Cover

Silence

 


„Oh! Tschuldige Steffy.“
„Idiot! Sie ist Joy nicht Steffy!“
„Was? Oh! Tut mir leid Joy.“
„Sie ist in unserer Klasse. Merk dir wenigstens ihren Namen.“
„Wenn sie so unauffällig ist …“
„Du hast recht aber … “
Die Worte der Jungs verstummten hinter mir als ich weiter ging. Mir war nicht danach es schon wieder zu hören.
Unauffällig.
Ein zu einfaches Wort für etwas das man selbst mit hunderten nicht hätte erklären können. Ein paar Buchstaben, die bestimmen sollten was tiefer ging als die Gegenwart, die Wurzeln fest vergraben in der Vergangenheit. Ein Wort das nicht verriet welche hundert anderen noch dahinter steckten. Also war es wie es ist. Genauso still und nichtssagend.
Genauso wie ich.
Meine Eltern musste bei meiner Geburt schon geahnt haben wie ich gerate und haben den passenden Namen gewählt. Joy. Drei Buchstaben ohne Klang. Zu einfach als das sie lange im Gedächtnis blieben. Genau wie ich. Doch es war okay, denn den anderen konnte man keinen Vorwurf machen.
Ich hielt mich abseits.
Ich schwieg bei den Gesprächen.
Ich blockte die wenigen Annäherungsversuche ab.
Es war seit der Mittelstufe so und inzwischen hatten sie es aufgegeben. Das zeichnete schließlich den Menschen aus. Man gewöhnte sich daran, man gewöhnte sich an alles.
Meine Schritte trugen mich durch den mittlerweile leeren Korridor. Die meisten waren kurz nach dem Klingeln in blinder Hatz aus dem Schulgebäude geflohen. Nur wenige zog es nach der letzten Stunde noch zu diesem Ort, an dem die Stille regierte. Und war es doch so, dann schmeckte man ihre Unzufriedenheit darüber förmlich auf der Zunge.
Ich ging weiter. Links, rechts, wieder rechts dann 46 Schritte gerade aus. Schon erhob sich die große Kastanienholzschwingtür vor mir. Wenn man den Kopf hoch in den Nacken legte, konnte man das Relief bewundern, welches detailliert in das dunkle Holz geschnitzt wurde. Darunter stand etwas in erhabenen, verschnörkelten Buchstaben. Für manche eine Weissagung, für andere ein Gedicht oder purer Blödsinn. Was auch immer der Künstler sich bei diesen Worten gedacht hatte wollte sich auch mir nicht erschließen, doch glaubte ich fest daran das es nicht nur pure Hirngespinste waren, die ihn zu diesen Wörtern getrieben hatten. Das würde zumindest die Gänsehaut erklären, die mir jedes Mal über den Arm kroch.

Da wo du den Atem der Bücher spürst,
wo die Fantasie mit Flügeln schlägt,
wo du Dinge siehst die es nicht gibt.
Dort wirst du finden was du nicht suchst.


Noch eine Weile verweilte mein Blick, ehe ich die schwere Klinke hinunterdrückte und der Geruch nach altem Papier mir in der Nase kitzelte. Ich liebte das. Das Aroma der Bücher, welches sie verströmten als würden sie damit die Leser locken wollen sie aus dem Regal zu ziehen um in ihrer Welt zu verschwinden. Es war ein Duft nach Abenteuer, Trauer, Hoffnung, nach Zuversicht und Verzweiflung und manchmal nach Liebe.
„Hallo Joy.“
Ich lächelte der Bibliothekarin zu. Es war eine nette alte Frau und wahrscheinlich das einzige Wesen in diesem Gebäude das ohne Spickzettel meinen Namen kannte.
„Hallo. Ich bringe ein paar Bücher zurück.“
„Das dachte ich mir schon.“ Ihr Lächeln war hell und freundlich. „Ich trage sie gleich ein. Du kannst dir inzwischen Nachschlag holen.«
Ich nickte wieder und verschwand zwischen der ersten Reihe. Für viele die zum ersten Mal in die Bücherei kamen, stellte das wahre Labyrinth an Gängen ein schier unüberwindliches Hindernis da. Nicht selten verliefen sie sich und wurden erst spät abends von der Bücherwächterin wieder hinaus geführt. Etwas das mir von je her, Gott sei Dank, erspart geblieben war. Sich in den Gängen zu bewegen war mir, wie eine zweite Natur, ins Blut übergegangen. Ja, ich schaffte es sogar spielend den anderen auszuweichen ohne das diese mich überhaupt bemerkten.
Mein Weg hinter den Regalen führte an den großen Lesetischen vorbei, welche in Reihen hintereinander standen. Die Arbeitsplatten waren dunkel und abgegriffen von den vielen Jahren. Etwa auf der Hälfte blieb ich stehen und zog ein Buch über Anthropologie aus dem Regal ohne ihm wirklich einen Blick zuzuwerfen.
Er war wieder da.
Durch die kleine Lücke im Regal beobachtete ich den Jungen. Vor zwei Wochen war er mir dass erste Mal aufgefallen. Einfach deshalb weil er absolut nicht hier rein zu passen schien. Und das lag noch nicht mal unbedingt daran dass er nie ein Buch in die Hand genommen oder einen der Laptops benutzt hatte. Es war einfach die Tatsache das er nicht hierher passte. Mit seinen dunklen Haaren, dem athletischem Körper und den schönen grauen Augen gehörte er eindeutig der Highsociety des Schulhofs an. Also was zog ihn dann gerade an diesen Ort der sonst von ihnen als Loserloch verschrien war?
Auch heute blieb er mir diese Antwort schuldig. Er stand einfach nur bei einer Gruppe die dem Religionsklub angehörte und schwieg. Im Grunde konnte ich mich nicht einmal daran erinnern je seine Stimme gehört zu haben.
Ich schüttelte den Kopf und schob die Lektüre zurück ins Regal. Tauchte wieder ein in den Irrgarten aus Bücher. Ich war auf der Suche nach ein paar neuen Schätzen. Hier und da wurde ein Buch aus dem Regal gezogen, wieder zurück gestellt. Sie waren gut und ein anderes Mal würden sie mit zu mir nach Hause kommen, doch gerade stand mir der Sinn nach etwas anderem. Einem Buch das ich immer wieder gern in den Händen hielt. In deren Welt ich mich gerne verlor.
Meine Finger strichen über die Einbände. Hier musste es irgendwo sein. Titel für Titel tastete ich mich näher ran als meine Hand bei einem grauem Einband innehielt.

 

Die unendliche Geschichte.

Ein wundervolles Buch das mehr enthielt als was man in jedem Film zeigen konnte. Gerade wollte ich das Buch herausziehen, als eine andere Hand bei dem gleichen innehielt. Reflexartig zuckte ich zurück und starrte den Jungen an. Seine grauen Augen wirkten stumpf, gerade so als würde er einfach durch mich hindurch blicken. Er rührte sich nicht.

„Ähm … wenn du es willst …ich meine …dann kannst du es haben.“
Er reagierte gar nicht, behielt auch die Hand knapp vor dem Buch ohne es zu berühren. Hatte er mich nicht gehört oder ignorierte er mich einfach? In Anbetracht seines Aussehens und der Einstellung dieser Typen zum Weltbild konnte das genauso gut möglich sein. Dennoch reizte es mich. Einfach weil das hier mein Revier war. Typen wie er hatten hier eigentlich nichts zu suchen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz in jeder Schule!
„Du kannst es haben.“
Als er mich erneut ignoriere wedelte ich mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Kurz blinzelte er und hob dann den Kopf um mich anzusehen. Mein erster Gedanke war das ich mich geirrt hatte. Seine Augen waren nicht grau gewesen. Jetzt im Licht konnte ich sehen das sie von einem hellem blaugrau waren. Aber heller und intensiver als ich es von anderen kannte. Ja, seine Augen wirkten wie die zugefrorene Fläche eines Sees.
„Redest du mit mir?“
„Ja. Willst du das Buch jetzt oder nicht? Mir ist nämlich nicht danach hier fest zu wachsen.“
Oh Gott was dachte ich mir nur dabei. Genau deswegen zog ich es vor nichts zu sagen. Es war ja doch immer das Falsche. Doch Mister Sporty schien alles andere als wütend zu sein. Er setzte nicht einmal zu einer Retourkutsche an, sondern zog nur die Hand zurück.
„Du kannst es haben.“
„Danke.“
Ich zog das Buch aus dem Regal, stopfte es in meine Tasche und überlegte welche ich mich noch mitnehmen sollte. Ob es neue Exemplare in der Horrorabteilung gab? Vielleicht war sogar zur Abwechslung »Sunset« mal wieder da.
„Wie heißt du?“
Ich zuckte erschrocken zusammen und Stolperte über meine eigenen Füße. Fast hätte ich dem Boden einen näheren Besuch abgestattet, konnte mich dann aber noch einem Regal festhalten. Das der Junge mir gefolgt war hatte ich nicht bemerkt. Doch er stand gut einen Schritt hinter mir und beobachtete mich.
„Was?“
„Dein Name? Falls er dir nicht entfallen sein sollte?“
„Joy.“ Ich stolperte fast über die drei Buchstaben. „Einfach nur Joy.“
„Na dann, einfach nur Joy, bist du oft hier?“
Unruhig fummelte ich am Band meiner Tasche herum. Es lag nicht an ihm. Nicht wirklich zumindest. So fühlte ich mich wann immer jemand versuchte mit mir zureden. Unsicher. Befangen, mit einem Hauch Panik gewürzt.
„Ich muss gehen!“
Damit ließ ich ihn stehen, eilte durch die Gänge. Zurück zum Ausgang. Die alte Bibliothekarin sah mir kurz verwundert nach als ich fluchtartig das Gebäude verließ. Erst zuhause blieb ich stehen und legte den Kopf gegen die Tür meines Zimmers.
„Glückwunsch Joy, du hast dich mal wieder lächerlich gemacht.“

Am liebsten hätte ich behauptet damit wäre diese Geschichte beendet. Doch dem war nicht so. Meine Stunden in der Bücherei wurden immer hektischer, sodass ich mich nicht einmal mehr in dem Irrgarten sicher fühlte. Immer und immer wieder tauchte dieser Junge auf. Hielt Abstand und trieb mich mit seiner bloßen Anwesenheit in den Wahnsinn. Manchmal fragte er mich etwas, ich antwortete mit Flucht. Doch egal was ich tat, los wurde ich ihn nicht. Sowie auch jetzt.
„Wie lange willst du das eigentlich noch machen?“
„Das sollte ich wohl eher dich Fragen. Bist du ein Stalker oder was?“
Der Junge hob eine Augenbraue. Schwieg aber, was nicht unbedingt das beunruhigendste Zeichen war. Besonders nicht wenn man mit ihm allein war.
Im Hintersten Teil der Bücherei.
Unruhig rutschte ich etwas auf der Fensterbank zurück und umklammerte das Buch, welches ich in den Händen hielt. Im Notfall würde ich davon gebrach machen und sein Gesicht umdekorieren.
„Du bist also jeden Tag hier.“
Es war keine Frage, eher eine Feststellung. Abstreiten konnte ich das ganze schlecht, da er mir ja seit einer Woche konsequent folgte. Manche Menschen besaßen wirklich eine sagenhafte Ausdauer.
„Ja. Genau wie du!“
Seine Augen wurden eine Spur dunkler und er verzog die Lippen zu einem freudlosem Lächeln. „Ja, so könnte man das nennen.“ Eine kurze Pause dann. „Kennst du dich hier gut aus?“
„Schon, warum?“
„Ich suche ein Buch.“
„In der Bücherei? Na was für ein Zufall«, hätte ich fast gesagt, verkniff es mir aber. Dieser Junge war seltsam. Das hatte sich mir in den letzten Tagen bestätigt. Seltsam auf eine andere Art als ich es war. Oder, vielleicht war seltsam auch nicht das richtige Wort. Rätselhaft wäre vielleicht passender.
„Wieso gehst du dann nicht zur Bibliothekarin. Sie kann im Computer nachsehen ob es gerade da ist.“
Wieder dieses süffige Lächeln. „Das geht nicht.“
Ich wurde nicht schlau aus diesem Kerl. Nicht nur weil er einfach nicht aussah als würde er freiwillig ein Buch in die Hand nehmen, sondern einfach weil ich seine ganze Art nicht verstand. Kopfschüttelnd zuckte ich mit den Schultern und biss von meinem Schinkensandwich ab.
„Warst du deswegen so oft bei dem Religionsklub? Sollten sie es für dich suchen?“
„Ich bin wohl nicht der einzige Stalker hier.“
Mein Kopf nahm nacheinander sechs verschiedene Rottöne an, ehe ich von der Fensterbank sprang und davon stolzierte.
Auch die nächsten Tage erwies sich der Junge, dessen Namen, wie mir gerade auffiel, ich immer noch nicht kannte, als ziemlich hartnäckig. Inzwischen hatte ich mich auch daran gewöhnt, dass er irgendwo auftauchte um mir den ganzen Tag wie ein Schatten durch das Bücherlabyrinth zu folgen. Zwischen uns hatte sich etwas entwickelt das man weder als Freundschaft, noch als einfache Akzeptanz bezeichnen konnte. Es war irgendwas dazwischen oder aber etwas gänzlich anderes. Ich wusste es nicht.
„Um was für ein Buch handelt es sich überhaupt?“
„Es geht um Rituale.“
„Schau doch im Kategoriensystem nach. Wenn dein Buch hier ist wirst du es da finden.“
Er sah mich an wie ein Schaf wenn´s donnert und entlockte mir nun doch ein Lächeln, welches er nach einem kurzem Moment erwiderte.
„Komm schon Muffel. Ich zeig es dir.“
„Hör auf mir alberne Spitznamen zu geben.“
„Dann sag mir doch mal deinen richtigen Namen. In dem ganzen Monat bist du nicht einmal darauf zu sprechen gekommen.“
„Vielleicht weil du immer sofort türmst?“
„Was du immer für reizende Dinge sagst.“
Kurz musterten wir uns wie zwei Kontrahenten, ehe er eine spöttische Verbeugung andeutete. „Sebastian, stets zu Diensten. Bastian genügt vollends.“
Ich starrte ihn vielleicht zehn Sekunden an ehe ich losprustete. „Das …“ ich hielt mir lachend den Bauch. „ … das passt so überhaupt nicht zu dir.“
Beleidigt drehte er den Kopf beiseite, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte. Dieser Kerl war auch nicht mehr ganz normal. Wieso zog ich eigentlich immer die schrägen Dinge an wie das Licht die Motten?
Nur mühsam beruhigte ich mich und wischte mir die Tränen aus den Augen.
„Du solltest öfter Lachen.“ Seine Stimme, die Worte, es war wie eine Liebkosung der Seele. „ Es steht dir viel besser als dieser verbissene Gesichtsausdruck.“
„Ich schaue ganz normal.“
„Ja, das hatte ich mir gedacht.“
Kurz sahen wir uns an, ehe ich mir die Haare aus dem Gesicht strich und an ihm vorbei in Richtung der Computer ging. Bastian folgte mir in einem Schritt Abstand, wie er es immer tat.
Der Laptop war eine große Hilfe. Was soviel bedeutete als das er uns über 200 Ergebnisse ausspuckte. Da Bastian sich weder an das Cover noch an den Klappentext erinnern konnte, blieb uns nichts anderes über als uns durch die ganzen Bücher zu ackern. Ich glaubte wir brauchten gut vier Tage, vielleicht waren es auch fünf. Es war seltsam es nicht genau zu wissen. Langsam, wie die unaufhaltsame Flut, begann ich mich auf die täglichen Treffen zu freuen. Ja, es war eine seltsame Freude ihn als erstes zu sehen wenn ich die große Flügeltür öffnete.
„Das wären dann alle“. Ich warf ihm das letzte Buch zu und rutschte die Leiter herunter. Fast im selbem Moment hörte ich es auf dem Boden aufschlagen. Verwundert sah ich ihn an.
„Schlechte Reflexe.“ Sein Lächeln ließ auch mich schmunzeln ehe ich das Buch aufhob und zu den anderen trug. Es war ein kleiner Stapel angewachsen. Neugierig arbeitete ich mich durch den ersten. Bastian hatte sich hinter mich gestellt und sah mir neugierig über die Schulter. Hier und da schrieb ich Notizen heraus. Besonders die Reinigungsrituale und Beschwörungen waren interessant.
„Wäre das hier nichts für dich?“ Sein Finger lag auf einem Liebeszauber.
„So verzweifelt bin ich sicher nicht.“ Beleidigt zog ich die Nase kraus.
„Nein, ich denke du brauchst das wirklich nicht.“
Seine winterblauen Augen blickten mich mit solch einer Intensität an, dass mir ganz warm wurde. Verlegen sah ich wieder ins Buch und machte mir hektisch Notizen. Sein leises Lachen kitzelte mir in den Ohren.
Wir hatten vielleicht drei geschafft als ich gähnend das Buch zuklappte. Es war kurz vor 21 Uhr und die Bücherei würde bald schließen. Wir beschlossen die Suche morgen fortzusetzen. Wie jeden Tag würden wir uns hier treffen um ein einziges Buch zu finden. Ein Buch das uns zusammengeführt hatte und das mich jeden Tag mit kindlicher Freude auf das Schulende warten ließ.
„Ich hab morgen noch Athletik. Es wird also etwas später.“
Wir traten gerade um ein Regal herum als ich von einem blondem Jungen umgerannt wurde. Erschrocken quietschte ich auf als mein Gleichgewicht flöten ging und ich nach hinten kippte. Bastians erschrockene Augen blieben mir in diesem Moment in klarer Erinnerung, ehe er einen Schritt auf mich zu trat und die Arme öffnete. Doch das Gefühl aufgefangen zu werden blieb aus. Statt dessen landete ich unsanft auf dem Boden. Rechts und links neben mir lagen die Bücher verstreut. Der Blonde sagte etwas, doch ich hörte seine Worte gar nicht. Es war nur ein rauschen im Hintergrund. Bastian und ich starrten uns an. Seine Arme waren immer noch ausgebreitet wie um mich zu fangen. Doch das konnte er nicht. Der Junge packte mich am Arm und zog mich wieder auf die Füße. Zog mich direkt heraus aus Bastians schillernden Körper.
„Du … “
Er wandte den Blick ab. Der Blonde war verschwunden. Keine Ahnung wohin. Und es war mir auch egal. Mein Hirn versuchte gerade erst zu begreifen was hier vor sich ging. Vorsichtig streckte ich die Hand aus. Mühelos glitt sie durch Bastians Schulter.
„Ja. … Ja, ich bin tot.“
„Und wann zum Teufel wolltest du es mir sagen.“
„So etwas lässt sich ja auch so einfach erklären. Wie sollte das gehen. Hallo ich bin ein Geist?“
Ich öffnete den Mund, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Wütend ballte ich die Hand zur Faust. „Darum also.“ Jedes Wort war ein zittern des Zorns. „Du brauchtest nur eine Dumme die dir hilft.“
Bastian wollte etwas sagen, doch ich wollte nichts hören. Rannte einfach weg. Ließ ihn und die Bücher zurück. Stürzte aus der Bibliothek, hinaus auf die Straße und der leichte Regen kühlte mein Gesicht. Verbarg die Tränen unter einem Schleier. Ich hätte es wohl wissen müssen dass so etwas passierte. Es war genau wie damals. Mit dem einzigen Unterschied dass die anderen noch lebten.
Ich war so dumm gewesen. Wieso war mir früher nie aufgefallen das etwas mit ihm nicht in Ordnung war? Denn, gerade wo ich so darüber nachdachte vielen mir hunderte von Dingen auf.
Nie aß er etwas. Nie setzte er sich an den Tisch oder hatte selbst ein Buch in die Hand genommen. Ja, mir war es nicht einmal merkwürdig erschienen das wir uns nie in der Schule trafen. Und der Abstand. Bastian hatte immer konsequent einen Schritt Abstand zwischen uns gehalten. Jetzt wusste ich das es aus Furcht war ich könnte ihn zufällig streifen. Dazu kam das wir seit Wochen Rituelle Beschwörungen und Rituale durchforsteten. Befreiungsrituale um es genau zu sagen.
Ich senkte den Kopf und wischte mir die nassen Haare aus dem Gesicht, stieg dann auf mein Fahrrad. Ich war so dumm.

Ich stand am Fenster und sah Joy nach. Der dichte Regen ließ fast ihre Konturen verschwinden. Selbst als sie aus meinem Blickfeld verschwunden war, verharrte ich und hoffte so sehr das sie wieder kam. Doch nichts. Die Nacht wurde dunkler, der Regen stärker und das Mädchen blieb entschwunden.
Langsam wandte ich mich ab, glitt durch die Wand hinein in die dunklen Schulgänge. Zu dieser Stunde fand ich es hier unerträglich. Nacht für Nacht wenn alles still war erschien mir die Last meiner Existenz so drückend. Denn wenn man nicht schlief konnten die Stunden so lang werden.
Seufzend hob ich den Kopf in den Nacken. Joy hatte mir die Tage gerettet, damit die Nächte und damit,ohne es zu Ahnen, auch meine Seele. Nach meinem Tod war ich so labil gewesen. Man kann es sich schlecht vorstellen da zu sein und doch nicht gesehen zu werden. Es war ein Gefühl der Einsamkeit das immer stärker wurde je mehr um mich waren. Dennoch schaffte ich es nie ihnen aus dem Weg zu gehen. So wie die Motten vom Licht ins Verderben geführt wurden, so erging es mir mit diesem Ort.
Dann kam Joy.
Warum gerade sie mich sehen konnte war mir ein Rätsel. Vielleicht weil sie genauso unsichtbar durch diese Welt wandelte wie es sonst nur die Toten konnten. Kurz schloss ich die Augen. Aber das war nun vorbei. Sie würde nicht wieder kommen. Der Schmerz in ihrem Blick hatte mich schlimmer getroffen als ich es für möglich gehalten hätte.
„Genug«, meine Stimme klang leer in der Dunkelheit. „Was mach ich mir Sorgen. Tote haben Zeit.“ Der Satz war genauso leer wie meine Stimme.
Ich tauchte durch eine andere Wand als ein ersticktes Kreischen neben mir ertönte , gefolgt von einem poltern. Überrascht dreht ich mich um. Joy saß auf dem Boden. Die Kleidung nass und Schlamm-besudelt, in den Haaren hingen ein paar Blätter. Alles wirkte als wäre sie durch die Büsche gekrochen.
„Du...was...“ Ich wusste nicht einmal was ich sagen wollte.
„Lass es uns versuchen.“ Sie lächelte mich an. „Lass uns versuchen dich hier raus zu holen“.
Ich konnte es nicht glauben. Dieses Mädchen war einfach nur eine Wucht. Ihre Art sprunghaft und ungreifbar. Er streckte ihr die Hand entgegen, besann sich dann und zog sie entschuldigend wieder zurück. Joy lächelte nur und stand auf. Ihre Hand fuhr kurz durch die Seine, dann wir uns an und machten sich auf den Weg zur Bücherei.

Die Schule war bei Nacht anders als sie es im Licht war. Überall krochen Schatten durch die Gänge und Geräusche jagten mir eine Gänsehaut über den Rücken. Dabei sollte man meinen das mich nun, wo ich gerade einen Geist zu meinen Freunden zählte, nichts mehr erschüttern konnte. Leider eine meilenweite Fehleinschätzung. Bastian bemerkte es natürlich und drehte sich leicht zu mir um. Nun wo der Mond seine Gestalt erhellte, glaubte ich zu sehen das er leicht transparent war.
„Ist alles in Ordnung?“
„Klar … alles bestens!“
Das Aufblitzen gelber Augen ließ mich zurückschrecken. Beim zweitem Blick stellte es sich als Katze heraus die es sich auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht hatte.
„Du hast Angst im Dunkeln? Wo du mit einem Geist redest?“
Seine belustige Stimme ließ mich leicht das Gesicht verziehen. „Wieso sollte ich den Angst vor einem Geist haben?“
„Du bist schon ein wenig paradox.“
Ich steckte ihm die Zunge raus als er stehen blieb, sodass ich fast durch ihn hindurch getreten wäre. So sah ich nur auf, bemerkte das erste Mal das er gut einen Kopf größer war als ich.
„Du brauchst keine Angst haben.“ Seine Hand griff nach hinten und berührte meine ohne das ich seine wärme fühlen konnte. „Ich bin bei dir.“
„ … Ja.“
In der Bücherei bereitete ich alles für das Ritual vor. Komplet mit auf den Boden gezeichnetem Pentagramm, alten Runen und Kerzen. Wir hatten sogar so ein paar richtig übel riechende Kräuter. Bastian stellte sich in die Mitte des Runenkreises. Ich konnte eine Anspannung spüren. Mir ging es nicht anders, auch wenn sich ein Zwicken des Bedauerns in meinen Gefühlscocktail mischte. Sollte dieses Befreiungsritual wirklich funktionieren würde ich ihn nie mehr wieder sehen. Ein Tropfen fiel vor mir die alten Seiten des Buches. Was ich zuerst für Regen gehalten hatte, war eine Träne gewesen, welche sich langsam meine Wange herunter gestohlen hatte.
„Joy?“
„Alles ok.“ Ich lächelte ihn an und war froh das er im schummerlicht der Kerzen mein Gesicht nicht sehen konnte. „Ich fang dann mal an.“
Die Lateinischen Worte rollten mir über die Zunge wie perlendes Wasser. Bastian hatte die Augen geschlossen, verharrte reglos im Kreis und wartete. Ich wusste nicht genau was ich erwarten sollte. Würde er verblassen oder in Rauch aufgehen? Würden züngelnde Flammen ihn fortreißen oder gar ein Engel ihn weiterziehen.
Es geschah etwas gänzlich anderes.
Nämlich nichts.
Bastian schlug die Augen auf während Minuten an uns vorbeistrichen. Sein Blick war enttäuscht, dennoch stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen.
„Wir versuchen es noch mal mit einem anderem.“ Meinte ich schnell doch er trat nur aus dem Kreis und schenkte mir eines seiner berauschenden Lächeln.
„Ich bin froh das es nicht funktioniert hat. Irgendwie hinten herum. Ist das nicht idiotisch?“
Es war ganz und gar nicht idiotisch. Mir ging es genauso. Der Gedanke ihn irgendwann nicht wer hier zu treffen verpasste mir einen Stich.
„Lass mich dir etwas zeigen. Meinen Lieblingsort.“
Ich lächelte. „Gern.“
Der Ort, an welchen er mich brachte, war das östliche Schuldach. Es regnete immer noch und die Tropfen perlten von meiner Haut ab. Bastian hatte es da gut. Er konnte einfach nur da stehen. Am Rand des Daches und blieb dabei sogar trocken.
„Ist dir kalt?“
„Nein, der Sommerregen ist schön warm.“
Ich beobachtete, wie er die Hand hob um den Regen aufzufangen, doch er glitt einfach durch ihn hindurch. Seinem Blick haftete etwas Trauriges an. Er musste den Regen gemocht haben. Einen Moment beobachtete ich ihn, haderte mit mir selbst, ehe ich eine Frage stellte die mir schon seit der Geistererkenntnis unter den Nägel brannte.
„Wie bist du gestorben?“
Bastian blinzelte und schloss kurz die Augen. „Ich würde ja gerne behaupten, dass es ein cooler Tod war, aber dann müsste ich Lügen. Im Grunde war’s ein ziemlich peinlicher Unfall. Ich und meine Freunde waren im Theaterraum um die Bühnenbilder etwas zu ‚verschönern‘.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosem Lächeln. „Nun, am Ende haben sie mich etwas verschönert.“ Sein Blick wurde kurz abwesend, eher er sich mir zu wandte. „Jetzt musst du mir aber auch eine Frage beantworten. Warum bist du immer so still zu den anderen und gehst ihnen aus dem Weg?“
Die Frage überraschte mich. „Ich … äh … "
„Ja?“
„Ich kann nicht gut mit den anderen umgehen. Ich bin so lahm, rede so tollpatschig. Das nervt doch jeden.“
„Wer hat dir das gesagt?“
„In der Mittelstufe ein paar Jungs aus meiner Klasse.“
„Verstehe. Schade das Ich ein Geist.“ Er ballte die Hand zur Faust. „Du solltest dich von ihnen nicht verfolgen lassen. Du bist nicht ungeschickt oder lahm. Ganz im Gegenteil. Du zwar ziemlich seltsam aber auch sehr süß.“
„Ich bin..ich..“ Ich schlug mir die Hände vors Gesicht um die gefühlten hundert Rottöne zu verbergen. Mein Herz schlug mir hart gegen die Rippen. Wie konnte er so einfach so etwas sagen?
„Versteck dich nicht.“
Seine Worte konnten hundert Dinge aussagen, doch nur eine in seinen warmen Auge war von Bedeutung war. Seine Hand strich mir über die Haare und kurz glaubte ich seine Berührung wirklich zu spüren. Als ich aufsah war sein Gesicht ganz nah an meinem. Gerne hätte ich jetzt seinen Atem auf meiner Haut gefühlt.
Wie hatte das geschehen können?
Wie hatte er es geschafft die Mauern, welche ich um mich errichtet hatte, so einfach zu umgehen?
„Ich bedaure, dass wir uns nicht früher getroffen haben. Zu meinen Lebzeiten gab es niemanden der mir wichtig war.“
„Du hättest mich sicher übersehen.“ Meine Stimme zitterte leicht.
„Ja, ich war ziemlich blind. Seltsam, so hat der Tot wohl auch etwas Gutes. Ich konnte dich treffen.“
„Bastian..ich...ich … BATIAN!!“
Der Schrei ließ ihn zurückweichen. Kurz starrten wir uns an. Ehe er es auch bemerkte.
Sein Körper glühte. Winzige Lichtkugeln stoben wie Glühwürmchen davon. Ungläubig betrachtete er seine Hand, die mit jeder entwichenen Kugel transparenter wurde.
„Nein … wieso jetzt?“
Weitere Kugeln wirbelten in trägen Kreisen um uns herum. Seine Füße waren als erstes verschwunden.
„Du musst jetzt gehen.“ Heiße Tränen liefen mir über die Wangen, doch der Regen verbarg es gut. Bastian sah es trotzdem.
„Joy.“ Er kam näher und seine Hand ruhte unter meinem Kinn. Ich hob den Kopf. Ich würde ihn niemals wieder sehen. Noch einmal sagte er meinen Namen und legte seine Stirn an meine. „Ich … ich … “ Doch es gab keine Worte die diesen Abschied erträglicher machen würden.
Eine weitere Träne rann meine Wange hinter, schmeckte salzig auf meinen Lippen als er mich küsste.
Langsam hob er den Kopf höher. Seine Gestalt war nun fast vollständig verschwunden. Die geflüsterten Worte blieben mir allzeit im Gedächtnis. Dann war er fort. Die geisterhaften Glühwürmchen strichen einmal, einem Abschied gleich an mir vorbei. Ich streckte die Hand aus, fing eines heraus und drückte die geschlossene Hand gegen mein Herz.
„Ich liebe dich.“
Ich ließ es gehen, ihn gehen. Sah, wie das Licht verblasste und wusste das er fort war. Zurück blieben nur seine Worte. In Stille geflüstert und auf ewig bewahrt in meinem Herzen. Was er sagte, blieb mein Geheimnis. Denn vielleicht war es wie bei Sternschnuppenwünschen. Ein einziges Wort könnte ihn verderben.
Doch vielleicht wisst ihr ja was er mir zugeflüstert hat.
Mehr noch als ein Versprechen.

 

 

 

Imprint

Text: rubynia
Images: Google Bilder
Publication Date: 09-09-2012

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