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An Nisà

 

 

Ich war so stolz auf meinen Vater, war es schon immer gewesen.

Seit ich denken konnte, schaute ich zu ihm auf, erst, weil ich als kleines Mädchen meinen Kopf in den Nacken werfen musste, wenn ich in sein Gesicht blicken wollte, dann, als ich selbst

erwachsener und größer wurde, weil meine Bewunderung für ihn keine Grenzen kannte.

Seine feste Stimme, sein offener Blick, der niemals zweifelte und selbst im Streit sich nicht senkte, sondern sein Gegenüber selbstbewusst und offen anschaute, mit dem unbedingtem Wissen im Recht zu sein. Ich liebte ihn um seiner selbst willen und wohl auch, weil ihn alle anderen in unserer

kleinen Gemeinde liebten.

Wenn irgendwer zu ihm kam, um mit ihm zu sprechen, waren es fast immer Rat suchende und

Bittsteller und ihre Worte waren angefüllt mit Respekt und Achtung für meinen Vater.

Ich wusste genau, auch wenn er nicht der Iman in unserer kleinen muslimischen Gemeinde gewesen wäre, hätten die Achtung und sein Ansehen nicht darunter gelitten, hätte diese vielleicht sogar

bestärkt, denn seine Liebe zum Koran, gepaart mit Weisheit die aus den Erfahrungen eines langen, nicht immer einfachen Lebens entsprang, hatte aus ihm einen gerechten Mann werden lassen.

Ich liebte ihn und so war ich gewiss, auch seine Liebe zu besitzen.

Schon früh lehrte er mich die Sätze des Koran auswendig und wenn ich sie auch als Kind noch nicht verstand, fühlte ich doch deren, in ihnen verborgene Wahrheit und die Suren, die ich las,

wurden zu Klängen, die mein Herz mit Musik erfüllten.

Als kleines Mädchen nahm mich mein Vater oft mit zu den Gebeten und nachdem er mit seiner dunklen, wohlklingenden Stimme vor der Gemeinde gestanden hatte, und seine Worte noch von den Mauern der heiligen Stätte widerhallten, nahm er mich oft an seine Seite und ich durfte neben ihm Platz nehmen, den Koran aufgeklappt auf meinem Schoss, und die Verse vorlesen, die er mir mit knapper Geste zeigte.

Diese Momente gehören mit zu den schönsten Erinnerungen an meine Kindheit, als ich neben

meinem Vater sitzend mit glockenheller Stimme die Worte las, die alle Menschen zu einem

einzigen Volk werden lassen. Worte, die voller Liebe, voller Nachsicht, Frieden und voller Weisheit waren und selbst die Unwissenden berühren konnten und die Macht besaßen, aus vielen einzelnen einen einzigen Wissenden werden zu lassen.

Worte, die uns alle berührten und die ich nicht nur mit meiner Stimme vortrug, sondern mit der

ganzen Kraft meiner Seele.

Wenn wir uns dann vor der Gemeinde erhoben, war es nicht nur mehr mein Vater, dem die Achtung und Bewunderung galt, sondern auch ich selbst fühlte sie in meinem Inneren, und bevor wir

auseinandergingen, drückten die Menschen meinem Vater die Hand, strichen mir oft lächelnd über den Kopf und sprachen an meinen Vater gewandt: "Du kannst stolz sein auf deine Tochter, sie

gereicht deiner Familie zu Ehre und wer immer dieser Mann sein wird, er kann sich glücklich

schätzen, sie einmal zu seiner Frau nehmen zu dürfen."

Eigentlich war es viel früher, als es mir mein Vater geboten hätte und doch setzte ich in meinem zehnten Lebensjahr das erste Mal das Kopftuch auf, um der Welt zu zeigen, was in meinem Herzen gereift war und meine Liebe zum Glauben auch nach außen zu tragen, und wohl auch, um meinen Vater noch ein wenig stolzer auf seine Tochter werden zu lassen.

Mein Leben war schön, war angefüllt mit Glücklichsein, frei von Zwietracht und Neid und

gehörte ganz ihnen, dem Mann, der mich darin unterrichtete, eine gute Muslime zu werden und dem Buch, welches mich bedingungslose Liebe lehrte.

Mein Kinderleben war durchdrungen von Leichtigkeit, war sorglos und beschützt. Mein Herz war frei von Missgunst und mein Kopf kannte keine bösen Gedanken und ich glaubte, das es ewig so weitergehen würde, weil der Weg, auf dem ich dahinschritt, keine Abzweigungen und Irrungen zu kennen schien.

Wäre ich eine andere Tochter geworden, wenn ich schon als Kind gewusst hätte, dass ausgerechnet der Mann, den ich mit reinem Herzen am meisten liebte, mir Zorn und das Wissen um

Ungerechtigkeit in die Brust pflanzen würde?

Ich habe mich das oft gefragt in all den Jahren die schon hinter mir liegen und ja, vielleicht wäre ich eine andere Tochter geworden, aber trotzdem weiß ich, dass ich meinem Vater auch dankbar sein muss, denn dadurch, dass er mich Zorn lehrte, lehrte er mich auch das Verlangen nach Wissen.

Ich werde den Tag niemals vergessen, als mein Vater mich das erste Mal schlug. Nie habe ich

solchen Schmerz empfunden, niemals mehr solche Trauer gespürt und niemals in meinem weiteren Leben solch einen Hass.

Dabei war es damals nur eine Nichtigkeit, als ich mich mit meinem Bruder stritt. Ein Streit, wie er unter Geschwistern oft vorkommt, über irgendeine Belanglosigkeit und noch bevor durch dessen Ursprung eskaliert, auch schon vergessen.

Ich hatte ihn nicht kommen hören und erschrak ein wenig, als mein Vater plötzlich vor mir stand. Auf seine Gerechtigkeit vertrauend wollte ich anheben, um zu erklären, als er auch schon ausholte und mir ins Gesicht schlug. Tränen des Nichtbegreifens schossen aus meinen Augen hervor, rannen über meine Wangen, brannten in meinem Herzen und als ich schluchzend nach verteidigenden

Worten suchte, erhob er die Hand und gebot mir, zu schweigen. "Du bist zu Stolz meine Tochter, vergiss nie, du bist nur ein Mädchen und als solches gebührt es sich nicht, sich zu widersetzen."

"Du bist nur ein Mädchen!" Ich war damals etwa fünfzehn Jahre alt, als mir der, den ich am meisten liebte, diese Worte ins Gesicht schleuderte. Ein einziger Satz nur, aber angefüllt mit Worten, die mir meine ganze Wertlosigkeit aufzeigten, wohl auch für denjenigen wertlos, den ich als so wertvoll

erachtete.

Was ich damals noch nicht wusste, dieser eine Satz, diese wenigen Worte, sollten mein ganzes

Leben verändern. Ich habe sie danach noch oft hören müssen: "Du bist nur ein Mädchen".

Später dann ersetzt durch: "Du bist nur eine Frau" und weil ich nicht glauben wollte, was nicht wahr sein konnte, begann ich zu lernen.

In Gedanken rezitierte ich die auswendig gelernten und von mir so oft aufgesagten Suren des Koran und wunderte mich selbst, dass ich früher niemals Fragen gestellt hatte und mir erst dieser eine Satz das Hinterfragen aufdrängte. Doch je mehr Fragen ich stellte, je mehr ich wissen wollte und je mehr ich anzweifelte, je größer wurde die Ablehnung der Menschen um mich herum, die nicht begreifen konnten, dass ich mehr sein wollte als "Nur".

Mein Vater schlug mich oft, ungezählte Male, weil er glaubte, er müsse es tun, um mich, seine Tochter, wieder auf den rechten Weg zu führen und der Koran es ihm vorschreiben würde.

Doch je mehr und öfter er mich schlug, je größer wurde mein Verlangen nach Wissen. Ich hörte auf, den Koran nur zu lesen, sondern begann ihn zu studieren und als ich begriff, dass es nicht einen

einzigen Teil im Koran gab, der sich ausschließlich mit der Rolle des Mannes beschäftigte, dafür aber einen großen Teil, der den Frauen gewidmet war (An-Nisá - Die Frauen), begann ich meinem Vater zu vergeben, weil ich erkannte, dass er selbst nur ein Gefangener des Patriarch geworden war, in dem er lebte, und dessen Mauern ihm den Blick auf Erkenntnis und Freiheit verwehrten.

Irgendwann hörte mein Vater auf mich zu schlagen, nicht, weil er das Unrecht seines Tuns erkannte, sondern weil ich älter und erwachsener wurde und er wohl begreifen musste, dass seine

Bemühungen vergebens waren.

Seine Liebe habe ich für immer verloren, eingetauscht gegen die Erkenntnis, niemals mehr „Nur“ sein zu müssen, wenn ich nur genug kraft aufbrachte, um zu erkämpfen, was mir die Worte

Mohameds versprachen.

Ich begann meine Gedanken und Interpretationen niederzuschreiben und dort, wo mir Worte nicht ausreichend schienen, nahm ich Pinsel und Farben um auszudrücken, was tief in meiner Seele brannte und malte Bilder, auf denen ich selbst zu sehen war und auf denen ich mein Gesicht

austilgte, so wie so viele versuchten, mir und vielen anderen die eigene Identität zu nehmen.

All meine Werke signierte ich mit dem Namen Chadidscha, die erste und bis zu ihrem Tod einzige Frau des Propheten Mohammeds, die nicht von ihm erwählt wurde, sondern ihn wählte, weil sie

erkannte, dass seine Worte voller Liebe und Gerechtigkeit waren und die Gleichheit der

Geschlechter garantierten.

Ich wurde zur Rebellin, für viele zur Abtrünnigen, für andere zur Feindin, aber für alle zur Stimme, deren Worte gehört, deren Bilder Beachtung fanden.

Noch heute trage ich mein Kopftuch aus Liebe und wenn ich es abnehme, tue ich das aus Wissen und Selbstachtung.

"Du bist nur ein Mädchen".

Dieser eine Satz veränderte mein Leben und zwang mich zum hinterfragen und lernen und je mehr ich lernte und umso mehr ich begriff, je klarer wurde mir, dass es kein "Nur" gibt, dass niemand "Nur" ist, sondern wir alle ein "Du bist!"

 

Ich liebe noch immer die Worte des Koran, die mir schon als Kind so wichtig waren, doch weiß ich, auch Unwissende können lieben, aber nur die Wissenden werden frei sein.

Imprint

Text: Ralf von der Brelie
Images: Ralf von der Brelie
Cover: Ralf von der Brelie
Editing: Ursula Kollasch
Publication Date: 04-30-2020

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