war leise und kalt. In ihr lag so viel Verachtung und gleichzeitig war sie drohend.
„Dir kann es egal sein ob ich hier lebe oder nicht.
Ich tue niemandem etwas!“ sagte Anna, die ihre Stimme wiedergefunden hatte, selbstbewusst.
Der Mann lächelte nur hämisch.
„Es ist besser wenn du verschwindest und dich hier nie wieder blicken lässt.
Sonst kann ich nicht versprechen, dass du diese Stadt je wieder verlassen kannst.“
Nach dieser offenkundigen Drohung drehte sich der Mann um und verschwand schnellen Schrittes.
Anna blieb stehen und starrte ihm entsetzt nach.
Es brauchte viel um sie zu ängstigen, aber das war eindeutig eine Morddrohung gewesen.
Und was auch immer er war, er wusste über sie bescheid.
Ein Instinkt sagte ihr, dass sie seinem Rat folgen und die Stadt für immer hinter sich lassen sollte.
Doch das konnte sie nicht.
Nicht ohne dass sie nicht wusste, was mit ihren Eltern geschehen war und was in Draculas Schloss vor sich gegangen war.
Mehr wollte sie ja nicht.
Warum also hasste dieser Mann sie?
Sie hatte noch nie einen Menschen getötet. Das können viele Menschen nicht einmal von sich behaupten und die ernähren sich nicht von Blut!
Außerdem: Woher wusste dieser Mann was sie war? Woher wusste er überhaupt bescheid?
Das war eigentlich unmöglich, denn die Vampire hüteten ihr Geheimnis.
Anna stand noch eine Weile so da, bis sie kehrtmachte und den Park in die andere Richtung verließ.
Sie eilte die Einkaufsstraße entlang.
Katy Perry´s Hot ´n´cold drang au seiner Boutique zu ihr hinaus und der Geruch von frischem Gebäck wehte ihr in die Nase.
Doch dieser Geruch, den die Menschen so liebten, war ekelerregend und die Musik schmerzte in den Ohren.
Hastig verließ Anna diese Straße und bog ab in eine verlassene Gasse.
Sie wusste nicht, wo sie hinging und es war ihr im Moment auch egal.
Ihre Gedanken schwirrten in ihrem Kopf umher und verursachten ihr Kopfschmerzen.
Ihr Unterbewusstsein sagte ihr, dass er seine Drohung wahr machen würde.
Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich einfach nicht erklären, warum er sie töten wollte.
Was hatte sie getan?
Doch darüber wollte sie sich jetzt keine weiteren Gedanken machen.
Vermutlich handelte es sich um einen Psychopaten.
Davon hatte Anna schon viele miterlebt.
Jack the Ripper und andere kranke Mörder der Geschichte.
Sie hatte zu seiner Zeit in London gelebt und mitbekommen, als er mordete.
Sie war eine der wenigen, die wussten was aus Jack the Ripper wurde.
Der Vampirälteste Erik hatte ihn eingesperrt in seine Burg.
Jetzt erst fiel Anna auf, dass sie sich am Waldrand befand.
Es musste der Durst gewesen sein, der sie hierher gebracht hatte.
Anna zuckte die Schultern.
Wo sie schon einmal hier war, konnte sie auch jagen gehen.
Das würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen.
Rasch sah sie sich um und als sie sicher war, dass keiner sie sah, huschte sie ins Gestrüpp.
Mit hundert Sachen raste sie durch den dichten Nadelwald.
Die Schuhe mit den hohen Absätzen bremsten sie nicht.
Sie sog die Luft ein und konzentrierte sich auf einen einzigen Duft.
Bär. Ganz in der Nähe.
Anna lief das Wasser im Mund zusammen.
So etwas Gutes hatte sie schon lange nicht mehr getrunken.
Das letzte, was sie zu sich genommen hatte, war Hirschblut gewesen.
Sie verlangsamte ihre Schritte und ihre Bewegungen wurden geschmeidig und leicht.
Keiner ihrer Schritte war zu hören, kein Blatt raschelte unter ihrer Berührung.
Sie kam dem Tier immer näher, spürte sogar schon seine Körperwärme.
Der Wind blies in Annas Richtung.
Zum Glück.
Denn ihre Jagdtechnik war die einer Katze.
Sie schlich sich immer näher an ihre Beute heran, bereit jederzeit anzugreifen.
Ihr Körper spannte sich an. Jede Sehne, jeder Muskel ihres perfekten Körpers war für den Absprung bereit.
Der Bär tauchte auf einer kleinen Lichtung auf.
Anna hielt sich zwischen zwei Farnen versteckt.
Sie kauerte sich nieder und als der Bär endlich nah genug bei ihr war, sprang sie.
Sie wirbelte hoch in die Luft, lautlos, und landete mit voller Wucht auf dem Rücken des Tieres.
Der Bär brüllte überrascht auf – und rannte.
Doch Annas Finger hatten sich schon fest in das Fell gekrallt.
Er würde sie nicht mehr abschütteln können.
Plötzlich hielt der Bär.
Er änderte seine Taktik.
Er schüttelte sich und versuchte Anna mit den Krallen zu erreichen. Vergeblich.
Anna lachte.
Hier konnte sie sein, wie sie war.
Ein Monster, das die Gefahr liebte. Na ja, und den Kampf.
Doch sie konnte den kalten Angstschweiß des Bären riechen und ihr Hunger wurde auch immer mächtiger.
Das Tier wollte sich auf den Rücken werfen um seinen Angreifer zu zerquetschen, was, nebenbei bemerkt, ohnehin nicht funktioniert hätte, und Anna schlug ihre scharfen Zähne in die Halsschlagader des Tieres.
Erst brüllte es noch lauter und wurde noch wilder.
Doch umso mehr Blut Anna aus ihm heraussog, umso schwächer wurde der Bär.
Dann gab er auf.
Er ließ sich zu Boden fallen und Anna tat den Rest.
Als der Bär seinen letzten Atemzug tat, erschlaffte er und alle Muskeln gaben nach.
Unter ihr lag nur noch ein Haufen Fell und Knochen, abgesehen von den Organen und den toten Muskeln.
Sein Herz und sein Gehirn waren ausgetrocknet.
Anna ließ von ihm ab und erhob sich.
Sie leckte sich das bisschen Blut, das auf ihren Lippen war, weg, strich sich über ihr Gewand und ließ den Kadaver zurück.
Wenigstens hatte er kämpfen können, bevor er starb.
Während sie rannte, sah Anna an sich hinunter.
Ihr Gewand war zwar von Dreck und Bärenhaaren bedeckt, aber es befand sich kein Tropfen Blut daran.
Anna beschleunigte.
Sie raste durch den Wald, der Wind blies ihr ums Gesicht.
So fühlte sie sich frei.
Das Laub raschelte unter ihren Tritten und die Äste schwankten von dem Wind.
Ein paar Mal streifte ein Ästchen Annas Arm.
Doch die Kratzer waren innerhalb ein paar Sekunden wieder verheilt.
Sie verließ den Raum an einer anderen Stelle, als sie ihn betreten hatte.
Vor ihr lag eine verlassene Straße, die ins Herz der Stadt führte.
Von hier aus waren es nur zirka 10 Minuten bis zu ihrer Wohnung.
Ein rotes, altes Auto raste an ihr vorbei. Der Fahrer hupte und wedelte mit der Hand.
Anna starrte ihm wütend hinterher.
Sie ging die enge Straße schnell entlang.
Sie hatte es sehr eilig nach Hause zu kommen, denn so konnte sie unmöglich länger auf der Straße herumlaufen.
Sie seufzte erleichtert auf, als sie in den Aufzug zu ihrem Penthaus stieg und den Knopf drückte.
Das erste, was sie dort tat, war die Kleidung wechseln.
Sie hatte nicht vor in der Wohnung zu bleiben. Sie war nicht im Geringsten müde und hatte keine Lust tatenlos hierzubleiben.
Anna machte sich auf zur Bibliothek.
Auch diese war nicht weit entfernt.
Es war eine große Bibliothek, sie bot viel Auswahl, nicht nur an modernen Sachen. Sie hatte auch viele antike Bücher, Schriftrollen und sogar Pergamenten.
Doch was Rechtswissenschaft anging, hatte sie schon alle Wälzer gelesen.
Davon gab es hier auch eine Menge.
Anna ging auf direktem Wege zu dem Tresen, der nur ein paar Reihen neben den hohen Regalen mit den Büchern über Jus stand.
Dahinter saß ein älterer Mann, mit schlohweißem Haar und Vollbart.
Seine viereckige Brille saß schief auf seiner krummen Nase, das nur wenige Zentimeter über einem dicke, vergilbte Buch hing.
Anna trat an den Tresen und räusperte sich.
Der Mann sah auf. Er lächelte und entblößte eine Reihe schiefer, gelber Zähne.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte er mit krächzender Stimme.
Anna fragte sich, warum man so einen alten Mann in eine Bibliothek setzte. Der musste ja halb blind sein, so dick, wie seine Brillengläser waren.
„Können Sie mir sagen, wo ich die Abteilung für örtliche Gesichte finde?“ fragte sie.
Der Bibliothekar sah sie eine Weile nachdenklich an und sie fragte sich schon, ob er seinen Verstand verloren hatte oder an Alzheimer litt, als er schließlich keuchte: „Den Gang runter, letztes Regal recht.“
Anna nickte ihm knapp zu und beeilte sich, von ihm weg zu kommen.
War es zu fassen, der Mann hatte tatsächlich gespuckt während er sprach!
Es war ein sehr kleines Regal. So viele Bücher über die Gegend schien es nicht zu geben.
Anna nahm viele Bücher heraus und blätterte darin herum. Nicht eines handelte von den Ereignissen im 16. Jahrhundert.
Ja, in vielen stand etwas über Dracula, aber es war nicht darüber zu finden, was damals tatsächlich gewütet hatte.
Aber was hatte Anna sich erwartet? Wenn es ein Buch darüber geben würde, wäre die Theorie, dass Dracula zu dieser Zeit noch lebte, widerlegt worden.
Doch Anna hatte noch keine Lust zurückzukehren in ihre Wohnung.
So bückte sie sich zum untersten Fach und zog eine Schachtel heraus.
Mit schwarzem Edding stand darauf: Zeitungsartikel aus dem 16. Jahrhundert.
Die ganze unterste Reihe war mit solchen Kartons gefüllt. Vom 14. bis zum 21. Jahrhundert, alle wichtigen Artikel waren aufbewahrt.
Anna wusste selbst nicht, was sie sich davon erhoffte, doch sie nahm den Karton mit zu einem kleinen Schreibpult, in der Ecke.
Sie setzte sich auf den Stuhl, der mit einem Samtpolster überzogen war.
Anna nahm vorsichtig den Pappdeckel herunter und hob das dicke Bündel alter Zeitungsartikel heraus.
Sie hielt die wichtigsten Ereignisse des 16. Jahrhunderts in den Händen!
Langsam und vorsichtig sah sie sie durch.
Erst fand sie nichts, was auch nur mit dem Schloss zu tun hatte.
Die Verbrennung einer gewissen Melinda Halen, die Ermordung eines Gastwirts und ein Ehestreit, bei dem die Frau das Haus in Barnd gesteckt hatte.
Doch nichts von Dracula. Anfangs.
Doch als sie zirka bei der Hälfte war, hieß es, dass der Lord wieder junge Frauen und sogar Kinder und Männer tötete. Man hätte die Leichen im Wald in der Nähe des Schlosses gefunden.
Es gab 10 solche Artikel, alle aus der Zeit von Annas Verwandlung.
Dazwischen hatte sich ein kleiner Abschnitt eingeschlichen, in dem sich ein Mann zu Tode gelacht hatte.
Aha, schon klar.
Anna hatte keine Erwartungen mehr, doch sie hielt nur noch wenige Artikel in den Händen, also sah sie die restlichen auch noch durch.
Bei dem Vorletzten hielt sie inne.
Er machte sie aufmerksam und es beunruhigte sie, wie der Titel lautete.

Familie von Wölfen gefressen


Anna hielt inne. Ein Gefühl hatte sie ergriffen, das sie nicht mehr losließ. In ihrem Magen war ein Knoten, ihr wurde schlecht.
War es wirklich das, was sie dachte dass es war?
Das Datum passte.
langsam begann Anna es zu lesen:

Am gestrigen Tage wurden Lord Sebastian van Sanctorie, Lady Ruth van Sanctorie und Lord Manuel Hames von ihren Gliedmaßen getrennt aufgefunden.
Ein Herr bei Pferd war auf die Zerstümmelten gestoßen, als er des Morgens durch den Wald ritt.
Laut seinen Worten sollen die Lords und die Lady mit der roten Flüssigkeit durchtränkt gewesen sein. Des Wolfes Opfer waren nur noch schwer zu erkennen gewesen.
Die Tochter der Familie, die mit Lord Manuel Hames den Weg zur Ehe eingehen wollte, Anna Sanctorie, war nicht auffindbar. Jedoch ist die Schlafkammer der jungen Lady ein Bad aus Blut.
Was auch immer in jener Nacht geschehen sein mag, was auch immer diese Familie so zu Tode gebracht hatte, ist Schuld am Verschwinden der hübschesten Frau des Ortes.


Wie betäubt starrte Anna auf den Artikel in ihren Händen.
Tränen sammelten sich in ihren Augen und brachen hervor.
Sie liefen die glatte, kühle Wange hinunter und tropften aus das alte, vergilbte Blatt.
So oft hatte Anna sich gewünscht zu erfahren, was mit ihrer Familie passiert war.
Doch jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als es nie erfahren zu haben.
Wie eine leblose Hülle saß sie da und starrte vor sich hin. Ihre Hände zitterten wie Espenlaub, ihr Blick verlor sich in der Ferne.
Sinnlos. Das Leben war absolut sinnlos.


Die Geschichte


Christian hatte vor, Anna zu finden. Er hatte mehr als 400 Jahre einsam verbracht. jetzt sehnte er sich nach Gesellschaft.
Und Anna sah ziemlich gut aus. Außerdem wirkte sie sehr interessant.
Ja, Christian war an ihr interessiert. Sie faszinierte ihn.
Also folgte er ihrer Spur. Er streckte seine Vampirsinne aus und spürte sie in der Bibliothek auf.
Er fuhr mit seinem brandneuen Cabrio zu dem alten Gebäude, das so ähnlich aussah wie das Universitätsgebäude.
Der Mann beim Tresen war ganz in ein dickes Buch versunken und Christian unterbrach ihn nur ungern.
„Haben sie eine bildhübsche junge Frau hier vorbeigehen gesehen? Ich bin auf der Suche nach ihr.“
Der Mann sah auf und starrte ihn an.
So viele schöne Personen hatte er vermutlich in seinem Leben noch nicht an einem Tag gesehen.
„Sind Sie ihr Freund?“ fragte er.
Doch ohne eine Antwort abzuwarten schüttelte er den Kopf.
„Das geht mich nichts an.
Ja, sie ist ganz hinten!“ sagte er.
Christian nickte und ging in die Richtung, in der Anna war.
Er hatte vor mit ihr zu sprechen, wenn ihm auch noch nicht ganz klar war über was.
Über Musik wohl eher nicht und Christian war sich ziemlich sicher, dass Britney Spears Comeback Anna genauso wenig interessierte wie die Tatsache, dass Rihanna von ihrem Freund Chris Brown verprügelt worden ist.
Er kannte sie zu wenig um zu wissen, was in ihrem Interesse lag.
War es Politik?
Sollte er sie fragen was sie von Barack Obama hielt?
Oder wie sie über die Gesamtschule in Österreich und Deutschland dachte?
Doch als Christian Anna erblickte, erstarrte er.
Sie saß da wie eine Statue und wirkte eher tot als – na ja, lebend tot eben.
Tränen strömten über ihr Gesicht und das einzige, das sich bewegte, waren ihre zitternden Hände.
Christian kniete sich besorgt neben Anna und sprach sie mit weicher Stimme an: „Anna, was ist los?“
Doch sie reagierte nicht.
Auch dann nicht, als er sie an den Schultern nahm und schüttelte.
Sie war weit weg.
So konnte er sie nicht hier lassen, nicht allein lassen.
Das wäre so, als ob er ein kleines Kätzchen im Tierheim lassen würde, oder schlimmer.
Vorsichtig – so sanft es ging - hob Christian sie hoch und hielt sie so, wie ein Bräutigam seine Braut über die Schwelle trug, oder eine Mutter ihr Baby.
Er war sehr vorsichtig, obwohl das eigentlich nicht nötig wäre. Anna war auch ein Vampir.
Aber etwas in Christian weckte die Fürsorge und die Zärtlichkeit, die er so lange nicht mehr gespürt hatte.
Christian trug Anna an dem Tresen vorbei.
Der Bibliothekar sah auf und sprang zu ihm.
„Was ist passiert?“ fragte er entsetzt, als er Annas schlaffen Körper sah.
„Ihr geht es nicht sehr gut.“ sagte Christian einfach.
Ihm wäre es lieber gewesen der Mann wäre einfach einer dieser Leute gewesen, die während ihrer Arbeit schliefen und denen es egal war, was um sie herum geschah.
Diese Art von Menschen, die bewegungslos zusehen würden, wenn neben ihnen ein Mensch enthauptet wurde.
Unwillkürlich musste er an die Hinrichtungen im Mittelalter denken.
Damals hatte es so viele schaulustige Leute gegeben. Christian war davon überzeugt, dass es mindestens noch genauso viele waren, doch niemand würde zugeben dass er so etwas spannend fand oder befürwortete.
Na ja, obwohl manche Leute in den USA ja bei den Hinrichtungen in den Hochsicherheitsgefängnissen doch zusahen und sich daran labten.
Der Bibliothekar sah wohl Annas geöffnete Augen, denn er nickte und trat zur Seite.
Christian nickte ihm zu, dann hastete er zu seinem Wagen.
Schnell fuhr er zu seinem kleinen Haus, am Rande der Stadt.
Er hatte keine Ahnung wo Anna lebte, also nahm er sie mit zu sich.
Mit quietschenden Reifen hielt er vor der Tür.
Er sprang aus seinem Cabrio und zog Anna, die am Rücksitz saß, auf seine Arme.
Er stieß die Tür mit seinem rechten Fuß aus.
Natürlich flog sie dabei aus den Angeln.
Gott sei Dank hatte er keine Nachbarn
Die hätten ihn noch für einen aggressiven Drogenjunkie gehalten, der sich gerade eine Spritze gesetzt hatte.
Behutsam legte Christian Anna auf das weiche beige Ledersofa in seinem Wohnzimmer.
Anna ließ das alles mit sich machen.
Christian fragte sich, ob sie überhaupt bemerkte, was er tat.
Vorsichtig beugte er sich über sie – und sog ihren Duft ein.
Es war eine Mischung aus ihrem teuren Chanel Parfüm und dem Duft nach frischen Rosenblättern.
Unglaublich anziehend, und Christian wich sofort zurück.
Langsam zog er sich zurück.
Im Moment konnte er nicht mehr für sie tun.

Es war bereits dunkel, als Christian eine Regung an Anna wahr nahm.
Für ein menschliches Auge wäre es nicht zu erkennen gewesen.
Es war nur ein einfaches Heben ihres rechten kleinen Fingers, doch genug um ihm aufzufallen.
Der Raum war von dem gedämpften Licht des Kamins erleuchtet.
Wie romantisch, dachte Christian ironisch.
Er stand am Fenster, sein Blick an Annas steifen Körper geheftet.
Sie sah aus wie eine Statue. Sie könnte Pallas Athene sein, würde sie stehen und ein passendes Kleid tragen.
Ihre Schönheit stand der der griechischen Göttin bestimmt in nichts nach.
Als sie ihren Finger leicht regte, eilte er sofort zu ihr.
Sie musste schon langsam aus dem Schock erwachen, überlegte Christian.
Bis vor kurzem hatte er nicht einmal gewusst, dass das bei Vampiren möglich war. Einen Schock erleiden, weinen.
Na ja, gut, das mit dem weinen hatte er gewusst und wenn er es sich recht überlegte war es wohl auch keine Schock, den Anna da hatte.
Es musste das gleiche sein, was er selbst vor mehr als 400 Jahren gefühlt hatte.
So tiefe Trauer und Entsetzten, dass man darin versank und nicht mehr in der Lage war, daraus zu erwachen.
Vampire trugen Gefühle wie Trauer, Verzweiflung und Angst meist innerlich aus. Sie zeigten diese Emotionen nur äußerst selten.
Dafür waren Wut, Liebe und Hass umso ausgeprägter.
Häufig kam es zu Kämpfen zwischen Vampiren, die allerdings nie tödlich endeten.
Na ja, fast nie zumindest………..
Selbst wenn ein Vampir weinte, dann meistens stumm. Der eigentliche Kampf fand innen statt.
Aber wenn einem Vampir etwas so nahe ging, dass es ihn drohte zu zerreißen, dann war es etwas ganz anderes.
Wenn ein Vampir emotional wurde, dann so richtig.
Meist wurde die Trauer und Verzweiflung, oder gar der Schmerz, zur Wut.
Diese richtete sich dann wahllos gegen etwas oder jemanden, der nichts dafür konnte.
Oft sogar gegen sich selbst.
So schlimm war es bei Anna nicht.
Gott sei Dank.
Was auch immer sie in diesen Zustand gebracht hatte, war nicht so schlimm gewesen.
Oder vielleicht hatte sie es ja schon geahnt, gewusst…...
Christian schüttelte den Kopf.
Nein, er konnte nicht wissen wie schlimm es war.
Vielleicht war es schlimmer, als er ahnte und Anna war einfach nur besonders stark.
Er kannte sich nicht aus damit.
Zu lange war er allein gewesen.
Bei ihm war es jedenfalls so gewesen, dass er ausgerastet war.
Er hatte einen halben Wald zerstört und war schluchzend und heulend zusammengebrochen.
Erbärmlich.
Als ob er ein kleines hilfloses Kind wäre, dass seinem toten Hamster nachweinte!
Er war ein Vampir und noch dazu ein Mann!
So eine Blöße durfte er sich nicht noch einmal geben.
Dazu würde es nicht noch einmal kommen.
Das konnte es gar nicht, wenn er genauer überlegte.
Christian setzte sich neben sie und rüttelte sie erneut an den Schultern.
„Anna! Anna, komm zu dir!“ redete er auf sie ein. Fast ein bisschen zu drängend.
Langsam – fast in Zeitlupe, und er fragte sich, wie ein Vampir sich nur so langsam bewegen konnte – drehte sie sich zu ihm um.
„Christian?“ fragte sie mit schwacher Stimme.
Christian seufzte erleichtert auf.
„Ja, ich bin hier.
Ich habe dich in der Bibliothek gefunden.
Du bist in meinem Haus!“ erklärte er ihr.
Anna runzelte ihre glatte, bleiche Stirn und sah sich im Raum um.
Vor ihnen war der große, alte Kamin, in dem das Feuer loderte.
An der gegenüberliegenden Wand – das Sofa stand mit dem Rücken dazu da – standen Regale, die mit Büchern aller Art vollgestopft waren.
Zwischen den zwei Fenstern stand ein Tischchen, auf dem einige Automagazine lagen.
Ansonsten schien der Raum leer zu sein, abgesehen von dem großen Teppich aus echtem Bärenfell.
Der Kopf war sogar noch daran.
Er sah so aus wie diese Teppiche, die in alten englischen Schlössern und Burgen herumlagen, nur, dass dieser hier selbst gemacht war.
Bei seiner ersten Jagd hier hatte er ein besonders großes Exemplar getötet. Das Fell hatte er dann mitgenommen.
Er musste unwillkürlich lächeln, als er sich daran erinnerte, dass er an einem haus vorbeigegangen war, in dem sich ein kleines Mädchen einen Film namens Winnie Puh angesehen hatte.
Lächerlich. Als ob Bären sprechen könnten und sich nur von Honig ernährten!
Wie dumm und naiv die Menschen doch waren! Vor allem in dieser Zeit!
Früher hatte es auch Machtkämpfe zwischen Königen und Anführern gegeben, aber die Atombomben, die die Welt vollkommen ausradieren konnten, waren mehr als Christian ertragen konnte.
Denn auch die würde er überleben.
Und was sollte er dann tun?
Frei im Weltraum umherfliegen und den Rest der Zeit so verbringen?
Da würde er sich eher ein Holzkreuz ins Herz rammen, als am Mond zu leben.
Na ja, vielleicht würde er auch auf den Saturn ziehen. Der sah besonders schön aus…...
Anna wischte sich die Tränen aus den Augen.
Jetzt bemerkte Christian den Zettel, den sie in der Hand hielt.
„Darf ich?“ fragte er und nahm ihn ihr vorsichtig aus der hand.
Rasch überflog er ihn.
Plötzlich wurde ihm klar, was Anna so entsetzt hatte.
Hier stand ihr Name. Sie hatte eine Familie gehabt, wie so viele andere Vampire auch.
Doch sie hatte sich nicht verabschieden können.
Aber das erklärte ihre Reaktion immer noch nicht wirklich.
„Willst du mir nicht erzählen, was dich so bedrückt?“
Bedrückt war kaum das passende Wort.
Es sah eher so aus, als hätte sie unabsichtlich, aus purem Versehen, die ganze Stadt ausgelöscht und machte sich deswegen Vorwürfe.
„Es ist meine Schuld!“ murmelte Anna.
Okay, sie machte sich Vorwürfe.
„Erzähl mir alles von Anfang an.“ sagte Christian.
„Wenn du möchtest und dich bereit fühlst darüber zu sprechen!“ fügte er taktvoll hinzu.
„Das möchte ich sogar sehr gerne.“ sagte Anna dankbar.
„Ich habe vor fast genau 500 Jahren in einem Herrenhaus ganz in der Nähre von Draculas Schloss gelebt.
Ich war glücklich. Mein verlobter war so gut zu mir. ich habe ihn so sehr geliebt.
Und meine Eltern waren die besten, die man sich nur wünschen kann.
Aber eines Nachts wachte ich im Wald auf.
Ich war allein, und wusste nicht, wo ich war, geschweige denn, wie ich hierher kam.“
Sie hielt inne und schnaubte.
Christian wartete, bis sie weitersprach.
„Irgendwie habe ich wieder zum Haus gefunden.
Aber keiner war da.“
Ihre Stimme klang wieder fester, sie war wieder bei vollem Bewusstsein.
Doch ihre Stimme hatte immer noch einen traurigen Klang.
„Ähm………… ich wartete einen ganzen Tag. Das Sonnenlicht schmerzte, also zog ich mich in den Schatten zurück.
Da merkte ich, dass etwas nicht stimmte.
Als ich mich in den Spiegel sah, fühlte ich mich bestätigt.
Ich sah anders aus.
Am Abend dann, als selbst Brot und Wasser mich nicht sättigen konnten, tauchte ein Mann auch.
Er sah gut aus, auf eine Art und Weise, wie ich zuvor noch nie jemanden gesehen hatte.
So bleich, so unnatürlich makellos.
Wie ich.
Er erklärte mir, dass ich nicht bleiben konnte und sagte mir, dass ich ein Vampir war.
Ich weiß nicht warum, aber ich glaubte ihm sofort.“
Sie machte wieder eine Pause.
Als sie fort fuhr, umspielte ein seichtes Lächeln ihre Lippen, das Christian den Atem
raubte.
„Der Vampirälteste George nahm mich mit auf sein Schloss und unterwies mich in allem, was ich wissen musste.
Es war eine gute Zeit, aber dennoch vergaß ich meine Familie nicht.
Ich fragte mich all die langen Jahre, die ich nun schon dieses Leben führe, was aus ihnen geworden ist.“
Ein Schatten legte sich über ihr bezauberndes Gesicht.
Tiefe Traurigkeit erfüllte ihre Stimme.
„Jetzt weiß ich es“ schloss sie ihren Bericht.
Christian sah sie an – voller Mitleid.
Jetzt verstand er.
Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Familie in Stücke gerissen wurde! All die Jahre hatte sie nicht gewusst, was aus ihnen geworden war.
Die Ungewissheit, all die Jahrhundert!
Er bewunderte sie für ihre Stärke.
Als Anna wieder sprach, war ihre Stimme erfüllt von Selbsthass.
„Es ist meine Schuld, verstehst du?“
„Wegen mir sind sie tot! ich habe sie umgebracht! Es ist alles meine Schuld!“ Anna schrie. Sie war vollkommen aufgelöst und hysterisch.
Christian versuchte sie zu beruhigen.
„Es ist bestimmt nicht deine Schuld!“ sagte er. Doch er war sich bewusst, dass seine Worte nur wenig trösten würden.
„Natürlich habe ich schuld! Wenn ich nicht im Wald gewesen wäre, hätten sie mich nicht gesucht und sie wären nicht meinetwegen gestorben!“
Tränen liefen unkontrolliert über Annas Gesicht.
Es schmerzte Christian sie so zu sehen.
Er verspürte eine Zuneigung zu ihr und ein Verlangen, sie zu trösten, zu sagen, dass all das nicht wahr war.
Er rüttelte Anna und zwang sie, sich anzusehen. „ Sieh mich an!“ rief er mit fester Stimme.
Langsam wurde Annas Körper schlaff und sie sank in sich zusammen, hörte auf sich gegen seinen Griff zu wehren.
Sie sah ihm in die Augen, und Christian zog es das Herz zusammen, sie so zu sehen.
So schwach, so verletzlich.
Als er sie das erste Mal getroffen hatte, war sie eine so starke, selbstbewusste Vampirfrau gewesen.
Sie zitterte am ganzen Leib.
„Es … ist…...nicht…...deine….Schuld!“ sagte Christian langsam und eindringlich, als hätte er es mit einem Kleinkind zu tun.
„Du bist nicht in den Wald gegangen. Du hast ihnen nicht gesagt sie sollen dich suchen.
Du kannst nichts dafür. Du hättest nicht ändern können, auch wenn du bei ihnen gewesen wärst!“
Na gut, als Vampir vielleicht schon, aber nicht als ein junger Vampir.
Sie hätte womöglich ihre Familie selbst getötet.
Was das in ihr angerichtet hätte, wollte sich Christian lieber gar nicht ausmahlen.
„Meinst du?“ fragte Anna hoffnungsvoll.
Ihre Augen waren geweitet, sie sah so zerbrechlich aus in dem Moment.
Doch Christian wusste, dass sie das nicht war. Ganz und gar nicht. Und in einem anderen Moment hätte sie ihn für diesen Gedanken in Fetzten gerissen, wie eine Seite Papier.
Die Fetzen hätte sie in Wasser getaucht, in die Gefriertruhe gesteckt, in Schlamm gebadet, im Wald vergraben, verwesen lassen, nach einigen Monaten wieder ausgegraben, gebügelt, in die Waschmaschine gesteckt und zum Schluss verbrannt.
Die wahre Anna würde sich nie so gehen lassen.
Aber wenn es um Gefühle geht, ist alles so anders.
„Natürlich.“
Anna nickte langsam und Christian wagte es, sie zu umarmen und an sich zu ziehen.
Er genoss die Nähe und er gestand es sich ein.
Es war sehr schwer, einzusehen, dass er sie mochte, Gefühle für sie hegte, die jede Minute stärker wurden, gerade erst am wachsen waren, aber er tat es.
Leugnen wäre dumm gewesen.
Anna ließ es zu, wenn auch nur wegen ihrer Schwäche.
Eine Weile saßen sie nur so da, doch sehr bald war Anna in die Trance gesunken.
Christian trug sie umsichtig hoch in eines der Gästezimmer und ließ sie in ihrer Ruhe allein.


Schuldgefühle


Es war Anna so peinlich so schwach gewesen zu sein.
Sie war immer stark gewesen, hatte nie jemanden hinter ihre Fassade blicken lassen, nicht einmal, als sie noch ein Mensch war.
Sie hatte immer ihre Gefühle verbergen können und sie nur gezeigt, wenn es angebracht war.
Liebe, wenn ihr Verlobter oder ihre Eltern da waren, Wut und Trauer, wenn sie sicher war, dass keiner in ihrer Nähe war.
Jetzt war ihre Mauer in sich zusammen gestürzt.
Christian, den sie nicht einmal richtig kannte, wusste um ihre Trauer.
Er hatte sie schwach und verletzlich gesehen.
So etwas durfte nicht noch einmal passieren.
Allerdings fand Anna es rührend, wie er sich um sie gekümmert hatte.
Obwohl sie es hasste, Schwäche zu zeigen, war sie irgendwie froh, dass er da war und sie nicht alleine gelassen hatte.
Sie war verwirrt. Noch nie hatte jemand sie so gesehen.
Jetzt kam ihr ihr Ausbruch dämlich vor.
Sie hatte ja gewusst, dass ihre Familie jetzt nicht mehr leben konnte.
Aber nie hätte sie gedacht, dass sie auf der Suche nach ihr gefressen wurden, wie Rotkäppchen von dem Wolf.
Beim Gedanken, wie einzelne, vom Fleisch gelöste, Knochen auf einer blutdurchtränkten Lichtung lagen, wurde Anna übel.
Gegen Blut hatte sie nichts – sie war ein Vampir.
Aber der Gedanke an ihre Familie, wie sie verstümmelt wurde bis keiner mehr sie erkannte, war so grauenhaft, dass Anna froh war, im Gästezimmer in Christians Haus zu sein.
Und da war noch etwas: Als er ihr beteuert hatte, dass sie keine Schuld an dem Tod ihrer Verwandten hatte und sie an seine Brust gedrückt hatte, hatte sie sich so geborgen und sicher gefühlt, wie sie es schon seit 500 Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Die Erinnerungen daran, ließen sie zurückzucken.
Das konnte nicht sein.
So ein Gefühl hatte sie nur bei Manuel gehabt. Es war unmöglich, dass sie die Anwesenheit und Nähe eines anderen Mannes je ertragen würde.
Doch jetzt, fühlte sie sich sogar in Chris Armen wohl!
Sie kannte ihn nicht einmal richtig, wusste nichts über ihn. Wie konnte das möglich sein?
Sie schüttelte den Kopf.
So wie für Manuel, würde sie nie wieder empfinden.
Ja, Chris war nett. Sie genoss seine Anwesenheit.
Das bedeutete nicht, dass sie mehr wollte als Freundschaft.
Freunde. das sollten sie sein.
Alleine war Anna schon lange genug.
Na ja, so voreilig wollte sie dann doch nicht handeln.
Erst einmal sollte Chris ihr etwas über sich erzählen.
Dann konnte sie immer noch entscheiden ob sie mit ihm befreundet sein wollte.


Langsam stand Anna aus dem großen Bett auf.
Wie lange war sie in Trance gewesen?
Ihre Trauer hatte sie müde gemacht.
Sie konnte noch nicht einmal sagen ob es Tag oder Nacht war.
Anna öffnete die Jalousien, die den ganzen Raum vollends verdunkelt hatten.
Es war Nacht. Tiefste Nacht.
Draußen schlängelte sich der Nebel um die Baumstämme.
Sein Haus lag also am Waldrand.
Wie weit weg von der Stadt?
Anna konnte das später noch herausfinden.
Jetzt wollte sie erst einmal hinunter gehen.
Langsam und leise schlich sie sich die Treppen hinunter, in das vom Feuer erleuchteten Wohnzimmer.
Chris saß auf der Couch und blickte gedankenverloren in die Flammen, die zu tanzen schienen.
Ihr Atem stockte und Schmetterlinge tanzten in ihrem Bauch, als wären sie auf einer Beach Party.
Seine Haut reflektierte das orange Licht und es glänzte in seinen Augen.
Anna kam nicht umhin einzugestehen, dass er schön aussah.
Sie blieb eine Weile stehen, um ihn zu betrachten, als sie begann ihn mit Manuel zu vergleichen.
Das tat sie immer. Das zerstörte alles.
Warum bloß konnte sie Chris Anblick nicht genießen, ohne an Manuel denken zu müssen?
Sie ärgerte sich über sich selbst.
Doch sie wandte den Blick von seinem weichen Gesicht ab und starrte in das Feuer, als sie näher kam.
Sie räusperte sich.
Chris fuhr herum und lächelte, als er sie sah.
„Wie geht es dir?“ fragte er.
Anna zuckte mit den Schultern und setzte sich ein Stück neben ihn.
„Ich habe mich erholt.“
Chris musterte sie noch ein paar Augenblicke, dann starrte er wieder ins Feuer.
„Du warst ziemlich fertig.
Tut mir leid.“ sagte er gedankenverloren.
Schuldgefühle packten Anna.
Er hatte sich Sorgen um sie gemacht!
Er musste Entsetzt gewesen sein, als er sie in der Bibliothek sah und sie später, als er die lebende Statue – okay, die tote Statue – einen Weinkrampf bekommen hatte.
Warum nur hatte sie den armen Chris mit in ihre Trauer gezogen?
Ja, sie war froh dass er da gewesen war, aber dennoch.
Er hatte es nicht verdient sich ihretwegen Sorgen zu machen.
Er sollte ein Leben führen, das er wollte und sich nicht um eine labile Vampirfrau kümmern müssen.
Anna senkte den Kopf.
Schuldgefühle.
Wie viel Schuld hatte Anna auf sich geladen?
Zu viel, das war klar.
Sie hatte Chris ihre Anwesenheit praktisch aufgezwungen.
Gentleman, wie er war, hätte er sie niemals in der Bibliothek zurückgelassen.
Und er wusste ja auch nicht, wo Anna wohnte…
Dann war da noch der Tod ihrer Familie.
Chris konnte sagen was er wollte, Anna konnte es wenden wie sie wollte.
Wäre sie nicht verschwunden, wären sie nicht so einen grausamen Tod gestorben.
Sie hätten alt werden können, Manuel hätte eine andere Frau treffen können.
Aber mit ihrem selbstsüchtigen Verhalten hatte Anna sie gezwungen sie zu suchen.
Wäre distanziert gewesen, hätte sie sich abgekapselt, hätte niemand nach ihr gesucht.
Dann wäre niemand als Wolfsfraß geendet.
Nur weil sie sich nach der Nähe der anderen gesehnt hatte, waren sie so früh gestorben.
Ihre Liebe zu ihnen hatte sie umgebracht.
Das durfte nicht noch einmal geschehen.
So weit durfte Anna es nicht noch einmal kommen lassen.
„Alles in Ordnung?“ fragte Chris besorgt.
Anna sah ihm ins Gesicht.
Sie nickte.
„Ich……… Es tut mir leid!“ sagte sie leise.
„Dass ich dir zur Last falle!“
„Das tust du nicht!“ versicherte Chris ihr.
Er war so gut, so freundlich. Einen besseren Prinzen hätten sich weder Dornröschen, noch Aschenputtel aussuchen können.
Es war schade, dass Anna nie erfahren würde, was aus ihnen werden konnte.
Wie er sie so ansah, sah er aus wie ein ziemlich bleicher Antonio Banderas.
Tausend Mal besser als Brad Pitt, George Clooney und Orlando Bloom zusammen.
Es tat weh ihn anzusehen und zu wissen, dass die Nähe seinen Tod bedeuten konnte.
„Doch. Natürlich.“ beharrte Anna.
Chris schüttelte den Kopf.
Eine Weile schwiegen die beiden und hingen wohl ihren Gedanken nach.
Schließlich war es Chris, der das Schweigen brach.
„Du hast mir deine Geschichte erzählt, nun möchte ich dir meine erzählen.“
Anna sah ihn gespannt an.
Sie wollte Chris nicht näher kommen – sie durfte nicht.
Aber sie wollte mehr über ihn wissen, auch wenn sie wusste, dass es nicht so sein sollte.
„Gut.
Fang an!“ forderte sie ihn auf.
Chris nickte.
„Ich… bin 600 Jahre alt. Meine Schwester und ich wurden in London gebissen, als wir allein zu Hause waren.
Unsere Eltern waren fort.
Es war Mitternacht, als uns ein Pfarrer die Nachricht über den Tod unserer Eltern zu uns brachte.
Bald darauf erschien der Wirt des Gasthauses, in dem unsere Eltern erschossen wurden.
Es war einen Tag vor meiner Hochzeit – meine Frau war bei mir, als es passierte.
Auch sie wurde… verwandelt.
Er dachte wohl, er würde uns einen Gefallen tun.
Na ja, seit dem waren wir drei Vampire.
Ich heiratete meine Jonna.“
Er war verheiratet.
Und wo, um alles in der Welt, war dann seine Ehefrau? Und wo seine Schwester?
War er einer dieser Typen, die Familie aufgaben um sich selbst zu finden?
Davon hatte Anna schon einiges gehört.
Sie benutzten das als Ausrede sie verlassen zu können.
Meistens hatten sie eine Jüngere.
Wie in diesen ganzen Hollywood Filmen, die dann immer so kitschig enden.
„Nach 100 Jahren….. erlitt ich einen schweren Verlust.“
Seine Stimme brach.
Es fiel ihm offensichtlich schwer darüber zu reden.
„Du musst nicht weitersprechen, wenn du nicht willst.“ sagte Anna, doch Chris hob
die Hand und bedeutete ihr, dass er reden würde.
„Ich verkroch mich für fast 400 Jahre in die Rocky Mountains.
Ich war allein, nicht einmal ein Mensch war in der Nähe.
Mir ging es genauso schlecht, wie dir gestern.
Ich wage zu behaupten, dass es noch schlimmer war.“
Anna wusste, dass er nicht mehr sagen würde.
Aber sie war zufrieden mit dem, was sie wusste.
Er hatte etwas Ähnliches durchgemacht wie sie.
Auch wenn er es nicht ausgesprochen hatte, war ihr klar, dass mit dem Verlust nur
der Tod seiner Frau gemeint sein konnte.
Wer hätte gedacht, dass sie so viel verband?
Aber Anna fühlte sich noch schlechter.
Sie hatte ihn wieder daran erinnert, was er bestimmt versucht hatte zu vergessen.
Und sie hatte sich ihm aufgedrängt.
Die Schuldgefühle fraßen sich regelrecht in ihren Körper, wie ein heißes Sandkorn.
Dort, wo sich ihr Herz befand, stach es.
Doch sie ließ sich nichts anmerken.
Anna erinnerte sich wieder, warum sie Gesellschaft so mied.
Sie tat ihnen immer weh.
All jenen, die in ihrer Nähe waren.
Manche von ihnen waren sogar tot.
Sie könnte es nicht ertragen, wenn Chris auch noch etwas zustieß, nur weil sie seine
Nähe mochte.
Sie durfte nicht so egoistisch sein.
Das Knistern des Feuers beruhigte sie ein wenig, doch ihre Gedanken planten einen
baldigen Aufbruch in eine andere Stadt, ein anderes Land.
Wohin sie gehen würde, wusste sie noch nicht.
Doch sie durfte Chris nicht in Gefahr bringen.
Der Mann, der ihr im park gedroht hatte, würde erfreut sein.
Die Ironie des Schicksals.
Natürlich. Anna war vom Unglück verfolgt.
Es zerriss sie, dass sie für das Alleinsein bestimmt war, dass sie niemandem nahe
kommen durfte.
Doch sie hatte keine andere Wahl als das Land zu verlassen.
„Das tut mir sehr leid.
Ich wollte dich nicht daran erinnern!“ sagte Anna und erhob sich.
Sie würde gehen.
Doch vorher musste sie noch etwas erledigen.
Deswegen war sie hier.
Chris schüttelte den Kopf.
„Das ist egal.
Es vergeht ohnehin nicht ein Tag, an dem ich nicht daran denke.
Was machte es schon, dass wir dieses Schicksal teilen?“
Das machte sehr viel.
Denn es würde bestimmt seinen Tod bedeuten.
Das durfte nicht so sein.
Anna fuhr sich hastig durch ihr Haar – reine Gewohnheit- und räusperte sich.
„Ich – ähm- werde jetzt gehen.
Danke dass du… dich um mich gekümmert hast!“ sagte Anna sachlich.
Chris hob überrascht eine Augenbraue.
„Wohin gehst du?“ fragte er.
Anna zuckte mit den Schultern.
„Das ist nichts, was du wissen musst.“
Ihre Stimme war wieder kühl.
Sie war wieder die Alte.
Chris schien das nicht zu gefallen. Er runzelte die Stirn.
„Wenn du das willst, kann ich dich nicht aufhalten!“ murmelte er.
Sie war überrascht, wie widerwillig sie gehen wollte.
Als ob ich die Wahl hätte!
Man hat immer eine Wahl.
Was für ein blöder Spruch! Wer hatte den überhaupt erfunden?
Das Ende von Titanic flammte vor meinen Augen auf.
Ja, so würde es enden, sollte sie bei Chris bleiben, würde ich zulassen, dass ich ihn wollte.
Anna sollte die jenige sein, die sterben sollte.
Aber das Drehbuch hatte das nicht vorgeschrieben. Natürlich nicht.
Wie meistens starben die Männer den Heldentod.
War es bei Troja, der Gladiator und so vielen anderen Filmen nicht auch so?
Gerne wäre sie an dieser Stelle gewesen. Das mit dem Heldensein sollte allerdings weg bleiben.
Sie dachte eher an einen raschen Tod durch eine Giftschlange, wie Kleoprata.
Oder, von ihr aus, auch wie Marie Curie durch Radioaktivität.
Hauptsache sie würde sterben, bevor ein derer es konnte.
Doch solange sie von allen Vampiren fern blieb, würde sie sich nicht töten müssen, wie so viele es schon getan hatten.
Anna nickte knapp.
Dann drehte sie auf ihren hohen Absätzen um und verschwand durch die große Tür in den kahlen Vorraum.
es war stockdunkel, aber Vampire brauchten so wenig Licht wie Katzen, um sehen zu können.
Eine gute Eigenschaft, wenn nicht sogar die beste.
man brauchte kein Licht. das heißt, fiel einmal der Strom aus, musste man sich nicht diese lächerlichen Dinger, die sich Kerzen nannten, anzünden und einen Wohnungsbrand riskieren.
Sie musste eine Weile gehen, bis sie wieder in der Stadtmitte war.
Von hier aus war es einfacher sich zu orientieren.
Erst würde sie nach Hause gehen, dann wollte sie erledigen, was zu erledigen war.
Aus einem offenen Fenster drangen die Heldenschreie von Johnny Depp als Jack Sparrow in Fluch der Karibik, aus einem anderen Fenster trällerte Donald Duck mit seiner hohen Stimme.
Also konnte es noch nicht so spät sein….
Tatsächlich rasten einige Autos an ihr vorbei, auf dem Weg nach Hause von der Arbeit.
Bei einem besonders alten Exemplar eines VWs rümpfte sie die Nase.
Wer fuhr heutzutage noch mit so einer Schrottkiste, die nicht einmal im ältesten James Bond Film vorkamen?
Der Wind blies durch ihre Haare.
Es war eine klare Nacht, wolkenlos.
Man konnte die Sterne hoch am Himmel glitzern sehen. Sie strahlten aber nicht so hell, wie sie es sollten.
Die Lichter der Stadt waren so hell, dass die kleinen Sterne nicht zu sehen waren.
Der Mond war beinahe voll. Lang würde es bis Vollmond nicht mehr dauern.
Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund.
Die Geräusche einer Stadt hatten nur wenig Beruhigendes an sich und Anna war nervös vor dem, was sie tun würde.
Endlich hatte sie ihre Wohnung erreicht.
Sie schlüpfte rasch in ein beiges Cocktailkleid, das über einem Stuhl hing, und nahm die Autoschlüssel.
Deswegen war sie gekommen.
Sie atmete noch einmal tief durch, dann raste sie das verlassene Treppenhaus hinunter.
Das war viel schneller, als mit dem Lift zu fahren und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Auf der Straße musste sie sich schreckliche Mühe geben nicht zu schnell zu fahren, denn es waren noch viele Leute unterwegs.
Als sie bei einer Eisdiele vorbeifuhren, warf sie einen raschen Blick auf die Uhr.
19:30.
Das war nicht sehr spät, aber das Datum erschreckte Anna.
Sie hatte zwei Tage lang in der Trance geschwebt?
Langsam wurde der Verkehr weniger und Anna verließ die Stadt auf südlicher Seite.
Irgendwann, vielleicht 10 Minuten später, tat sich eine überwucherte Einfahrt auf, die mit altem, übermosstem Kies bedeckt war.
Dort hielt sie den Wagen an.
Den Rest würde sie zu Fuß gehen.


Das Haus


Anna schaltete den Motor ab und stieg hinaus in die Stille Dunkelheit.
Nichts war zu hören, außer dem zarten Rascheln der Blätter in der Brise.
Unter ihren Füßen knackten die Äste, die überall verstreut auf dem alten, ungepflegten Weg lagen.
Hier schien niemand zu leben und auch entlanggefahren war in dieser Einfahrt keiner.
Anna hatte es nicht mehr eilig, das Ende dieses vertrauten Weges zu erreichen.
Ihr war unwohl, als sie daran dachte, was an diesem Ort geschehen war, vor so vielen Jahren.
Es war weit und wäre sie kein Vampir gewesen hätte sie Probleme mit der Dunkelheit und den Kieshaufen gehabt.
Jeder Mensch wäre über die Verwehungen gestolpert, denn die hohen, alten Bäume versperrten die Sicht zum Himmel.
Nur ein schwacher, von Vampiren wahrnehmbarer Schein, drang zwischen den Ästen hindurch.
Plötzlich hörte Anna ein Schaben. Ganz leise nur, aber es reichte um sie zusammenzucken zu lassen.
Sie wandte sich schnell, in Angriffshaltung, in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Sie war bereit sich zu verteidigen, doch es stellte sich heraus, dass es nur ein kleiner Fuchs war, der nach Futter, Aß, suchte.
Eine große Krähe flog vom Gipfel einer Tanne davon. Das Rascheln ihrer Flügel war das lauteste, was in dem Waldstück zu hören war.

Im Gehen steckte sich Anna die Haare mit einer Spange hoch, damit sie nicht im Gewicht waren.
Sie wollte keinen Moment verpassen.
Endlich tauchte das Grundstück vor ihr auf.
Sie hielt an.
Von dem Haus, in dem sie einst gelebt hatte, war nun nicht mehr viel übrig.
Hier war sie geboren und aufgewachsen.
Jetzt war das alte Herrenhaus nicht mehr als eine Ruine.
Der erste Stock war fast vollkommen zusammengestürzt, vom Dach ganz zu schweigen.
Überall lagen lose Steine im fast kniehohen Gras.
Alles wirkte wild und alt.
Die Natur hatte diesen Ort schon vor langer Zeit wieder zurückerobert.
Wenn Anna nicht gewusst hätte, dass dies ihr zu hause gewesen war, hätte sie es nicht erkannt.
500 Jahre waren eine lange Zeit…………
Und die Bäume, die damals noch ganz jung waren, waren mittlerweile zu riesigen und hohen Giganten geworden, während die alten in sich zusammengefallen waren.
Einzig das düstere Schloss von Dracula war noch gleich.
Es stand hinter dem Wald, auf einem Hügel, der höher war als alle Bäume des Waldes.
Es war sehr eindrucksvoll und das erste Mal seit sie in der Stadt war, fühlte sie sich wie zu Hause.
Doch gleichzeitig stürmten all die Ereignisse auf sie ein.
Die Erinnerungen, all das, was sie versucht hatte zu vergessen und an diesem Tag wieder ins Gedächtnis gebracht hatte.
Doch hier, am Ort an dem alles begonnen hatte, ihr Leben als Unsterbliche, wirkte alles noch realer.
Ihr wurde klar, dass der Schrei, den sie damals gehört hatte, der Todesschrei ihrer Mutter gewesen sein musste.
Sie hätte sie retten können.
Anna schüttelte den Kopf und umrundete langsam die Ruine.
Der Wind strich sanft an den alten Gemäuern entlang und rüttelte an einigen morschen Holzbalken.
Selbst oben, an den höchsten Mauern, wuchsen Löwenzahn und Stechginster.
Die Mauern waren bröselig vom vielen Regen und der Sonne.
Vielleicht waren auch Eis und Schnee daran Schuld, doch es waren die Folgen des Wetters, nicht der Zeit.
Sanft berührte Anna die Mauer, die sich einst kalt unter ihrer haut angefühlt hatte.
Jetzt tat sie das immer noch, doch es war nicht mehr dasselbe.
Jetzt lag eine düstere Aura auf dem Haus. Es hatte vielen Leuten Unglück gebracht.
In diesen Mauern hatte alles angefangen. Hier war Anna zum Vampir geworden.
Über ihm musste ein Fluch liegen.
Mit einem gewaltigen Satz sprang sie behände auf die Mauer, die zum ersten Stock gehörte.
Wo war das Schlafzimmer noch gleich gewesen?
Jetzt war es nicht mehr zu erkennen. Die Möbel waren weg, nicht einmal Überreste waren mehr da.
Hatten Diebe sie mitgenommen oder der Leichenbestatter?
Nach ihrem Verschwinden von hier hatte jedenfalls keiner mehr in dem haus gelebt.
Wer wollte schon in einem Zimmer schlafen, dessen Holzboden mit dunklem Blut getränkt war?
Vor allem in dieser Zeit, als alle Menschen noch davon überzeugt waren, dass der Teufel höchstpersönlich hinter allem steckte.
Ein Wunder dass sie nicht verbrannt wurden, wenn man bedachte, wie viele Neider die reiche Familie gehabt hatte.
Hier oben war jedenfalls nichts mehr zu sehen, der Boden war hoffnungslos eingestürzt.
Also sprang Anna in das innere des Hauses.
Es war düster und unheilvoll.
Dort, wo einmal die Küche gewesen war, war nur noch Schutt.
Etwas blitze auf und Anna griff vorsichtig danach.
Es war ein alter Messingtopf.
Der, in dem die Köchin immer den hervorragenden Eintopf zubereitet hatte.
Wenn Anna es sich recht überlegte grenzte es an ein Wunder, dass die alte mürrische Frau sie nicht vergiftet hatte….
Anna schüttelte den Kopf.
Auch wenn sie sie nie besonders gemocht hatte, das Essen wusste sie immer zu schätzen.
Früher, bevor sie auf Blut abfuhr und auf die dicke, klebrige Flüssigkeit angewiesen war.
War es nicht erbärmlich?
Sich nur von einem ernähren zu können?
Auf Dauer bestimmt langweilig, denn so viele Tierarten gab es nun auch nicht und es wurden von Jahr zu Jahr weniger.
In Afrika war Anna noch nie gewesen. Ob sie vielleicht einmal Löwe probieren sollte?
Oder Elefant, sie hatte gehört, die waren größer und hätten mehr Blut.
Aber in Wirklichkeit spielte es keine Rolle.
Blut war Blut und Anna war ein Monster, ob sie nun Menschen tötete oder nicht.
Sie war ein totes Wesen, das nicht existieren dürfte.
Es war gegen die Natur, abnormal. Nicht das, was Gott gewollt hatte.
Hätte er gewollt, dass es unsterbliche gab, hätte er die Menschen so geschaffen.
Aber stattdessen solche Kreaturen wie Dracula zu schaffen war bestimmt nicht sein Plan gewesen.
Falls es Gott gab, oder etwas ähnliches. Vielleicht gab es auch viele Götter.
Oder einfach nur ein Schicksal.
Doch eigentlich war es egal ob es ein Gott oder mehrere waren oder das Schicksal sie dazu verdammt hatte ein unsterbliches Leben als Monster zu führen.
Die Steine knirschten unter ihren Schritten.
Es war gar nicht so einfach zu gehen.
Warum nur hatte Anna hochhackige Schuhe angezogen und ein Kleid?
Was hatte sie sich dabei nur gedacht?
Seufzend ließ Anna den Topf fallen.
Plötzlich hörte sie das Knacken eines Zweiges.
Erst dachte sie, es wäre ein Eichhörnchen oder ein anderes kleines Tier.
Doch als erneut ein Ast brach, wurde Anna schlagartig klar, dass ein kleines Tier niemals so laut sein konnte.
Das Knacken stammte von dicken Ästen.
Wie erstarrte stand sie da und sah sich in der Umgebung um.
Sie war im haus, sah nicht nach draußen.
Was auch immer es war, es kam näher und es schien zu wissen, dass Anna sich im
Haus befand.
Sie warf einen Blick nach oben, da sah sie den vollen Mond am Himmel stehen.
Vollmond.
Plötzlich durchdrang ein lautes Heulen, gefolgt von einem tiefen, bedrohlichen
Knurren die Ruine.
Anna zuckte zusammen. Sie war umzingelt. Von einem Rudel Wölfen.
Die Tiere betraten nun das Haus.
Jetzt erkannte sie mit ihren scharfen Vampiraugen, dass es sich um besonders große
Tiere handelte, fast schon so groß wie ein ausgewachsenes Pferd.
Das hie waren keine normalen Wölfe.
Das waren auch keine Bären – Wolfsmischlinge. Nicht, dass es so etwas gab.
Ihre Augen leuchteten ultraviolett. So, wie die Laser, die Blut sichtbar machten und
Weiß leuchten ließen.
Ihre gebleckten Zähne strahlten blitzend und waren so spitz und lang wie Dolche.
Sie waren dazu gemacht, Dinge zu zerreißen, bis nur noch Fetzen übrig waren.
Anna zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie auch ihre ansonsten zähe und
schnell heilende Vampirhaut für immer zerstören konnten.
Die Wölfe waren alle ausnahmslos struppig und verfilzt.
Ihr Fell war viel zu lang.
Wie lautete das Märchen nur gleich, in dem die Großmutter und das Mädchen von
einem Wolf verspeist wurden?
Rotkäppchen?
Anna fragte sich eine aberwitzige Sekunde lang, ob sie wohl auch im Ganzen
gefressen werden würde, oder ob sie so enden musste wie ihre Familie.
Plötzlich blitzen Bilder vor ihrem geistigen Auge auf.
Bilder, auf denen ihre Eltern zu sehen waren.
Körperteile lagen auf dem Waldboden verstreut. Viel war nicht mehr da.
Doch der Kopf ihrer Mutter war noch ganz.
Er lag da, mit ausdruckslosen Augen.
Alle Farbe war aus ihnen gewichen und ihre schönen blonden Haare waren ebenso
wie ihr zartes Gesicht mit ihrem eigenen Blut verschmiert.
Tiefe Kratzer zogen sich über ihre Wange bis zum Ohr, das vollkommen zerfetzt war.
Über ihr beugte sich ein Tier.
Mit einem Schlag wurde Anna klar, dass es die gleichen Kreaturen waren, die jetzt
vor ihr standen und sie umzingelten.
Doch in dem Moment spürte sie keine Angst, nur Hass.
Diese Wesen, was auch immer sie sein mochten, hatten ihre Familie getötet.
Dafür würden sie bezahlen müssen!
Doch ein Blick auf das große schwarze Tier vor ihr, das eindeutig der Leitwolf war,
genügte um zu wissen, dass sie es nicht schaffen würde auch nur einen von ihnen zu
töten.
Geifer und Speichel, gemischt mit Blut von ihrer letzten Beute, tropfte aus ihren
offenen Mäulern.
Der bestialische Gestank nach rohem Fleisch und Verwesung drang ihr in die Nase
und ließ sie erschaudern.
Wie viele Leute hatten diese Kreaturen auf dem Gewissen? Wie vielen Kindern
hatten sie ihre Eltern genommen, wie vielen Eltern ihre Kinder?
Anna wich zurück, so weit sie konnte, ohne mit dem Wolf der hinter ihr stand
zusammenzukrachen.
Sie schätzte den Abstand zwischen ihr und der Mauer ein.
Der Hass musste warten.
Wenn Anna sich wirklich rächen wollte, dann musste sie erst einmal wissen, wie sie
diese dreißig Ungetüme töten konnte.
Es half ihr gar nichts, wenn nicht einmal eines dieser Monster starb, bevor Anna von
ihnen in Stücke gerissen und gefressen würde.
Obwohl sie sich nicht sicher war, ob man Vampire essen konnte.
Schmeckten sie denn nicht nach Tod?
Oder war diesen Viechern das egal?
Nun, Anna jedenfalls war es nicht wichtig, was mit ihrer Leiche geschah.
Sie wollte nur so lange leben, dass sie sich rächen konnte.
Doch der Hass flog bei Seite, ging zwar nicht ganz weg, doch machte Platz für Angst.
Sie hatte Angst vorm endgültigen Tod, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.
Unwillkürlich musste sie an Chris denken, wie er sie angesehen hatte und ihr
zugehört hatte.
Wie er ihr seine Geschichte erzählt hatte, ohne dass sie danach fragen musste.
Nein, Anna wollte leben. Zumindest noch ein bisschen.
Sie wollte noch einmal Chris Gesicht sehen und seine Stimme hören.
Vielleicht machte sie die Gewissheit, dass sie bald wirklich tot war melancholisch,
aber Anna wollte in dem Moment nur bei Chris sein.
Natürlich waren da auch Gedanken an Manuel, und dass sie ihm nach den Tod wieder
begegnen würde.
Doch Anna war noch nicht bereit.
Vielleicht lag es daran, dass sie nicht wusste was mit ihr geschehen würde.
Sie war eine Kreatur der Finsternis. Da würde sie kaum in den Himmel kommen.
Und der Gedanke tot zu sein und auch dort Manuel nicht sehen zu können war zu
beängstigend als dass Anna sich den Tod gewünscht hätte.
Sie verfiel in Kauerstellung und stieß sich mit den Beinen fest vom Boden ab.
Mit einem lauten Knall prallte sie gegen die Mauer, ihre Hände erreichten gerade das
Ende der Mauer.
Der Abstand war zu groß gewesen und Anna hatte sich nicht wirklich abgestoßen.
Mit ihrer Vampirkraft wollte sie sich gerade hinaufziehen, als ein heftiger Schmerz
ihr Bein durchzuckte.
Einer der Wölfe hatte seine Klauen in ihre linke Wade geschlagen und zerrte sie von
der Mauer hinunter.
Anna fiel auf einen Haufen Steine, die sich in ihren Rücken durchbohrten.
Wäre sie kein Vampir gewesen, wäre ihre Wirbelsäule nur noch ein Haufen
Knochensplitter.
Sie spürte wie das dickflüssige Blut ich Bein hinunter rann.
Na toll, diese Viecher waren auch noch giftig.
Ihre Wunde heilte nicht so schnell, wie sie es normal tun müssten.
Anna hievte sich mit den Händen so weit auf, dass sie einen Überblick hatte.
Überall standen diese Wölfe und verwehrten ihr jeden Ausweg.
In ihrem Bein waren fünf gewaltige Löcher. Genau dort, wo er seine Zähne
hineingeschlagen hatte.
Als ein Wolf auf sie zusprang, reagierte Anna schnell.
Sie stieß sich in die Luft ab und landete auf dem Rücken jenes Tieres, das gerade
gegen die Mauer gerannt war und nun bewusstlos unter ihren Schuhen lag.
Doch die anderen Monster waren dadurch nur noch zorniger geworden.
Sie knurrten und bellten sogar.
Es gab einfach keinen Ausweg.
Jetzt waren die Wölfe darauf vorbereitet.
Noch einmal würde dieser Trick nicht funktionieren.
Anna keuchte erschöpft auf.
Sie war keine Schmerzen gewohnt und es anstrengte sie sehr.
Ihre Beine zitterten unter der tiefen Wunde.
Sie konnte nur hilflos mit ansehen, wie sich ein graues Ungetüm auf sie stürzte und
sie hart zu Boden drückte.
Anna brauchte keine Luft um zu leben, aber dennoch konnte sie nicht atmen.
Die Rippen knackten, nur um gleich wieder zu verheilen.
„Geh runter von mir, du stinkendes Vieh!“ brüllte Anna verzweifelt.
Sie hatte nicht vor so zu sterben.
Aber sie konnte nichts machen.
Der Wolf war stärker als sie, die ein Vampir war.
Das hier waren Feinde eines Vampirs. Dazu da, die Rasse auszulöschen.
Sie vermochten es Vampire ohne Weihwasser oder Holzpflöcke und Kreuze zu töten.
Annas Kopf wurde wild hin und her geschleudert, als der Wolf ihren Hals packte und
sie mit sich zog.
Feine Steinsplitter bohrten sich in ihre Kopfhaut.
Der Boden war bedeckt von ihrem vampirischen Blut, doch Anna war dem Tod nur
ein Stückchen näher.
Allerdings würde sich diese Tatsache ändern, wenn der Wolf beschließen sollte
wirklich fest zuzubeißen und ihre Halsschlagader zu durchbeißen.
Sie würde nicht verbluten.
Aber der Wolf würde weitergehen und ihren Kopf vom Hals trennen.
Und sollte der Haupt erst einmal im Magen dieses Ungetüms sein, so würde Anna
sich nie wieder heilen können und endgültig tot sein.
Anna trat wild um sich, erwischte den Wolf seitlich am Bauch und er brüllte auf.
Ob vor Schreck oder Schmerz vermochte sie nicht zu sagen, doch er ließ nicht ein
bisschen lockerer.
Seine Krallen fuhren über ihren Körper und zerrissen das leichte Kleid, bis es nur
noch ein paar Fetzen waren.
Anna hob den Kopf und versuchte sich mit aller Kraft wieder aufzurappeln, als ihr
Kopf erneut mit roher Gewalt zu Boden geschleudert wurde.
Es knackte erneut und wieder heilte die Verletzung schnell.
Die Schmerzen wurden nahezu unerträglich, es war ein dumpfes Pochen, überall dort,
wo der Wolf Wunden in ihr hartes Fleisch gerissen hatte.
Seit sie ein Vampir war, hatte sie keine Schmerzen mehr gespürt. na ja, fast keine.
Doch dafür spürte sie jetzt die Macht all der Wunden und Verletzungen, die einen
normalen Menschen nicht so zur Verzweiflung gebracht hätten, sondern sie einfach
ins Jenseits befördert hätten.
„Du bist in unser Gebiet eingedrungen!
Hier haben Vampire nichts verloren!“ heulte der Wolf, der über ihr gebeugt stand.
„Wir haben dich gewarnt!“
Bevor Anna diese Aussage überdenken konnte, packte sie das Tier und schleuderte
sie gegen die Wand.
Die Mauer wurde durch ihre Kraft durchbrochen und Anna landete auf einem Haufen
Schutt in der Wiese.
Im Freien.
Anna hatte keine Chance sich aufzurappeln, denn erneut griff ein Wolf sie an.
Diesmal war es das Alphatier.
Seine Tatzen waren so groß wie die Füße eines Elefanten.
Er stellte sein Vorderbein auf ihre Brust, warf den Kopf zurück und heulte den Mond
an.
Dann senkte er den Kopf, bereit für den tödlichen Biss.
Plötzlich wurde der Leitwolf von ihr weggerissen und über ihr gebeugt stand
Christian.


Graf Draculas altes Schloss


„Ist alles in Ordnung?“ fragte Christian, während er sie schnell in seine Arme zog.
Er hob sie so schnell hoch, dass einem Menschen dabei schwindlig geworden wäre
und begann zu laufen.
Anna hörte, dass die Wölfe ihnen folgten, doch das Alphatier schien verletzt und
rief seine Anhänger, sein Rudel, zurück.
Christian hörte nicht auf zu rennen und wurde auch nicht langsamer.
Er steuerte auf das Schloss von Dracula zu.
Neben ihnen rauschte der Wald vorbei.
Es drangen keine Geräusche an Annas Ohren, außer Chris Atem.
Anna spürte wie die meisten Wunden heilten, doch die tiefen Bisswunden des Wolfes
begannen erst zu verkrusten.
Sie würden schneller heilen als bei einem Menschen.
Doch es würde trotzdem eine Stunde oder zwei dauern.
Endlich erreichten sie das verlassene Schloss.
Chris übersprang, mit Anne in den Armen, die Mauer und drang durch ein geöffnetes
Fenster in das Gebäude ein.
Ob es Hausfriedensbruch war oder nicht, niemand würde es merken, denn kein
Mensch traute sich in die Nähe es Schlosses.
Chris Schritte hallten am Boden des Ganges wider, als er auf der Suche nach einem
Zimmer war.
Er öffnete jede Tür, doch außer einem Speisesaal, einer Küche und einem Bad, waren
nur Folterkammern oder verlassene, ausgeraubte Zimmer im Erdgeschoss zu finden.
Er hastete hoch in den ersten Stock.
Dort hatten sie mehr Glück.
Neben zwei Arbeitszimmern fanden sie ein gigantisches Schlafzimmer mit einem
riesigen Himmelbett.
Vorsichtig legte Chris sie auf das rote Samtbettlacken und die rote Seidendecke.
Auch die Polster und der Bettvorhang waren aus rotem Stoff.
Genauer gesagt war jedes Möbelstück im Raum entweder rot oder schwarz.
Es sah elegant aus, besser als in einem Puff, obwohl die Farben so ähnlich waren,
hatte Anna gehört.
Es war alles sehr alt, was passend für Draculas Lebzeiten war.
Aber die Stücke waren schön, ja sogar antik.
Der Stuhl, der an der Kommode stand, musste aus dem 13. Jahrhundert stammen.
Er bestand aus schwarzem Stein, der im Kerzenschein glänzte.
Eine romantische Atmosphäre, dachte Anna mit einem Seitenblick auf Chris, der die
schweren schwarzen Vorhänge vor dem Fenster zuzog.
Chris setzte sich neben Anna, die wieder aufrecht saß.
Die Löcher in ihren Beinen hatten aufgehört zu bluten und waren am verkrusten.
„Mir geht es gut.
Danke, dass du da warst!“ sagte Anna und zwang sich zu einem Lächeln.
Chris erwiderte es. „Bist du sicher?“ fragte er aber dennoch besorgt.
Anna nickte.
„Ganz sicher.
Es ist alles okay!“ versicherte sie ihm.
Chris nickte langsam.
„Gut. Das ist gut, denke ich.“ meinte er abwesend.
Er warf einen Blick auf Anna und sie konnte sehen, dass er unter seiner weißen Haut
errötete.
Sie runzelte die Stirn und sah an sich hinab.
Ihr Kleid war nicht mehr als ein Haufen zusammenhängender Fetzen.
Ihr hellbrauner BH war deutlich zu sehen und auch der war mit Blut befleckt.
„Oh“, murmelte Anna.
„Ich… werde sehen ob ich etwas zum Anziehen für dich finde!“ stammelte Chris.
Er sprang auf und ging zu dem großen Ebenholzkasten und durchstöberte ihn.
Er zog ein langes, dunkelrotes Rüschenkorsett heraus und hielt es Anna hin, den
Blick starr auf die Wand gerichtet.
Anna musste kichern.
„Das zieh ich nicht an!“ sagte sie.
Chris seufzte und hängte es zurück.
„Wie wäre es mit dem?“ fragte er und zeigte ihr ein edles Samtkleid, dass ganz
schwarz war, bis auf die Schnüre vom Mieder.
„Das ist gut!“ sagte Anna und stand auf um den Reißverschluss an ihrem Rücken zu
öffnen.
Doch er klemmte und Anna fluchte.
„Kannst du mir kurz helfen?“ fragte Anna.
Chris räusperte sich, dann meinte er leise: „Also gut!“
Er stellte sich dicht hinter Anna. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut fühlen.
Jede Faser ihres Körpers begann zu prickeln, als er an ihrem Rücken hantierte und am
liebsten hätte sie sich umgedreht und ihn geküsst.
So etwas hatte Anna noch nie gespürt.
Ihre Hände begannen zu zittern und ihr Atem wurde schneller und unregelmäßiger.
Auch bei Chris änderte sich etwas.
Er hörte auf sich am Reißverschluss zu schaffen zu machen und legte seine Hände
auf ihre Schultern.
Langsam wanderten sie ihre Arme hinab.
Bei den Ellenbogen hielt er inne.
Dann drehte er Anna zu sich herum und küsste sie.
Anna schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte den unwiderstehlich guten
Kuss.
Chris hob sie sanft hoch und trug sie zurück zum Bett.
Eng umschlungen, ihre Lippen klebten immer noch aufeinander, ließen sich die
beiden auf die weiche Matratze fallen.

Anna erwachte in Chris Armen aus ihrer Trance.
Sie blinzelte. Erst wusste sie gar nicht, wo sie war, als es ihr wieder einfiel.
Der Angriff der Wölfe, die Rettung durch Chris in Draculas Schloss und die
vergangene Nacht.
Es war schön gewesen, das konnte Anna nicht bestreiten.
Aber es hätte einfach nicht passieren dürfen.
Sie hatte nicht grundlos über 500 Jahre darauf verzichtet.
Auf Liebe und alles, was dazu gehörte.
Ihre Eltern waren ihretwegen gestorben, und ihr Verlobter auch.
Wie konnte sie da sicher sein, dass sie nicht verflucht war?
Sie mochte Chris gern. Sehr gern.
Und nach der vergangenen Nacht vermutlich noch gerner.
Wenn sie ihn ansah, spürte sie Schmetterlinge in ihrem Bauch.
So hatte es sich bei Manuel damals auch angefühlt.
War es Verrat, dass sie das gleiche für jemand anderen empfand?
Nein, überlegte Anna sich, Manuel hätte es ihr vergönnt.
Das also war nicht das Problem.
Einzig sie selbst stand im Weg.
Denn sie würde es nicht verkraften, wenn Chris auch noch etwas wegen ihr zustoßen
würde.
Aber es fühlte sich so unglaublich gut an, in seinen muskulösen Armen zu liegen.
Schluss!
Damit durfte sie gar nicht erst anfangen!
Widerstrebend richtete sich Anna im weichen Bett auf.
Sie spürte, dass Chris auch aus der Trance erwachte.
„Anna!“ murmelte er leise.
Mit einem Ruck stieß sie sich von der Bettkante an und sprang ans andere Ende
des Zimmers.
Dort kauerte sie sich an die Wand gedrängt hin und beobachtete Chris dabei, wie er
sich aufsetzte und sie ansah.
„Was ist los?
Stimmt etwas nicht? Hab ich etwas falsch gemacht?“
Ganz Gentleman suchte er die Fehler bei sich.
Natürlich.
Anna schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor ihrem entblößten Körper.
„Nein.
Alles gut.
Wir sollten…... das nur nicht wiederholen.“ sagte sie zögernd.
Chris mustere sie - ein wenig traurig und enttäuscht? – und nickte.
„Wie du meinst.“
Er nahm sich die dicke Decke und schlang sie sich um die Hüfte, ehe er aufstand und quer durchs Zimmer zu seinen Sachen ging.
Anna griff sich rasch das schwere Samtkleid und schlüpfte rasch hinein.
Sobald sie fertig war, verließ sie das Schlafzimmer, ihr Haar war zerrupft und stand nach allen Seiten weg.
Doch sie war noch sehr verwirrt.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich Chris gegenüber verhalten sollte.
Anna wusste nicht so recht, wo sie hinging, doch plötzlich befand sie sich in einem großen Badezimmer wieder.
In der Mitte war ein Becken eingelassen, in dem sich aber außer Staub und Dreck nichts befand.
Ein gewaltiger Spiegel mit Goldumrandung zierte die gesamte Wand.
Anna betrachtete sich.
Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihr Haar sah aus wie ein Strohnest.
Doch ihre Augen schienen zu leuchten und zu strahlen.
Was war nur mit ihr los?
So hatte sie nur einmal ausgesehen: Nach ihrer ersten Nacht mit Manuel.
Doch das war schon so ewig lange her, dass sie sich kaum noch zu erinnern vermochte.
Damals war sie noch ein Mensch gewesen.
Damals war alles noch ganz anders.
Die Sichtweise, wie man Dinge betrachtet und auch alles andere.
Auf einer mit Blattgold überzogenen Kommode lag ein perlmutfarbener Kamm, mit dem sie langsam durch ihre schönen Locken fuhr und sie wieder richtete.
Ein paar schwarze Splitter fielen zu Boden, die Überreste ihrer Spange, die wohl beim Wolfsangriff zerbrochen war.
Ein bisschen Blut klebte noch auf ihrer Wange doch es gab hier kein Wasser, also wischte sie es kurzerhand einfach mit einem alten, zerrissenen Handtuch weg, das neben dem Kamm lag.
Als Anna sich wieder einigermaßen gefangen hatte, kehrte sie in das Schlafzimmer zurück, wo Chris sie schon fertig angezogen erwartete.
„Das Kleid steht dir gut!“ meinte er.
Anna nahm das Kompliment schulterzuckend zur Kenntnis.
Was sollte sie darauf schon antworten?
„Was tun wir jetzt?“ fragte Anna, um nicht auf das unangenehme Thema zurückzukommen.
Chris zuckte mit den Schultern. „Nach Hinweisen suchen.
Was damals hier vor sich ging und vielleicht finden wir auch heraus, was diese Wölfe hier machen und was genau sie sind.“
Leise fügte er hinzu: „Wenn ich es nicht ohnehin schon weiß.“
„Was weißt du?“ hakte Anna nach.
Sie trat näher an Chris heran.
War das nicht albern?
Was tat sie da?
Sie wollte ihm nicht zu nahe kommen und jetzt stellte sie sich so dicht zu ihm als ob sie gleich über ihn herfallen wollte!
Chris stieg von einem Fuß auf den anderen.
„Ich bin mir nicht sicher.
Aber es könnte sein, dass diese Wölfe keine gewöhnlichen Tiere sind.“
Anna runzelte die Stirn.
„Wie meinst du das?“ fragte sie.
„Werwölfe!“ sagte Chris einfach.
Das genügte um Anna zurückweichen zu lassen.
Nicht aus Ungläubigkeit oder Ekel, sondern aus Entsetzen und Überraschung.
„Werwölfe?
Lykaner?“ Annas Stimme war fast so hoch wie die von Micky Mouse.
Chris nickte ernst.
„Sonst gibt es keine Erklärung dafür.
Hör mal, gestern war Vollmond und diese Wölfe waren größer, als alle, die ich bisher gesehen habe.
Und glaub mir, ich habe in meinem Leben schon mehr Wölfe überlebt und gesehen als die Eskimos mit ihren Huskys in Alaska!“
Anna zog scharf Luft ein.
„Wenn das wahr ist, haben wir gefährliche Gegner.“
Chris nickte, noch ernster, falls das ging.
„Aber erst müssen wir das erst beweisen!“ meinte er.
Anna stimmte ihm zu.
„Suchen wir nach Hinweisen. Vielleicht haben die Werwölfe auch etwas mit den Vorfällen vor 500 Jahren zu tun.
Deine Eltern haben sie auf jeden Fall getötet!“ sagte Chris.
„Gut.
Fangen wir hier oben an!“ meinte Anna.
Sie durchstöberten das Schlafzimmer, das bad und alle weiteren Räume, doch sie fanden nichts.
Alle waren leer, nicht ein Blatt Papier war zu finden.
Und schon gar kein Hinweis auf Dracula oder seinen Nachfolger, falls es einen gab.
Nur weitere Kleider oder alte Anzüge, die bestimmt dem Grafen und seinen Frauen gehört hatten.
Teilweise waren sie von Motten angefressen, doch die meisten waren noch ganz.
Anna war erstaunt, wie gut sie erhalten waren, doch sie fühlte sich in ihrem Kleid nicht sehr wohl.
Es war schön – es sah genauer gesagt aus wie eine schönere Version des Kleides von Draculas Liebsten in Van Helsing – aber auch schwer.
Der Stoff musste mindestens drei Goldmünzen gekostet haben.
Solche Kleider hatte es zu Annas Geburt auch gegeben.
Doch waren diese fast unleistbar für nicht Adelige.
Scheinbar hatten die Frauen Draculas tatsächlich solche Kleider gehabt.
na ja, in Filmen wurde tatsächlich nicht immer gelogen.
Die Bibliothek sah aus wie aus einem Buch.
Es mochte sich komisch anhören, doch irgendwie stellte Anna sich die großen Bibliotheken in Ägypten oder Griechenland nicht sehr viel größer vor.
Diese hier zog sich über drei Stockwerke.
Aber die meisten Bücher waren alt und vergilbt und fielen auseinander.
Was ja, genauer genommen, ja nicht sehr verwunderlich war.
Sie standen hier schon seit mehr als 600 Jahren.
Tatsächlich sollten sie gar nicht so gut erhalten sein.
Anna hätte zerfallene Haufen und durchlöcherte Einbände erwartet, die eher aussahen wie Schweitzer Käse als ein dickes Buch über Astrophysik von Sokrates oder wie auch immer dieser Typ hieß.
In einer Vitrine fand Anna ein dickes, mit Blattgold überzogenes Buch.
Troja stand darauf.
Wie ironisch. Daneben lagen gleich welche über Cäsar, Augustus und Kleopatra.
Nofretete war auch ein Buch gewidmet. Es war das dünnste, aber das schönste Buch.
Der Rand war mit Diamanten verziert und in der Mitte war ein Bild von ihr eingelassen, das ein Maler gemalt haben musste, der besser gewesen sein musste als Da Vinci oder Picasso.
Diese Meisterwerke, in denen vielleicht all die ungelüfteten Geheimnisse verwahrt waren, mussten unbezahlbar sein.
Doch Anna hatte genug Geld und sie fand nicht, dass es je jemand erfahren sollte.
Sie wollte Draculas Schloss nicht plündern.
Das wäre ja fast so als ob sie Tut Anch Amun entmumifizieren würde und die Amulette von seinem Hals reißen würde.
Das wäre Schändung.
So weit wollte Anna nicht gehen.
Und ehrlich, wer würde ihr schon glauben dass sie es in Draculas Schloss gefunden hatte?
Was hatten alte ägyptische und griechische Bücher so weit entfernt in einem Land in Rumänien verloren, wo selbst Caesar vermutlich nicht sehr lange gewesen war?
Und Anna bezweifelte dass Menelaos, Odysseus, Achilles oder Nofretete jemals in diesem Land gewesen waren.
Es war offensichtlich, wie diese Werke hierher gelangten.
Draculas hatte sie entwendet.
Wer weiß, vielleicht hatte er ja Ramses Grab geplündert und Caesar erstochen?
Anna schüttelte den Kopf und suchte weiter.
Sie verbrachten den ganzen Tag in der Bibliothek, doch finden konnten sie nichts.
Vielleicht hatte derjenige, der nach Dracula das Schloss bewohnte, nicht lesen können.
Oder er hatte einfach andere Dinge im Kopf gehabt.
Im Grunde war es auch egal.
Sie beschlossen etwas zu essen und dann zu schlafen, denn sie waren erschöpft und hatten Hunger.
Chris ging auf die Jagd, während Anna sich aus dem Kleiderschrank ein weißes Nachtkleid mit Spitzen raussuchte. An der Taille war es eng anliegend, während der Saum weit war.
Es war kurz, aber es erfüllte seinen Zweck: Es befreite sie von dem engen Kleid.
Sie wartete im Salon auf Chris Rückkehr.
Als er wieder kam war es beinahe Mitternacht.
Er musste weit weg gewesen sein.
Auf jedem Fall sah er vollkommen zerwuschelt aus.
Sein Haar stand in alle Richtungen weg und sein T- Shirt war in Fetzen gerissen.
Es sah anziehend aus…
Aber Anna riss sich zusammen und nahm sich den Elch, den Chris auf den Holzboden gelegt hatte, vor.
Sie schlug ihre Zähne in die Halsschlagader, aber zu ihrem Bedauern musste Anna feststellen, dass das Tier bereits tot war.
Das war nur halb so viel Spaß und das Blut war schon ein wenig abgekühlt….
Doch Anna beklagte sich nicht.
Sie sagte nichts zu Chris und sah ihn auch nicht an.
Das hätte sie nur um den Verstand gebracht.
Sie gab sich wirklich Mühe ihn nicht anzusehen, aber noch mehr Anstrengung kostete es ihr, sich so hinzusetzten, dass man nicht zu viel sehen konnte.
Chris schien sich aber auch viel Mühe zu geben nichts zu sagen.
Anna wusste, dass er sie ansah.
Sie konnte sein verlangen fast spüren, doch sie gab nicht nach.
Nicht, weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht durfte.
Da es keine anderen betten zu geben schien, mussten sich die beiden eines teilen.
Chris sagte zwar: „Ich kann auch der Couch oder auf dem Boden schlafen.“
Doch Anna meinte: „Ist schon gut!“
Tatsächlich störte es sie nicht.
Er war zwar nicht warm, aber seine Nähre fühlte sich für Anna gut an.
Und so nahe konnte sie ihn wohl ranlassen ohne ihn umzubringen, oder?
Anna wickelte sich fest in die weiche Decke ein und wandte sich mit dem Gesicht zur Mauer.
In Gedanken jedoch lag sie fest in Chris Armen geschlungen.
Draußen donnerte es.
Bald war Chris ruhiger Atmen zu hören, der schließlich ganz verstummte.
Ein weiterer Grund niemals im Beisein eines Menschen auf die dumme Idee zu kommen aus Langeweile einzuschlafen.
In der Trance atmeten Vampire nicht.
Jeder Mensch hätte Chris für tot gehalten, denn er lag da wie eine tiefgekühlte Leiche, die noch mitten in der Totenstarre steckte.

Anna starrte an die Decke.
Vor ein paar Tagen hätte sie noch gedacht, es würden langweilige Jahre werden, die
sie hier verbrachte, doch nun wünschte sie sich, dass es so gekommen wäre.
Noch nie in ihrem Leben war sie so aufgewühlt und verwirrt gewesen.
Nicht nur wegen der Werwölfe.
Anna wandte sich zu Chris um.
Er sah einfach göttlich schön aus, wie er so dalag.
Anna gab es nicht gerne zu und sie hoffte, Manuel würde ihr das verzeihen, aber sie musste eingestehen, dass Chris besser aussah als jeder Mann, den sie bisher gesehen hatte.
Unglaublich anziehend. Dazu war er noch nett, höflich und freundlich.
Und er hatte sie gerettet.
Warum bloß musste sie sich im Weg stehen?

Anna machte sich am nächsten Morgen nicht einmal die Mühe das Gewand zu wechseln.
Das Nachtkleid war viel bequemer als das schere aus Samt.
Sie durchstöberten jeden Arbeitsraum und auch den Salon, doch sie fanden nicht, was auch nur einen Hinweis auf die Existenz einer anderen Macht gab.
Es war ernüchternd.
Doch Anna war sich sicher, dass es etwas geben musste.
Sie wusste nur nicht, wo.
Also suchten sie den ganzen langen Tag weiter.
Machten nicht eine Pause, redeten auch nicht viel.
Jeder war ganz versunken.
Na ja, so versunken nun auch nicht.
Sonst hätte Anna wohl kaum einen Ohrwurm von Leave out all the rest von Linkin Park gehabt.
Es war ein Lied, das ihr in ihrem Menschenleben garantiert gefallen hätte, aber als Vampir empfand man Töne und Melodien besonders intensiv und da klang es dann gar nicht mehr so toll.
Aber durch ihr gutes Gedächtnis konnte Anna sich an jedes einzelne Wort erinnern, das in dem Text vorkam.
Die Schubladen der Schreibtische waren alle leer.
Vermutlich war Dracula kein Freund von Niederschriften gewesen.
Aufzeichnungen schien er jedenfalls keine geführt zu haben und die Schriftführer hatte er vermutlich verspiest, ehe sie ihrer Arbeit nachgehen konnten.
Traurig, dass ein Vampir sein unsterbliches Leben so fristete, aber ihm schien es gefallen zu haben mit zwei wunderschönen Vampirfrauen auf einem Schloss zu leben und eine Jungfrau nach der anderen auszusaugen.
Sie hatten sich mittlerweile durch das ganze schloss gearbeitet.
Übrig waren nur noch die Kerker.
Draußen war es schon dunkel. man konnte das Schreien der Eulen durch die Mauern hören.
Sie waren auf der Jagd.
Langsam gingen die beiden die Treppen hinunter in den dunkeln, feuchten Kerker.
Wasser tropfte von den Wänden, die mit Moos und einer grünen Schleimschicht überzogen waren.
Es roch widerlich.
Auf dem Boden war eine uralte Blutspur.
Blut der Opfer Draculas?
Hatte er ihnen hier die Kehle durchbohrt?
Sie arbeiteten sich systematisch durch.
Sie betraten jede Zelle.
Doch in den meisten war nichts zu finden außer ein Bett oder ein paar Fußfesseln.
In den größeren lagen Skelette am Boden und getrocknetes Blut klebte überall.
Es roch nach Verwesung, aber nach so vielen Jahrhunderten war es nur noch mit einer Vampirnase wahrnehmbar.
Doch einige Spuren waren eindeutig frischer und je weiter sie in den Kerker eindrangen, umso frischer wurde der Geruch.
Es war widerlich und abstoßend.
Hier war der erste Beweis, dass etwas anderes vor nicht allzu langer Zeit hier gelebt hatte.
Die letzte Zelle war bei weitem die größte.
Ein einzelnes mit Gittern versehenes Fenster spendete Tagsüber Licht.
Jetzt sah man nur den aufgehenden Mond.
Überall am Boden lagen Fesseln und Seile und Eisenketten.
Anna lief ein Schauer über den Rücken, als sie einen Luftzug spürte.
Normalerweise machte ihr das nichts aus, aber in dieser unheimlichen Atmosphäre…
„Was ist das?“ fragte Anna.
Sie stand unter dem Fenster und betrachtete ein Büschel von etwas weichem.
Es war keine Baumwolle oder sonstiges.
Es waren Haare.
Tierhaare.
„Oh mein Gott!“ flüsterte sie.
Chris trat hinter sie und sah ihr über die Schultern.
„Was hast du?“ fragte er.
Anna schüttelte den Kopf und lehnte ihn an die kahle Steinmauer.
„Jetzt weiß ich, was damals über die Stadt geherrscht hat.
Indirekt natürlich.“
„Was?“ hakte Chris nach-
Seine Stimme war gespannt.
Er war genauso begierig darauf es zu erfahren wie Anna es gewesen war.
„Die Werwölfe!“
Kaum hatte sie ausgesprochen, ertönte vor dem Schloss auch schon ein ohrenbetäubendes Jaulen und Heulen.
Das Heulen von Wölfen.
„Sie sind hier!“ rief Anna panisch.
„Wir müssen fliehen!“
„Wohin denn?“ fragte Chris. Seine Stimme war laut.
„Ich weiß es nicht!“ gab Anna zu.
Von oben war das Splittern von Holz zu hören und das Kratzen von Krallen auf Stein.
Sie saßen in der Falle.
Die Monster kamen immer näher, bald war ihr lautes Hecheln schon zu hören.
Anna stallten sich die Haare auf, als das große schwarze Alphatier vor ihnen
schlitternd zum Stehen kam.
Es war zottelig, aber mehr konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen.
Außerdem wirbelte Chris sie herum, sodass sie mit dem Rücken an die Wand gepresst dastand, Chris kauerte sich vor ihr in Verteidigungsposition.
Langsam kamen nun auch die anderen Wölfe in den Kerker.
Überall wo man hinsah konnte man nur Fell erkennen, so viele waren es.
Anna hatte längst aufgegeben zu zählen, als der Anführer hervortrat und sich mit zuckenden Bewegungen in einen Menschen verwandelte.
Seine Haut war schlammfarben, so wie die von dem Mann, der Anna im Park begegnet war.
Er passte so gar nicht nach Rumänien.
Er passte überhaupt in keine menschliche Stadt.
Ein zweiter Wolf trat neben den großen Mann, der nur in Unterwäsche dastand.
Auch dieser begann sich in einen Menschen zu formatieren, allerdings in eine Frau.
Sie hatte die gleiche Hautfarbe wie der Mann, allerdings hatte sie keine Glatze wie er sondern wallendes kohlrabenschwarzes Haar.
Ihr Gesicht erinnerte Anna an einen Mops und wäre die Situation nicht so verzwickt gewesen, hätte sie gelacht.
„Ihr seid in unser Land eingedrungen, habt unser Schloss betreten und habt euch in unsere Dinge eingemischt.
Das gehört bestraft!“ sagte der Mann mit unangenehm tiefer Stimme.
Wie die eines Pitbull, würde er reden können.
„Aber bevor wir euch bestrafen, möchte ich uns vorstellen.
Das ist meine liebste Schwester Ailine.
Und ich bin Shorn.
Gemeinsam sind wir die Harrison Geschwistern und wollen ganz Rumänien regieren.“
Die Stimme des Werwolfes hörte sich an, als würde er jeden Moment ersticken.
Die Frau lachte.
„Ja genau! Und ihr habt hier keinen Platz in unserer Welt!“
Wenn sie sprach, hörte es sich an, als würde man Kreide über eine Tafel ziehen.
Es schmerzte in den Ohren, aber Anna hielt sich nicht die Ohren zu.
Sie wollte alles hören, was sie zu sagen hatten.
Ailine Harrison begann erneut zu kichern.
Anna krallte sich an Chris Taille fest, aus Angst und Schmerz.
Seine Nähe war das einzige was sie davon abhielt laut aufzuschreien.
Der Gestank war unerträglich.
Nasser Hund ging ja noch, aber dann noch der Geruch nach Verwesung und Gruft war zu viel.
Dazu noch das Blut, das ihren Durst erregte………
Das allein hätte als Strafe schon genügt.
Doch Shorn Harrison schien das anders zu sehen.
„Wir wissen genau, wie wir solche wie euch töten können.
Glaubt ja nicht wir wären so dumm und würden uns nicht informieren, bevor wir so etwas unternehmen, wie euch gefangen zu nehmen“
Das war Anna schon klar gewesen. Er hätte sie nicht darauf hinweisen müssen.
Aber wenigstens verlängerte er die Zeit bis zu ihrem Tod dadurch ein bißchen.
„Wir haben hier Weihwasser,“ Ailine Harrison deutete auf ein Fläschchen mit glasklarer Flüssigkeit.
Auf dem Etikett war ein Kreuz abgebildet, die Flasche war verkorkt.
„ein Kreuz,“ fuhr sie fort und zog ein hölzernes Kruzifix aus ihrem Umhang, „ und zu guter letzt den Holzpflock.“
Den holte Shorn hervor.
Er war spitz gefeilt und sah schon von Weitem bedrohlich aus.
Annas Nacken begann zu kribbeln.
Drei absolut tödliche Waffen, dazu noch die Zähne der Wölfe…
Ihre Chance war erdenklich schlecht.
Sie lag eigentlich unter dem Nullpunkt.
Anna schloß die Augen und lehnte ihren Kopf an Chris Rücken.
Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben, wenn sie an all die Schmerzen dachte, die sie und Chris durchleiden werden mussten.
Denn es war sicher, die Harrisons würden sie nicht sofort töten.
Sie würden sie foltern und vermutlich dabei zusehen müssen, wie der andere gefoltert und gequält wurde.
Anna war sich sicher es nicht ertragen zu können, wenn sie Chris so leiden sah.
„Was für ein jämmerlicher Vampir,“ sagte Shorn.
Anna war sich bewusst, dass sie damit gemeint war.
Aber nur will sie ein Vampir war, hieß das nicht dass sie keine menschliche Angst haben durfte.
Es war ja nicht nur Angst um ihr untotes Leben.
„Wir werden mit dir beginnen, Vampirweib!“ rief Shorn.
Ailine lachte schrill auf.
Sie schien größtes Vergnügen zu haben.
„Nein!“ brüllte Chris.
„Fangt mit mir an!“
„Das hättest du wohl gerne, was?“ lachte Shorn.
„Vergiss es!“ fauchte Ailine.
Anna bemerkte, wie Chris einen kurzen Blick zu ihr nach hinten warf.
Plötzlich packte er Anna an der Taille und schleuderte sie Richtung Wand.
Doch da war ja das Fenster und so knallte Anna gegen die Gitterstäbe.
Diese brachen unter ihrer Kraft weg und Anna landete im weichen Gras.
Chris war fast sofort bei ihr und half er auf.
Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu verschwenden rannten die beiden Hals über Kopf los.
Sie wußten nicht wohin sie liefen, aber es war egal.
In dem Moment ging es nur darum, den Bestien zu entkommen.
Sie rannten, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre. Das war er ja auch, irgendwie.
Sie liefen und hielten nicht einmal an. Sie warfen nicht einen Blick zurück und bremsten nicht.
Ihre Geschwindigkeit blieb konstant.
Aber Annas Beine taten weh. Denn sie rannten zwei Tage und eine Nacht.
Als die Sonne zum zweiten Mal hinter dem Horizont verschwand, und die Nacht herein brach, überschritten sie die Grenze nach Ungarn.
Kaum dass sie die Grenze hinter sich gelassen hatten, blieben sie stehen.
Sie waren müde, so müde.
Anna ließ sich auf den harten Boden sinken und starrte zum Himmel hinauf.
Es war sternenklar und kühl.
„Alles in Ordnung bei dir?“ fragte Chris besorgt.
„Ja, alles gut.“ meinte Anna atemlos.
„Wirklich?“ hackte Chris weiter nach.
„Ja, wirklich.“ versicherte Anna ihm.
Sie hasste es wenn er sich solche Sorgen machte. Sie war erwachsen und ein Vampir.
Chris nickte und setzte sich neben sie.
„Es tut mir Leid, dass ich dich da mit rein gezogen habe. Das hätte ich nicht tun sollen.
Du wolltest nur in Ruhe in Sibiu leben und ich vertreibe dich aus der Stadt.“ entschuldigte Anna sich.
„Ach komm, es ist nur eine Stadt wie viele. Nichts Besonderes.
Sie hätten mich auch ohne dich gefunden.“ Anna lächelte. Er war so nett. Das hatte sie nicht verdient.
„Bitte, mach dir keine Vorwürfe mehr.
Das ist nicht gut für dich.“ meinte Chris.
„Seit wann entscheidest du was gut für mich ist und was nicht?“ regte sich Anna auf und sprang auf die Beine.
„Tut mir Leid dass ich mir Sorgen um dich mache!“ meinte Chris ebenfalls wütend.
Auch er war wieder auf den Beinen.
„Das sollte es auch, denn um mich braucht man sich keine Sorgen machen.
Das hat man die letzten 500 Jahre auch nicht machen müssen.“ „Aber du hast viel erlebt. Du solltest wirklich nicht allein sein.
Du musst vergessen was damals passiert ist und endlich ein richtiges untotes leben anfangen.“ Anna schnaubte, schäumend vor Wut.
„Was gibt dir das recht dich in meinem Leben einzumischen und mich zu bevormunden!“ schrie Anna außer sich.
„Ich bevormunde dich nicht, ich gebe dir nur Ratschläge!“ brüllte Chris zurück, doch weniger laut als Anna.
„Natürlich tust du das!
Als ob du was an der Vergangenheit ändern könntest!
Niemand kann das!“ rief Anna.
„Woher weißt du das?
Das kannst du nicht wissen!“ schrie Chris.
„Weil es unrealistisch ist!“
„Ach ja?“
„Ja!“
„Du bist ein Vampir, woher weißt du dass es keinen Zauberer gibt, der in die Vergangenheit reisen kann?“ „Warum machst du mir falsche Hoffnungen?
Du weißt dass es das nicht gibt.
Und selbst wenn, du kannst es nicht!“ kreischte Anna.
„Ach nein?“
„Bist du Gott?“
Sie standen sich nun dicht gegenüber.
Ihre Nasen berührten sich fast.
„Nein!“ rief Chris zurück.
Dann trat Anna noch einen Schritt auf Chris zu und küsste ihn.
Er war fast genauso überrascht darüber wie sie.
Doch er erwiderte den Kuss.
Eng umschlungen sanken die beiden zu Boden, Annas Hände krallten sich in sein Haar.

Doch plötzlich schossen ihr Bilder in den Kopf.
Chris tot am Boden liegend. Manuels Geist schwebte daneben und sagte: „Das ist deine Schuld.
Du hast ihn getötet!“
Anna wollte nicht, dass Chris starb.
Also stieß sie ihn von sich herunter und sagte: „ich kann das nicht.
Das ist nicht richtig!“
Chris Blick war erschrocken und traurig.
Die Verletzung konnte man in seinen Augen sehen.
„Warum nicht?“ fragte er.
„Weil ich nicht kann.
Es geht nicht.
Das mit uns kann nicht funktionieren!“ rief Anna.
Es viel ihr unglaublich schwer diese Worte über ihre Lippen zu bringen, doch sie schaffte es.
Chris stand auf und stapfte im Kreis.
„Was ist los?“ fragte er.
„Versteh es! Ich will nicht mit dir zusammen sein!“ Tränen stiegen Anna in die Augen und insgeheim hoffte sie, er würde ihr diese Lüge nicht glauben.
Doch sein Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass er wütend war.
„Leg dich schlafen. Morgen müssen wir entscheiden, was wir tun.“
Anna wollte ihm nicht noch mehr Kummer machen indem sie ihm widersprach, deswegen legte sie sich auf einen Haufen Farne und schloss die Augen.
Sie hörte Chris ein paar Meter weiter leise Fluchen und nach etwas treten.
Sie konnte hören, wie er einen Stein aufhob und gegen einen Baum schleuderte.
Es ging ihm dreckig. Das hatte er nicht verdient.
Aber den Tod auch nicht.
Anna ließ ihre Gedanken fallen und streckte ihre Sinne in alle Richtungen aus. Sie wollte sicher sein, dass kein Wolf in der Nähe war.
Da spürte sie sie.
Es waren keine Werwölfe, es war auch kein Tier oder ein Mensch.
Sie waren kalt und tot, wie sie selbst auch.
Anna hatte dies noch nie zuvor gemacht, doch sie hätte schwören können dass es Vampire waren, die sie spürte.
„Chris?“ fragte Anna und setzte sich auf.
Chris stand am anderen Ende der Lichtung und starrte in den Wald hinein.
Anna sprach nicht laut, aber laut genug dass er es hören konnte.
„Was willst du?“ fuhr er sie an.
„Konzentrier dich….. bitte.“ sagte Anna so sanft sie konnte.
Chris runzelte die Stirn, doch er schloss seine Augen.
Sein Gesicht wurde immer verwirrter und konzentrierter, bis er seinen Kopf wieder senkte und sie ansah.
„Vampire?“ fragte er ungläubig.
„Ich weiß.
Ich denke, wir sollten sie aufsuchen!“ meinte Anna.
Für einen Moment hatte Chris vergessen, wie sehr Anna ihn verletzt hatte.
„Wir sollten sie suchen, dann können wir schneller aus diesem verfluchten land verschwinden!“ sagte er trocken.
Es war so offensichtlich dass er Anna los werden wollte. Und sie konnte es ihm nicht verübeln.
„Wo genau sind sie?“ fragte Anna.
Sie hatte diese Kräfte zum ersten Mal eingesetzt und beherrschte sie noch nicht gut genug um zu erkennen, wo sich die Vampire aufhielten.
„Norden, knapp nach der Grenze zu Ungarn.§ erklärte Chris.
Anna nickte und stand auf.
„Schlafen können wir dort auch.
Lass uns jetzt gleich gehen, bevor es sich die Werwölfe noch anders überlegen!“
Chris gefiel es nicht ihr zuzustimmen, doch er nickte.
„Dann los.“ meinte er zu sich selbst.
Es war ein langer Weg. Sie hielten nicht ein Mal.
Chris ignorierte sie, er sah sie nicht einmal an.
Er sagte nichts und wenn Anna versuchte ein Gespräch anzufangen, ignorierte er auch das.
Nach einer Stunde reichte es Anna.
Sie sagte: „Können wir nicht einfach Freunde sein, oder, wenn dir das zu schwer fällt, nicht einfach bekannte?
Hör auf mich zu ignorieren!“
Sie war wütend.
Ja, sie hatte ihn verletzt, aber sich selbst auch. Und er konnte nicht so tun als würde sie nicht existieren. Das war kindisch und unreif.
„Freunde? Bekannte?
In deinen Träumen vielleicht.
Du hast wohl zu viele Filme gesehen. Hat dir Tatsächlich….. Liebe den Verstand genommen?
So etwas gibt es nur in Träumen!“ rief Chris mit rauer Stimme.
Anna zuckte bei seinen harten Worten zusammen.
Sie hatte gewusst dass er es ablehnen würde – doch gehofft hatte sie dennoch.
Chris fuhr fort, diesmal lauter, wütender: „Als ob das funktionieren würde!
Ich habe dir gesagt dass ich dich mag, aber du mich offensichtlich nicht!
Ich bin froh dass ich dich bald nicht länger sehen muss, denn ich habe kein Bedürfnis mich selbst so zu quälen.
Das ist es nicht wert!“
Seine Worte trieben Anna die Tränen in die Augen.
Bald erreichten sie einen See. Er war dunkel und groß, umsäumt von einem dichten Nadelwald.
Sie kämpften sich ans Ufer durch, wo das kalte Wasser an das mit Kies bedeckte Ufer
schwappte.
In der Mitte des Sees befand sich eine Insel, und auf dieser Insel stand ein beeindruckendes Herrenhaus.
Es war eine gewaltige Villa, allein auf dieser Seite des Hauses hatte es 12 Fenster bei einem Stock.
Es war eher lang als hoch. Das Gemäuer bestand aus rauem, grauen Stein. Es musste sehr alt sein.
„Ist es das?“ fragte Anna. „Sind sie da drin?“
Chris antwortete nicht.
Er rannte mit voller Geschwindigkeit ins Wasser, das nach allen Seiten spritzte.
Anna sah ihm nach, bis er fast schon in der Mitte der Distanz zur Insel war.
Dann rannte auch sie.
Das Kleid hinderte sie daran schneller zu laufen, und als es sich mit Wasser vollsog wurde es noch schwerer.
Es war kein Problem für Anna, aber es behinderte ihre Beine und Arme.
Doch ihre Arme waren kräftig und sie war schon immer eine herausragende Schwimmerin gewesen, deswegen holte sie Chris ein, bevor dieser ans Ufer treten konnte.
Das Wasser tropfte von ihren Haaren und ihrer Kleidung, sie sahen aus wie begossene Pudel.
„Warum leben so viele Vampire an einem Ort?“ wollte Anna wissen, aber wie zu erwarten gab ihr Chris auch darauf keine Antwort.
Er trat an die riesige Holztür heran und begann mit seinen Fäusten dreimal dagegen zu hämmern.
Es dauerte keine Sekunde bis jemand die Tür öffnete.
In der Tür stand eine Frau, sie sah nicht älter aus als 20.
Ihre dunkelbraunen Haare flossen in schönen Locken ihren Rücken hinunter. Ihre Augen blitzten, wie bei jedem Vampir, moosgrün, was zu ihr aber besonders gut passte.
Als sie Chris sah, stieß sie einen überraschten Schrei aus.
„Christian?“ fragte sie ungläubig und ehe Anna sich versah, lag sie Chris in den Armen.
„Wie geht es dir, Brüderchen?“


Vampirrat und Mythologie


Brüderchen? Hatte Anna sich da verhört?
Hatte die Vampirfrau eben gesagt dass Chris ihr Bruder sei?
„Hallo Shadow.“ begrüßte Chris sie nicht sonderlich erfreut.
„Was machst du hier?“
Shadow löste sich von Chris und sah ihn strahlend an.
„Eine lange Geschichte.
Die erzähle ich dir später.
Viel interessanter ist doch was du hier machst.
Und wer ist das?“ fragte sie nach einem Blick zu mir.
„Ich bin Anna.“ stellte sie sich selbst vor, da sie wusste dass Chris es nicht tun würde.
Sie lächelte freundlich und schüttelte Anna die Hand.
„Kommt doch herein.
Ich werde euch in ein Gästezimmer bringen, dann muss ich den Rat einberufen, okay?“
Sie redete wie ein Wasserfall und für Erklärungen hatte sie keine Zeit.
Anna war über alle maßen verwirrt, wusste sie doch nicht was hier vor sich gin.
Was für ein rat?
Warum einberufen?
Außerdem war sie müde, so müde, dass ihr schwindelig war.
Shadow schien nett zu sein, aber aus irgendeinem Grund war Chris nicht sehr erfreut sie zu sehen.
Dasselbe schien auch Shadow zu wissen, denn mit einem ernsteren Blick stellte sie fest: „Du hast mir noch immer nicht verziehen.
Wie lange willst du noch wütend auf mich sein?“
Dann ging sie ihnen voran einen langen Gang entlang.
Er war aus weißem Marmor und wirkte sehr alt, fast so wie ein griechischer Tempel.
Anna sah sich aufmerksam um. Sie roch Vampire und zwar mehr als nur einen.
Chris ging schweigend neben Shadow her, ohne eine der beiden anzusehen.
Anna fühlte sich unwohl in ihrer Haut, wusste nicht so recht, was sie sagen oder tun sollte.
Bisher waren ihr noch nicht viele Vampire begegnet und Shadow schien nett zu sein.
Aber Chris schien einen Konflikt mit ihr zu haben, etwas, das sie getan hatte und er ihr nicht verzeihen konnte.
Oder wollte.
Anna kannte Chris noch nicht sehr lange, doch lange genug um zu wissen, dass es ihm nicht leicht fiel zu vergeben.
„Wie lange leben Sie schon hier?“ fragte Anna, die die Stille nicht länger ertragen konnte.
„Noch nicht so lange.
100 Jahre,“
Für Vampire war das tatsächlich keine lange Zeit.
Anna fragte sich, was Shadow wohl dazu bewogen hatte in ein Haus, das mit mindestens 10 Vampiren bewohnt war, zu ziehen.
Die meisten ihrer Art zogen es vor, allein zu leben, oder höchstens zu zweit.
„Was ist das hier für eine Gemeinschaft, Shadow?“ fragte Anna und strich sich eine Locke hinter das Ohr.
Ihre Haare waren noch immer nass, sowie auch der Rest ihrer Kleidung.
Bei dieser Frage sah Chris seine Schwester interessiert an, das erste Zeichen von Leben, seit sie das Haus betreten hatten.
„Hier lebt der Rat der Vampire.
Vampire von allen Kontinenten leben hier zusammen und tagen, wenn nötig.
Sie beschließen Gesetze, fällen Urteile und registrieren neue Vampire.
Das hier ist so etwas wie die Regierung aller Vampire.
Ihr müsst doch davon gehört haben,“ erklärte Shadow mit einem Lächeln, das zwar freundlich war, gleichzeitig aber zeigte, wie oft sie das schon erklärt hatte.
Tatsächlich hatte Anna schon davon gehört.
Der Rat der Vampire bestand aus 7 Vampiren, die ihren Kontinent repräsentierten.
Angeblich sollte Europe zwei Ratsmitglieder haben und der Kopf der Vampirbevölkerung sein.
Doch darüber konnte nur spekuliert werden.
Niemand wusste es wirklich. Und keiner wusste, wo sich dieser Rat befand, es sei denn er war schon einmal dort.
Und die wurden zu absolutem Stillschweigen gezwungen.
„Heißt das du bist ein Mitglied dieses Rates?“ fragte Anna verwundert.
Sie hatte immer geglaubt, man müsse besonders alt sein, um dem rat angehören zu können.
„Ja, ich repräsentiere Amerika. Nordamerika, wenn ich genau bin,“
Sie war sicher nicht älter als 700 Jahre, wenn sie Chris Schwester war, was bedeutete, dass sie ein anderes, wichtiges Talent besaß, das der Rat sehr schätzte.
Shadow führte sie zu einer Tür am Ende des Ganges. Sie war aus dunklem, glänzendem Holz und wirkte ebenso alt, wie der Rest des Hauses.
„Wir haben nicht mit Gästen gerechnet.
Bitte verzeiht, aber wir haben nur ein Zimmer frei,“ entschuldigte sich Shadow und schloss die Tür mit einem uralten, riesigen Schlüssel auf.
Anna kam sich vor wie in einem längst vergangenen Jahrhundert, aber es gefiel ihr, dass es auch noch Orte gab, an denen man an die Vergangenheit denken konnte.
Jetzt roch Anna, das weit mehr als 11 Vampire in diesem Haus waren.
Es war ein Ratshaus. Da gab es auch Diener und Putzleute und Gäste, die etwas vom Rat wollten. Gesetze, Vollstreckungen oder dergleichen.
„Ich werde euch etwas Sauberes zum Anziehen bringen, bevor ihr vor den Rat tretet.
Deswegen seid ihr doch hier, oder?“
Anna nickte. Sie waren zwar nicht in der Absicht gekommen, den Rat zu informieren, doch im gegebenen Fall war das vermutlich das Klügste, das man hätte tun können.
Hier lebten dutzende Vampire. Wenn jemand helfen konnte, dass die Vampire hier.
Es waren zwar größtenteils Politiker oder Leute, die so gravierende Probleme hatten, dass sie sie dem Rat vortragen mussten, doch im Ernstfall war der Rat der einzige, der helfen konnte.
Wie, das wusste Anna selbst nicht.
Sie konnte sich schwer vorstellen, dass so hohe Politiker selbst kämpfen würden.
Doch bestimmt gab es so etwas wie eine Polizei oder eine Armee hier in der Gegend.
Das Zimmer war riesig und altmodisch eingerichtet.
Der Holzboden knarrte ein wenig, wenn man auftrat, doch das störte nicht weiter.
Wunderschöne alte Vorhänge versperrten die Sicht nach draußen und ein Bett, so groß wie das Pool mancher Leute, stand inmitten dieses Raumes.
Ein Schrank aus dunkler Buche stand am anderen Ende des Zimmers und bedeckte einen Teppich zur Hälfte.
Eine weitere Tür stand im hinteren Bereich des Raumes offen und zeigte eine weiße Dusche und ein Waschbecken, das in eine rote Marmorplatte eingelassen war.
„Danke, Shadow,“
„Keine große Sache, Anna,“
Shadow ließ die beiden allein zurück und schloss die Tür hinter sich ab.
Kaum dass sie ins Schloss gefallen war, drehte Anna sich um und ging auf das Bett zu.
Was sollte sie jetzt sagen? Chris hatte während der gesamten Zeit nichts zu ihr gesagt.
„Ich schlafe auf dem Boden,“
Annas Herz geriet aus dem Rhythmus, als sie das hörte.
Etwas war absolut falsch.
Sie dachte zurück an die Nacht in Draculas Schloss und ihre Nähe.
Jetzt herrschte zwischen ihnen Eiszeit.
Und das in einem Schloss, von dem kleine Mädchen träumten, eines Tages zu heiraten.
Anna hatte tatsächlich auch einmal den Wunsch gehabt ein riesiges Fest in einem riesen Palast zu feiern, mit roten und weißen Rosen, einem wunderschönen weißen Kleid und einem Diadem, mit hochgesteckten Haaren und weißen Pferden und einem Traumprinz, den sich die meisten Leute nur erträumen konnten.
Das Schloss hatte ihnen allein gehört, und jeden Tag hatten sie einen neuen Geheimgang entdeckt, der bereit war gesehen zu werden.
Doch damals war Anna noch ein Kind, das keine Ahnung hatte von der Welt, nichts von den Mördern und kranken Psychophaten wusste und dachte, das Leben wäre Friede, Freude, Eierkuchen.
Damals hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass es eines Tages so etwas wie Atombomben geben würde und so etwas, das man Auto nennt.
„Tu das,“ war Annas einziges Kommentar.
Befangenes Schweigen breitete sich aus.
Anna knetete nervös ihre Hände und strich sich mehrmals eine lose Haarsträhne hinter das Ohr.
Hilflos ließ sie ihre Hände auf den Schoß sinken und seufzte kapitulierend.
„Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast,“ meinte sie, um das unangenehme Schweigen zu brechen.
Bisher hatte sie immer geglaubt, dass so etwas nicht wirklich geschah. Dass man derart befangen war, dass die Stimme zitterte, wenn man zum Sprechen anhob.
In Büchern und Filmes geschah das immer wieder, aber nur weil es dort stand oder gezeigt wurde, bedeutete das nicht, dass es deswegen stimmte.
Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, Anna zitterte.
„Nein.
Das liegt daran, dass ich es dir nicht erzählt habe. Es gab keinen Grund dafür,“
Chris Antwort war sehr knapp. Er wusste vermutlich gar nicht, wie sehr er Anna damit verletzte.
Wie er es sagte. So, als wäre er entsetzt über den Gedanken ihr so etwas Vertrauliches anzuvertrauen.
Dabei hatte er ihr etwas viel intimeres erzählt.
Doch das schien ihm nichts zu bedeuten oder er hatte es vergessen.
Plötzlich fiel es Anna schwer, nicht einfach loszuheulen.
Es war lächerlich. Sie kannten sich doch kaum ein paar Tage.
Und doch hatte der Kerl es geschafft sich in ihr Herz einzuschleichen.
Das war nicht nur untypisch für Anna, wenn sie es denn doch tat, dann mit ganzem Herzen.
Nach dem Tod ihres Verlobten war es ihr schon einmal gebrochen worden.
Dasselbe jetzt schon wieder zu erleben war mehr, als sie ertragen konnte.
Anna atmete einmal tief durch.
„Okay. Ich habe schon verstanden.
Ähm…. Sie ist nett,“
Chris zuckte mit den Schultern.
„Ist sie nicht,“ seine Stimme klang so gelangweilt und so desinteressiert, dass die Wut in Anna hochkochte und die Verletztheit verdrängte.
„Kannst du dich vielleicht klarer ausdrücken?
Ich habe ja verstanden dass ihr ein Problem habt, aber einmal ganz ehrlich: Nur weil ihr euch nicht versteht, heißt das noch lange nicht, dass ich sie nicht nett finden soll.“
Chris zuckte schon wieder mit den Schultern, als sei es ihm vollkommen egal, dass sie soeben einen Wutausbruch gehabt und ihn angeschrien hatte.
Gerade als Anna erneut zu einer Schimpftirade ansetzen wollte, klopfte es an der Tür und Shadow kam herein.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte sie verwirrt, als sie Anna vor Wut kochend dastehen sah und Chris, der aus dem Fenster starrte.
Sie sah mit hochgezogenen Augenbrauen von dem einen zum anderen und fragte: „Störe ich?“
Anna rief: „Ja!“ und Chris zur gleichen Zeit: „Nein,“, was Annas Wut noch steigerte.
Shadow schüttelte den Kopf und legte das Thema bei Seite.
„Ich habe Ihnen, Anna, eine Auswahl von Kleidern vorbeigebracht, die mir nicht mehr passen, aber sie müssen genau deine Größe sein.
Für dich, Chris, habe ich einen Anzug.
Wir sind hier beim Vampirrat. Da müsst ihr euch passend kleiden,“ fügte sie hinzu, als sie Chris genervten Blick sah.
„Zieht euch um.
Ich hole euch in 10 Minuten wieder ab,“
Anna bedankte sich bei Shadow, die die Kleider auf das Bett legte, sich verabschiedete und aus dem Zimmer verschwand, schneller als nötig.
Sie hatte wohl bemerkt, was für eine angespannte Stimmung zwischen den beiden herrschte.
Anna stand eine Weile noch wütend da und starrte wütend vor sich hin, bevor sie zum Bett rüberging und sich die drei Kleider ansah, die Shadow ihr gebracht hatte.
Eines war ein kurzes, dunkelblaues Cocktailkleid, das zweite ein extrem knappes Grünes und das dritte ein schlichtes Schwarzes.
Es war nicht schwer für Anna sich eines auszusuchen.
Das Blaue passte wie angegossen. Die Farbe stimmte sich harmonisch mit ihren roten Locken ab.
Als Anna aus dem Bad trat, sah sie Chris in seinem dunkelblauen Anzug.
Sie hatte noch nie in ihrem Leben so einen schönen Mann gesehen.
Wie er so dastand, mit seinen breiten Schultern und seinen muskulösen Armen.
Es verschlug Anna den Atem und am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt und ihn ungestüm geküsst.
Aber sie konnte nicht vergessen, dass er sie seit dem Nachmittag im Wald wie Luft behandelte, und aus Angst zurückgewiesen zu werden, blieb sie einfach im Türrahmen stehen und wartete, bis Chris ihre Anwesenheit bemerkte.
Es war ihre Schul, dass er sie jetzt ignorierte, das wusste sie ja.
Sie hatte ihn verletzt, ihn von sich gestoßen, aber sie konnte nicht riskieren, dass ihn das gleiche Schicksal traf wie ihre Familie und Manuel.
Dafür liebte sie ihn zu sehr.
„Bist du fertig?“ fragte Chris kurz angebunden.
Anna nickte knapp und öffnete die Tür zum Gang.
Sie fühlte sich etwas unwohl in ihrer Haut, ihr war etwas schwindelig, was sie auf die Tatsache schob, dass sie gleich dem hohen Vampirrat gegenübertreten musste.
Nervös zupfte Anna am Saum ihres Kleides herum und wartete darauf, dass Chris sie überholte.
Dieser ging so bestimmt durch den Gang als wüsste er, wohin er zu gehen hatte.
Vermutlich wusste er das sogar.
Sie hatten gerade die Hälfte des Weges durch den Gang zurückgelegt, als Shadow ihnen entgegenkam.
„Sie sehen toll aus, Anna!“ rief sie mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
Dasselbe hätte Anna zu Chris Schwester sagen können, welche einfach großartig aussah.
Heidi Klum, an ihr kannst du dir etwas abschauen. Wenn du denkst du bist schön, dann tust du das nur, weil du Shadow noch nie gesehen hast.
Anna versuchte das Lächeln zu erwidern, was ihr allerdings nicht wirklich gelang.
Wie selbstverständlich hackte sich Shadow bei Anna ein ohne ihrem Bruder auch nur eines Blickes zu würdigen und geleitete diese in die große Empfangshalle.
Weißt du, dieses Haus steht schon sehr, sehr lange.
Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie alt es ist.“
Mit einem Schulterzucken fügte sie hinzu: „Mittlerweile ist es mein Zuhause, auch wenn ich noch kein Ratsmitglied bin.
Schließlich bin ich noch keine 1000 Jahre alt,“
Anna konnte verstehen, dass Shadow sich hier wie Zuhause fühlte. Es war wirklich beeindruckend schön hier, aber Anna war sich sicher, dass sie sich hier nicht wohlfühlen würde.
Sie mochte es nicht mit so vielen Leuten auf engstem Raum zusammenzuleben. Das machte sie reizbar und nervös.
Außerdem war hier zu viel aus Marmor.
Shadow führte sie weiter, diesmal einen schmaleren Gang entlang, hinab in den Keller.
Umso weiter sie gingen, umso deutlicher nahm sie die Präsenz anderer Vampire wahr.
Es waren 10, wenn sie sich nicht täuschte.
„Ihr redet nur, wenn ihr etwas gefragt oder aufgefordert werdet, klar?“ schärfte Shadow ihnen ein, als sie vor einer mächtigen, riesigen Holztür hielten, die mit zahlreichen antik wirkenden Mustern verziert war.
Sie war unverkennbar von einem großartigen Künstler der griechischen Hochkultur gefertigt worden, was den Wert dieser Tür gewaltig in die Höhe trieb.


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Publication Date: 10-31-2009

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