1
Die Scheinwerfer zerschnitten das Dunkel der Nacht. Präzise riss er das Lenkrad herum, gleichzeitig zog er die Handbremse bis zum Anschlag an. Der Wagen schlingerte, brach mit dem Heck aus, drehte sich fast vollständig um die eigene Achse. Schnell löste er die Handbremse, gekonnt steuerte er entgegen, während sein rechter Fuß kräftig, aber wohl dosiert das Bremspedal durchtrat.
Widerwillig, die Schnauze Richtung Asphalt durchdrückend, kam die Corvette genau dort zum Stehen, wo er sie haben wollte.
Die Fahrertür aufstoßen, sich aus dem Wagen fallen lassen und noch im Abrollen die Beretta aus dem Schulterholster hervorziehend, war wie eine einzige Bewegung. Sein durchtrainierter Körper besaß noch immer die Geschmeidigkeit einer Katze, einer Raubkatze, geboren um zu jagen. Und genauso fühlte er sich, wie eine Raubkatze auf der Jagd. Doch seine Beute waren nicht die Tiere der Savanne. Seine Jagdbeute waren die Ratten dieser Stadt. Sein Jagdrevier war nicht die Wildnis, sondern New York. Die Stadt, in der er aufgewachsen war. Die Stadt, deren pulsierendes Leben wie das Spiegelbild seiner selbst war. New York, die Stadt, die er beschützen und von all diesen widerlichen Ratten befreien wollte. Nicht nur weil es sein Job als Cop war, sondern weil sie ihm gehörte, diese Stadt. Die Krallen einer Katze benötigte er nicht, stattdessen hatte er seine Beretta.
9 mm, absolut tödlich.
Seit dreißig oder vierzig Minuten war er hinter ihnen her. Verzweifelt hatten sie versucht, ihm zu entkommen, doch ihm entkam man nicht.
Als er über Funk die Nachricht über den Raubüberfall in der 17ten bekam und er sowieso gerade Mal einen Häuserblock entfernt war, hatte er sich sofort auf den Weg gemacht. Auch wenn sie ihm erst in dem Mustang entkommen konnten und er, während er sie verfolgte, zugeben musste, dass der Fahrer des Fluchtwagens sein Handwerk verdammt gut beherrschte, so wusste er doch, er würde sie kriegen! So wie er alle bekam, deren Fährte er erst einmal aufgenommen hatte.
Etwa dreißig Minuten hatten sie vergeblich versucht, ihn abzuschütteln. Dreißig Minuten, in denen sie mit Höllentempo durch die Straßen New Yorks rasten. Dreißig Minuten lang hatten die beiden Gangster in dem Wagen vor ihm, keine Chance ungenutzt gelassen, ihm zu entkommen, doch so leicht ließ er sich nicht abschütteln, blieb ihnen immer dicht auf den Fersen.
Nun waren sie auf diesem altem, ehemaligem Industriegelände angekommen. Schon als er gesehen hatte, wie der Mustang schlingernd, etwa einhundert Meter vor ihm durch das rostige Tor, welches einst das Terrain gegen ungebetene Besucher abschirmte, brach, da ahnte er, hier würde er sie zu fassen bekommen.
Nachdem er seinen Wagen verlassen hatte, ließ er sich hinter einen der vielen hier herumstehenden Container rollen.
Bevor er sein weiteres Vorgehen planen konnte, musste er zuerst einmal das umliegende Gelände sondieren.
Schnell hatten sich seine Augen an die ihn umgebende Dunkelheit gewöhnt. Vorsichtig, immer auf Deckung bedacht, schaute er sich um.
Container, rostig und in vom Alter verblassten Farben, standen wie wahllos hin gewürfelt auf einer riesigen, kaum überschaubaren Asphaltfläche. Rissig und vereinzelt von Unkraut überwuchert endete diese vor einer großen Halle. Früher mochte diese wohl einmal als Lager oder Werkshalle gedient haben. Lang musste das her sein, denn von dem einst imposantem Bauwerk war nicht mehr sehr viel übrig geblieben. Fast sämtliche Glasflächen der riesigen Fensterfront waren eingeschlagen. An den wenigen Wandflächen, an denen der Putz noch nicht abgebröckelt war und das blanke Mauerwerk freigelegt hatte, hatten sich Sprayer verewigt. Mitglieder einer Subkultur deren Sinn er nicht verstand, hatten das Gebäude mit Graffiti beschmiert. Riesige bunte Lettern, Bilder, teils provokativ, teils aggressiv, enthielten Botschaften, die sich gegen die Gesellschaft richteten. Einer Gesellschaft zu der auch er gehörte und stolz darauf war, ein Teil von ihr zu sein. Wer auch immer sich mit diesen Schmierereien hier verewigt zu glauben gedacht hatte, er wusste, er würde die Typen nicht mögen.
Sein Blick wanderte hinauf, tastete die Fassade des Gebäudes ab. Auch das Dach der mehrstöckigen Halle war in einem erbärmlichem Zustand. Teilweise war es unter der Last des Alters eingestürzt. Dort, wo einst Schindeln vor Wind und Wetter schützten, streckten nun kahle Stahlträger ihre kalten Finger in den Nachthimmel, an dem sich nun der Vollmond hinter einer Wolkendecke hervor quälte.
Der da oben war ihm wohl gnädig gestimmt, dachte er, denn der Schein des Mondes machte es ihm einfacher, sich auf dem Gelände zu orientieren.
Dort hinten, im Schatten einer der Container konnte er den Mustang erkennen. Sowohl Fahrer, wie auch Beifahrertür standen weit offen, augenscheinlich war der Wagen leer. Er hoffte, die beiden Gangster hatten sich nicht in dem Gebäude verkrochen. Es gab dort sicher genug Verstecke für sie, und er würde nur ungern versuchen, ihnen dort hinein zu folgen. Zu groß war die Gefahr, in einen Hinterhalt zu geraten und, wie er fand, würde sich ein Loch in seinem Rücken nicht wirklich gut machen.
Meter für Meter tastete er die Umgebung mit scharfem Blick ab. Immer auf einen Schatten achtend, welcher ihm den Aufenthaltsort der beiden Ratten verraten würde.
Im letzten Augenblick sah er das Mündungsfeuer, hörte den Knall, der die Stille der Nacht in Fetzen riss. Ein scharfes Surren, dicht an seinem Kopf vorbei. Der dumpfe Ton, als das Geschoss in den Container schlug, hinter den er sich verschanzt hatte.
Ein triumphierendes Grinsen glitt über sein Gesicht. Nun wusste er, wo die beiden steckten, sie hatten sich in ihrer Dummheit selbst verraten. Bald schon würden sie bereuen, ihn nicht schon mit dem ersten Schuss niedergestreckt zu haben.
Vorsichtig und völlig lautlos kroch er um den Container, welcher ihm nur spärlichen Schutz geboten hatte, herum. Die Beretta entsichernd, schlich er weiter.
Wieder ertönte ein Schuss. Er hörte, wie auch diese Kugel an fast derselben Stelle einschlug, wie die vorhergehende. Das war gut, denn so wusste er, sie hatten sein Manöver, mit dem er beabsichtigte die Gangster zu umkreisen und von hinten anzugreifen, nicht bemerkt.
„Verpiss Dich Bulle!“ hörte er eine schrille Männerstimme rufen.
Er machte nicht den Fehler darauf zu antworten, sollten sie ruhig weiterhin glauben, er würde noch immer hinter dem Container hocken und vor Angst schlottern.
Die kreischende Männerstimme hatte es ihm verraten, er hatte es sicher nicht mit Profis zu tun. Zu viel Nervosität, zu viel nackte Panik lag in diesem fast verzweifeltem Ruf.
Langsam tastete er sich vorwärts. Fast schon hatte er den Container erreicht, hinter dem sich die beiden versteckt hielten.
Plötzlich explodierten weitere Schüsse. Nun schossen beide Gangster in blinder Wut dorthin, wo noch vor wenigen Augenblicken sein Unterschlupf gewesen war.
Er nutzte den Lärm, den die beiden in ihrer Verzweiflung verursachten. Schnell sprang er auf, in leicht geduckter Haltung rannte er vorwärts. Einen Augenblick später hatte er den blass blauen Container erreicht, an dessen gegenüberliegender Seite sich die Gangster verschanzt hatten. Noch immer ballerten sie blindlings in die Dunkelheit und ahnten nicht einmal, wie nahe er ihnen im Nacken saß.
Dicht an die Wand des Containers gepresst, tastete er sich vorwärts. Das Blau der Farbe war durch die Jahre, die dieser schon hier stehen mochte, mit einem feinem Grauschleier überzogen, vereinzelt hatte sich Rost, Blasen bildend, durch das Stahlblech gefressen.
Nur noch eine Ecke trennte ihn von den beiden.
Wieder durchzog ein Grinsen sein Gesicht. Doch dieses Grinsen barg keinerlei Fröhlichkeit in sich. Eiskalte Entschlossenheit lag darin und in seinen Augen, die sich nun, da er den beiden Gangstern in wenigen Momenten gegenüber stehen würde, zu schmalen Schlitzen verengt hatten, blitzte etwas auf, das einem kalte Schauer über den Rücken treiben konnte. Jeder der ihn so sah, ahnte, diesen Mann wollte man nicht zum Feind haben. Doch nur wenige hatten ihn jemals so gesehen, und die, welche doch schon in diese fragwürdige Gunst gekommen waren, lebten in der Regel nicht lange genug, um davon zu berichten.
Fest umschlossen seine Hände den Griff der Waffe. Noch einmal atmete er tief durch. Dann sprang er hinter der Ecke, die ihm bis eben noch Schutz geboten hatte hervor.
Die beiden hatten seine Anwesenheit noch immer nicht bemerkt. Mit den Rücken zu ihm gewandt, hockten sie an dem, ihm gegenüberliegendem Ende des Containers. Vorsichtig um die Ecke schauend, feuerten sie noch immer in die Richtung, in der sie ihn vermuteten, nicht ahnend, dass er direkt hinter ihnen stand.
„Hallo Freunde!“ brüllte er mit fester Stimme.
Entsetzt sprangen beide hoch, wirbelten herum und standen schließlich genau ihm gegenüber. Ungläubiges Staunen lag in ihren weit aufgerissenen Augen.
Fast komisch wirkte dieser kurze Moment, als er in ihren Gesichtern lesen konnte, wie sie langsam begriffen, dass sie von ihm übertölpelt worden waren.
Das Entsetzen wich einem langsamen Begreifen.
Ein kurzer Moment des Schweigens. Synchron hoben beide langsam die Hände, in denen sie ihre Pistolen fest umklammert hielten.
Er wusste, in ihrer, mit Wut gepaarten Dummheit, würden sie nicht aufgeben, nicht begreifen, dass sie schon längst verloren hatten.
Zwei mal kurz hintereinander drückte er den Abzug durch.
Zwei Geschosse verließen zischend den Lauf seiner Waffe.
Surreal wirkte es fast. Noch immer standen die beiden vor ihm.
Er war sich sicher, dass sie nicht begriffen, schon tot zu sein.
Nur die dunklen, kreisrunden Löcher auf beider Stirn zeigte ihm, dass er getroffen hatte.
Langsam sackten die Körper zusammen, schlugen dann mit einem dumpfen Geräusch auf dem Asphalt auf.
Beide lagen sie da, auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt. Tot.
Er ging auf die, nun vor ihm liegenden Leichen zu, dabei schob er seine Waffe, deren Lauf unangenehm warm geworden war, zurück in das Schulter Holster.
Mit geübten Griffen tastete er die beiden ab, drehte sie dann auf den Rücken. Flink glitten seine Hände wieder über die Kleidung der Toten, durchsuchten die Taschen. Er hoffte, Ausweispapiere zu finden, irgendetwas, was die beiden identifizieren konnte. Doch vergeblich, dass einzige was er fand, war ein wenig Crack in der Innentasche der Lederjacke des einen. Angewidert warf er dieses auf den Asphalt neben die Leichen. Wie er sie hasste, diese Junkies, Zuhälter, Nutten, Gangster und Kleinganoven. Allesamt dreckige Ratten, die es auszurotten galt.
Langsam richtete er sich auf. Ein letzter Blick auf die vor ihm liegenden jungen Männer, aus deren Körper nun jedes Leben gewichen war. Nur das Entsetzen in ihren toten, glanzlosen Augen war geblieben.
Mit weit ausholenden Schritten ging er zu seinem Wagen, dessen feuerroter Lack im Schein des Mondes glänzte.
Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er sich hinter das Lenkrad gleiten. Dann griff er zum Sprechteil des Funkgerätes, setzte sich mit der Zentrale in Verbindung und erstattete in kurzen, präzisen Worten Bericht.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass kaum zwanzig Minuten verstrichen waren, seit dem er auf diesem abgelegenem Gelände eingetroffen war. Keine schlechte Zeit, wie er fand.
Auch der kurze Blick in den Innenspiegel befriedigte ihn. Nicht eine Schweißperle stand auf seiner Stirn.
Er fasste in die Innentasche seines Sakkos, kramte die Packung Zigaretten hervor, die er dort aufbewahrte. Leicht vor sich hin grinsend schob er sich eine der Kippen zwischen die Lippen. Die Flamme seines Feuerzeugs ließ für einen Moment sein völlig entspanntes Gesicht erkennen.
Ein tiefer Zug aus dem Glimmstengel, dann drehte er den Schlüssel im Zündschloss herum. Der Motor sprang mit einem satten Brummen an. Die Reifen ließen ein durchdringendes, unwilliges Quietschen ertönen, als er das Gaspedal voll durchtrat.
Schnell raste er davon, schon bald hatte die Nacht das Leuchten der Rücklichter verschluckt.
Er lenkte den Wagen Richtung Innenstadt. Wohin genau, dass wusste er noch nicht. Nur die Gewissheit trieb ihn voran, die Gewissheit das irgendwo dort draußen, in dieser riesigen Stadt, schon die nächste Ratte auf ihn warten würde ...
... „Männe, ey Männe, träumst Du schon wieder?„
Die Stimme seiner Frau ließ Erwin aus seinem Tagtraum hochschrecken. Er musste wohl tatsächlich für einen Moment eingedöst sein. „Männe, komm, dass Essen ist fertig“ Unter der Wohnzimmertür stehend, sich mit der Schultern an den Türrahmen lehnend, die Arme über der Brust gekreuzt stand sie da. Ihr missbilligender Blick, mit welchem sie ihn betrachtete, wirkte fordernd. Fordernd, seinen Hintern endlich aus dem Sessel zu bewegen, in dem er saß und sich vor wenigen Augenblicken noch seinen Träumen hingegeben hatte. Als sie sah, dass er begann, sich langsam hochzurappeln, wendete sie sich abrupt von ihm ab. Schnell verschwand sie in der Küche, wo schon der Rest seiner Familie am gedecktem Abendbrottisch auf ihn wartete. „Und vergiss nicht deine Pantoffeln anzuziehen. Ich hab keine Lust schon wieder hinter dir her zu putzen“ rief sie ihm aus der Küche zu. Ihre Stimme vermischte sich mit dem Klappern von Geschirr und dem Geräusch von Stühlen, welche zurückgezogen wurden.
Wie er es hasste!
Er hasste diese verdammten Pantoffel. Noch mehr aber hasste er es „Männe“ genannt zu werden.
Seine Frau wusste, wie sehr er beides verabscheute und er wusste, dass sie es gerade deshalb tat. Ihm diese beschissenen Pantoffel aufzuzwingen und ihn ständig „Männe“ zu rufen.
Ja, und wenn er ehrlich war, er hasste es ebenso, gleich in die Küche zu traben, sich an seinen angestammten Platz zu setzen und gemeinsam mit ihnen allen zu essen.
Sie, das waren seine beiden Kinder. Seine siebzehnjährige Tochter Katja, sein neunzehnjähriger Sohn Kai und seine Frau.
Nur noch selten sprachen sie miteinander. Bei den seltenen Gelegenheiten, an denen sie alle gemeinsam an einem Tisch saßen, herrschte bedrückendes Schweigen. Und Lachen? Jahre musste es her sein, dass sie das letzte Mal miteinander gelacht hatten.
Doch, zu lachen gab es genug. Nur nicht für ihn. Denn für die drei war er der Grund über den sie lachten. Nicht fröhlich, sondern voller Hohn.
Wenn sie gemeinsam am Tisch saßen, glaubte er ihre spöttischen Blicke auf sich gerichtet zu spüren. In ihrer Gegenwart bekam er ständig das Gefühl, ein Versprechen gegeben zu haben. Ein Versprechen, welches er niemals in der Lage war einzulösen.
Am schlimmsten aber war Kai.
Keine Gelegenheit ließ sein Sohn verstreichen, ohne sich über ihn und seinen Job als Polizisten lustig zu machen.
„Knöllchen Akrobat, Streifen Wagen Polierer, Mafia Schreck“ waren nur wenige der Bezeichnungen, die sein Sohn für ihn fand.
Mit Katja lief es ein wenig besser. Manchmal hatte er das Gefühl, ein wenig ihrer kindlichen Liebe zu ihm hatte sich bis ins Jetzt hinübergerettet. Er erahnte dieses, wenn sie ihn manchmal mit diesem Blick ansah, ein letzter Rest von Wärme war darin zu sehen.
Und seine Frau? Zu viele Sonderschichten, eine zu schlechte Bezahlung, zu wenig Zeit für sie und die Kinder hatten ihre Beziehung endgültig zermürbt. Früher hatten sie sich deshalb oft gestritten, doch in den letzten Jahren waren sie jedem Streit aus dem Weg gegangen. Geblieben war nur der Spott und ihre Geringschätzung, welche sie ihn immer und immer wieder spüren ließ.
Damals hatte er ihre ständigen Streitereien gehasst, die ihn mehr als nur einmal aus der Wohnung getrieben hatten. Heute wusste er, selbst ihre Auseinandersetzungen waren besser gewesen, als ständig ihre stummen, anklagenden Blicke auf sich zu spüren, denen er nicht ausweichen konnte.
Mit einem Seufzer rappelte er sich aus seinem Sessel hoch. Schlüpfte in die verhassten Hausschuhe und schlurfte langsam in die Küche.
2
Auf dem Revier sprach ihn schon lange niemand mehr mit seinem Vornamen an. Alle nannten ihn nur „Schröder“. Es war ein Fehler gewesen, sich ehemals, statt der Bilder unbekleideter junger Damen, wie seine Kollegen diese in die Innenseite ihrer Spind Türen geklebt hatten, ein Bild von Clint Eastwood in der Rolle als „Dirty Harry“ aufzuhängen. Es hatte nicht lange gedauert, bis seine Kollegen ihn damit aufzogen. Bald nannten alle ihn nur noch spöttisch „Dirty Schröder“.
Das Bild hatte er schleunigst entfernt und nach geraumer Zeit war auch das „Dirty“ vor seinem Nachnamen verschwunden. Heute war er einfach nur noch „Schröder“.
Er hätte nicht sagen können, ob seine Kollegen ihn mochten. Freunde hatte er unter ihnen nicht. Wenn er es recht bedachte, hatte er eigentlich gar keine Freunde.
Er war kein schlechter Polizist, niemand würde das behaupten, auch seine Vorgesetzten nicht.
Immer pünktlich und gewissenhaft versah er seinen Dienst. Niemals hörte man ein lautes oder unfreundliches Wort von ihm, und wenn es darum ging Sonderschichten schieben zu müssen, weil die Besetzung mit Polizeibeamten auf dem Revier schon seit Jahren hinten und vorne nicht ausreichte, so war er der Einzige, der niemals ein ablehnendes „Nein“ vernehmen ließ. Doch was ihm fehlte, war Autorität und die Kraft, Dinge selbstverantwortlich entscheiden zu können. So wusste er, wenn wieder einmal Beförderungen ins Haus standen, ihn würde man auch dieses Mal übergehen.
Als junger Mann, damals als er zur Polizei gekommen war, hatte er geglaubt, die Welt ein wenig besser und sicherer machen zu können.
In seiner Naivität hatte er sich schon dabei gesehen, wie er mutig und unerschrocken Banditen gegenüber stand. Hatte das Klicken seiner Handschellen vernommen, wenn diese sich um die Handgelenke all der Gangster schlossen, welche er im Laufe der Jahre festnehmen würde. In seiner Fantasie spürte er das wohlwollende Schulterklopfen seiner Vorgesetzten und hörte, wie jedermann seinen Namen mit Respekt und Achtung aussprach.
Damals glaubte er, ein Held werden zu können, jemand der dafür sorgte, dass Recht und Ordnung seinen Namen tragen würden. Doch wenn er heute in den Spiegel sah und seine leicht untersetzte Gestalt betrachtete, dass Haar, welches im Laufe der Jahre dünner geworden war und schon die ersten Anzeichen von Grau erahnen ließ. Wenn er an sich herunterblickte und den Bauchansatz sah, welcher wohl noch im Laufe der nächsten Jahre zunehmen würde, dann wusste er, Helden sahen anders aus.
Desillusioniert waren ihm nur seine Träume geblieben. In diese flüchtete er, durfte in ihnen das sein, was ihm das Leben ansonsten verwehrte. Mutig und Stark.
3
Noch einmal zupfte er seine Uniformjacke in Ordnung. Griff in die Tüte, die er immer auf Vorrat in seinem Spind aufbewahrte und entnahm ihr eine Handvoll Bonbons.
Wenn er schon kein Held sein durfte, so wollte er wenigstens ein guter Polizist sein, ein „Freund und Helfer“ Er wollte nicht, das irgendwer Angst vor ihm hatte, erst recht nicht die Kinder. So trug er immer einige Bonbons in der Außentasche seiner Uniformjacke mit sich herum. Kleine Helfer, um zu trösten, Mut zu machen, oder auch nur einfach so, um Vertrauen aufzubauen. Kinder hatte er schon immer gemocht. Als er selbst noch eines war, hatte er den Anblick eines Polizisten immer als etwas Bedrohliches empfunden. Auf keinen Fall wollte er, dass auch die Kinder, welche ihm während seines Dienstes vielleicht begegnen würden, dasselbe für ihn empfanden.
Um ihn herum lärmten seine Kollegen. Ihr Lachen drang zu ihm. Gesprächsfetzen über irgend ein Fußballspiel, welches wohl am vergangenem Abend übertragen worden war, vermischte sich mit Bemerkungen über Frauen und was man mit ihnen so alles anstellen konnte. Weder Fußball, noch die Art, wie seine Kollegen über Frauen sprachen, mochte er. Fußball hatte ihn noch nie sonderlich interessiert und die Gespräche über Frauen, gingen ihm deutlich zu weit unter die Gürtellinie.
Er empfand die ständige Aufschneiderei seiner Kollegen abstoßend und widerlich. Es kotzte ihn an!
Nie aber hätte er gewagt, seinen Kollegen dieses auch zu sagen. So begnügte er sich damit, an diesen Gesprächen nicht teilzunehmen und die gehörten Worte an sich abprallen zu lassen.
Gerade war er dabei, seinen Spind zu verschließen, als ihr Vorgesetzter den Umkleideraum betrat. Sofort wurde es still im Raum. „Hört mal zu Jungs“ setzte ihr Vorgesetzter an „Ihr wisst alle, seit ungefähr drei Wochen treibt eine Bande Automarder ihr Unwesen in unserer Stadt. Zwölf Autos sind ihnen in letzter Zeit schon in die Hände gefallen“. Ein deutliches, unwilliges Murren setzte nun ein. Jeder von ihnen wusste, was nun unweigerlich folgen würde. Das Erahnte wurde zur Gewissheit, als ihr Vorgesetzter seine Rede fortsetzte „Ich weiß, gerade in letzter Zeit hat es keiner von euch leicht gehabt, aber um zum Kern zu kommen, ich brauche ein paar Freiwillige die am nächsten Wochenende Dienst tun, um die von euch zu unterstützen, welche sowieso zum Dienst eingeteilt sind“ Erwin glaubte, dass diese Worte ausschließlich an ihn gerichtet waren, aber vielleicht war das ja auch nur so ein dummes Gefühl.
Das Murren seiner Kollegen wurde spürbar lauter. Sonderschichten mochte, bei der wenigen Freizeit, die sie alle hatten, niemand besonders gerne. Die ersten, ablehnenden Entschuldigungen wurden laut und entfachten eine lebhafte Diskussion. Nur Erwin enthielt sich dieser, vielleicht, so hoffte er, würde er so, dieses eine Mal verschont bleiben.
„Schröder, wie sieht`s mit Ihnen aus?“. Sein Vorgesetzter schaute direkt in seine Richtung.
„NEIN!“ wollte er brüllen. „Nein, nicht schon wieder ich!“. „Ich habe genauso Familie, wie die anderen. Die letzten Wochen habe ich nicht einen einzigen Tag frei gehabt und das nur, weil die Arschlöcher, die sich meine Kollegen nennen, ständig irgendwelche Ausreden parat haben. Außerdem, warum kommen sie andauernd nur zu mir? Ich bin nicht Ihr Lakai! NEIN, NEIN, NEIN! Und wenn ihnen das nicht passt, dann lecken Sie mich am Arsch und machen Ihren Dreck alleine!“
All das hätte er seinem Vorgesetzten am liebsten ins Gesicht geschleudert. Hätte gerne einfach weiter gebrüllt, ihnen allen sein ganzes beschissenes Leben vor die Füße gekotzt. Doch stattdessen hörte er sich sagen „Selbstverständlich“.
4
Es würde schwerfallen, seiner Frau beizubringen dass er auch am nächsten Wochenende wieder Dienst werde machen müssen.
Eigentlich hatten sie vorgehabt, gemeinsam ihre Schwester zu besuchen. Daraus würde nun nichts werden.
Er malte sich aus, wie sie ihm ihre Vorwürfe an den Kopf knallte, Vorwürfe welche das frostige Klima, welches zwischen ihnen herrschte, noch kälter machen würde, als es ohnehin schon war. Das Schlimme daran war, dass sie recht hatte. Niemals brachte er den Mut auf, nein zu sagen, oft verfluchte er sich selbst deswegen.
Er sollte am Wochenende die Nachtschicht übernehmen. Allein müsse er auf Streife gehen, was eigentlich Vorschriftswidrig war, aber zu wenige waren bereit gewesen, auch an dem kommendem Wochenende wieder einmal Sonderschicht zu fahren. Nur er selbst war immer und immer wieder das dumme Arschloch, zu feige, der ewige Ja Sager.
Die grauen und trübsinnigen Gedanken für eine kleine Weile abwehrend, setzte er seinen Weg fort.
Erst am Wochenende würde er Nachtschicht haben, aber jetzt und hier war es heller Tag. Die Sonne schien angenehm wärmend auf diese kleine Stadt herunter.
Er mochte sie, es war seine Stadt. Hier war er aufgewachsen, hatte seine Kindheit und Jugend in ihr verbracht, war durch die teils engen Gassen und Straßen gestromert. Kannte jeden Winkel, jede Hausecke. Er mochte die alten Fachwerkhäuser, mochte, wie sie sich, alten Menschen gleich, gegenseitig stützten und aneinander lehnten. Diese Stadt war nicht leblos, besaß keine grauen Wohnblöcke, in denen die Menschen anonym nebeneinander her lebten. Nichts an seiner Stadt war grau und trist, nichts war eintönig. Jedes der Jahrhunderten alten Häuser sah anders aus, jedes hatte Geschichten zu erzählen. Geschichten über Schicksale und die Menschen, die in ihnen lebten und leben. Diese Häuser hatten in den vielen, vielen Jahren, seit sie erbaut worden waren, so viel gesehen, dass ein einzelner Mensch es nicht einmal erahnen konnte. Ja, er mochte die Stadt. Er mochte den Charme, den sie versprühte, er mochte das Gefühl der Unvergänglichkeit, welche sie ausstrahlte und welches Jahr um Jahr Tausende Touristen anlockte. Diese Stadt hatte eine lange Geschichte und ein winziger Teil dieser Geschichte war er selbst.
Viele der Menschen, die ihm auf seinem Rundgang begegneten kannte er, von einigen wusste er sogar den Namen, wusste in welcher Straße sie lebten, kannte ein wenig sogar ihre ganz eigene Geschichte.
Eigentlich hätte er sich wohlfühlen müssen, hätte glücklich darüber sein müssen, hier Dienst tun zu dürfen.
Eigentlich. Denn es gab eines, was ihm hier nicht gefiel.
Diese Stadt brauchte keine Helden.
Niemals hatte er die Chance bekommen, zu zeigen, dass mehr als nur ein kleiner Streifenpolizist in ihm steckte. Diese Stadt gab ihm keinerlei Gelegenheit dazu.
Kleinere Diebstähle, hier und da einmal ein Einbruch, vielleicht noch ein wenig Sachbeschädigung, war alles, was sie ihm zu bieten hatte.
Er dachte an die Bande, welche seit Wochen unbeobachtet Autos aufbrach und wegen der er nun auch am kommendem Wochenende Dienst tun musste. Welch ein Triumph wäre es, wenn er es ganz alleine schaffen würde, ihrer habhaft zu werden. Nicht genug, um ein Held zu werden und es allen, seinen Kollegen und Vorgesetzten, aber insbesondere seiner Familie zu zeigen, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt war. Aber immerhin, sie alle würden ihm vielleicht ein wenig mehr Achtung entgegenbringen, wenn ihm dieses gelingen könnte. Vielleicht würde seine Frau dann endlich einsehen, wie wichtig sein Beruf war und wie sinnvoll all die Überstunden, welche sie ihm ständig vorwarf. Ja, vielleicht würde sogar Kai aufhören, ihn ständig zu verspotten.
Er machte sich nichts vor. Selbst wenn es ihm gelingen würde die Bande hochzunehmen, so unwahrscheinlich dieses auch immer war, die Bewunderung seiner beiden Kinder würde er auch damit nicht wieder zurück erlangen. Ihre Bewunderung und ihr Stolz darauf, dass er Polizist war, war erloschen, als sie aufhörten Kinder zu sein.
5
Er war froh endlich die Wohnung verlassen zu können.
Seitdem er seiner Frau eröffnet hatte, auch an diesem Wochenende wieder Dienst machen zu müssen, hatte es, wie erwartet, Vorwürfe gehagelt. All seine Einwände blieben ungehört. Selbst Katja und Kai hatten mit eingestimmt und ihre Mutter unterstützt, als es hieß, das die geplante Fahrt zu ihrer Tante, ins Wasser fallen würde. Dabei wusste er doch ganz genau, dass beide insgeheim froh darüber waren, hatten sie die Schwester seiner Frau doch nie sonderlich leiden können.
Aber an diesem Samstagabend wurde es besonders schlimm. Immer wieder den Sticheleien von seiner Frau und den Kindern ausgesetzt zu sein, hätte auch den hart gesottensten zermürbt. So war er, viel früher als es erforderlich gewesen wäre, zum Dienst aufgebrochen.
Als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen ließ, war das wie eine Erleichterung für ihn gewesen.
Der Abend war noch früh, als er begann, seine vorgegebene Tour anzutreten.
Die Dunkelheit war gerade erst angebrochen. Er sah, wie sich langsam die Kneipen der Innenstadt füllten. Seine Blicke durch die Fenster verrieten ihm, auch die Restaurants waren gut besucht. Überall hörte er fröhliche Stimmen, Musik schallte aus den, zum Teil offen stehenden Kneipentüren auf die Straßen heraus.
Seine Schritte wanderten durch die Fußgängerzone der Stadt, vorbei am Kino. Nur wenige Menschen standen davor. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, es war kurz nach zwanzig Uhr, die erste Abendvorstellung hatte schon begonnen.
Noch waren die Straßen und Wege voller Menschen, bald aber würden sie leerer werden. Es war Frühling, wenn auch die Tage schon angenehm warm wurden, die Nächte waren es nicht. Der Sommer ließ noch ein Weilchen auf sich warten, und so konnten die Nächte noch unangenehm kalt werden. Auch in dieser Nacht würde dieses nicht anders sein, wie ihm ein Blick in den klaren Abendhimmel erkennen ließ.
Seine Schritte führten ihn in eine enge Seitengasse. Von hier aus gelang er zu einer der Parallelstraßen. Auch diese war Fußgängerzone. Dort drüben befand sich der Juwelier. Ein Pärchen stand vor der beleuchteten, glitzernden Auslage. Sie, dicht an ihn geschmiegt, ihre rechte Hand in die seine gelegt. So standen sie da. Ihre Blicke streiften über all die schimmernden Schmuckstücke und Erwin malte sich aus, das beide gerade dabei waren ihre Trauringe auszusuchen. Ob sie wohl auch einmal so enden würden wie er und seine Frau?
Insgeheim wünschte er ihnen Glück und dass sie es nicht zulassen würden, alles zwischen sich zu zerstören.
Langsam trabte er weiter. Ein älteres Paar kam ihm entgegen, der Mann führte einen kleinen Hund an der Leine mit sich, tippte sich an den Hut, als Erwin an ihnen vorbei ging. Auch die Frau grüßte ihn „Guten Abend Herr Wachtmeister“. Er erwiderte den Gruß mit einem leichtem Nicken.
Erwin ging die Straße hinunter. Sein Weg führte ihn erst am Museum, dann am städtischen Theater vorbei. Dort überquerte er die Straße.
Der Park lag dunkel vor ihm. Tagsüber wimmelte es hier von Menschen. Spaziergängern, spielenden Kindern, Senioren welche auf den Parkbänken saßen und sich über längst vergangene Zeiten unterhielten. Zeiten, in denen sie selbst einmal jung gewesen waren. Doch jetzt war der Park verlassen.
Die Wege waren unbeleuchtet und Erwin musste aufpassen, wohin er seine Schritte setzte, wenn er nicht auf dem geschottertem Untergrund stolpern wollte. Still war es hier, er hörte nur das leise Rauschen der Blätter in den Bäumen und hier und da mal das Knacken eines trockenen Astes.
Irgendwo weit hinten, dort wo mitten im Stadtpark der See lag, begannen ein paar Enten zu schnattern.
Der Park war nicht sehr groß, schon bald hatte Erwin ihn vollständig durchschritten. Nun blieb er wieder auf dem Fußweg, umrundete die einsame Dunkelheit des Parks und gelangte auf diesem Weg wieder in die Innenstadt.
Wie er erahnt hatte, begannen die Straßen sich zu leeren. Die Luft war in der Zwischenzeit unangenehm kühl geworden. Von Zeit zu Zeit ließ eine einzelne, kalte Windböe Erwin erschauern. Zu gerne wäre er jetzt in eine der Kneipen verschwunden. Hätte sich dort, in wohliger Wärme, an einen einzelnen Tisch gesetzt und während er seinen Gedanken nachgehangen hätte, würde er hier und da kurz an dem vor ihm stehendem Getränk nippen.
Aber nein, er wusste, genau so wenig, wie er um diese Zeit in irgendeiner Kneipe dieser Stadt, einen freien Tisch finden würde, genau so niedrig war die Wahrscheinlichkeit, sich jemals im Dienst gehen zu lassen.
Er trabte fröstelnd weiter. Darauf hoffend, seine Dienststunden bald hinter sich zu haben.
Wieder kam er an dem Theater, dem Museum, schließlich an dem Juwelier vorbei. Das Pärchen war verschwunden. War geflüchtet vor der Kühle der Nacht, saß jetzt sicher irgendwo gemeinsam an einem warmen Ort, nur mit sich selbst beschäftigt, die Welt vergessend. Vielleicht von einer glücklichen, gemeinsamen Zukunft träumend.
Erwin schlenderte weiter. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen. Die Strecke, auf welcher er patrouillieren musste, war im Vorfeld festgelegt worden. Sobald er diese einmal abgelaufen hatte, sollte er wieder von vorne beginnen. Wozu also Eile?
Langsam ging er die Einkaufsstraßen der Stadt entlang. Hier und da blieb er stehen, betrachtete, wenig interessiert, die Auslagen der Geschäfte. Nicht alle Schaufenster waren so hell erleuchtet wie die des Juweliers und je weiter er sich aus der Innenstadt entfernte, je dunkler wurden diese.
Am Rande der Innenstadt schließlich, gab es nur noch kleinere Geschäfte. Bescheidene Schuhläden, ein kleiner Laden für Angler Zubehör, ein Schlüsseldienst und hier und da ein Gemüsehändler, gepaart mit ebenso kleinen Kneipen, in die sich nur selten ein Tourist verlief.
Hier, abseits der großen Einkaufsstraßen, sparte sich nicht nur mancher Händler die Beleuchtung der Schaufenster, auch die Stadt Obersten hatten sich wohl gesagt, das dieser Teil der Stadt es nicht wert wäre, besonderes Augenmerk zu verdienen. So wurden nicht nur die Geschäfte nach und nach immer kleiner, die Beleuchtung der Straßen spärlicher, auch die Häuser wurden bedeutungsloser und brüchiger. Die Menschen, die in diesem Stadtteil lebten und arbeiteten, hatten sich dem angepasst. Hier, abseits des Zentrums, wirkten sie älter und grauer.
Erwin kannte auch diesen Bezirk der Stadt ganz genau, so wie er jeden Teil, jede Straße, jeden Winkel, seiner Stadt kannte.
Sein Ziel war das kleine Parkhaus, welches irgendwo dort hinten in der Dunkelheit lag. Danach würde es nicht mehr viel geben, was es für ihn zu bewachen lohnte. Wohnviertel, in denen die lebten, denen es nicht ganz so gut ging, schließlich noch der Sportplatz. Erst zwei Kilometer weiter draußen, begann das Industriegebiet. Aber bis dahin würde Erwin nicht kommen. Das kleine Parkhaus sollte die letzte Etappe seines Rundgangs sein. Danach würde er wieder umkehren und von vorne beginnen.
6
Auch wenn es hier, in diesem Bezirk der Stadt, dunkler und stiller war, fühlte sich Erwin nicht unwohl. Er kannte auch dieses Stadtgebiet wie seine Westentasche und wusste, die Menschen, welche hier lebten, waren vielleicht etwas weniger wohlhabend als die in der City, aber doch ebenso freundlich.
Er ging die Straße entlang, die ihn Richtung Parkhaus führen würde. Vorbei an der kleinen Seilerei und der ehemaligen Pizzeria, deren Fensterläden schon vor Jahren mit großen Holzplatten vernagelt worden waren. Weiter führte ihn sein Weg, entlang eines unbebautem Geländes, auf dem das hohe Gras, schon seit langer Zeit nicht mehr gemäht wurde. Wilde Brombeeren und einige Birken hatten begonnen, sich hier ihren Lebensraum zu erobern.
Rechter Hand lag die Ausfallstraße, der Autobahnzubringer. Links von ihm folgte ein Parkplatz, auf dem nur wenige Fahrzeuge in der Einsamkeit der Dunkelheit standen. Weiter vorne konnte Erwin schon die Lettern „Lulu`s Bar“ erkennen. Ein kleines Fachwerkhaus, in dessen Fenstern rote Lampen wortlos davon kündeten, welche Dienstleistung hier angeboten wurde. Ein kleines Schild neben der Eingangstür verkündete, das auch Kreditkarten willkommen waren.
Direkt hinter „Lulu`s Bar“ befand sich das Parkhaus.
Erwin wusste, nur wenige Fahrzeuge würden hier stehen, zu abgelegen, zu dunkel war es hier. Der einzige Grund, warum überhaupt irgendwer bereit war, sein Auto hier abzustellen, war, dass es die einzige offizielle Parkmöglichkeit war, die nichts kostete.
Auf zwei Ebenen konnte man hier parken. Auf der obersten Ebene standen die Fahrzeuge unter freiem Himmel. Die unterste Ebene lag tiefer als die Straße und der Gehweg, auf dem er sich befand.
Erwin beschloss, zuerst einmal in der untersten Ebene des Parkhaus nach dem Rechten zu sehen.
Der Eingang, den er nehmen musste, war nur schmal. Rechts und links von diesem wuchsen ein paar Büsche kümmerlich vor sich hin. Papierfetzen hatten sich in ihren Zweigen verfangen und flatterte in dem kaltem Wind unruhig hin und her.
Eine Wendeltreppe aus kahlem Beton würde ihn hinunter führen. Kaum hatte Erwin die ersten Stufen hinter sich gebracht, drang auch schon der Übelkeit erregende Gestank nach Urin in seine Nase.
Er musste vorsichtig sein, durch die Enge der Treppe, war es hier besonders dunkel und er hatte keine Lust, in irgendetwas hinein zu treten oder über herumliegenden Müll zu stolpern.
Er wähnte sich allein, umso erschrockener war er, als aus dem Parkhaus leise Stimmen zu ihm drangen.
Langsam tastete Erwin sich weiter die Treppe hinunter. Erst nachdem er einige Stufen hinter sich gebracht hatte, gelang es ihm, einen Blick in das Parkhaus zu werfen.
Erwin wünschte sich, dass die Stadtväter nicht ganz so geizig gewesen wären und wenigstens hier unten für ein wenig Beleuchtung gesorgt hätten.
Erst nachdem sich seine Augen ein wenig an die ihn umgebende Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er ein bisschen besser sehen. Die ersten Parkreihen waren völlig leer. Nur weiter hinten konnte er sechs oder sieben Fahrzeuge erkennen.
Jetzt erblickte er auch den Ursprung der Stimmen. Drei Männer standen um eines der Autos herum und tuschelten miteinander. Die Worte konnte Erwin nicht verstehen, aber anscheinend waren die drei sich über irgendetwas uneinig.
Die Männer entfernten sich bald darauf von dem Fahrzeug, um das sie soeben herumgestanden hatten, aber nur um sich dem Nächsten zuzuwenden.
Erwin hätte sonst etwas dafür gegeben, hätte er die Männer deutlicher sehen können. Aber außer ihren dunklen Schatten, die mit den Schatten der Autos verschmolzen, konnte er nichts erkennen. Nur der Klang ihrer Stimmen verriet ihm, dass es Männer waren. Junge Männer.
Wieder drang das undeutliche Tuscheln zu ihm. Wieder wendeten sich die drei von dem Auto ab und einem anderem zu.
Erwin wusste genau, nicht reine Neugier war es, was die drei zu diesem Verhalten animierte. Die Männer taxierten den Wert der Fahrzeuge oder deren Inhalt. Ja, es war für Erwin sofort völlig klar, mit welch Klientel er es hier zu tun hatte.
Vielleicht waren sie es ja, die Automarder, hinter denen er und seine Kollegen seit Wochen her waren?
Vielleicht würde es ihm, Schröder, gelingen sie hier und jetzt zu stellen?
Ein Gefühl, irgendwo zwischen Furcht, Aufregung und freudiger Erwartung, machte sich in Erwin breit.
Langsam wanderte seine rechte Hand herunter, fühlte das Holster, in dem seine Waffe steckte, spürte den Verschluss des Lederriemens. Dann ließ er seine Hand wieder hoch wandern.
Noch niemals hatte er seine Pistole auf einen Menschen gerichtet und sollte es doch einmal dazu kommen, wusste er nicht, ob er jemals dazu in der Lage war, abzudrücken.
Erwin wusste, die Dienstvorschrift sah vor, er musste Verstärkung anfordern.
So leise es ihm möglich war, hastete er die Treppe hinauf. Auf keinen Fall wollte er die Autoknacker schon vorher warnen, deshalb schaltete er sein Funkgerät erst draußen auf Empfang. Verband sich mit der Zentrale, gab durch wo er war und was im Parkhaus vor sich ging und forderte schließlich die Verstärkung an.
Danach schlich er die Treppe abermals hinunter, bis er die Bande wieder im Blick hatte. Jetzt blieb ihm nur noch das Warten, das Warten auf seine Kollegen.
Ein knirschendes Geräusch drang zu ihm. Auch wenn er es nicht genau erkennen konnte, Erwin ahnte, die drei machten sich gerade an einem der Autos zu schaffen.
Nervöse Ungeduld ließ ihn die verstreichende Zeit wie eine Ewigkeit erscheinen.
Dann hörte er es. Das Martinshorn.
Wie konnten sie nur so dämlich sein und mit großem Orchester hier auftauchen?
Natürlich, auch die drei Männer hatten die Polizeisirenen gehört. Schnell ließen sie ab von dem Wagen, mit dem sie sich gerade noch beschäftigt hatten.
Blitzschnell rannten sie los, die Auffahrt des Parkhaus hinauf.
Fluchend hastete Erwin die Treppe empor. Er musste das Gebäude fast vollständig umrunden, um dorthin zu gelangen, wo die drei Männer soeben flüchtend das Parkhaus verlassen hatten.
Keuchend rannte er um das Parkhaus herum, sah gerade noch, wie die Drei in der Dunkelheit verschwanden.
Vielleicht war es die verpatzte Chance oder der Ärger über seine Kollegen. Vielleicht war es auch die Wut darüber, Stunden in der Kälte verbracht zu haben, für nichts. Vielleicht war es aber auch das Gefühl des betrogenwordenseins. Betrogen um ein kleines bisschen Ruhm. Erwin rannte, so wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Er wollte die drei Männer haben, wollte sich um keinen Preis diesen kleinen Sieg wegnehmen lassen.
In seiner Lunge brannte es wie Feuer, sein Herz raste, in seiner linken Körperhälfte machte sich ein schmerzhaftes Stechen breit, welches sich über seine Beine fortsetzte.
Aber er rannte, wollte sich der Schwäche seines Körpers nicht ergeben.
Schweiß rann ihm über die Stirn, sein Hemd klebte schon nach kurzer Zeit an seinem Körper.
Da vorne sah er sie laufen. Erwin biss die Zähne zusammen, versuchte alles aus sich heraus zu holen, so wenig dieses auch sein mochte.
Die drei trennten sich nun, er musste sich entscheiden, hinter wem er weiter her laufen wollte. Kurz entschlossen folgte er dem jenigem, der weiter geradeaus lief. Während seine beiden Kumpane für Erwin in der Dunkelheit verschwanden, rannte der andere Richtung Sportplatz.
Erwin konnte gerade noch erkennen, wie dieser sich an dem Zaum empor wand, welcher den Sportplatz umschloss, und auf der anderen Seite in der Dunkelheit verschwand. Auch Erwin hatte den Zaun bald erreicht. Blickte an ihm hinauf, wusste, ihm würde es nie gelingen, diesen zu überwinden, und versuchte es doch.
Mit schmerzenden Fingern krallte er sich in den Maschen fest, seine Füße fanden nur wenig Halt, rutschten fortwährend ab. Irgendwie schaffte er es. Zentimeter für Zentimeter kletterte er empor. Endlich oben angekommen, ließ er sich einfach auf die andere Seite fallen.
Keuchend landete er im Gras, blieb einen Moment sitzen und schaute an dem Zaun hinauf, sich darüber wundernd, das er es wirklich geschafft hatte, ihn zu bezwingen.
Er hatte keine Zeit, sich über dieses Wunder lange Gedanken zu machen. Schnell sprang er auf, vergewisserte sich, dass er sich bei dem Sprung nicht irgendwo verletzt hatte. Aber außer seinem heftigem Seitenstechen schien alles in Ordnung mit ihm zu sein.
Er blickte um sich. Der Typ, hinter dem er her war, hatte sich keinen schlechten Platz als Versteck ausgesucht. Die Weite des Rasenplatzes lag vor ihm, verschwand irgendwo dort hinten, dort wo der Sportplatz in Bäume und Sträucher überging, welche ihn auf drei Seiten einfassten.
Wie eine schwarze Wand, dachte Erwin. Von dem Flüchtigem war nichts zu sehen und selbst wenn er unmittelbar in seiner Nähe gewesen wäre, hätte die Dunkelheit ihm ausreichend Schutz geboten.
Langsam überquerte Erwin den Rasenplatz, welcher am Tag als Spielfläche für den örtlichen Fußballverein diente. Er ging geradewegs auf die Bepflanzung auf der anderen Seite zu und hoffte, auch der Autoknacker hatte diesen Weg gewählt.
Seine linke Hand glitt hinunter, umfasste die Stablampe, welche in einer Schlaufe an seinem Gürtel hing. Einen Moment später flammte das Licht auf und bohrte einen hellen Kegel in die Schwärze der Nacht.
Während Erwin auf sie zuging, ließ er den Lichtkegel langsam über die Sträucher vor sich wandern.
Dort!
Eine Bewegung hatte ihn aufschrecken lassen. Viel mehr war es nur ein Hauch, nur die Ahnung einer Bewegung. Vielleicht nur ein Tier. Vielleicht aber auch nicht.
Er ließ den Lichtkegel dorthin wandern, wo er eben die Bewegung vermutet hatte.
Dort, dicht an die, sie fast umschließenden Büsche gekauert, konnte er eine Gestalt erkennen.
Dunkel gekleidet, den Kopf auf die überkreuzten Arme gelegt, hockte sie dort. Verschmolz fast vollständig mit der Umgebung.
Ein Anflug von Angst verursachte in Erwin für einen kurzen Augenblick ein leichtes Schwindelgefühl, doch das Adrenalin, welches durch seinen Körper rauschte, ließ ihn seine Furcht beiseite schieben.
Mit wenigen, schnellen Schritten näherte er sich der, noch immer reglos dasitzenden Person.
„Polizei!“ bellte Erwin mit heiserer Stimme. Nur widerstrebend hob der Mensch vor ihm seinen Kopf. Blickte dann direkt in Erwins Richtung. Starrte in den Lichtkegel seiner Taschenlampe. Erwin erschrak, als er in die Augen seines Sohnes sah.
7
„Kai“ hauchte Erwin. „Papa?“ Kam es ebenso leise, fast ungläubig von seinem Sohn.
„Du? Aber warum? Wie ... weshalb?“ stotterte Erwin. Kai hatte sich in der Zwischenzeit erhoben, stand jetzt dicht vor ihm. Es wurde ihm klar, sie hatten keine Zeit zum Reden. Kai musste verschwinden. Erwin hatte völlig vergessen, er hätte seinen Kollegen über Funk Bescheid geben müssen, wo er steckte, ob ihm etwas zugestoßen war. Sicher würden sie schon nach ihm suchen.
„Du musst weg, meine Kollegen werden sicher bald hier sein. Wir können später reden“ sagte er deshalb.
Kai stand vor ihm, den Kopf gesenkt, stumm. Langsam ging Erwin auf seinen Sohn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter. Zog ihn dann zu sich heran, spürte den Kopf seines Sohnes auf der Brust, spürte dessen Hände auf seinem Rücken, als auch Kai die Umarmung erwiderte. Einen Augenblick lang blieben sie so stehen. Eng umschlungen. Vater und Sohn.
„Es tut mir leid, Papa“ sagte Kai leise, bevor sie sich aus ihrer Umarmung lösten. „Kai, es wird alles gut werden. Ich verspreche es dir. Alles wird gut, aber jetzt musst du dich beeilen“ forderte er seinen Sohn auf.
Gleich hinter der Bepflanzung, dort wo sein Sohn sich eben noch verkrochen hatte, befand sich der Zaun. Erwin machte Räuberleiter, half seinem Sohn, über den Zaun zu klettern, und sah ihm nach, als dieser in der Dunkelheit verschwand. Dann machte er sich selbst auf den Rückweg.
Er schaffte es nicht, den Zaun noch einmal aus eigener Kraft zu überwinden. Seine Kollegen mussten ihm helfen, was für einigen Spott sorgte.
Niemand machte ihm Vorwürfe, weil er den Verfolgten nicht erwischt hatte, weil keiner von seinen Kollegen jemals daran geglaubt hätte, dass ausgerechnet er, Schröder, dazu in der Lage gewesen wäre.
Für heute war der Einsatz beendet, allen war klar, Schröder hatte die Automarder aufgeschreckt und zumindest in dieser Nacht würden sie Ruhe geben.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Erwin endlich nach Hause kam. In der Wohnung war es dunkel und still. Alle schliefen sicher schon seit ein paar Stunden. Versuchend, keine Geräusche zu machen, schlich er an die Tür zum Zimmer seines Sohnes, öffnete diese leise. Ja, auch Kai lag in seinem Bett, stellte er erleichtert fest. Zögerlich machte er einen Schritt auf das Bett seines Sohnes zu. Betrachtete ihn. Die Decke bis weit über das Kinn gezogen, die Haare wild vom Kopf abstehend. Einen Augenblick lauschte er den regelmäßigen Atemzügen. Spürte, wie eine längst vergessen geglaubte Zärtlichkeit in ihm hochstieg. Etwas was er schon so lange nicht mehr für seinen Sohn empfunden hatte.
Immer wollte er ein guter Polizist sein. Niemals hätte er sich vorstellen können, vor die Wahl gestellt zu werden, die Wahl ein guter Polizist oder ein guter Vater zu sein.
Erwin hatte seine Wahl getroffen und vielleicht war diese Nacht ja eine Chance, die Chance etwas lange Verlorenes wiederzuerlangen.
8
Sie mussten miteinander reden. Er musste wissen, warum sein Sohn all das tat, musste ihm klar machen, dass man ihm und seinen Freunden irgendwann unweigerlich auf die Schliche kommen würde, ihn das Aufbrechen von Autos irgendwann einmal ins Gefängnis bringen würde. Er musste ihm klar machen, dass er, Kai, sich damit das Leben verderben werde und vor allen Dingen musste er erreichen, dass er damit aufhörte.
Als Erwin am nächsten Abend vom Dienst kam, hoffte er, dass Kai zu Hause sein würde.
Mehrmals klopfte er vergeblich an dessen Zimmertür, um sie dann, ohne Aufforderung, zu öffnen.
Kai saß auf dem Bett, Kopfhörer auf den Ohren. Trotz der Kopfhörer konnte Erwin das Wummern der Musik hören, die aus der Stereoanlage auf die Ohren seines Sohnes einhämmerte. Es wunderte ihn nicht, dass Kai sein Klopfen überhört hatte.
Erwin trat an die Stereoanlage heran, drückte auf den On/Off Schalter und das Wummern verstummte.
Sein Sohn nahm die Kopfhörer ab „Ey, was soll das?“, tat er seinem Unmut kund.
„Wir müssen reden“, erwiderte Erwin. „Reden? Worüber?“, „Worüber? Du weißt genau worüber“, sagte Erwin und näherte sich dabei dem Bett seines Sohnes, mit der Absicht sich zu setzen.
„Es gibt nichts zu reden!“, hörte er seinen Sohn sagen. „Nichts zu reden? Ist dir eigentlich klar, was du mit deinen Autoaufbrüchen tust? Ist dir klar, dass ich meinen Job für dich riskiere?“
„Für mich? Mach dich nicht lächerlich!“, erwiderte ihm Kai „Nichts tust du für mich. Gib doch zu, du wolltest nur deinen eigenen Hals aus der Schlinge ziehen. Hast wohl Angst gehabt, deine Kollegen könnten über dich her ziehen, den Bullen, mit nem Autoknacker zum Sohn“.
Erwin spürte, wie langsam Wut in ihm hoch kroch und versuchte diese zu unterdrücken. Es musste doch möglich sein, mit seinem Sohn ein vernünftiges Gespräch zu führen.
„Ja, für dich habe ich es getan. Nur für dich, weil ich nicht will, dass du dir dein Leben versaust. Weil ich meinen Sohn nicht im Gefängnis besuchen will, denn genau da wirst du eines Tages landen, wenn du so weiter machst!“, warf er seinem Sohn an den Kopf.
Ein unwilliges Schnauben war die Antwort „Na und, dann lande ich eben im Gefängnis, was geht es dich an? Dann kann ich endlich aus diesem Scheiß Laden verschwinden und hab meine Ruhe vor dir!“, brüllte Kai.
Noch einmal versuchte es Erwin. Ruhig sagte er „Sei doch vernünftig. Du weist doch selbst nicht, was du da sagst. Ich will doch nur, dass wir wie vernünftige Leute miteinander reden. Ich bin schließlich dein Vater, nicht dein Feind“ Kai sprang von seinem Bett auf „Mein Vater bist du? Ein Duckmäuser, ein Looser bist du und jetzt verschwinde aus meinem Zimmer!“, tobte Kai.
Es hatte keinen Sinn. Wortlos verließ Erwin das Zimmer seines Sohnes. Laut wollte er die Tür hinter sich zuknallen, besann sich aber eines Besseren und zog diese leise ins Schloss.
Gestern Nacht, es war doch erst gestern Nacht gewesen, als er seinen Sohn in seinen Armen gehalten hatte.
Was hatte er getan, warum hasste Kai ihn so?
Ja, er hatte Fehler gemacht. Es war nicht allein sein Beruf, die vielen Überstunden, welche Schuld daran waren, dass seine Familie, sein Leben auseinanderfielen. Irgendwann hatten er und seine Familie den gemeinsamen Weg verlassen. Sein Fehler war es gewesen, nicht erkannt zu haben, als sich ihr Lebensweg gabelte, und sie begannen in unterschiedlichen Richtungen weiter zu gehen. Wann war das geschehen? Wie hatte er die Anzeichen dafür übersehen können. Oder hatte er sie gar gesehen und konnte, wollte vielleicht überhaupt nichts daran ändern?
Er war müde, wollte nicht darüber nachdenken, nicht jetzt und in dieser Nacht. Nur eines wurde ihm bewusst, so nahe, wie noch vor wenigen Stunden, dort draußen auf dem Sportplatz, so nahe würde er seinem Sohn nie wieder kommen.
Tief, irgendwo dort drinnen, spürte er einen unbändigen Schmerz.
9
Die Zeit verging. Noch immer machten die Automarder von sich reden. Noch immer mussten er und seine Kollegen Sonderschichten schieben.
Erwin hatte keinen weiteren Versuch unternommen mit Kai zu reden. Wenn sie sich begegneten, konnte er die Ablehnung in den Augen seines Sohnes all zu deutlich lesen.
Nichts hatte sich geändert. Für seine Kollegen war er nach wie vor einfach „Schröder“ und daheim war es so frostig wie eh und je.
Nichts war anders geworden, außer für ihn.
Den früheren Spott seines Sohnes hatte er noch irgendwie ertragen können. Aber dessen offensichtlicher Hass nagte an ihm, auch das er nicht wusste, sich nicht zu erklären vermochte, woher dieser Hass, und die Ablehnung seines Sohnes kam, machte ihm zu schaffen.
War er wirklich ein solcher Versager, ein solcher Duckmäuser, wie es sein Sohn behauptete?
Noch etwas machte ihm schwer zu schaffen. Das Wissen, welches er mit sich herumtrug. Das Wissen darüber, zumindest einen der Automarder zu kennen und die Unmöglichkeit, mit irgendwem darüber sprechen zu können.
Er wusste, dass es eines Tages so kommen musste. Hatte jeden Gedanken daran, vergeblich versucht abzuschütteln.
Und doch, als es dann so weit war, traf es ihn wie ein Faustschlag.
Gerade kam er aus dem Umkleideraum, wo er sich für den Feierabend umgezogen hatte.
Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, blieb wie angewurzelt stehen, starrte sie nur an, seine beiden Kollegen, wie sie da unvermittelt vor ihm standen, in ihrer Mitte seinen Sohn, Kai. Die Hände hinter dem Rücken gefesselt, führten sie ihn rechts und links an den Armen haltend, den Flur hinunter, direkt auf ihn zu.
Auch sie blieben abrupt stehen. Ein peinlicher Moment unerträglichen Schweigens entstand, als sie sich dort, auf dem kahlem Gang des Polizeireviers, gegenüber standen.
Erwin wusste, seine beiden Kollegen kannten Kai, wussten, dass es sein Sohn war, den sie dort abführten. Er hatte das Gefühl irgendetwas sagen zu müssen, diese Mauer aus bedrückender Beklemmung zum Einsturz zu bringen. Doch in seinem Kopf blieb es leer. Nichts, was er sagen oder tun konnte, kein Gedanke, an dem er sich festklammern durfte.
Aber er musste etwas tun. Wie in Trance setzte er einen Fuß vor den anderen, ging ihnen einen Schritt entgegen. Schaffte schließlich auch den nächsten Schritt. Er wollte etwas sagen, öffnete den Mund und doch kam nur ein leises, heiseres „Kai“ über seine Lippen.
Er sah, wie sich die Gestalt seines Sohnes straffte. Sah, wie Kai ihm entgegenblickte, sah das wütende Blitzen in den Augen seines Sohnes. Hörte wie er ihm schließlich hasserfüllt „Verpiss Dich Bulle!“, entgegenschleuderte.
Taumelnd machte Erwin einige Schritte zur Seite. Schnelle, mitleidige Blicke trafen ihn, als seine beiden Kollegen an ihm vorbei gingen. In ihrer Mitte seinen Sohn, der stur geradeaus schauend, ihn keines weiteren Blickes würdigte.
Erwin schaute den Dreien nach. Sah wie einer der Beamten, am Ende des Ganges die Tür zum Verhörraum öffnete. Sah zu, wie die Drei darin verschwanden, sich schließlich die Tür hinter ihnen schloss. Nur einmal, nur ein einziges Mal, so hatte er gehofft, würde sein Sohn sich nach ihm umwenden.
10
Sie wussten es.
Schon als Erwin die Wohnungstür aufschloss, konnte er das Weinen seiner Frau hören. Hörte die tröstende Stimme seiner Tochter Katja, hörte die leisen und sanften Worte, die ihrer Mutter galten.
Er wendete sich der Tür des Wohnzimmers zu. Dorthin, woher das unterdrückte Schluchzen seiner Frau und die Stimme seiner Tochter zu ihm drang.
Einen Augenblick lang blieb er unter dem Türrahmen stehen. Schaute auf das Sofa, sah seine Frau, die ihren Kopf tief gebeugt, die Hände Katjas auf ihrem Schoss umklammert hielt, welche, dicht an ihre Mutter gerückt, neben ihr saß. Ein schmerzliches Stechen in seiner Brust, machte ihm klar, alt sah sie aus, so wie sie dort saß, gramgebeugt, verzweifelt und voller Trauer.
Wenige Schritte nur und er stand vor ihnen.
So viel was er hätte sagen können und doch, er schwieg.
Eine unbestimmte Schuld nagte in ihm, dass Gefühl, er allein hätte alles ändern können. Das Wissen, auch dieses Mal nicht stolz darauf sein zu können, Polizist zu sein. Polizist, so wie seine Kollegen, welche seinen Sohn abgeholt hatten.
Nur zögerlich hob er seinen Arm. Wollte ihn eben noch zurückziehen, überwand sich dann aber doch, ließ seine Hand vorsichtig auf der Schulter seiner Frau nieder. Begann dann zaghaft diese zu streicheln.
Seine Frau blickte hoch, schaute ihn mit Tränen verschleierten Augen an. Langsam löste sie eine ihrer Hände aus ihrem Schoss und legte ihm diese auf die seine.
Fast war es ihm, in den rot verweinten Augen seiner Frau, den Hauch eines Lächelns erkennen zu können.
Er wollte nicht darüber nachdenken, was nun auf sie alle zukommen würde. Nur das Jetzt, dieser Augenblick zählte.
Vielleicht, so hoffte er, vielleicht war es ja nicht nur ein Ende. Vielleicht bedeutete es auch einen neuen Anfang.
Text: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Editing: Michaela Schmiedel
Publication Date: 08-02-2020
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