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Prelude

Prelude

 

 

Hast du dir ausgesucht, auf welcher Seite des Schachbretts du stehst?

Oder hat diese Wahl jemand anders getroffen, ohne dich zu fragen?

 

Ich werde die Melodie nie vergessen,

das Echo der Prelude verhallt nicht.

 

Es fegt die Staubschicht von alten Erinnerungen

1.

 

 

 

Narilenne zog die blonde Perücke von ihrem Kopf und verstaute sie in ihrer großen Handtasche. Mit geschickten Handgriffen löste sie das Haarnetz.

Nussbraune Strähnen fielen ihr in den Nacken. Sie schüttelte das Haar und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Die glatten Fläche bedeckte beinahe die gesamte Wand des Raumes. Vor Narilenne stand eine schlanke Frau mit einem taillierten Anzug, hochhackigen Schuhen und eindeutig zu viel Make-up.

Sie war es nicht gewohnt so viel Schminke zu tragen. Die blauen Linsen brannten in ihren Augen. Sie verwischte den Mascara, als sie die erste Kontaktlinse entfernte.

Ihre Augen tränten. Keine Maskerade ging spurlos an ihr vorbei. Warum sie bei dieser Mission ausgerechnet eine Blondine spielen musste, verstand sie immer noch nicht. Daqari hatte darauf bestanden. Und es machte wenig Sinn sich seinen Anweisungen zu widersetzen. Er hatte penibel auf jedes Detail geachtet.

Narilenne seufzte. Sie war oftmals davon genervt, doch davon hing der Erfolg ihrer Missionen ab. Endlich kam wieder ihre bernsteinfarbene Iris zum Vorschein. Eisblau stand ihr nicht.

Manchmal konnte sie sich nicht zurückhalten. Der Sagent hatte ihr verboten ihre falsche Identität mitten in einer Mission abzulegen. Aber ihre Kleidung war zu eng und ihr Rücken schmerzte von den hohen Absätzen. Sie brauchte ihre Bewegungsfreiheit. Egal welche Standpauke sie dafür erwartete. Mit raschen Bewegungen wischte sie die helle Grundierung von Kinn und Wangen.

In ihrer Tasche vibrierte es. Die anderen warteten sicherlich schon im Van. Der Auftrag war so gut wie erledigt. Sie musste nur noch unauffällig durch den Flur des Luxushotels schlendern und mit dem Lift in die Tiefgarage fahren.

Der Blick zur Uhr beruhigte sie. Narilenne lag gut in der Zeit. Sie konnte einen kleinen Spaziergang machen und würde immer noch pünktlich zum Treffpunkt gelangen. Mit einem Grinsen malte sie sich Daqaris Reaktion aus, wenn sie es wagen sollte sich einen solchen Aussetzer zu erlauben. Für eine mutwillige Verzögerung der Mission drohte ihr mehr als eine kleine Standpauke. Allein um seinen fassungslosen Gesichtsausdruck zu sehen, lohnte es sich, diese Variante in Erwägung zu ziehen.

Narilenne fischte ihr Voune aus dem Seitenfach der Tasche.

Sireza hatte ihr eine Nachricht geschrieben.

Kommst du? Daqaris monotones Gerede hält man keine zwei Minuten aus.

Narilenne lachte. Ihre Schwester hatte ihren Part der Mission erfüllt und wartete im Van auf die Rückkehr der anderen.

Gemeinsam mit Daqari Hentes, der sich gerne selbst reden hörte. Es wurde Zeit ihr Schwesterchen von diesem Leid zu befreien. Der Sagent hatte dafür gesorgt, dass die Überwachungskameras für eine Stunde die Bilder vom Vortag abspulten.

Daqari hämmerte ihnen ständig ein, dass sie ihre paranormalen Fähigkeiten trainieren sollten. Diese Mission war die ideale Gelegenheit. Narilenne verspürte wenig Lust darauf. Für sie hatte der wahre Freitag begonnen. In wenigen Minuten würde sie endlich frei haben. Ein letzter Blick in den Spiegel. Gutgelaunt stieß sie die Tür auf und betrat den Flur. Der Fahrstuhl lag nur wenige Schritte von ihr entfernt.

Sollte sie vielleicht die Treppe nehmen? Nein. Sie hatte sich für heute genug bewegt. Genauso wenig würde sie ihre Energie dafür verwenden, eines ihrer übersinnlichen Talente zu verfeinern.

Nicht heute. Sie warf einen Blick nach draußen. Die Außenwände waren vollkommen verglast und boten einen herrlichen Ausblick auf die Megacity.

Schmale rotgoldene Streifen strahlten durch die Klüfte zwischen den Hochhäusern. Es war später Nachmittag. Der anbrechende Abend tauchte die Spitzen der Wolkenkratzer bereits in zartes Violett. Narilenne schloss die Augen und genoss den Sonnenschein auf ihrem Gesicht. Alles war nach Plan gelaufen. Sie drückte auf den Knopf neben der Metalltür. Die Anzeige auf einer quadratischen Tafel verriet ihr, dass sich der Fahrstuhl gerade im 18. Stockwerk befand.

Narilennes Vorfreude wuchs. Heute war Freitag und dieses Wochenende hatte sie keinen Extra-Unterricht. Sie konnte endlich...

Bumm.

Ein Beben erschütterte das Gebäude. Narilenne fiel auf die Knie. Ihre Hände schrammten über die Wand.

Die heutige Mission war bis jetzt so gut gelaufen.

Ranxour.

Es konnte nur diese verbrecherische Organisation sein. Sie kannten keine Gnade. Ihr Zwecke heiligten jedes Mittel. Narilenne rappelte sich auf. Sie presste ihre Handtasche an sich und begann zu laufen. Das Treppenhaus war nicht weit entfernt. Es war wahnsinnig jetzt noch den Fahrstuhl zu nehmen. Falls er nach dieser heftigen Detonation noch funktionierte, war er eine Falle. Sie durfte keinem von Ranxour in die Hände geraten.

Sie gehörte zur weißen Seite des Schachbretts. Zu Estra. Ranxour stellte die schwarzen Figuren in diesem Spiel. Ihr Mobiltelefon vibrierte. Wahrscheinlich eine Nachricht von Sireza. Oder Daqari. Sie nahm mehrere Treppenstufen mit einem Sprung und hechtete über das Gelände.

Sechster Stock. Bis zur Tiefgarage war es nicht mehr weit. Eine weitere Explosion erschütterte das Gebäude. Dieses Mal weiter oben. Staub rieselte von der Decke.

Narilenne beeilte sich. Wie gut, dass sie nicht mehr die High Heels trug. Geduckt rannte sie an der Tür zum vierten Stockwerk vorbei. Tumult war ausgebrochen. Hotelangestellte liefen durch die Gänge und riefen etwas. Die Angst der Menschen war greifbar. Wie eine graue Wolke hüllte sie den Raum ein. Die Emotionen der Menschen drückten auf Narilennes Stimmung.

Bitte nicht jetzt, wo sie einen klaren Kopf brauchte. Warum hatte sie sich nicht geschützt? Sie war eindeutig zu sorglos an die heutige Mission gegangen.

Ihr Kopf dröhnte. Zweiter Stock. Die Tiefgarage war in greifbarer Nähe. Die Tür in der dritten Etage wurde aufgerissen. Narilenne hielt den Atem an.

»Mama, was ist passiert? Warum müssen wir gehen?«

»Es ist nicht mehr sicher hier. «

»Warum denn?«

»Das ganze Hotel könnte einstürzen.«

Zwei Kinder wimmerten. Ihre Mutter säuselte ihnen beruhigende Worte ins Ohr. Narilenne atmete erleichtert auf. Ganz normale Hotelgäste. Keine Spur von Ranxour. Sie erreichte den Keller. Auf dem Weg in das Hotel hatte sie sich den Weg gemerkt. Er führte durch mehrere Waschkeller und Aufenthaltsräume der Bediensteten in die Tiefgarage.

Sie warf einen Blick auf ihr Voune. Daqari hatte ihr geschrieben.

Sie sind im Keller. Gehe auf keinen Fall hinunter.

Verdammt. Warum hatte sie die Nachricht nicht früher gelesen? Sie saß in der Falle. Schritte ertönten. Sie waren zu schnell und zielgerichtet, um von Hotelangestellten zu kommen.

Narilenne sah sich um. Auf dem Gang befanden sich vier Waschräume. Ohne zu überlegen stürzte sie in den Ersten zu ihrer linken. Der Geruch nach Waschpulver und Bleichmittel strömte in ihre Nase. Überall hingen weiße Laken. Mehrere Waschmaschinen waren in Betrieb. Zwei Dienstmädchen starrten sie verwundert an.

Hatten sie die Explosionen nicht gehört?

»Sie dürfen hier nicht einfach so rein. Dieser Bereich ist nur für Mitarbeiter«, meinte ein blasses Mädchen mit schwerem Akzent.

»Ich werde euch nicht lange aufhalten.« Narilenne blieb kaum noch Zeit. Die beiden hier sahen nicht sehr kooperativ aus.

Die Schritte auf dem Flur kamen näher.

»Ich bin nicht hier, ok?« Sie sah von einer Bediensteten zur Nächsten und verlieh ihren Worten mit ihrem Willen Nachdruck. Es war eine leichte Hypnose. Ein Befehl, der von ihrem Unterbewusstsein geschluckt wurde. Narilenne war zu nervös, um ihn richtig auszuführen.

Hoffentlich würde es reichen. Sie schlug zwei frisch gewaschene Laken zurück und bahnte sich ihren Weg durch den Raum.

»Guten Tag mein Herr. Kann ich etwas für sie tun?« Das zweite Dienstmädchen sprach jemanden an. Dem entspannten Klang ihrer Stimme nach, musste die Hypnose wirken.

Narilenne kniete sich hinter einen großen Korb schmutziger Wäsche. Sofort fing sie an ihren Puls zu beruhigen.

»Ich suche eine schlanke Blondine. Etwa 1,75.« Es war ein junger Mann.

Narilenne warf ein paar Bezüge über sich und lugte zwischen den Laken hindurch. Sie konnte kaum etwas erkennen. Sie sah schwarze Sneakers und den Saum einer nachtblauen Jeans. Vielleicht konnte es ihr gelingen einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Die Identitäten von Ranxour waren mehr wert als Gold und Juwelen.

»So eine Frau habe ich heute noch nicht gesehen«, näselte die Angestellte mit dem Akzent. Vielleicht hatte Narilenne doch ein wenig übertrieben. Die beiden Frauen redeten, als ob sie sich an der Hotelbar ein paar Drinks zu viel genehmigt hätten. Sie war übers Ziel hinaus geschossen.

»Kann ich mich hier mal umsehen?« Seine Stimme war tief. Und samtig wie das Fell eines Panthers. Narilenne runzelte die Stirn. Arcans, die Agenten von Ranxour beherrschten die Manipulation wie niemand sonst.

»Natürlich«, antwortete die andere Arbeiterin.

Narilenne presste die Lippen aufeinander und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Hinter ihr gab es nur blanke Wand.

Der Arcan schlich fast lautlos durch den Waschkeller. Sie erhaschte einen Blick auf seine langen Beine. Er musste groß sein. Sein Oberkörper verbarg sich hinter einem hängenden Laken. Wenn sie doch nur sein Gesicht sehen könnte...

Narilenne hatte bereits einige Ranxour gesehen. Doch die Gesichter ließen sich kaum an einer Hand abzählen. Genauso wie die Sagents von Estra, versteckten die Mitglieder von Ranxour sich hinter falschen Namen und Masken. Sie tarnten ihre echte Energiesignatur, was es so gut wie unmöglich machte, sie zu finden.

Jeder Mensch besaß eine einzigartige Signatur, die ihn von anderen unterschied. Es war ein Schwingungsfeld, das seinen Körper als Form, Farbe und Klang umgab. Für das ungeübte Auge war dieses Feld nicht sichtbar. Doch wer fähig war, es zu lesen, konnte die Person überall wiederfinden. Aus diesem Grund lernten die Schüler bei Estra als erstes ihre individuelle Energiesignatur zu verbergen.

Eine innere Eingebung verriet Narilenne, dass sich das Gesicht dieses Arcans nicht auf der Liste befand, die Estra führte. Sie ging im Geist alle bekannten Signaturen der Arcans durch.

Keine davon passte. Narilenne machte sich ganz klein. Jeden Moment würde er sie entdecken. Sie wappnete sich für die bevorstehende Konfrontation. Gleich würde sie sein Gesicht sehen. Vielleicht war er unachtsam und sie konnte einen Blick auf seine Aura werfen. Doch was würde sie tun, wenn er angriff? Sie saß in der Falle. Er kam immer näher.

Verdammt.

»Iiiih!« Das ausländische Dienstmädchen kreischte.

Narilenne biss sich auf die Unterlippe.

»Eine Ratte!«

»Die wahren Bewohner der Großstadt.« Der Ranxour lachte. Er blieb stehen.

»Können sie dieses Biest vertreiben?«

»Wenn sie mich so darum bitten.« Sie hörte eine Prise Ironie heraus. Der Arcan drehte sich um und ging zu den Dienstmädchen.

Narilenne dankte dem Schicksal. Es gab eine winzige Chance zu entkommen. Sie musste ihre Angst zähmen, um ihre paranormalen Fähigkeiten gebrauchen zu können.

Mit mehreren Atemzügen verlangsamte sie ihren Herzschlag auf ein mäßiges Tempo. An einer Stange in ihrer Nähe hing ein Dienstmädchenkostüm. Ein tannengrüner Zweiteiler mit dem Logo des Hotels.

 

 

 

Das Tier musste der Strahlung eines Kernreaktors zum Opfer gefallen sein. Es war beinahe so groß wie ein Kaninchen. Neugierig wuselte es über den porösen Steinboden. Es war viel größer als normale Kanalratten. Er fixierte das Tier mit seinen Augen. Seine Befehle drangen in den Geist des Geschöpfes.

Verschwinde. Du wirst hier kein Futter finden.

Die Augen der Ratte richteten sich kurz auf ihn. Dann folgte ihre Schnauze einer neuen Fährte. Sie huschte zwischen den Füßen der ausländischen Arbeiterin hindurch. Ihre Pfoten machten schabende Geräusche, als sie über das ausgebeulte Linoleum des Flures lief und in den Kellergängen verschwand.

»Sie sind meine Rettung.«

Er nickte ihr zu. Das Tier aus den Tiefen der Kanalisation hatte seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Und nun war die Spur weg. Ausgelöscht wie ein Kerze im Wind. Nicht einmal eine Rauchschwade war übrig geblieben. Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Ein Geräusch im hinteren Bereich des Raumes machte ihn stutzig.

Er schlug ein Laken zurück und entdeckte ein weiteres Dienstmädchen. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und hing Bettbezüge auf die Wäscheleine. Unter ihrer Haube lugte eine braune Strähne hervor. Wie ein Haselnussschale in der Sonne. Sie ging behände ans Werk, als ob sie es sehr eilig hätte. Irgendetwas an ihren Bewegungen erschien ihm seltsam. Oder war es ihre Haltung?

Ein Klingeln riss ihn aus seinen Beobachtungen.

»Planänderung. 1.7.3.5. «

Zu gerne hätte er der jungen Frau weiter bei ihrer Arbeit zugesehen. Etwas an ihrer Art faszinierte ihn. Er fuhr sich über die Stirn. Sein Verstand hatte die Bedeutung der Zahlenfolge schon längst entschlüsselt.

Es war Zeit aufzubrechen.

»Vielen, vielen Dank nochmal«, verabschiedete ihn das Dienstmädchen mit der Rattenphobie.

 

»Sieht man diese Tiere nicht ständig hier unten?«

2.

 

 

Die Lichter des Highways zogen wie einsame Wanderer an ihnen vorbei und färbten Sirezas Gesicht für kurze Momente mondgelb.

Ihre Schwester hatte für sie Partei ergriffen. Wie immer.

Daqari hatte nicht an sich halten können. Fünf Benachrichtigungen hatte sie auf dem Weg vom Waschkeller in die Tiefgarage auf ihrem Voune erhalten. Das ständige Piepen hatte sie beinahe wahnsinnig gemacht.

Sie brauchte die Textnachrichten gar nicht zu lesen, denn sie kannte Daqaris Litanei mittlerweile sehr gut. Musste er nicht irgendwann einmal Luft holen?

»... dabei bringst du nicht nur die Mission, sondern ganz Estra in Gefahr. Ist dir das bewusst Narilenne Monisse? Warum hat in eurer Familie nur Sireza das Gefühl für Verantwortung geerbt?«

Und von wem hatte er dieses laute Organ geerbt? Genervt verdrehte sie die Augen. Gut, dass er eine Reihe vor ihr saß. Seit geschlagenen 20 Kilometer redete er nun ohne Punkt und Komma.

»Woher hätte ich wissen sollen, dass Ranxour überall Dynamit verteilt haben? Olay hat keinen von ihnen wahrgenommen, als wir das Hotel betreten haben.«

Sie betrachtete den rotblonden Hinterkopf des Estra. Er saß neben Daqari und schwieg. Was hatte ihm die Sprache verschlagen? Normalerweise war sein Redebedürfnis mindestens genauso groß.

»Olay sagt, dass sie sich getarnt haben. Beim Distance Gaze hat er sie nicht erspähen können«, schnitt er ihr das Wort ab.

Narilenne versteifte sich.

»Stimmt das, Olay?«

Der junge Mann drehte sich um. Selbst im schwachen Schein der vorbeischnellenden Laternen erkannte sie seinen trüben Blick. Die Unsicherheit ließ sein Profil leicht zittern.

»So etwas ist mir noch nie passiert«, stammelte er.

»Es ist nicht deine Schuld.« Sireza legte ihm einen Arm auf den Rücken. »Sie haben einen Weg gefunden sich unsichtbar zu machen.«

»Aber wie?« Narilenne traute ihren Ohren nicht.

»Wenn wir das wüssten.« Daqari schüttelte den Kopf. »Ich will nicht wissen was in den geheimen Basen von Ranxour alles geschieht.«

Narilenne schauderte. Allein die Vorstellung war unheimlich. Ranxour war eine geheime Organisation, die es sich zum Ziel gemacht hatte die Menschheit zu manipulieren. Sie stahlen die Erfindungen von Wissenschaftlern, bestachen hohe Politiker und mischten in den Medien mit. Und dies war nur die Spitze des Eisbergs.

Die meisten Menschen hatte nicht den Hauch einer Ahnung, dass es diese Schattenorganisation gab. Sie agierten geschickt ohne Spuren zu hinterlassen. Die Mission am heutigen Freitag hatte dazu gedient, einen Diplomaten aus Fernost vor Ranxour in Sicherheit zu bringen. Es war ihnen gelungen aber nicht ohne dabei in Gefahr zu geraten.

Olay rutschte unruhig auf seinem Sitz herum. Narilenne nahm wahr, dass er sich die ganze Schuld gab. Eine dunkle Wolke schwebte um sein Energiefeld und trübte seine sonst so klare Aura.

»Selbstvorwürfe bringen uns nichts.« Daqari klopfte ihm auf die Schulter. »Jetzt haben wir einen neuen Anhaltspunkt. Wir werden daran arbeiten ihre Maskerade zu durchschauen.«

Olay nickte. Doch die Wolke aus Schuldgefühlen verzog sich nicht.

 

 

 

Der Wecker riss Narilenne aus ihrem wohlverdienten Schlaf.

06.30

An einem Samstagmorgen. Narilenne vergrub ihren Kopf im Kissen. Daqari Hentes hatte ihren freien Tag, auf den sie sich schon wochenlang gefreut hatte, einfach gestrichen. Er hatte zusätzliches Training angeordnet. Übungen, die ihre übersinnlichen Fähigkeiten schulen sollten. Nach dem gestrigen Zwischenfall wirkte er alarmierter als sonst. Als würde er einen Angriff auf die Zentrale erwarten. Dabei war es so gut wie unmöglich, den Stützpunkt von Estra zu finden.

Die Liga wechselte in regelmäßigen Abständen ihren Sitz. Sie war immer als weltliche Organisation oder Unternehmen getarnt. Ihre Mitglieder änderten ihre Identitäten in kurzen Abständen. Narilenne konnte ihre zahlreichen Namen nicht mehr an den Fingern ablesen. Wenn sie in der Öffentlichkeit auftraten, war es von höchster Wichtigkeit die Menschen um sie herum vergessen zu lassen. Wenn Leute sie sahen oder mit ihr redeten, erinnerten sie sich kurze Zeit später nicht mehr an ihren Namen oder ihr Gesicht. Es war eine der ersten Fähigkeit, welche die Cadets der Liga lernten.

Cadet war die Bezeichnung für die Schüler der Organisation. Narilenne selbst war noch ein Cadet. In zwei Jahren würde sie die Ausbildung komplett abgeschlossen haben. Dann würde sie Estra für andere Missionen einsetzen. Vor kurzem war sie 20 geworden und sehnte sich manchmal das Ende der Lehrzeit herbei. Dann müsste sie nicht mehr nach Daqaris Pfeife tanzen.

06.50.

In ihre Grübeleien vertieft, hatte sie die Zeit völlig vergessen. Um 07.00 wartete Movela im Esper-Saal auf sie. Zähneknirschend dachte Narilenne an das Frühstück, das ihr nun durch die Lappen ging. Rasch zog sie sich an und nahm einen Apfel aus ihren kleinen Kühlschrank. Er hatte auch schon bessere Tage gesehen. Bis auf den Apfel und eine alte Banane blickte ihr gähnende Leere entgegen.

Der Esper-Saal lag im obersten Stockwerk des Bürogebäudes, das Estra im letzten Monat gemietet hatte. Die Cadets wohnten zwei Etagen darunter.

Narilenne trat in das lichtdurchflutete Treppenhaus. Die Vorderfront des Hauses war vollkommen verglast. Wolken verdeckten den Himmel aber die Sonne hatte Lücken zwischen den grauweißen Schlieren gefunden und verkündete den Tag. Der Bürokomplex lag am Rande des Finanzdistrikts von Donar, einer großen Stadt der westlichen Welt.

Narilenne sah nach draußen. Bereits um diese Zeit spazierten Menschen durch die Straßen. Junge Leute, Hunde und Paare. Sie spürte die Vorfreude und Entspannung dieser Menschen und wünschte sich plötzlich von hier zu verschwinden und ein Teil der normalen Bevölkerung zu sein. Es war ungerecht, eigentlich heute war ihr freier Tag. Sie legte ihre Stirn an das Glas und seufzte.

»Nari? Träumst du?«

Narilenne drehte sich um. Sie hatte Vero nicht kommen hören. Er war lautlos an sie herangetreten. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in seinem karamellbraunen Haar und erzeugten Lichtreflexe in seinen Augen. Diese schimmerten wie polierter Moosachat.

»Ich will nicht«, murmelte sie.

»Ich habe schon gehört, was euch gestern passiert ist.« Sorgenfalten gruben sich in Veros feingeschnittenes Gesicht.

»Erinnere mich nicht daran.«

»Wir werden einen Weg finden ihnen zuvor zu kommen.« Aus seiner Stimme sprach Zuversicht, Es war einfach sich im schillernden Grün von Veros Augen zu verlieren. Sie versprachen ihr Sicherheit. Und etwas anderes was sie nicht deuten konnte.

Livero Yarsain, der von allen Vero genannt wurde, war ein mächtiger Esper und Hypnotiseur. Auch jetzt erkannte sie die starke Suggestionskraft hinter seinen Edelsteinaugen.

ESP war die Abkürzung für Extra Sensory Perception - außersinnliche Wahrnehmung. Er konnte dutzende Menschen in Tiefschlaf versetzen, während bereits ihre Versuche bei einer Person oftmals scheiterten.

Sie hatte sich gestern selbst überrascht, als sie gleich zwei Dienstmädchen hypnotisiert hatte. Vielleicht machte sie langsam Fortschritte.

»Der gestrige Tag ist Vergangenheit. Lernen wir daraus und machen es in Zukunft besser.« Vero lehnte sich an die Scheibe und sah sie schräg von der Seite an. Narilenne schluckte. In seiner Nähe fühlte sie sich sehr unsicher.

Als würde sie auf einer dünnen Eisdecke balancieren, die jederzeit einbrechen konnte. Vielleicht lag es an seinen Augen. Jeder seiner Blicke verunsicherte sie. Er erfasste ihre Gefühlslage mit absoluter Sicherheit. Es war schwer, Emotionen vor ihm geheim zu halten. In ihrer Brust saßen Gefühle, die sie nicht deuten konnte. Ein Teil von ihr fürchtete sich davor.

»Ihr zwei solltet euer Date auf später verschieben. Movela wartet schon.« Tjore kam im Laufschritt die Treppe hoch.

Um das Handgelenk trug er einen Zeitmesser mit Daten über seine Geschwindigkeit und den Energieverbrauch. Tjore Anson war der sportlichste Typ in ihrem Jahrgang. Er trainierte mehrmals am Tag und verbesserte seine Kondition stetig.

Jeder Cadet erhielt Training. Doch bei jedem wurde der Fokus auf etwas anderes gelegt. Daqari betonte immer wieder, dass es wichtig war die besonderen Talente jedes Lehrlings zu finden und schulen. Jeder von ihnen war ein ungeschliffener Edelstein. Erst mit den Jahren fand man heraus, wer ein Smaragd, ein Rubin oder Saphir war.

»Das ist kein Date.« Narilennes Wangen wurden heiß. Vero sah sie immer noch auf diese undefinierbare Weise an. Seine Blicke ließen sie nicht kalt. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Also vergrub sie ihre Gedanken. Schnell ging sie weiter. Tjore war nie um einen Spruch verlegen. Der muskulöse junge Mann mit dem struppigen hellblonden Haar hatte sich mit seiner großen Klappe schon einige Strafarbeiten eingeheimst. Damit schlug er Narilenne nur knapp im Rennen um den Titel 'Daqaris Sorgenkind'.

Genau wie sie brach er des öfteren Regeln von Estra, die er für unsinnig hielt.

»Wann bist du gestern eigentlich zurückgekommen?«, fragte Narilenne. Das Ausgehverbot war eines der Worte, die es in Tjores Vokabular einfach nicht gab. Auch gestern hatte er sich Daqari Hentes widersetzt und war abends losgezogen, um Donar zu erkunden.

»Ich war auf Streife. Wir sollten die Stadt, in der wir mehr als einen Monat leben, besser kennen lernen. Findest du nicht?« Er grinste verschlagen.

Narilenne lachte. Wenn es um das Brechen sinnloser Estra-Gesetze ging, waren die beiden ein Herz und eine Seele.

»Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich hätte ein bisschen Ablenkung gebrauchen können.«

»Es ging nicht. Ich war auf einem speziellen Streifzug.«

»Mich würde zu gerne interessieren welche Bereiche der Stadt du erforscht hast.« Vero zog eine Augenbraue hoch. »Und zu wem dich dieser Streifzug geführt hat.«

Zu wem?

Narilenne sah abwechselnd von Tjore zu Vero.

»Das ist geheim.« Tjore antwortete eine Spur zu schnell. Er verbarg etwas. Narilenne hätte sich gerne Veros starke Empathie ausgeliehen, damit sie die Emotionen ihres Kumpels klarer lesen konnte. Sie konzentrierte sich auf das schwache Gefühl was sie wie eine träge Welle umströmte. Sie spürte die Emotionen ihrer Mitmenschen zwar aber Vero konnte jede Facette und Feinheit erkennen, als würde er durch eine Lupe auf eine riesige Gefühlslandschaft blicken. Zudem wurden die Cadets geschult ihre Aura zu tarnen und ihre Emotionen zu kontrollieren. Das machte es ihr noch schwerer hinter Tjores Geheimnis zu kommen.

Olay Kravar erschien. Sofort war ihre gute Laune wie weggeblasen. Seine Schultern hingen herab. Dunkle Ringe lagen unter seinen wasserblauen Augen. Sein rotblondes Haar hatte er nur notdürftig in Form gebracht. Es stand an einigen Stellen wirr ab. Die Wolke der Schuld schwebte immer noch um ihn.

Sie erreichte Narilenne und drückte auf ihr Gemüt.

»Was ist nur los mit euch?« Movela Chondu empfing die Cadets mit einem Kopfschütteln. »Mit dieser Motivation werdet ihr nichts zustande bringen.«

Die dunkelhäutige Frau mit den großen Rehaugen war die fürsorgliche Mutter unter den Ausbildern. Mit starker Empathie gesegnet, spürte sie die Emotionen der anderen schon von weitem. Sie band ihre krausen Locken zu einem losen Zopf und setzte sich in den Schneidersitz.

»Zu allererst werden wir unsere Emotionen auf die Nullebene bringen. Ein starker Esper ist ein unbeschriebenes Blatt. Durchsichtig. In Balance. Wie wollt ihr die Gefühle des anderen erspüren, wenn ihr selbst hin- und her wankt wie ein Zweig im Sturm? Setzt euch.«

Movela klopfte neben sich auf den Boden. Der Espersaal besaß keine Möbel. Nur flache Sitzkissen aus groben Material. Die Cadets ließen sich im Kreis um die Dozentin nieder.

Narilenne setzte sich direkt neben Movela. Von der Frau ging eine Ruhe aus, die entspannend auf sie wirkte.

»Meditation so früh am Morgen? Da hätte ich auch im Bett machen können«, stöhnte Tjore.

»Schlaf nicht ein«, Jolani zwickte ihn in die Seite. Die schwarzhaarige junge Frau besaß die Fähigkeit der Telemetrie. Sie musste nur einen Gegenstand in die Hand nehmen und schon strömten Bilder auf sie ein. Sie sah die Vergangenheit, Orte und Menschen die mit dem Objekt in Zusammenhang standen. Jolani Duvol war zudem sehr gut darin Menschen für sich zu gewinnen. Sie schaffte es selbst reservierten und verschwiegenen Personen Geheimnisse zu entlocken. Außerdem war sie ein Ass im Flirten. Eine Fähigkeit, mit der Narilenne nach wie vor haderte.

Als weibliche Cadets, die Bälle, Parties und andere Festlichkeiten besuchten, mussten sie mit ihrem Charme spielen. Narilenne kam sich dabei immer total unbeholfen vor. Selbst ihrer jüngeren Schwester Sireza fiel es leicht, mit anderen Männern ins Gespräch zu kommen. Narilenne hingegen musste sich erst einmal Mut zureden. Sie fühlte sich dann immer wie eine schlechte Schauspielerin und wunderte sich, wenn jemand ihr die Scharade abkaufte.

»Lasst eure Gedanken ziehen.« Molevas Worte galten ihr.

Narilenne sah sich um. Die anderen hatten die Augen geschlossen und atmeten tief und gleichmäßig. Narilenne versuchte nicht mehr an Presseveranstaltungen mit Anzugträgern zu denken, sondern konzentrierte sich auf ihren Atem.

Langsam beruhigte sie sich. Die Meditation war eine essentielle Übung. Seit sie von Estra aufgenommen worden war, übte sie sich darin ihre Gefühle zur Ruhe zu bringen. Die Nullpunktebene oder die Nullebene war der Ort, den die Cadets erreichen mussten, damit sie ihre Fähigkeiten entfalten konnten.

 

 

Jeder Cadet wurde in allen Kategorien geschult. So erhielt auch Narilenne Unterricht im Distance Gazing. Olay war der Beste auf diesem Gebiet aber auch die anderen erzielten hin und wieder beachtliche Erfolge.

In Donar befanden sich im Moment fünf Cadets ihrer Altersgruppe: Jolani, Narilenne, Olay, Tjore und Vero. Sireza war zwei Jahre jünger und wurde in einer anderen Gruppe unterrichtet. Auf Missionen spielte der Altersunterschied keine Rolle. Daqari koordinierte die Gruppen. Er legte die Aufgabenverteilung bis ins kleine Detail fest. Daqari Hentes war wirklich besessen vom winzigsten Element. Narilenne hatte es schon oftmals am eigenen Leib erfahren. Manchmal erlaubte sie sich ein wenig mehr Handlungsspielraum. Wie viele freie Tage hatte sie dafür schon opfern müssen? Viel zu viele.

»Hier seht ihr die Karte von Donar.« Dames Lunry, der Dozent dieses Fachs war ein gedrungener Mann mit einem eckigen Haarschnitt, der sein grobes Gesicht noch kantiger erscheinen ließ. Er drückte sich ohne Schnörkel aus. »2,5 Millionen Einwohner. Unter ihnen Ranxour. Suchen wir ihren Stützpunkt.«

Jeder von ihnen saß an einem kleinen Tisch vor einem weißen Blatt Papier. Die Stifte waren gezückt.

Die Kunst des Distance Gazing bestand darin zu sehen und das Gesehene auf Papier zu bringen. Das physische Auge wurde geschlossen, während das innere Auge auf Reisen ging. Es suchte Orte, Menschen und Geheimnisse. Es überflog Landschaften bis es ein bestimmtes Areal fand. Wie eine Wünschelrute, die plötzlich stärker ausschlug.

Olay skizzierte die inneren Bilder mit unglaublicher Genauigkeit. Er war ein guter Zeichner. Seine Finger flogen über das Papier. Einzelne Bleistiftstriche wurden zu einem anthrazitfarbenen Kunstwerk. Auch Narilenne sah etwas. Die Umrisse eines Gebäudes schälten sich aus dem Nebel heraus. Es war ein Betonklotz in einer heruntergekommenen Gegend. Ihr Stift kratzte über das Papier.

»Ich bin fertig.« Olay hielt sein Blatt in die Luft. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich richtig liege. Denn gestern habe ich sie nicht kommen sehen.«

»Wenn du dir deinen Fehler nicht verzeihst, wirst du nicht weiterkommen.« Dames nahm ihm das Blatt aus der Hand und studierte es kritisch.

Narilenne erhaschte einen kurzen Blick auf die Zeichnung. Auch er hatte einen verwahrlosten Stadtteil skizziert. Doch die Proportionen der Häuser und die zahlreichen Details versetzten sie in Staunen. Wie war es ihm gelungen in dieser kurzen Zeit ein so exaktes Bild zu zeichnen? Es wirkte wie eine schwarz-weiß Fotografie, während ihres an die Kritzeleien eines Architekturstudenten im ersten Semesters erinnerte.

Dames legte das Blatt wieder auf Olays Bank. Er trat an seinen Laptop und gab einige Koordinaten ein. Der Beamer surrte leise. Die Ansicht von Donar veränderte sich. Ein Abschnitt wurde eingezoomt.

»New Brooks. Dieses Betonmonster befindet sich am Rande der Stadt.«

»Seltsam«, äußerte Vero seine Zweifel. »Seit wann verschanzt sich Ranxour an so einem Ort?«

»Da ist etwas faul«, stimmte Tjore zu.

»Vielleicht habe ich das Falsche gesehen.« Olays Stimme zitterte leicht.

»Nein. Ich habe auch dieses Gebäude gesehen.« Narilenne lächelte ihm aufmunternd zu.

»Ich werde Daqari darüber unterrichten. Er wird euren nächsten Einsatz planen.« Dames ging auf und ab. Sein Schatten huschte über die Projektion von New Brooks.

Das Wort 'Einsatz' erzeugte Gänsehaut auf Narilennes Armen. Jede Aufgabe war anders. Aufregend und gefährlich. Doch sie liebte das Risiko. Sie wurde dafür ausgebildet Menschen zu helfen. Sie war bereit für die Gerechtigkeit zu kämpfen.

»Macht es überhaupt einen Sinn ihre Zentrale zu stürzen? Vielleicht warten sie nur darauf.« Vero vertraute auf sein Bauchgefühl. Seine feine Intuition ließ ihn oftmals die richtigen Entscheidungen treffen. Die anderen hörten auf ihn. Selbst Dames war ganz Ohr.

»Sie können sich vor dem Distance Gazing schützen, also sollten wir vorsichtiger sein. Wer weiß, ob sie nicht eine falsche Fährte gelegt haben«, gab Jolani zu Bedenken.

Narilenne stützte ihr Kinn auf die Hände. Sie traute Ranxour alles zu. Gestern hatte sie mehr Glück als Verstand gehabt. Sie wunderte sich, dass der Arcan sie nicht näher betrachtet hatte. Sie hatte seinen Blick in ihrem Rücken gespürt. Nur wenige Sekunden länger und ihm wäre aufgefallen, dass sie nicht zum Personal gehörte.

Sagents mussten in der Masse untertauchen. Gesichts- und Namenlos werden. Niemand durfte wissen, wer sie wirklich waren. Ihre Ausbilder schärften es ihnen immer wieder ein. Sie lernten bereits im ersten Jahr ihre Identität zu tarnen. Nicht nur mit Kostümen und Make-Up, sondern mit der Fähigkeit ihre Aura zu maskieren. Jeder der ihr Gesicht sah, vergaß es, denn es tauchte unter in ihren Erinnerungen an unzählige Menschen.

Es funktionierte so gut wie immer. Es sei denn die Arcans mischten sich ein. Die Spione von Ranxour hatten nicht nur bei ihrer letzten Mission beinahe ihren Plan durchkreuzt. Narilenne hatte von Sireza gehört, dass ein weiterer Auftrag früher abgebrochen werden musste, weil plötzlich feindliche Agenten aufgetaucht waren. In den Reihen von Ranxour ging eine Veränderung vor sich. Eine Veränderung, die Wellen bis an Estras Pforten schlug. 

 3.

 

»Wir beschatten das Betonmonster seit einigen Tagen«, erklärte Daqari seiner Truppe. Er hatte Dames Wortschöpfung übernommen. Jeder wusste was gemeint war. Alle kannten Olays exakte Zeichnung und die Satellitenbilder.

Daqari und einige andere Sagents, so wurden die fertig ausgebildeten Agenten bei Estra genannt, hatten den Plan entworfen. Er sah vor, dass die fünf Cadets unter Daqaris Leitung nach New Brooks fahren würden. Narilenne war unter ihnen. Sie saß im Transporter zwischen Vero und Tjore. Jolani. Olay und Daqari hatten ihnen gegenüber Platz genommen.

»Bisher haben wir nichts Ungewöhnliches feststellen können. Das Gebäude ist verlassen. Die Infrarot-Kameras zeigen keine Wärme.« Er hielt ein handtellergroßen Bildschirm hoch. Narilenne erkannte die Umrisse von großen Räumen. Sie waren fast leer.

»Ihr teilt euch auf. Jolani geht mit Vero. Narilenne mit Tjore. Olay wird mit mir im Transporter bleiben und die Lage beobachten.« Daqari steckte den flachen Handbildschirm ein.

Narilenne nickte Tjore zu. Er ballte seine Hände zu Fäusten, dabei spannte sich seine Trainingsjacke eng um seine Armmuskeln. Mit Tjore an ihrer Seite hatte sie keine Angst vor Feinden. Er war stärker als ein normaler Mensch. Vielleicht konnte sie die Zeit sogar nutzen, um ein paar Informationen aus ihm herauszukitzeln. Wo oder bei wem war er gestern Abend gewesen? Sie brannte vor Neugier.

»Wir sind in zwei Minuten am Zielort. Ihr habt 40 Minuten Zeit, um das Gebäude auszukundschaften. Es gibt zwei Ebenen. Vero, ihr geht in den zweiten Stock.« Daqari wandte sich Narilenne zu. »Keine planlosen Aktionen, okay? Wir nähern uns dem Netz der Spinne. Du weißt wie giftig sie ist.«

»Schon gut«, Narilenne antwortete eine Spur zu trotzig. Warum musste Daqari Hentes sie immer vor versammelter Mannschaft darauf hinweisen? Sie sah den Mann mit dem kurzen braunen Haar und den großen Mandelaugen herausfordernd an.

»Was wird das? Ein Kampf der Todesblicke?« Tjore klopfte sich auf die Knie.

»Das gleiche gilt für dich.« Daqari stieß seinen Zeigefinger beinahe in Tjores Gesicht.

»Warum hast du die beiden überhaupt in ein Team gesteckt?« Jolani verdrehte die Augen.

»Zweifelt ihr etwa an meiner ausgefeilten Planung?«

»Nein«, erwiderten die Cadets wie ein schlecht gestimmter Chor.

»Wir sind da.« Der Fahrer kurbelte die getönte Scheibe herunter. Narilenne schloss die Augen. Es war so weit. Aufregung schoss durch ihre Blutbahnen. Sie war hellwach und bereit.

Daqari öffnete die Schiebetür und entließ seine Lehrlinge in die kühle Nacht. Der Transporter parkte in einer engen Gasse, zwischen zwei Reihen renovierungsbedürftiger Hochhäuser. Das Betonmonster befand sich in einer Parallelstraße. Narilenne hatte das Straßennetz studiert.

Der Keller des linken Hochhauses besaß einen Ausgang, der sie direkt auf den Hinterhof des Zielgebäudes führen würde. Sie betraten das Wohnhaus und liefen hinunter. Jolani rümpfte die Nase.

»Hier sollte mal gelüftet werden.«

Sie passierten eine Reihe überfüllter Kellerräume und kamen zur Tür. Narilenne war immer wieder fasziniert, welche Details man mit Distance Gazing herausfinden konnte. Genau dieses alte Fahrrad mit dem verrosteten Rahmen hatte sie in Estras Zentrale gesehen. Genau die gleichen löchrigen Kartons mit welken Blumen.

»Faszinierend, nicht wahr?« Veros Atem strich über ihren Nacken. Narilenne schluckte.

»Distance Gazing ist faszinierend«, druckste sie herum. Veros Blick machte sie nervös. Daqari hatte ihr eingeschärft, sich nicht ablenken zu lassen.

Von nichts und niemanden. Zählte ein Cadet dazu?

»Es gibt so viele Dinge die weitaus interessanter sind.« Er zwinkerte ihr zu.

Narilennes Herz schlug aus dem Takt. Vero lächelte. Sie versuchte ihn nicht anzustarren.

»Wo bleibt ihr?«, zischte Tjore. »Unsere Zeit ist begrenzt. Je eher wir zurück sind, desto besser.«

Narilenne atmete tief aus. Ihre Gefühle befanden sich weit vom Nullvektor entfernt. Wann immer Vero in ihrer Nähe auftauchte, brachte er sie durcheinander. Sie versuchte, ihr schnell schlagendes Herz zu beruhigen.

Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Langsam klärten sich ihre Gedanken.

Die Cadets liefen durch einen weiteren Raum und gelangten schließlich auf den Hinterhof. Das Betonmonster war eine gigantische, fensterlose Schachtel. In der Dunkelheit war die Farbe des Gemäuers nicht zu erkennen. Jolani zeigte ihnen eine kurze Handgeste. Sie und Vero huschten zu einer Metallleiter, die an der Seite des Gebäudes angebracht war.

Tjore und Narilenne peilten das Tor an. Er ging voran und überprüfte die Tür.

»Sie ist offen.«

»Ich weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist.«

»Das werden wir bald herausfinden.« Tjores Stirn umwölkte sich.

»Sobald Olay irgendwelche Veränderung wahrnimmt, schlägt er Alarm.«

Narilenne griff in ihre Hosentasche. Der daumengroße Sender schenkte ihr Sicherheit. Daqari sah auf seinem Bildschirm vier Punkte, die sich durch das große Gebäude bewegten. Im Notfall würde er Alarm schlagen. Sobald das Gerät vibrierte, mussten sie kehrt machen.

Tjore zwängte sich durch den Spalt. Narilenne fiel es leichter, da sie um einiges schmaler war als er. Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen. Es roch nach morschem Holz und Motorenöl. Glühlampen, die an der Decke baumelten, strahlten fahles gelbes Licht aus.

Also musste sich jemand hier befinden. Narilenne sah sich um. Die große Halle wirkte verlassen. Einige Müllcontainer standen an der gegenüberliegenden Wand. In der Ecke befand sich ein eckiger Holztisch. Seit sie das Gelände betreten hatten, spürte Narilenne Blicke in ihrem Nacken. Sie sah sich immer wieder um. Sie und Tjore waren allein hier. Sie ging zum Tisch und berührte seine Oberfläche. Das Holz hatte seinen Zenit schon lange überschritten. Linien und Kerben zogen sich wie Falten über die einst makellose Politur.

»Hier ist nichts.« Tjore durchsuchte die Container. »Nichts bis auf Holzspäne und verbranntes Papier.«

Hoffentlich hatten Vero und Jolani mehr Erfolg. Gedankenverloren fuhr Narilenne eine besonders tiefe Kerbe nach.

Ein Bild schoss durch ihren Geist. Es zeigte ihr einen Raum. Viel größer als diese Halle. Sie sah Szenen aus der Vergangenheit des Holztisches. Er hatte früher ebenfalls an der Wand des Saales gestanden. Zwei kristalline Bildschirme hatten auf seiner Oberfläche gethront. Flache Schirme aus feinstem Edelstein.

Liquid Crystal. Die schnellste Form Daten zu übertragen. Die Scheibe flimmerte und zeigte ein Bild. Sie erkannte die Konturen eines Gesichts. Die Haare waren unter einer Mütze verborgen, die tief ins Gesicht hing. Ihr wurde heiß und kalt zugleich.

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 12-02-2017
ISBN: 978-3-7438-4442-1

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