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Sicherheitshinweise

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Art Satire auf Romantasy-Romane. Der Inhalt ist teils sehr blödsinnig, die Hauptfigur ist eine grässliche Person. Vollkommen humorlosen Menschen ist daher vom Lesen abzuraten. Lesen geschieht auf eigene Gefahr, die Autorin haftet nicht für beim Lesen entstehende Hirnschäden oder plötzlich aufkommenden Brechreiz.

 

Kapitel 1

 

Kapitel 1

Es war der erste Schultag in der neuen Stadt. Gestern hatte mich meine Mutter hierhergebracht. Auf meiner alten Schule waren die Lehrer gemein und hinterhältig gewesen, oft tadelten sie mich, nur weil ich hin und wieder fehlte. Auch die Mitschüler waren unfreundlich, und das nur, weil sie neidisch waren. Es war auch kein Wunder: Ich war hübsch, ich war intelligent, schlagfertig, gewitzt, sportlich, liebenswert. Die Jungs liefen mir in Scharen hinterher, aber es fiel mir so schwer, mich für einen zu entscheiden; ich wollte doch keinen vor den Kopf stoßen. Und so hatten die Lehrer entschieden, dass es besser sei, wenn ich die Schule verließe, obwohl ich mit Abstand die beste Schülerin war. Natürlich gab es noch andere Schulen, aber meine Mutter war der Ansicht, dass ihre bescheidene 21-Zimmer-Villa mir nicht gerecht wurde. Mir machte es nichts aus, ich war nicht anspruchsvoll. Aber sie war der Meinung, dass meine Fähigkeiten sich in solchen Verhältnissen nicht richtig entwickeln konnten, und so stimmte ich ihr zuliebe zu, bei meinem Vater eine Art Selbstfindungskurs in der Wildnis zu machen und eine neue Schule zu besuchen. Außerdem wollte ich ihm gern helfen, denn ich wusste, dass er mich seit der Scheidung von meiner Mutter sehr vermisste und allein nur schwer klarkam. Er lebte in einem kleinen Apartment in einer kleinen Stadt mit nicht einmal einer Million Einwohner. Doch dies spielte für mich keine Rolle. Mir ging es nicht um Schönheit und Reichtum oder gar Ruhm, ich wollte nur, dass es meinen Eltern gutging. Es würde bestimmt nicht einfach werden, vollkommen neu anzufangen, aber mit meiner fröhlichen, unbeschwerten, natürlichen Art bezauberte ich alle Menschen und wanderte leicht durchs Leben. Ich würde es schaffen.

Mein Vater stand in der Tür, als ich mir die Tasche um die Schulter schwang. Es war nur eine kleine Handtasche. Sie reichte nicht, um darin Schulbücher zu transportieren, aber größere Taschen würden meinem Rücken schaden, und das Wichtigste, meine Schminksachen und mein Spiegel, passte ja rein.

»Alles in Ordnung?«, fragte Dad. »Kommst du klar? Ich meine, findest du den Weg und alles?«

Ich warf ihm mein strahlendes Lächeln zu. Es war so süß, dass er sich Sorgen um mich machte. Die Leute unterschätzen mich immer, weil ich so zart aussehe, aber ich verfüge über eine geradezu erstaunliche Intelligenz und Ausdauer. Meine Fähigkeit, mich an neue Situationen anzupassen, ist unglaublich. Wobei ich aber auch zugeben muss, dass die Leute mir stets von selbst helfen, weil ich so ein einnehmendes, anziehendes Wesen habe.

»Aber klar«, rief ich fröhlich. »Mach’s gut, Dad. Ich bin bald wieder da. Ich hab dir Cordon Bleu gemacht, musst du dir nur noch wärmen. Ich hab dir aufgemalt, wie man die Mikrowelle an- und ausschaltet. Mach dir keine Sorgen um mich. Alles paletti, hab dich lieb!«

Fröhlich hüpfte ich auf die Straße an die Bushaltestelle. Ich war so aufgeregt, so viele neue Menschen kennenzulernen. Ich weiß, das ist ungewöhnlich. Die meisten Menschen wären an einer neuen Schule wahrscheinlich nervös gewesen, aber ich freute mich schon auf die vielen neuen Freundschaften, die ich schließen würde. Ich hatte noch nie Schwierigkeiten gehabt, Kontakte zu knüpfen, die Leute flogen mir praktisch zu, ich musste mich gar nicht anstrengen. Das einzige Problem war das mit den Jungs. Es tat mir so leid, sie abzuweisen, aber ich konnte ja nicht mit allen gehen.

Der Busfahrer war so fasziniert, als ich ihn mit einem meiner strahlenden Lächeln bedachte, dass er keinen Ton mehr rausbrachte. Er war schon alt, nicht in meiner Kategorie, aber ich fand es trotzdem süß, dass sich der arme Kerl Hoffnungen machte.

Problemlos fand ich den Weg in die Schule und zum Klassenzimmer.

Mit meinem gewinnenden süßen Lächeln betrat ich die neue Klasse. »Hi!«, begrüßte ich meine Mitschüler, während ich lässig mein wunderschönes seidiges Haar zurückwarf.

Der Lehrer erwiderte meine Freundlichkeit nur mit einem grummeligen Stirnrunzeln. »Und wer sind Sie, wenn man fragen darf?«

»Ich bin Grazielle Anastasia Belle Amelie Aurelia Mary Rose Sue de Cygne von Undzu, Ihre neue Schülerin. Sie dürfen mich Belle nennen. Oder Grazielle. Oder auch Anastasia oder Amelie oder Mary oder Rose oder Sue«, strahlte ich ihn an und reichte ihm meine gepflegte Hand mit den langen, schlanken Fingern. Sicher würde er sich jetzt freuen, dass er mich kennenlernen durfte.

Er ignorierte meine Hand und grunzte nur. »Aha. Setz dich.«

Ich war etwas gekränkt, aber ich sagte mir, dass er meine Hand vielleicht nicht schmutzig machen wollte, es war ja weithin sichtbar, dass ich sie heute Morgen noch gewaschen, gecremt und die Nägel geschnitten und lackiert hatte. Vielleicht fürchtete er auch, Krankheiten zu übertragen. Eigentlich ist Händeschütteln ja vollkommen unhygienisch, aber so weit muss man seinen Mitmenschen eben entgegenkommen, als weltoffener, toleranter Mensch.

Ich steuerte auf einen freien Platz zu und schenkte meinem Nachbarn mein strahlendes Lächeln. »Hi, ich bin Belle«, stellte ich mich vor.

»Es wird nicht mehr geredet!«, fuhr der Lehrer mich an.

Ich steckte diese neuerliche Beleidigung weg und lächelte meinem Nachbarn entschuldigend zu. Lehrer!, versuchte ich ihm mit meinen Augen zu sagen.

Mein Nachbar schien ziemlich dümmlich zu sein, sein Gesicht blieb ausdruckslos und unbewegt. Statt mich anzublicken, sah er nur nach vorne an die Tafel. Als ob die so interessant wäre! Alles, was da draufstand, hatte ich schon mit fünf Jahren gewusst. Aber vielleicht war es ja auch eine Verlegenheitsgeste. Mittlerweile habe ich verstanden, dass manche Leute sich nicht trauen, mir direkt ins Gesicht zu sehen, weil sie fürchten, meine Schönheit könnte sie blind machen, aber damals wusste ich das noch nicht und so sah ich es als Ablehnung.

Da er meinen freundlichen, offenen Blick also ignorierte, betrachtete ich meine perfekt gestylten Fingernägel. Ich hatte sie neben dem üblichen lila Nagellack mit einem speziellen Glitzerspray besprüht und sie sahen einfach himmlisch, dabei aber völlig natürlich aus. Natürlich durfte man solches Styling nicht übertreiben, das wirkte nur lächerlich und außerdem hatte ich es keineswegs nötig. Und selbstverständlich spielen solche Äußerlichkeiten keine wesentliche Rolle, sondern sind nur netter Nebeneffekt. Ich meine, ja, ich mache mich ganz gern schön, aber nur, weil ich von Natur aus schon sehr attraktiv bin, da muss man einfach die natürlichen Reize ein wenig unterstreichen. Und mehr tat ich ja auch nicht, denn das meiste war schon von Natur aus so. Wenn man von Natur aus nicht schön ist, hilft alle Schminke nichts. Und wenn man nicht von Herzen rein ist, hilft alle Höflichkeit nichts.

Der Lehrer warf mir einen unfreundlichen Blick zu. Ich lächelte und zeigte ihm unauffällig meine schöne Hand. Ich wollte ja schließlich nicht angeben. Daraufhin ließ er mich in Ruhe. Ich lächelte triumphierend. Natürlicher Charme hat eben doch Wirkung.

Es läutete. Ich packte langsam und cool meine Sachen zusammen. Nur keine Hektik, das ist ungesund und macht hässlich. Dann sah ich mich nach meinem Nachbarn um, aber er war schon gegangen. Na gut, dann eben nicht. Er war sowieso ziemlich ordinär gewesen. Ich beschloss, erst mal Pause zu machen, eine ganze Unterrichtsstunde hochkonzentriert zuzuhören, war schließlich wirklich anstrengend und brachte Falten ins Gesicht. So ging ich leichtfüßig-beschwingt in Richtung Cafeteria, als plötzlich eine Stimme hinter mir sagte: »Äh … Belle?«

Ich drehte mich strahlend um. Ein recht hässliches Mädchen hatte mich angesprochen.

»Ja? Ich gehe in die Cafeteria, kommst du mit?«, fragte ich sie. Man muss immer freundlich zu den Menschen sein, auch wenn sie hässlich sind. Wahre Schönheit kommt schließlich von innen.

Sie machte große Augen. »Hast du denn keinen Unterricht?«

Ich lachte herzhaft und hob unbekümmert die Schultern. »Keine Ahnung. Aber ich hab beschlossen, dass ich mir eine Pause verdient habe.«

»Ah … so.«

Sie tat mir etwas leid, wie sie da so ratlos stand. Die Ärmste war so verklemmt und so schüchtern. Ich trat zu ihr und hakte sie unter. »Na los, komm mit, das wird ein Spaß. Du hast dir eine Pause verdient, schließlich hast du sogar mitgeschrieben.«

Sie machte sich los. »Äh, nein. Ich geh lieber in den Unterricht. Und an deiner Stelle würd ich auch nicht gleich am ersten Tag blaumachen, das kommt gar nicht gut an.«

Ich lachte gönnerhaft. Natürlich kam Pausemachen bei manchen nicht gut an, aber man musste es nur richtig machen. Man durfte nicht so tun, als wäre es ein Unrecht. Ich hatte eine ganze Stunde lang zugehört, da hatte ich nun wirklich zwei Stunden Erholung verdient. Und ich war sicher, dass die Lehrer auch meinem Charme erliegen würden. Niemand konnte mir wirklich böse sein, weil ich so süß und unschuldig war.

Ich tätschelte dem fremden verängstigten Mädchen die Schulter. »Mach dir mal um mich keine Sorge. Ich brauche keinen Unterricht, aber wenn er dir hilft, will ich dich natürlich nicht aufhalten. Viel Spaß noch!« Ich lief weiter, ein fröhliches Lied summend. Da ich weiß, dass ich eine wunderschöne Stimme habe, singe ich leise, um die Leute nicht zu sehr abzulenken.

Dennoch sahen mir unterwegs schon wieder etliche Jungs nach, und auch die eifersüchtigen Blicke der Mädchen verfolgten mich. Ich konnte einfach nichts dafür. Ich tat nichts, damit sie mir nachliefen, ich hatte einfach so eine bezwingend einnehmende Art.

Frohgemut machte ich mich auf den Weg zum Kaffeeautomaten. »Was, die wollen 50 Cent?«, empörte ich mich. »Das ist ja Wucher.« Es musste doch eine Möglichkeit geben, die Maschine zu überlisten. Ich war Grazielle Anastasia Belle Amelie Aurelia Mary Rose Sue de Cygne von Undzu, ich würde mich nicht von einer lächerlichen Kaffeemaschine kleinkriegen lassen, deren IQ nicht einmal halb so hoch war wie meiner. Ha! Bestimmt war heißes Wasser billiger. Ich drückte erst die Taste für heißes Wasser und dann die für Kaffee. Auf diese Weise würde der Automat glauben, dass ich heißes Wasser kaufte, mir aber Kaffee geben.

Nichts da. Er fraß meine 40 Cent und was gab er mir dafür? Heißes Wasser! Das war unerhört, was bildete sich der ein! Ich sah, dass hinter mir ein paar Schüler anstanden, und auch sie sahen empört aus.

»Das ist doch wirklich unverschämt!«, sagte ich zu ihnen. »Ich wollte Kaffee und er gibt mir nur heißes Wasser.«

»Äh, hast du denn auf die richtige Taste gedrückt?«

»Natürlich! Auf die für heißes Wasser, glaubst du, ich bezahle 50 Cent für einen Kaffee?«

Der Junge, der mich angesprochen hatte, blickte ziemlich einfältig drein. »Aber wie soll er denn Kaffee machen, wenn du auf heißes Wasser drückst?«

»Ich hab doch gesagt, dass ich Kaffee will! Mein Gott, wozu ist so eine Maschine denn da, wenn ich auch noch für sie mitdenken muss?« Ich verdrehte überlegen die Augen. Das war doch wirklich Kinderkram.

Ein Mädchen drängte sich plötzlich an mir vorbei. Sie sah sehr wütend aus. Na endlich verstand mich jemand, sicher wollte sie mir helfen. »Mir wird das langsam echt zu blöd«, fauchte sie, schob mich zur Seite, nahm meinen Becher heißes Wasser heraus, stellte ihn auf einem Mülleimer ab und drückte den Knopf für Kaffee.

Ich war gerührt. »He, das ist aber lieb, dass du mir einen Kaffee kaufst. Aber das wäre echt nicht nötig gewesen.« Das war nun mal meine Wirkung auf andere: Niemand konnte mir widerstehen, und das, ohne dass ich irgendetwas dafür tat.

Das Mädchen verdrehte die Augen. »Der ist für mich, du Gans! Ich hab keine Lust, stundenlang hier anzustehen, weil du zu blöd bist, die Maschine zu bedienen!«

»He, aber dafür kann ich doch nichts!«, empörte ich mich. »Was kann ich dafür, dass der Automat nicht richtig funktioniert?«

»Ja, ja, schon klar.« Sie nahm ihren Kaffee und quetschte sich an mir vorbei.

So ein gemeines Biest! Hilfesuchend sah ich den Jungen an.

»Also holst du dir jetzt einen Kaffee oder nicht?«, fragte er ungeduldig.

»Das will ich ja. Aber ich bezahle keine 50 Cent für eine Tasse Kaffee, das ist doch totaler Wucher!« Ich blickte ihn aus großen, traurigen Augen an. Wenn ich traurig bin, sehe ich so richtig rührend aus, das weiß ich. Meine Mutter hatte sich dann immer ganz zurückgezogen, weil sie mich nicht leiden sehen konnte. Sicher würde er mir jetzt den Kaffee bezahlen.

»Tja, Pech gehabt«, sagte er nur, schob mich zur Seite und drückte auf die Kaffeetaste.

Ich war fassungslos. Was waren das nur alles für gefühl- und niveaulose Tölpel, was für Grobiane!

Dann würde ich eben ohne Kaffee auskommen müssen. Ich setzte mich an einen Tisch und weinte in mein frisch gebügeltes, mit Rosenduft parfümiertes Seidentaschentuch. Wie ungerecht war die Welt, und das schon am ersten Schultag. Keinen Tag länger würde ich hier aushalten!

Ich muss gar reizend ausgesehen haben, wie ich da saß in meiner gerechten Verzweiflung über die Ungerechtigkeit der Welt, über die herzlosen Menschen, denn nicht lange später kam jemand auf mich zu und sprach mich an.

»He, Maus, wein doch nicht.« Ich hatte natürlich damit gerechnet, dass sich doch noch jemand um mich kümmern würde. So schlimm konnten diese Schüler doch nicht sein.

Aber ich war so fertig, dass ich noch eine Weile mit dem Kopf in den Armen dasaß. Mir ging es eben wirklich schlecht.

Eine Hand tätschelte meinen Rücken. Sie fühlte sich riesig und unangenehm gefühllos an. Mein zarter Rücken schmerzte unter der groben Berührung. Ich hob mein tränennasses Gesicht und sah zu meinem Tröster hoch.

Ich hätte es lassen sollen. Was ich sah, war grausig.

Er war abstoßend hässlich.

Ein grobschlächtiges Gesicht mit einer unförmigen Nase, kleinen, dummen Augen, unzähligen Narben und Pickeln sah auf mich herab. Der Kerl roch, vermutlich wusch er sich noch nicht einmal das Gesicht.

Ich stieß die Hand, die mir den Rücken tätschelte, zurück.

»Is jetz alles wieder gut?«, fragte der scheußliche Mensch.

»Schon gut«, sagte ich steif und hoffte, er würde gehen. Meinen Kaffee konnte der sicher nicht bezahlen, so sah er nicht aus. Er war weder reich noch schön.

»Na also.« Er setzte sich zu mir an den Tisch. »Was war ’n los?«

»Unwichtig.«

»Un deshalb weinste? Komm, ich hol dir ’n Kaffee, dann geht‘s dir besser.«

Ich wollte lachen. Wo sollte dieser Mensch denn das Geld für einen Kaffee herholen?

»Er kostet 50 Cent«, sagte ich spitz. Sicher würde Superman jetzt entsetzt nach Luft schnappen.

»Äh ja. Billiges Zeug. Soll ich dir lieber drüben in der Bäckerei ‘nen richtigen holen?«

Ich starrte ihn an. Der wollte sich doch über mich lustig machen!

An dieser Stelle muss ich mal etwas klarstellen. Ich möchte nicht, dass hier der Eindruck entsteht, ich sei oberflächlich und beurteile die Leute nur nach ihrem Äußeren. Ich weiß sehr wohl, dass Schönheit vergänglich ist, jedenfalls bei den meisten. Ich weiß, dass nun mal nicht jeder mit meiner Schönheit gesegnet ist, und natürlich verachtete ich die Menschen nicht deshalb. Aber warum sprach ich mich denn gerade dieser Kerl an? Er konnte es ja gar nicht ernst meinen, denn er sah doch auch, dass ich weit bessere Chancen hatte. Warum sollte jemand, der ja nun mal so attraktiv war wie ich – und dafür konnte ich ja nichts, aber es ist nun mal so – sich für einen wie ihn interessieren? Natürlich war ich gewillt, freundlich zu ihm zu sein, er konnte nichts für sein Aussehen und seine Art, aber meine feine Nase riecht nun mal Körpergeruch und mein scharfer Verstand spürt es, ob jemand intelligent und niveauvoll ist oder nicht. Ich reagiere in einer sehr empfindlichen Weise darauf, und mein unumstößlicher Blick für das Schöne, mein Sinn für Ästhetik, macht es mir schwer, einen solchen Menschen anzusehen.

Er brachte mir den Kaffee. Mir wurde bange, denn sicher hatte er den Verkäufer irgendwie überlistet, vielleicht erschlagen oder so, denn Muskeln hatte er reichlich. Einer wie er hatte nicht das Geld, einen Kaffee zu bezahlen, und da er nun mal leider nicht so einnehmend war wie ich, schenkte ihm auch niemand den Kaffee. Wie schrecklich es doch für mich wäre, wenn meinetwegen Gewalt angewandt werden würde. Ich weiß noch genau, wie ich gelitten habe, als meine Mutter meinetwegen eine Fliege totgeschlagen hat. Ich wollte sie begraben, doch ich fand nicht einmal mehr ihre Leiche. Tagelang betrauerte ich die arme Fliege.

Doch nun war der Kaffee da und er wollte getrunken werden. Ihn nicht zu trinken wäre Verschwendung und würde den Bäckereifachverkäufer genauso unglücklich machen, das wusste ich. Also trank ich den Kaffee, entschuldigte mich aber bald, um dem Typen zu entgehen. Ich gab vor, in den Unterricht zurückzumüssen.

Schwungvoll öffnete ich die Tür zum Bioraum und lächelte meinem Lehrer zu. Man darf sich seine Laune schließlich nicht anmerken lassen. Freundlichkeit ist mein oberstes Gebot.

»Von Anklopfen hast du noch nichts gehört?«, raunzte er mich an.

Ich lächelte stolz. Da hatte mich wieder jemand ziemlich unterschätzt; was Anklopfen war, wusste ich. »Doch, klar. Das ist, wenn man mit der Faust gegen die Tür klopft, um der Person, die sich auf der anderen Seite der Tür befindet, mitzuteilen, dass man eintreten möchte. Aber ich bin der Meinung, dass Anklopfen heutzutage schon lange überholt ist. Wir leben schließlich in einer offenen Gesellschaft und freuen uns, andere zu sehen, sodass eine Vorwarnung unnötig ist. Es stört doch nur den, bei dem angeklopft wird, in seiner Aufmerksamkeit.«

»Hä?«, machte er. »Entweder du verschwindest jetzt schnell oder du sagst mir deinen Namen, damit ich mich bei deinem Klassenlehrer beschweren kann.«

»Wieso denn beschweren?« Manche Menschen sind wirklich schwierig. Man kann ihnen so freundlich begegnen und sie geben nur Unfreundlichkeit zurück. Ich trat zu ihm und streckte ihm meine gepflegte Hand hin. »Ich bin Grazielle Anastasia Belle Amelie Aurelia Mary Rose Sue de Cygne von Undzu, die neue Schülerin. Meine Klassenlehrerin ist Mrs Gartenzwerg und ich habe jetzt bei Ihnen Unterricht. Ich bin sicher, wir werden uns gut verstehen.« Ich lächelte gewinnend.

»So, bist du das?«, grunzte er, meine Hand ignorierend. »Dann setz dich doch mal hin, Fräulein Cygne oder wie auch immer, während ich nachsehe, ob es dich an der Schule überhaupt gibt.«

»Äh, Herr Blumentopf?«, wagte ein Schüler zu fragen.

»Ja?«

»Das ist wirklich die neue Schülerin, sie war heute Morgen auch in Mathe.« Wie tapfer von diesem kleinen unscheinbaren Kerl, für mich einzustehen. Ich lächelte ihm gütig und gerührt zu.

»Ach wirklich? Na, das kann ja heiter werden. Ich werde mal ein Wörtchen mit Frau Gartenzwerg reden müssen.«

Ich strahlte. »Ich bin auch sicher, dass wir viel Spaß miteinander haben werden, Mr Blumentopf. Und richten Sie Mrs Gartenzwerg schöne Grüße aus.«

 

 

Mr Blumentopf war die ganze Stunde über unfreundlich. Meine Erklärung, dass ich kein Bio könne, weil ich wichtigere Dinge, wie etwa soziales und politisches Engagement, zu tun hatte, quittierte er mit einem bösartigen Grunzen. Aber Lehrer sind manchmal so, das muss man ihnen nachsehen.

Glücklicherweise war die Stunde bald vorbei und es folgte die Pause. Ich musste dringend ein paar Gymnastikübungen machen und eine Massage wäre auch nicht zu verachten.

Ich wandte mich an den Jungen, der mich zu Beginn der Stunde vor Mr Blumentopf so ritterlich in Schutz genommen hatte. Ich glaube, es war der, der in der Mathestunde neben mir gesessen hatte, aber die Schüler hier sahen alle so ähnlich aus, sodass ich es nicht genau sagen konnte.

»Hi. Echt nett von dir, dass du mich gerettet hast, vorhin.«

»Gerettet?« Besonders hell schien er nicht zu sein, aber das war ich von anderen Menschen ja gewohnt (ohne jetzt irgendwie angeben zu wollen oder irgendjemandem zu nahe treten zu wollen).

Ich warf in einer unbewussten, aber nichtsdestotrotz anmutigen Geste die Haare zurück. »Ja, du weißt schon, vor Mr Blumentopf. Ziemlich grantig, der Kerl, was?«

»Also eigentlich ist er ganz in Ordnung. Ich meine, so wie du einfach so in den Raum stolziert bist, wär jeder stinkig gewesen.«

»Was bitte war daran stolziert?«, fragte ich spitz. Ich stolzieren? Das war ja wohl die Höhe.

»Na ja, ich mein, wie du einfach so obercool reinkommst, wenn du sowieso schon zu spät bist, und freche Sprüche kloppst.«

»Frech?« Das war jetzt endgültig zu viel. »Ich wollte freundlich sein, weiter nichts. Aber anscheinend wird einem an dieser Schule hier alles negativ ausgelegt. Echte von innen kommende Herzlichkeit erkennt man nicht mehr!«

»Äh.« Er sah mich ziemlich dümmlich an. Offenbar wusste er gegen meine ehrliche, überlegene Art nichts mehr zu sagen. Ich hatte ihn mit meinen einfachen, aber einleuchtenden Argumenten geschlagen.

»Vielleicht kannst du mir mal sagen, wo der Massagesalon ist«, sagte ich freundlich, um ihn von seiner Schmach abzulenken.

Er lachte. Warum lachte der? »Du bist wirklich ‘ne Nummer«, sagte er kopfschüttelnd und ging dann einfach.

»He!«, rief ich ihm nach. »Was soll das?« Musste ich jetzt an meinem ersten Tag hier auch noch den Massagesalon selbst suchen? Ich bin ein freundlicher Mensch, ich versuche immer das Beste in anderen Leuten zu sehen, aber meine Geduld begann hier langsam zu reißen. Keiner kannte mich und trotzdem waren sie alle schon so unfreundlich. Half man so einer neuen Schülerin?

Ich fragte noch ein paar andere nach dem Massagesalon, aber sie gaben entweder überhaupt keine Antwort oder lachten. Doch während ich über den Schulhof lief, kühlte meine Wut bereits wieder ab. Meine freundliche Art war das Problem. Sie waren einfach eifersüchtig, das musste es sein. Ich war nun mal sehr hübsch, intelligent, charmant und dabei gleichzeitig so bescheiden. Sie nahmen es mir übel, weil sie bei aller Mühe nie so sein würden. Und das Lachen war sicher nur eine Verlegenheitsgeste. Ich seufzte schicksalsergeben. Das ist der Nachteil, wenn man von der Natur so gesegnet ist. Damit musste ich klarkommen. Wie hätte ich mir gewünscht, ich wäre ein wenig unauffälliger, ein wenig hässlicher, dümmer, untalentierter, egoistischer gewesen. Dann hätten sie mich gemocht, dessen war ich gewiss.

Also versuchte ich es auf der Straße, bei einer vornehmen älteren Dame. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich sehr höflich. »Können Sie mir sagen, wo der nächste Massagesalon ist? Ich würde natürlich am liebsten hier in der Schule gehen, aber mir sagt keiner, wo er ist.«

Die Frau starrte mich einen Moment an wie ein Insekt. »Was willst du denn im Massagesalon? Hast du keinen Unterricht?«

Ich lachte wegwerfend. »Sicher, aber man sollte schließlich nicht mehr Unterricht machen, als gut für einen ist, nicht wahr?«

»Unerhört! Diese Jugend wird immer unverschämter!«, knurrte die Frau vor sich hin und ging weg.

Wo war ich nur gelandet, wo man einem einfachen, freundlichen Mädchen mit solch einem Hass begegnete?

…………….

 

Vollkommen allein und verlassen wanderte ich also die nächste Stunde durch die Stadt. Es war September und bereits sehr kalt, höchstens 23 Grad plus. Was muss ich eine traurige Gestalt abgegeben haben, wie ich da so lief, ohne jede Hilfe, von aller Welt verlassen. Aber niemand interessierte sich für mich. Oder sie gaben alle vor, sich nicht für mich zu interessieren. Die Leute können mit meiner Art einfach nicht umgehen. Ich verunsichere sie, das weiß ich.

Schließlich fand ich doch noch einen Massagesalon. Erleichtert trat ich ein.

Der Preis, den mir der Masseur nannte, schien mir viel zu hoch, aber ich war sicher, dass er das nach der Massage noch ändern würde. Wenn er erst einmal meine zarte Haut, meinen schlanken Nacken sehen würde. So was bekam der auch nicht jeden Tag. Die meisten Leute, die sich massieren ließen, waren sicher recht unansehnlich, und deshalb mussten die Masseure im Preis aufschlagen. Quasi als Schmerzensgeld.

Ich lächelte den Masseur an, schlug meine langen Wimpern nieder und ließ mich auf die Liege hinab, wo ich ihm meinen geschmeidigen Rücken und den Verschluss meines Spitzen-BHs präsentierte. Ich hatte mir für den Schulanfang einen sehr schönen maßgeschneiderten rosa BH angezogen, in den ich sogar meinen Namen hatte einsticken lassen.

»Na, dann wolln wer mal!« Der Masseur packte meinen Nacken.

Ich schrie auf. »Nicht so fest!« Meine Haut ist sehr zart und empfindlich.

»Ich hab Sie doch kaum angefasst.«

Er fuhr mit seiner Folter fort, massakrierte meinen Nacken, meine Schultern, meinen Rücken. Er drückte und quetschte an mir herum. Ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen, weil er so gewaltsam war und mich sicher totschlagen konnte. Aber nach einer Viertelstunde nahm ich meinen Mut – von dem ich übrigens sehr viel besitze – zusammen, sprang auf und rannte weg.

»He, Sie müssen noch bezahlen!«, rief mir der Kerl nach.

»Ich müsste Sie auf Schmerzensgeld verklagen«, fuhr ich ihn an.

Ich verließ diesen Folterbetrieb. Niemand konnte mich zwingen, diesen Kerl zu bezahlen. Doch im Hinausgehen glaubte ich einen Blick auf ein wunderbares Wesen zu erhaschen, einen Mann, der schöner war als alles, was ich jemals gesehen hatte. Er verschwand in einem der Behandlungszimmer. War er wirklich da gewesen oder hatte ich ihn mir eingebildet?

Ich träumte schon so lange von dem Prinzen, der mir den Hof machen würde, mich in die Oper einladen, mir eine Kreuzfahrt schenken und mich anschließend heiraten würde. Es mangelte mir wahrlich nicht an Verehrern, aber für keinen von ihnen hatte ich mich ernsthaft interessiert. Eine Zeit lang blieb ich vor dem Salon stehen, um auf ihn zu warten, aber der Masseur schickte mich schließlich höchst unfreundlich weg, weil ich ja nicht bezahlt hätte.

Ich würde es in einem anderen Salon versuchen. Dann würde ich nach einem ausgiebigen Saunabesuch und einem Friseurbesuch gemütlich ein Eis essen. Zuvor jedoch waren meine Gymnastikübungen dran, um meine schlanke und wohlgeformte Figur zu erhalten.

Die Leute, die an mir vorbeiliefen, sahen mich alle etwas seltsam an, als ich dort vor dem Massage- oder eher Foltersalon meine Übungen machte. Natürlich kannten die wenigsten von ihnen die vielen Techniken, die ich beherrschte (die von Aerobic über Kung Fu, Asana, Pilates und Tai Chi bis hin zu Kathmandu reichten). Ich hätte es ihnen gerne beigebracht, aber sie trauten sich nicht zu fragen und gingen schnell weiter.

Nach meinen Übungen schlenderte ich durch die Straßen, auf der Suche nach einer Sauna. Der Massagesalon von heute Morgen kam nicht in Frage. Dafür kam ich an einem Friseur vorbei. Ich beschloss, mir einen neuen Look verpassen zu lassen. Meine Haare waren derzeit hüftlang, weich wie Samt und silberblond mit einem leicht bräunlichen Rotschimmer. Heute Morgen hatte ich sie auf Lockenwickler gedreht, so dass sie nun in großen, schweren Locken verführerisch herabfielen. Es war sehr schön, aber ich trug diese Frisur nun schon den ganzen Tag, ich wollte eine neue. Jeder Mensch braucht mal eine Abwechslung, auch wenn er an sich schon attraktiv ist.

Mit einem Lächeln betrat ich den Friseursalon. Ich blieb eine Weile nur lächelnd stehen, um den Leuten Zeit zu geben, mein Haar zu bewundern, denn ich weiß, dass das oft eine Weile dauert.

»Sie wünschen?«, fragte eine Frau.

»Guten Tag, ich möchte eine neue Frisur.«

»Setzense sich mal«, sagte die Frau. Sie kaute Kaugummi. Ich wunderte mich ein wenig darüber, da die meisten Leute durch mein Erscheinen zu abgelenkt sind, um Kaugummi zu kauen, zu rauchen, in der Nase zu bohren oder mit dem Smartphone herumzuspielen. Aber ich war erfreut, dass mich einmal ein Mensch nicht nur nach meinem Äußeren beurteilte.

»Was habense sich denn so vorgestellt?«, fragte die Friseurin, als ich mich setzte und mein Haar um mich herum drapierte.

»Nun, wie wäre es mit Stufen?«, fragte ich. »Ein paar Extensions wären auch nicht schlecht. Und vielleicht färben. Waschen natürlich auch. Und eine schicke Hochsteckfrisur. Sie können mir auch ein paar Zöpfe flechten und Edelsteine oder Perlen hineinflechten.«

»Ham wir nicht.«

»Oh. Na ja, ein paar Strasssteine tun es auch. Oder was Sie haben«, sagte ich großzügig.

»Also was jetzt? Stufen, Flechten, Extensions, alles auf einmal?«

»Ach wissen Sie was?« Trotz meiner deprimierenden Erlebnisse bin ich immer wieder bereit, den Menschen mein volles Vertrauen zu schenken. »Machen Sie doch einfach das, was Sie gut finden, ich bin sicher, Sie treffen meinen Geschmack perfekt. Als Friseurin haben Sie sicher einen Blick dafür, was mir am besten steht.« Was bei mir ja auch nicht schwer ist, dachte ich, da mir alles steht. Aber das sagte ich nicht, denn ich wollte ja nicht angeben. Sie konnte mit mir machen, was sie wollte, und es würde gut aussehen, aber ich wollte ihr ja auch das Gefühl geben, etwas besonders gut gemacht zu haben. Man muss die Menschen motivieren, dann machen sie ihre Aufgabe gut und werden auch immer besser darin. Man muss nur mich nehmen: Ich weiß, dass ich gut bin, und diese Tatsache wiederum macht mich so glücklich, dass ich noch besser werde.

Ich lehnte mich also ganz entspannt zurück und vertraute mich der Friseurin an. Ich dachte wieder an die Erscheinung, die ich im Massagesalon gesehen zu haben glaubte. Ein so schöner Mann … Ich hatte ihn nicht genau erkennen können in dem kurzen Moment, nur seine strahlenden blauen Augen, in denen sich rötliches Schwarz mit goldenen Sprenkeln vereinte, sowie seine hohe gütige, weise Stirn, seinen sanften, stets lächelnden Mund, seine liniendünnen geschwungenen Augenbrauen und seine dunklen Haare, die in der Farbe irgendwo zwischen Weiß, Silber, Gold, Blond und Kastanie lagen. Ja. So sah mein Prinz aus.

Ich lächelte selig, während die Friseurin meinen Hinterkopf in warmes Wasser tunkte. Meine Haarpracht schwamm sicher gerade anmutig da hinten im Wasser, wie das Haar einer Meerjungfrau.

»Sindse neu hier?«, fragte eine wiederkäuende Stimme.

Ach, wie gern hätte ich in Erinnerungen/Phantasien über meinen Traumprinzen geschwelgt! Aber die Friseurin wollte gern reden. Ich konnte der guten Frau den Wunsch ja nicht abschlagen. Jeder will sich mit mir unterhalten, weil ich so anregend und geistreich zu plaudern weiß. Da muss ich auch mal zurückstecken, wenn ich mich eigentlich lieber der Muße hingeben würde.

»Ja, bin gestern angekommen. Aber ich kenne mich bereits bestens aus.«

»Ehrlich?«

»Hm. Ich füge mich immer sehr schnell in ein neues Umfeld ein.«

»Ach so? Dann ziehen Sie öfter um?«

»Gelegentlich.« Tatsächlich war schon meine Mutter mit mir an mehreren Orten gewesen, ich war sogar mal in einem Heim gewesen. Die Heimleiterin hatte mich damals unbedingt haben wollen, um ihren armen Kindern zu helfen und ein wenig Licht in ihr freudloses Leben zu bringen. Mit meiner unerschrockenen Art und meiner positiven Einstellung bewältigte ich das alles locker. »Man will ja auch was sehen von der Welt«, erklärte ich der Friseurin.

»Ach so. Ich könnt das nicht, ich hab immer nur hier gelebt.«

Welch einfache Person. Doch sie wusste ja nicht, was sie verpasste. Sie ahnte nichts von der unendlichen Tiefe meines Geistes, dem ständigen Drang nach neuen Erkenntnissen, meiner Freude an den hohen Künsten und Wissenschaften sowie meinem geheimen Traum, alle Menschen zu heilen und ihnen Glück zu bringen. Gott liebt auch die einfachen Menschen und so tue ich es auch. Egal, wie geistig unterlegen (und nicht nur geistig, aber von Äußerlichkeiten wollen wir hier ja wirklich nicht reden, jeder weiß, wie unwichtig sie sind) sie mir sind, ich bin zu allen gleich freundlich, und so war ich auch zu dieser Friseurin freundlich.

Ich plauderte mit ihr noch recht nett, und sie wusste auch noch einen anderen Massagesalon und ein paar Kosmetikerinnen. Und während dieser Unterhaltung schnippelte sie fröhlich an meinen Haaren herum.

»So, fertig«, sagte sie plötzlich völlig unvermittelt.

»Wie, fertig?«, fragte ich.

»Na gucken se doch mal! Sieht doch gut aus?«

Ich sah entsetzt in den Spiegel. Meine Haare waren kaum noch kinnlang.

»Die sind ja ganz kurz!«

»Ja sischer, ich hab sie doch geschnitten. Sollen die da vielleicht länger werden?«

»Aber … aber …“

»Ich kann ja nur mit dem arbeiten, was ich hab. Sind immer noch dieselben Haare, nur kürzer. Ich musste die ja abschneiden, die warn ja ganz kaputt.«

Meine Haare kaputt? Das war nicht wahr, meine Haare waren wunderbar seidig gewesen!

»Gucken Se mal, die fallen doch jetzt viel schöner. Also wennse schon zum Friseur gehen, müssen se auch damit rechnen, dass ich da was abschneide. Macht 30 Euro.«

»Aber wieso soll ich bezahlen, wenn Sie mir was wegnehmen?«

»Ha ha, wirklich witzig.«

»Aber das ist ungerecht! Ich habe Ihnen mein Haar dagelassen, Sie sollten mich bezahlen!« Wann bekam man denn schon mal solches Haar? Wie viele Frauen sehnten sich danach, würden Schlange stehen, um eine Perücke oder auch nur eine einzelne Extension daraus zu bekommen? Oder wenn sie das nicht wollte, konnte die Friseurin sie ja auch in ihre Vitrine stellen als Schmuckstück und gleichzeitig als Andenken an mich.

»Jetzt pass mal auf, Fräulein. Ich kann auch anders.«

»Ich kann auch anders«, entgegnete ich hoheitsvoll. »Ich kann zum Beispiel mit einem Anwalt kommen.«

»Wat?« Sie glotzte mich einen Moment lang an und brach dann in lautes Gelächter aus. »Jut, dann mach das doch.«

»Glauben Sie mir, das werde ich auch«, sagte ich sehr ernst. »Es sei denn, Sie überlegen es sich doch noch. Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte. Wenn Sie es sich überlegen, rufen Sie mich an, dann werde ich die Anzeige zurückziehen. Sie müssten dann eventuell nur die Anwaltskosten übernehmen.«

Man muss den Leuten immer eine zweite Chance geben, das hat schon Jesus gesagt.

Die Frau keuchte so, dass sie sich an einem Frisiertisch festhalten musste.

Ich war nun doch etwas besorgt. Fürchtete sie sich dermaßen vor dem Anwalt und dem Verfahren?

»Hören Sie«, sprach ich mit sanfter Stimme. »Ich will Ihnen nichts Böses. Aber ich kann doch nicht für etwas bezahlen, das Sie mir weggenommen haben. Also warum einigen wir uns nicht einfach darauf, dass wir alles vergessen? Ich werde nichts bezahlen, aber Sie müssen mir meine Haare auch nicht bezahlen. Na, wie wäre das?« Ich blickte sie freundlich an.

Sie gackerte. »Nee, komm ruhig mal mit dem Anwalt, das will ich sehen.«

So. Ich konnte ihr nicht helfen, wenn sie sich nicht helfen lassen wollte. Ich lächelte ihr zu, als ich ging. Die Frau wusste nicht, was sie tat. Vielleicht konnte man sie ja entmündigen lassen. Gott liebt auch die Wahnsinnigen, sage ich immer. Ich musste dieser Frau helfen. Wenn man zu den Intelligenten und Reichen gehört, muss man sich um die weniger Intelligenten und Reichen kümmern, das habe ich immer als meine oberste Pflicht betrachtet.

 

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Publication Date: 08-24-2022

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