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Hass

 

 

 

Sein Blick konzentrierte sich gedankenverloren auf das halb volle Whiskyglas, welches vor ihm stand. Die Eiswürfel darin waren, bis auf einen winzig kleinen Rest schwimmender Eisplättchen, fast vollständig geschmolzen. Der Whisky begann schon warm zu werden.

Eigentlich mochte er keinen Whisky, warum hatte er ihn dann bestellt?

Warum saß er überhaupt hier, hier in Frankfurt, in diesem Hotel, an dieser Bar?

Warum war sein Leben nur so verdammt leer und beschissen?

 

Er wusste, er war gut, nein, nicht einfach gut, er war der Beste!

Man lud ihn gern ein, zu Tagungen, Konferenzen, Fachvorträgen oder wo immer seine Meinung und sein Rat erwünscht und willkommen war.

 

Anwalt für Wirtschaftsrecht war er. Er kannte sie alle, die Tricks und Kniffe, konnte jede noch so kleine Gesetzeslücke finden, war in der Lage, durch juristische Spitzfindigkeiten Paragrafen auch mal zurechtzubiegen.

Ja, er war der Beste, ohne Frage!

Er war stolz darauf, in all seinen Berufsjahren niemals die Steuergesetze übertreten zu haben. OK, zu Recht gebogen hatte er sie manches Mal, aber übertreten? Nein, nie!

Einiges war vielleicht nicht immer moralisch einwandfrei abgelaufen, aber er war lange genug

Anwalt. Er wusste, Moral und Recht waren oft zwei linke Paar Schuhe.

Seine Klienten waren reich geworden durch ihn, hatten auch sein Bankkonto im Laufe der Jahre

ordentlich gefüllt.

Er war der Beste!

Er war klug, schon immer klug gewesen, schon damals in der Schule war er seinen Mitschülern geistig weit überlegen.

Ein Wunderkind, hochbegabt.

Seine Intelligenz war angeboren, all sein Wissen war angelernt. Er hatte immer sehr viel Zeit zum Lernen gehabt. Niemand wollte mit ihm befreundet sein, niemand wollte mit diesem dicken Jungen spielen. So hatte er sich stattdessen hinter seinen Büchern vergraben.

„Fettklops, Rollmops, Trampel" waren nur wenige der harten Worte, die man ihm

entgegengeschleudert hatte.

Gewehrt hatte er sich nie, ihm fehlte der Mut.

Mit gesenktem Kopf stand er vor ihnen, wenn sie ihn verhöhnten. Tat so, als würden die Worte an ihm abprallen. Aber sie prallten nicht ab, sie drangen in ihn hinein. Tief, bis in seine Seele. Um sich dort festzusetzen, einzugraben, festzufressen für alle Zeiten und ihn niemals vergessen zu lassen, dass er ein Nichts war.

Abschaum!

Nicht einmal zum weglaufen war er in der Lage gewesen, wenn sie ihn drangsalierten und

schubsten, oft sogar anspuckten. Seine unbeholfenen Versuche, ihnen zu entkommen, seinen fetten Körper ihrem Zugriff zu entziehen, blieben erfolglos. Stachelten sie noch mehr an. Machten alles nur noch schlimmer für ihn.

Er hasste sie nicht dafür, wusste er doch, dass es ganz alleine an ihm lag, weil er so war, wie er nun einmal war - dick und hässlich.

Er war der, der im Sportunterricht nur unbeholfen vor sich hin stolperte, den niemand freiwillig in seiner Mannschaft haben wollte. Der Angst hatte, wenn es ans Geräteturnen ging. Sein Körper war zu schwer, zu schwer, um ihn an Ringen, Seilen oder am Barren hochhieven zu können. Seine

vergeblichen Bemühungen ernteten nur den Hohn und Spott seiner Mitschüler.

Er war der, der immer rot wurde, wenn man ihn direkt ansprach. Der Schweißausbrüche bekam und nur unter Stottern antworten konnte.

Die Hänseleien, denen er in der Schule ständig ausgesetzt war, machten ihm damals schwer zu schaffen. Als Kind lag er nachts oft weinend im Bett. Später hatte er die Tränen unterdrückt,

irgendwann das Weinen völlig verlernt.

 

Und seine Eltern?

Sie hatten von alledem nichts gewusst. Wie hätte er ihnen auch sagen können, was man ihm antat? Wie hätte er seinen Schmerz erklären können? Wie die Demütigungen, denen er ausgesetzt war? Er schämte sich so sehr, nie hätte er ihnen davon erzählen können.

Immer waren sie stolz auf ihn gewesen. Auf seinen Fleiß, auf seine Intelligenz. Später hatten sie ihn bewundert, als sein Wissen das ihre übertraf. Niemals hätte er es zugelassen, dass sie in ihn

hineinschauen konnten.

Seine Eltern, die einzigen, die ihn je geliebt hatten. Geliebt bis zu ihrem jähen Tod. Nachts auf einer Landstraße, mit dem Auto auf dem Heimweg. Eine kleine Unaufmerksamkeit seines Vaters, der den Wagen lenkte, während seine Mutter auf dem Beifahrersitz saß. Nur ein kleiner Fehler und beider Leben war beendet. Beendet war damit auch ihre Liebe zu ihm.

Damals, als dies geschah, war er schon Student gewesen.

 

Nein, er hasste seine Mitschüler nicht dafür, was sie ihm antaten. Sich selbst hasste er. Hasste

seinen viel zu schweren, ungelenken Körper. Hasste es, rot zu werden. Hasste sein Stottern, hasste dieses plumpe und feiste Gesicht, welches ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ein anderer sein zu dürfen.

Der Hass auf die anderen kam erst später, viel später.

Erst an der Uni, als die Mädchen kamen, nicht zu ihm, niemals zu ihm.

Zu seinen Kommilitonen. Zusehen musste er, zusehen wie sie sich küssten, aneinanderschmiegten. Händchen haltend und in ihrer Liebe zueinander verträumt durch die Straßen und Parks flanierten.

Nur er blieb alleine.

Wie gern hätte er eines dieser Mädchen seine Freundin genannt. Wie gern hätte er eine von ihnen in seine Arme geschlossen. Wie gern geküsst und zärtliche Worte in ihr Ohr geflüstert. Wie gern hätte auch er geliebt und sich so oft gewünscht, von einer von ihnen geliebt zu werden.

Doch er durfte nur zusehen, wie die anderen bekamen, was auch er gerne gehabt hätte.

Nur dabeistehen und zusehen, es brannte in ihm und es tat weh. Tief, ganz tief in ihm, tat es so

verdammt weh.

Oh ja, manchmal kamen sie doch zu ihm, diese Mädchen. Weil ein Examen vor ihnen lag, oder sie bei einer Frage nicht weiter wussten. Dann kamen sie auch zu ihm. Dann war er gut genug für sie. Er war ja so klug!

Aber bei jedem Versuch, bei einer von ihnen zu landen, mit vorsichtigen, sicher unbeholfenen

Berührungen ihnen näher zu kommen, schlug ihm nur Ablehnung und Spott entgegen.

Damals begann er sie zu hassen!

Für ihre Arroganz, für ihre Überheblichkeit, zu hassen für ihre Unfähigkeit, die eigene

Durchschnittlichkeit zu erkennen. Sie zu hassen für das, was er in ihren Augen sah, wenn sie ihn

anblickten.

 

Sein Studium brachte er mit Bravour hinter sich. Er selbst hatte nichts anderes erwartet.

Es war ein Leichtes für ihn, in einer renommierten Anwaltskanzlei unterzukommen. Sein Ruf eilte ihm voraus. Lange sollte er nicht dort bleiben, denn er krempelte die Ärmel hoch, lernte sie, die ganzen Tricks und Kniffe, verfeinerte sie noch. Er verschlang Bücher über Rechtswissenschaften, besuchte Vorträge und Tagungen, arbeitete zwölf, vierzehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche und er überholte alle. Brachte alle hinter sich, all die anderen Anwälte und Winkeladvokaten. Keiner war in der Lage, es mit ihm aufzunehmen.

Er stieg auf, immer höher und höher, und mit seinem Aufstieg stieg auch das Guthaben auf seinem Bankkonto.

Irgendwann hatte er es geschafft, besaß seine eigene Kanzlei, seine eigene Villa in einer der besten Lagen der Stadt.

Man begann, ihn selbst als Redner zu Tagungen einzuladen, und bezahlte ihn gut für die Vorträge, die er hielt. Man bewunderte seine Leistungen, sein Wissen, seine Intelligenz. Aber man liebte ihn nicht.

 

Auch heute hatte er hier in Frankfurt, in diesem Hotel, vor deren Bar er nun einsam an seinem Whisky nippte, die Abschlussrede einer mehrtägigen Tagung gehalten.

Man hatte ihm applaudiert und viele hatten ihm die Hände geschüttelt.

Gerade jetzt, wo er hier an der Bar saß, fand da drinnen im Saal die Abschlussparty statt.

Sicher, auch er war eingeladen worden. Der Form halber. Aber niemand da drinnen vermisste ihn. Niemand hatte ihn gefragt, ob er auch kommen würde. Keiner hatte ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft. Man hatte sich seine Rede angehört, ihm applaudiert, ihm die Hand geschüttelt und dann beiseitegeschoben.

Man hatte ihn abgehakt und vergessen.

Natürlich, heute würde sich keiner mehr trauen, ihn zu verspotten. Sie hatten zu viel Respekt.

Respekt nicht vor ihm, sondern vor seinem Ruf, seinem Geld, seinen Kontakten und vor der Macht, die er dadurch für sie verkörperte.

Aber in ihren Augen konnte er ihn sehen, denselben Hohn, denselben Spott, der ihn als Kind, allein im Dunkeln, unter der schützenden Bettdecke weinen hatte lassen.

Er konnte die ablehnenden Blicke der Frauen spüren, die wohl nur Ekel für ihn empfanden.

Er würde niemals das Herz einer von ihnen besitzen dürfen.

 

Die Tür vom angrenzenden Festsaal öffnete sich. Musik und Stimmengewirr drang zu ihm. Ein

Pärchen trat heraus. Beide kannte er nicht. Sicher auch einer der Anwälte, die an der Tagung

teilgenommen hatten, mit seiner Frau. Nein, eher wohl mit seiner Freundin. Der Typ war deutlich älter als sie und solche Tagungen, das wusste er, war die beste Gelegenheit für einen Seitensprung. Für jeden, nur nicht für ihn, ihn wollte keine.

Die beiden waren augenscheinlich auf dem Weg zum Fahrstuhl. Sie mussten an ihm vorbei und

verstohlen blickte er hinter ihnen her. Sie war nicht im eigentlichen Sinne schön. Hübsch ja, aber nicht schön, irgendwie spröde. Ihr schlanker Körper steckte in einem schulterfreien Abendkleid. Weiß und zart wirkten ihre Schultern. Sein Blick glitt ihren Hals hinauf, erblickten die feinen

Härchen am Haaransatz, die sich keck leicht kräuselten. Er spürte eine seltsame Wärme in sich

aufsteigen. Wie gern hätte er sie dort geküsst, wie gern würden über ihren schlanken Hals

streicheln, hinauf zu diesen feinen Härchen. Seine Finger sanft in ihren Nacken legen und die Weichheit ihrer Haut spüren.

Als hätte sie seine Blicke in ihrem Nacken gespürt, wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Er spürte, wie

röte in ihm aufstieg und verlegen blickte er weg.

Schnell wandte sie sich wieder ihrem Partner zu, neigte ihren Kopf in die Nähe des seinen und

flüsterte ihm etwas zu. Beide begannen zu kichern und er wusste, sie lachten über ihn.

Über seine fette Gestalt, über sein rotwerden, über seine Verlegenheit beim ertappt werden.

Wieder brannte es wie Feuer in seiner Magengegend. Wieder spürte er den Schmerz in sich und wieder diesen Hass in sich aufsteigen.

 

Er wartete, bis die beiden den Aufzug erreicht hatten, diesen betraten, sich die Fahrstuhltür hinter ihnen schloss und ein leises Summen verriet, dass er mit beiden unterwegs nach oben war.

Dann wuchtete er seinen schwerfälligen Körper vom Barhocker herunter, kramte in seiner Tasche, angelte einen Geldschein hervor, betrachtete diesen kurz, warf ihn dann ungelenk auf die Theke.

Das Eis in seinem Whisky war nun vollends geschmolzen. Angewidert ließ er das Glas mit dem letzten Schluck stehen und begab sich ebenfalls in Richtung Aufzug.

 

Er hielt sich nicht lange in seinem Zimmer auf. Was er benötigte lag griffbereit. Er war gut

vorbereitet, immer.

Kurze Zeit später stand er vor dem Hotel auf der Straße, den neuen, leichten Trenchcoat über den linken Arm gelegt. Ein kurzer Griff Richtung Hosenbund gab ihm die Bestätigung, nein, er hatte nichts vergessen.

Er schaute auf die teure Armbanduhr an seinem Handgelenk, schon weit nach Mitternacht. Es war schon spät, aber nicht zu spät und für sein Vorhaben gerade richtig.

 

Der Tag war warm gewesen und nur wenig bewölkt, doch jetzt hatte es etwas aufgefrischt und ein leichter Wind strich durch die nur wenig belebten Straßen. Er grinste zufrieden. So fiel er mit

seinem Trenchcoat nicht auf, sondern wirkte wie ein später Spaziergänger. Der Trenchcoat war

sowieso nur eine Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich völlig unnötig, denn das, was er im Begriff zu tun war, hatte er schon oft getan. Mit der Zeit war er immer besser geworden, er war gut, in allem, was er tat.

Langsam begann er den Fußweg entlang zu schlendern. Die Richtung war egal, jede Richtung brachte ihn seinem Ziel näher.

Nach einer Weile beschloss er, lieber in eine der Seitenstraßen abzubiegen. Viel Verkehr gab es zwar nicht an diesem Abend, aber für sein Vorhaben war dieses wenige immer noch zu viel.

Unweit von ihm hielt ein Bus. Die Türen gingen auf und bevor er seine Fahrt fortsetzte, sprang eine Gruppe lachender, junger Leute heraus. Er blieb stehen und beobachtete sie, während er sich

langsam seinen Trenchcoat anzog, der bis jetzt immer noch locker über seinem Arm gelegen hatte. Die Gruppe beachtete ihn nicht, sie waren viel zu beschäftigt damit, sich untereinander zu

verabschieden. Noch immer klang das fröhliche Lachen zu ihm herüber.

Langsam wurde er ungeduldig. Doch nicht lange, und seine Geduld wurde belohnt. Eine der jungen Frauen löste sich aus der Gruppe, verabschiedete sich lachend und entfernte sich. Kurz hielt sie noch einmal inne, um sich ein letztes Mal umzudrehen und den zurückbleibenden zuzuwinken. Auch diese machten sich nun auf den Weg und verschwanden in unterschiedlichen Richtungen. Bald darauf war er wieder alleine.

Nicht allzu schnell, denn er wollte nicht auffallen, schlug er dieselbe Richtung ein, in der die junge Frau verschwunden war. Weit vor ihm konnte er sie noch sehen. Er musste sich beeilen, doch

wusste er genau, sein schwerer Körper war nicht lange in der Lage, mit der Frau nicht nur Schritt zu halten, sondern sie auch noch einzuholen.

Doch er schaffte es. Er kam ihr unmerklich näher. Er blickte um sich. Hier war es nicht perfekt, aber gut genug für ihn.

 

Es fehlte nur wenig, bis er sie erreichen würde. Sie griff zu ihrer Handtasche und er hörte das

Klimpern eines Schlüsselbundes. Ehe er es verhindern konnte, betrat sie einen der Hauseingänge und öffnete eine der Türen. Verärgert musste er zusehen, wie sich diese gleich darauf hinter ihr schloss.

Das wütende grummeln, welches er nicht in der Lage war zu unterdrücken, hielt nicht lange an. Noch hatte er Zeit, noch war es nicht zu spät.

 

Den Trenchcoat behielt er an, als er seinen Weg enttäuscht fortsetzte. Überzeugt davon, dass seine Gelegenheit schon noch kommen würde, schob er die Enttäuschung beiseite. Er durfte sich seinen Gefühlen jetzt nicht hingeben. Wer seinen Gefühlen nachgibt, macht Fehler und er wollte, durfte keine Fehler machen.

 

Schon oft war er in Frankfurt gewesen, aber diesen Teil der Stadt kannte er nicht, kannte sich aber in Frankfurt allgemein nicht besonders gut aus. Wenn er früher einmal hier war, meistens, so wie heute, zu Tagungen, hatte er das Hotel nur selten verlassen. Wohin hätte er auch gehen sollen und mit wem?

Sorgen machte er sich nicht. Zum Hotel zurückzufinden war ein leichtes. Im Notfall würde er sicher ein Taxi erwischen, auch wenn ihm das unangenehm wäre, denn man könnte sich zu leicht an ihn

erinnern.

Aber das wollte er später klären, dann hatte er Zeit dazu, nicht jetzt, jetzt war er auf der Jagd!

 

Beinahe hätte er sie übersehen, dort drüben, auf der anderen Straßenseite. Der Schatten der Häuser

verschluckte sie fast. Unwillkürlich glitt seine Hand wieder zum Bund seiner Hose. Seine Finger überzeugten sich. Ja, sie war noch da.

Er wechselte die Straßenseite, nicht zu hastig, sie durfte nicht zu schnell aufmerksam auf ihn

werden.

Nun ging er hinter ihr, sorgte aber dafür, dass sich der Abstand zwischen ihnen nicht änderte. Zuerst einmal wollte er wissen, wohin sie ging, wollte seine Chancen abschätzen, wollte sich nicht wieder vergeblich die Mühe machen.

Ihr Alter konnte er schwer abschätzen, wie sie da so vor ihm her ging. Die Arme fest um den

Oberkörper geschlungen, leicht vornübergebeugt in Jeans und weißem Shirt. Ihr schien kalt zu sein, dachte er bei sich. Es war ihm egal, zeit seines Lebens hatten sie ihm nur kälte entgegengebracht.

 

Sie drehte sich nicht um nach ihm, hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Zielsicher griff seine rechte Hand zum Hosenbund, zog die Stricknadel hervor, die er dort, nur für diesen einen Zweck, verwahrt hatte.

Bei der ersten hatte er noch ein Messer benutzt, damals, als er beschloss sie zu bestrafen, für das, was sie ihm sein ganzes Leben über, immer wieder angetan hatten.

Das Töten kannte er bis dahin nur aus Filmen. Dort schien es so leicht, aber das war es nicht. Das Messer war ihm damals abgebrochen. Nie hätte er geahnt, welche Kräfte ein Mensch aufzubringen in der Lage war, wenn er verzweifelt um sein Leben kämpft. Selbst damals, diese kleine zierliche Frau. Fast wäre es ihr gelungen, ihm zu entkommen. Nur dank seines enormen Körpergewichts

gelang es ihm, sie auf den Boden zu zwingen. Sie mit seinem gesamten Gewicht unten zu halten. Nur mit Mühe konnte er ihr mit der einen Hand den Mund zuhalten und ihre Schreie dämpfen, als er immer und immer wieder mit der abgebrochenen Klinge auf sie einstach. Er erinnerte sich an den sich unter ihm windenden Körper, erinnerte sich an seinen Hass, der mit ihrer Gegenwehr noch

anwuchs. Er erinnerte sich an den Geruch ihres Blutes, das heiß und klebrig aus ihren Wunden strömte. Der Gedanke daran verursachte ihm auch heute noch Ekel.

Immer wieder hieb er auf sie ein, solange bis ihre Gegenwehr endlich nachließ, und in leichte

Zuckungen überging und sie dann endlich ruhig und tot vor ihm lag. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie ihn damals nicht erwischt hatten. Über und über mit Blut besudelt schaffte er es ungesehen nach Hause. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren, deshalb der Trenchcoat. Den konnte er schnell loswerden. Eigentlich war dieser in der Zwischenzeit unnötig geworden, denn er hatte

dazugelernt.

Nicht nur Bücher über Rechtswissenschaften waren irgendwann seine Begleiter geworden. Er las viel, kannte irgendwann den menschlichen Körper und seine Schwachstellen. Hatte begriffen, wie schwer es war, einem Menschen ein Messer ins Herz zu stoßen. Wie leicht die Klinge an den

Rippen abbrechen konnte, oder sich zwischen ihnen verklemmte. Damals war er auch auf die Idee mit der Stricknadel gekommen. Sie war so unauffällig, so perfekt, so tödlich!

Man musste nur lernen, mit ihr umzugehen, und er lernte es. Mit chirurgischer Präzision konnte er sie führen und platzieren. Auch darin war er der Beste geworden, davon war er überzeugt.

Aber er lernte auch, vorsichtiger zu sein. Seine Opfer niemals mehr in seiner eigenen Stadt zu

suchen. Zu leicht konnte man ihm sonst auf die Schliche kommen, zu leicht seine Spur aufnehmen.

Er tötete nur noch, wenn er unterwegs war, auf Konferenzen und Tagungen. So wie heute, so wie in dieser Nacht.

 

Noch immer hatte die Frau vor ihm ihn nicht bemerkt. Als er sie ansprach, wandte sie sich

erschrocken nach ihm um. Doch der Schrecken und der leichte Hauch von Angst verschwanden schnell aus ihrem Gesicht. Niemand hatte Angst vor einem dicken und schwerfälligen Mann. Das wusste er, das war sein Vorteil. Sie waren ja so unwissend, so dumm. Sie alle!

 

Er erkundigte sich, entschuldigend sie erschreckt zu haben, nach der Uhrzeit.

Immer fragte er sie nach der Uhrzeit.

Eine Frage, so klischeehaft, dass sie seiner Intelligenz eigentlich unwürdig war.

Aber es funktionierte, funktionierte immer.

Sie hob ihren linken Arm, beugte sich noch etwas vor, um die Uhr an ihrem Handgelenk bei der Dunkelheit besser ablesen zu können.

Sie war abgelenkt, genau darauf hatte er gewartet.

Schnell schoss sein linker Arm hervor, packte mit aller Kraft ihre Kehle und stieß sie an die

Gebäudemauer hinter ihr. Fast im selben Moment stieß auch sein anderer Arm hervor, in deren Hand er das tödliche Instrument umklammerte. Mit all der Präzision, die er sich in den vergangenen Jahren angeeignet hatte, rammte er ihr die Nadel in die Brust. Ein leiser, fast unhörbarer Schrei

entstieg ihrer Kehle. Viel mehr ein Seufzer als ein wirklicher Schrei. Ihr Fleisch gab bereitwillig nach und präzise glitt die Nadel zwischen ihren Rippen hindurch und durchbohrte schließlich ihr Herz.

Es ging ganz schnell, eigentlich zu schnell, fand er. Gern hätte er sie leiden lassen, so wie sie ihn sein ganzes Leben über hatten leiden lassen. Aber so, wie er es tat, war es eine saubere Sache. Es blutete nur wenig und sie waren kaum in der Lage, sich zur Wehr zu setzten.

Lieber so strafen, als auf Bestrafung ganz verzichten. Und bestrafen musste er sie!

 

Noch immer hielt er ihre Kehle umklammert. Auch sie hatte wohl kaum etwas gespürt. In ihren schreckerstarrten, weit geöffneten Augen war kein Schmerz zu erkennen, nicht einmal Angst. Nur Erstaunen konnte er in ihnen sehen. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal bewusst wahrgenommen, dass sie sterben musste.

 

Langsam löste er den Griff um ihren Hals. Vorsichtig ließ er den schlaff gewordenen Körper an der Hauswand heruntergleiten.

Nun saß sie vor ihm, ihre Hände lagen in ihrem Schoss, ihre Beine seltsam verschränkt.

Wie eine Puppe, kam ihm der Gedanke.

Dort wo sich die Nadel in ihre Brust gebohrt hatte, hatte sich nur ein kleiner, kreisrunder Blutfleck gebildet, der nur wenig größer wurde, als er die Stricknadel mit einem kräftigen Ruck aus ihrem Körper zog.

Er beugte sich herab zu ihr, noch einmal wollte er in ihre Augen blicken. Mit seiner rechten Hand fasste er unter ihr Kinn, hob ihren Kopf leicht in die Höhe, so das er in ihr Gesicht blicken konnte. Auf fünfunddreißig schätzte er sie. In den Winkeln ihres Mundes glaubte er, harte Züge entdecken zu können. Es war schwer für ihn, ihre Haarfarbe in dieser Dunkelheit eindeutig zu erkennen. Braun vielleicht. Ja eigentlich war er sicher, dass sie braun waren. Braun, mittellang und strähnig. Sie schien in ihrem Leben nicht viel auf sich geachtet zu haben.

Er brachte sein Gesicht ganz nahe an das ihre, nun konnte er ihr direkt in die Augen schauen, deren Glanz langsam erstarb. Noch immer lag dieses ungläubige Staunen in ihnen, noch immer der Schreck. Doch er blickte tiefer, viel tiefer und konnte es doch nicht entdecken. Kein Hohn, kein Spott, keine Ablehnung, kein angewidert sein, lag in ihrem Blick.

 

Langsam richtete er seinen schweren Körper auf. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Er war

zufrieden mit sich.

Zufrieden, für eine kleine Weile.

 

 

 

Irgendwo da draußen, wandelt er in dunkler Nacht.

Irgendwo da draußen, ganz leise mit bedacht.

Irgendwo da draußen, an einem fremden Ort.

Irgendwo da draußen, vielleicht in deiner Stadt?

 

Irgendwo da draußen, im Schatten unbemerkt.

irgendwo da draußen, sucht er sein nächstes Ziel.

Irgendwo da draußen, wird sie es vielleicht sein.

Irgendwo da draußen, bist du es, die er will?

 

Irgendwo da draußen, im dunkel, ungesehen.

Irgendwo da draußen, stirbt einsam eine Frau.

Irgendwo da draußen, sticht er ihr Herz entzwei.

Irgendwo da draußen, erstirbt ihr leiser Schrei.

Imprint

Text: Ralf von der Brelie
Images: Ralf von der Brelie
Editing: Ursula Kollasch
Publication Date: 07-26-2013

All Rights Reserved

Dedication:
Für all diejenigen, die noch an das gute im Menschen glauben.

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