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Spießrutenlauf

Spießrutenlauf

Ich saß auf dem Stuhl, der am nächsten bei der Tür stand und wartete auf das Ende der letzten Schulstunde. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass mir noch fünfunddreißig Minuten Ruhe vergönnt waren, bevor der Spießrutenlauf begann. Mein Blick schweifte zu Lisa, die vor drei Jahren noch meine beste Freundin war und direkt neben mir saß. Aber das war einmal. Mir kam es wie ein anderes Leben vor. Und irgendwie war es das ja auch.

Wieder einmal erinnerte ich mich daran, wie es so weit kommen konnte. Erinnerte mich an den Familienausflug zu Tante Marta in der nahe gelegenen Stadt. An die Aufregung, als ich mit meiner Cousine Ella und deren Freundin Xenia das Stadtleben genoss. An den Alkohol, den wir alle getrunken hatten. Und an den Kuss von Xenia. Wer diesen äußerst erotischen Kuss begonnen hat, konnte ich im Nachhinein nicht mehr sagen. Es war ein berauschendes Gefühl, diesem Verlangen endlich nachzugeben.

Als Ella im Beisein meiner Eltern allerdings rausrutschte, wer ein Mädchen so küsse, könne nur lesbisch sein, war alle Euphorie verflogen. Sie waren entsetzt von meinem Verhalten. Noch am selben Abend fuhren wir nach Hause, um dem schändlichen Einfluss der Stadt zu entgehen. Aber das war erst der Anfang. Jemand aus der Schule war auch dort und hatte mich gesehen. Innerhalb von zwei Tagen wusste der ganze Ort über mich Bescheid. Freunde und Bekannte wendeten sich über Nacht von mir ab. Eltern warnten ihre Kinder davor, sich von sowas fernzuhalten. Und kurze Zeit später brach auch Lisa den Kontakt zu mir ab. Sie wolle nicht auch für lesbisch gehalten werden, sagte sie bei unserem letzten Gespräch. Sie schäme sich für diese Schwäche, könne aber nicht aus ihrer Haut. Mir war, als hätte sie mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Denn bis dahin glaubte ich, sie wäre mein Halt. Seitdem lasse ich die übelsten Scherze und täglichen Demütigungen still über mich ergehen. Vor allem die anderen Mädchen konnten besonders fies sein. Ihnen gefiel es, mir alle erdenklichen Qualen zu...

Der Gong unterbrach meine düsteren Gedanken und beendete die letzte Stunde. Ich sprang vom Stuhl auf und verlies so schnell es ging das Schulgebäude. Mit gesenktem Kopf eilte ich zum Tor und sah dadurch nicht, dass dort schon einige Mädchen auf mich warteten.

„Ey, Lesbe!“ Manchmal ließen sie mich in Ruhe, wenn ich sie einfach ignorierte.

„Ey, du perverses Arschgesicht, ich rede mit dir!“

Heute hatte ich wohl kein Glück. Ihre Beschimpfungen ließen mich einen kurzen Blick riskieren.

„War ja klar, dass du dich angesprochen fühlst!“

Na toll. Es war die schrecklichste Mädchenclique der Schule. Sie hielten immer die unangenehmsten Scherze für mich bereit. Und sie stellten sich mir gerade in den Weg. Jemand schubste mich von hinten, sodass ich schmerzhaft auf die Knie fiel. Als ich versuchte aufzustehen, sah ich Lisa unter denen, die dem allseits beliebten Spektakel zuschauten. Sie wandte mit hochroten Wangen das Gesicht ab und wollte unauffällig verschwinden. Doch einem Mädchen aus der Clique ist das aufgefallen.

„Warst du nicht mal ihre Freundin, hä?“, fragte sie Lisa böse grinsend. „Habt ihr euch auch so richtig lieb gehabt, ihr beiden?“ Eine andere spottete: „Hast du vielleicht mal bei ihr übernachtet? Oder sie bei dir?“

„Habt ihr dann in einem Bett geschlafen, ihr zwei Süßen?“

Dass Lisa bei diesen Gemeinheiten wieder rot wurde, brachte die Clique erst richtig zum Lachen. Um sich gegenseitig zu übertrumpfen, wurden ihre Beleidigungen immer widerlicher und verletzender.

„Hat sie dich getröstet, wenn es dir mies ging, ja?“ „Und dich ganz fest in den Arm genommen?“ „Hat dir das gefallen; nur ein kleines bisschen?“

„Sag mal, bist du dir wirklich sicher, dass du nicht auch 'ne Lesbe bist?“

Ich konnte genau erkennen, dass diese letzte boshafte Äußerung für Lisa zu viel war. Aschfahl kam sie auf mich zu. Baute sich vor mir auf. Bog mit dumpfem Gesichtsausdruck den Kopf zurück. Spuckte mir mitten ins Gesicht.

Geschockt von dieser neuen und schlimmsten Demütigung stand ich wie erstarrt da. Grölend nahmen sie Lisa in ihren Kreis auf und zogen sie mit sich weiter, auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Bei mir hatten sie ihr Ziel für Heute erreicht. Von all dem bekam ich nichts mit. Auch die Tränen, die mir die brennenden Wangen hinunterliefen, bemerkte ich nicht. Niemand scherte sich auch nur einen Dreck um mich. Ich sah sie bloß an. Alle liefen vorbei.

Nach einer Weile ging ich nach Hause. Ich lief die Straße mit gesenktem Kopf entlang. Mein Haar hing lang herunter, verbarg mein Gesicht. Zu Hause angekommen schlich ich mich in die Küche. Meine Mutter kümmerte sich um das Mittagessen. Als sie mich sah, fragte sie nicht, wie es mir ginge. Wir sprachen nicht mehr so viel miteinander seit damals. Ich erzählte etwas von Kopfschmerzen, nahm mir eine Tablette und ging in mein Zimmer. Dort angekommen stellte ich mich vor das Bücherregal und holte eine unscheinbare kleine Schachtel aus dem obersten Fach. Ich öffnete sie und legte die Tablette zu den anderen, die schon darin waren. Lange stand ich einfach nur da und schaute auf die Tabletten in meiner Hand.

Imprint

Text: Vera Schröder
Publication Date: 01-27-2020

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Dedication:
Jeder will individuell sein, aber wehe, jemand ist anders. Stopp Mobbing Guckt nicht weg

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