Klischees. Wie ich sie hasse!
Muskulöser, großer Kerl, super in Sport und super schlecht in all den übrigen Fächern – sprich, nichts in der Birne und trotzdem ziemlich beliebt.
Und dann kommt natürlich der schmächtige, nicht sehr große Kerl, nicht sehr gut in allem, was nur annähernd mit Sport zu tun hat, und Jahrgangsbester. Man kann sich wohl denken – nicht ganz so beliebt.
Ich glaube, an dieser Stelle muss ich nicht erwähnen, dass ich der zweite von beiden bin, wie könnte es auch anders sein?
Es macht mich manchmal echt traurig – ich schufte wie ein Tier, um wenigstens in einer Sache richtig gut zu sein, aber dafür respektiert werde ich nicht, im Gegensatz zu diesen hirnlosen Gorillas – die werden von allen verehrt.
Ungerecht. Nicht nur, dass der gelobte Herr im Himmel mich mit meinem Aussehen bestraft hat, nein, er ist auch noch zu geizig gewesen, mir wenigstens ein unschlagbares Gehirn zu verpassen, wie zum Beispiel Einstein – damit mir das Lernen leicht fällt. Denn obwohl ich, wie bereits erwähnt, der Beste in meinem Jahrgang bin, muss ich mich jeden Tag aufs Neue anstrengen und mit der Nase in Schulbüchern einschlafen.
Absolut ätzend und nicht fair! Gäbe es eine Protestgruppe dagegen, würde ich der auf der Stelle beitreten.
Manche sagen, dass ich gar nicht so schlecht aussehe, sondern sogar ganz süß, aber wenn man ganz ehrlich ist – behinderte Hundewelpen können auch süß sein.
Die wollen alle nur schleimen, damit ich ihre Schulaufgaben schneller erledige oder ähnliches Zeug. Zum Ausnutzen bin ich ja bestens geeignet.
Keiner steht auf rothaarige, extrem blasse Kerle mit der dreckigen Augenfarbe grün-braun und noch dazu fetter Brille, die aussieht, als stammt sie von einem meiner Verwandten aus dem letzten Jahrhundert. Das könnte sogar wirklich stimmen. Dieser Schrott von einer Brille wird schon seit Generationen in unserer Familie weitergereicht, wie ein wertvolles Erbstück, zusammen eingehend mit der Sehschwäche. Das Schlimmste habe ich aber noch gar nicht erzählt – meinen Spitznamen habe ich seit der Grundschule: Bunny. Drei Mal darf man raten, warum der mir gegeben wurde.
Ich hatte übergroße Schneidezähne, die zu allem Übel auseinander standen, als hätte ich einen Bleistift zwischen sie geschoben während sie wuchsen. In der Grundschulzeit wurde ich häufig damit fertig gemacht und es war der Horror für einen kleinen, hilflosen Roman, der sich nicht verteidigen konnte – es bis heute nicht kann.
Seit vier Jahren trage ich jetzt eine hässliche Zahnspange und habe mir die Zähne auch abschleifen lassen, um den Spitznamen loszuwerden, doch es hat sich nicht bewährt.
Aber in zwei Wochen ist es endlich soweit – mein großer Tag kommt. Ich werde das metallene Ding los und freue mich schon seit mindestens drei Jahren drauf! Ein Makel weniger und ich will nicht daran denken, dass ich noch reichlich davon auf dem Lager habe.
»Na, Bunny, wie geht’s uns denn heute so? Hast du meinen Aufsatz fertig?«, ruft der große Kerl, den ich vorher bereits treffend beschrieben habe und läuft gemächlich auf mich zu. Seufzend hole ich den besagten Aufsatz aus meinem Schließfach und schaue ihm mit hängenden Schultern entgegen.
Wie ich den Spitznamen verabscheue! Vor allem wenn er mich so nennt – bei ihm klingt es beleidigender als bei jedem anderen. Ich weiß auch nicht wieso – vielleicht weil er auch derjenige ist, der ihn am meisten benutzt und es auf diese besonders gemeine Art ausspricht.
Dieser aufgeblasene, arrogante Schnösel, glaubt nämlich, dass er sich, nur weil er reich, sportlich und gut aussehend ist, alles erlauben kann. Was ich zu meiner endlosen Verärgerung nicht mal bestreiten kann.
Aber was könnte ich, Schwächling, schon gegen ihn machen? Gar nichts! Der würde mich zerquetschen wie eine Fliege. So ist das Gesetz der Klischees und ich bin keiner, der gegen Gesetzte verstößt.
Okay, vielleicht übertreibe ich es auch ein bisschen, denn so ein Hüne ist Milo ja nicht und ich auch nicht so klein – eher normal groß. Doch wenn man mich mit den anderen Jungs aus meiner Klasse vergleicht, wirke ich geradezu schmächtig. Ich sehe aus, als hätte ich mindestens vier Klassen überholt und wäre nun zwischen ausgewachsenen Jugendlichen gelandet.
»Hier«, erwidere ich wortkarg und reiche ihm die säuberlich geordneten Blätter, an denen ich die letzten Tage bis in die Nacht gearbeitet habe. Aber wer beklagt sich? Ich jedenfalls nicht.
Grinsend nimmt er es entgegen und drückt mir einen Fünfziger in die ausgestreckte Handfläche.
»Ganz schön gierig, was?«
Ich murmele etwas Unverständliches und hoffe inständig, dass er abhaut.
Kein „Danke“ bekomme ich zu hören, aber erwartet habe ich es ja sowieso nicht.
Ich komme mir immer wieder total armselig vor, wenn ich für Geld Aufsätze schreibe oder sonst welche schriftlichen Arbeiten, doch in diesem Kaff habe ich keine andere Möglichkeit Geld zu verdienen. Und um in einer der Städte zu arbeiten, braucht man ein Fahrzeug, welches ich nicht besitze, weil ich nun Mal nicht aus einer reichen Familie stamme, wie so gut wie alle Schüler der Persiasschule. Ständig mit dem Bus oder dem Taxi zu pendeln ist ebenfalls keine Möglichkeit für mich, das kostet auf Dauer einfach zu viel und würde so im Endeffekt nicht viel bringen.
»Wieso so brummig heute, Bunny?«
Kann er nicht zur Abwechslung kommentarlos verschwinden?
»Wenn du mich nicht so nennen würdest, wäre ich dir sehr dankbar«, versuche ich es diplomatisch und schlage mir daraufhin die Hand vor den Mund.
Wieso habe ich das gesagt? Er wird mich töten!
Stattdessen lächelt er nur leicht und hebt arrogant die Augenbrauen. Er kann das wirklich gut.
»Okidoki, dann mache ich das nicht mehr, du musst mir aber vorher deinen Namen verraten. Du weißt schon, ich kenne dich ja bloß als Bunny«
Sprachlos starre ich ihn an. Das kann er unmöglich ernst meinen, oder?
»Ich meine es ernst. Sag mir deinen Namen und ich werde dich ab jetzt so nennen, großes Ehrenwort«, sagt er und hebt feierlich die Hand, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Blinzelnd richte ich meine Brille und glotze ihn mit einem offenem Mund an. Milo, der Mädchenschwarm schlechthin, von dem ich gedacht habe, er hätte nur heiße Luft im Kopf, kann sich wie ein Mensch unterhalten. Ohne Sarkasmus, ohne Drohungen oder Beleidigungen. Wer hätte das gedacht?
»Mein Name–«, beginne ich zögernd, obwohl wir eigentlich schon seit der Fünften in ein und derselben Klasse sind und er meinen Namen mindestens hundert Mal am Tag hört, wenn ich aufgerufen werde.
Doch er unterbricht mich, indem er mich grob gegen die Schulter stößt und ich an den Schließfächern lande.
»Halt deinen Mund! Ich kenne dich schon seit der fünften Klasse, ich bin nicht zu blöd dafür, mir deinen verdammten Vornamen zu merken. Für wie hirnlos hältst du mich? Ich nenne dich Bunny, weil ich es so will und weil es zu dir passt. Verstanden?«
War ja klar, was sonst? Ich bin so naiv, ich könnte mir selbst eine klatschen. Trotzdem bin ich noch etwas überrascht – ich habe ihn immer für dumm wie Brot gehalten, aber so wirkt er auf mich im Moment keinesfalls. Rüpelhaft und grob, ja, jedoch nicht zurückgeblieben. So redhaft kenne ich ihn nicht. Normalerweise übergebe ich ihm einen Aufsatz, er bezahlt mich und wirft mir dabei irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf, um danach gleich zu verschwinden. Das war es auch, wir reden sonst nicht miteinander.
»Ich möchte aber Roman genannt werden«, presse ich trotzig hervor und streiche meine Kleidung glatt.
»Interessiert mich nicht die Bohne, wie du willst, dass man dich nennt!«, ruft Milo und schüttelt ungläubig den Kopf.
Ich kapiere es selbst gerade nicht, warum ich auf einmal so aufmüpfig bin. In der Schule kann er mich zwar nicht schlagen wegen der ganzen Schlichter, die hier angestellt wurden, um aufzupassen, aber außerhalb...da kann viel passieren – ich sollte etwas vorsichtiger mit meiner Wortwahl sein. Wieso war ich heute in der letzten Unterrichtstunde so dämlich und habe zugestimmt, als er sich nach dem Unterricht mit mir treffen wollte? Ich müsste doch eigentlich schlauer sein, nach den vielen Malen davor und mich mit ihm da verabreden, wo es wenigstens Zeugen gibt.
Plötzlich erhasche ich aus dem Augenwinkel einen jungen Mann im Flur, sein Gesicht kann ich nicht erkennen, aber er guckt hier rüber, also habe ich hoffentlich eine Chance unbeschadet davonzukommen. Ich danke Gott dafür.
Naja, aber wenn man es genau nimmt, habe ich es diesem Neuen, Casper heißt er, zu verdanken, dass Milo mich nicht verprügeln kann – wegen Casper wurden nämlich erst die ganzen Schlichter eingestellt, nachdem er eine Massenkeilerei verursacht hat. Dieser Neue ist total gruselig, er sieht aus wie ein Serienkiller in Ausbildung, mit den immer schwarzen Klamotten und den irgendwie gefährlichen Augen. Ich bin wahrscheinlich nicht der Einzige, der so denkt – fast jeder schreckt vor ihm zurück, die verschiedensten Gerüchte gibt es über ihn zu hören. Eins davon ist, dass er seine Eltern umgebracht hat, aber ob da etwas Wahres dran ist, bezweifle ich stark. Trotzdem komme ich ihm am liebsten nicht in die Quere.
Und dass Xander Rayn ihn offenbar ganz gut leiden kann, sie sind schließlich immer zusammen, verstehe ich nicht so ganz. Xander ist angenehmer als die meisten Schüler hier, er ist nicht so besessen davon, perfekt gestylt zu sein oder die teuersten Sachen zu besitzen. Wenn ich nicht wüsste, dass er reiche Eltern hat, hätte ich es nie geglaubt – er sieht zu normal und bodenständig aus. Ehrlich gesagt würde ich gern mit ihm befreundet sein, wenn nicht noch mehr, doch ich befürchte, er will nichts mit einem Nerd wie mir zu tun haben – ist auch verständlich.
Milo schlägt urplötzlich mit der Hand gegen eine Schließfachtür, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken und ich zucke vor Schreck zusammen.
»Wenn ich dich was frage, dann antworte mir gefälligst! Oder willst du, dass ich überall herum erzähle, dass du miese Aufsätze schreibst? Keine Kohle mehr für den kleinen Bunny«, droht er und seine eisblauen Augen huschen kurz zu dem Schlichter rüber, den er mittlerweile also auch bemerkt hat.
Ich blicke ebenfalls dahin, nun genauer, und erkenne den Mann diesmal. Erleichterung kommt in mir auf. Es ist Pascal, der eigentlich nur eine Aushilfe ist – mit ihm habe ich mich schon öfters in den Mittagspausen unterhalten, in denen ich sonst immer allein esse. Er ist sehr freundlich zu mir gewesen und ich hoffe sehr, er bleibt länger hier, denn er ist verdammt heiß. Ist mir egal, dass er nicht auf mich steht, ich werde mich solange seiner Gesellschaft erfreuen, bis er genug von mir hat.
»Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?«, knurrt Milo und stößt mich nochmal gegen die Schulter und ein Schmerz durchzuckt meine Wirbelsäule, als die Kante eines Schließfachtürchens sich in mein Rücken bohrt, was mich endgültig aus meinen erneut abschweifenden Gedanken reißt.
»Sorry, ich war doch nur kurz abgelenkt! Ich hab dich schon verstanden, du musst ja nicht gleich so an die Decke gehen, Großer«, murmele ich – mutig durch Pascals Präsenz – und reibe mir mit verzerrtem Gesicht den schmerzenden Rücken. Wieso muss ich so zerbrechlich sein– Oh, Mist. Habe ich ihn etwa Großer genannt? Das hat Milo wohl auch gehört, denn er schnauft und holt wütend aus, ich kneife die Augen zusammen und bereite mich auf den Schmerz vor. Ich warte auf einen Fausthieb, der mich von den Füßen reißt, oder einen Hacken, der mich gleich in Ohnmacht bringt. Doch als nach mehreren Sekunden nichts dergleichen kommt, traue ich mich aufzuschauen und blinzele erstmal zweifelnd. Milo wird von Pascal festgehalten und ein Stück zurück gezogen, er hat sichtlich Mühe ihn zu bändigen, sie ringen geradezu miteinander.
»Loslassen!«
»Ruhig! Du willst doch nicht, dass ich dich zum Pross schleppe?«, meint der Braunhaarige Mann, mit einem außergewöhnlichem Akzent, lässt den sich sofort beruhigenden Milo langsam los und klopft ihm auf die Schulter. Dieser schlägt zornig dessen Arm beiseite und schubst ihn dazu kräftig von sich.
Ist er jetzt völlig durchgeknallt? Auf einen Schlichter loszugehen bedeutet viel Ärger – auch wenn man reich ist.
»Packe mich mich nicht an!«
Seelenruhig holt der Ältere einen kleinen Notizblock aus seiner Hosentasche, kritzelt irgendwas da rein, oder tut nur so, und steckt es wieder zurück.
»Nach Schulschluss hast du einen Termin beim Direx, Großer, darauf kannst du wetten«, eröffnet er gelassen.
Der Angesprochene dagegen schaut nur mich an, macht einen blitzschnellen Schritt auf mich zu und bleibt dann dicht vor mir stehen. Als Pascal sich auch in Bewegung setzen will, zischt er: »Ich will ihm nichts tun!«
Ich bin kurz davor Pascal anzuflehen, ihm das nicht zu glauben, denn Milos Ausdruck sagt was völlig anderes, doch da beschlägt sein warmer Atem meine Brille, als er mir zuraunt:
»Du denkt, du bist der schlauste hier, was? Denkst, ich bin strohdumm und du wärst was Besseres, nur weil du einen besseren Notendurchschnitt hast als ich. Aber ich kann dir sagen, was du bist, Bunny: Ein hässlicher Streber, ohne Freunde. Wir werden uns noch sprechen und deinen Kunden kannst du Tschüss sagen«
Meine Augen weiten sich. »Das ist mein einziger Verdienst! Das kannst du doch nicht machen?!«
Milo grinst böse und stülpt sich die Kapuze über seine kurzen, aufgestachelten Haare. »Du wirst sehen, ich kann alles machen was ich will«
»Jetzt verschwinde schon!«, ruft Pascal mit verschränkten Armen und Milo zeigt ihm seinen Mittelfinger, bevor er sich lässig umdreht und aus der Schule und in den Nieselregen hinaustritt, während ich ihm hinterherstarre und mich zwischen Wut und Überraschung nicht entscheiden kann.
Das heißt, ich bin nicht nur ihn, meinen Stammkunden, los, sondern auch all die anderen Leute, mit deren Dämmlichkeit ich Geld verdiene. Super gemacht Roman. Und noch dazu habe ich die schockierende Entdeckung gemacht, dass Milo eine eigene Meinung über mich hat und denkt, ich würde ihn für dumm halten. Das ist zwar wahr, doch dass auch er das kapiert, ist was Unerwartetes, geradezu Erschreckendes.
»Wieso ist er so sauer auf dich, hast du ihn abgewiesen oder etwas in der Art?«, fragt unerwartet eine weiche Stimme neben mir und ich wende mich um. Pascal lächelt und das behindert meine Wortbildung.
»I-Ich weiß nicht...abgewiesen? Wie meinst du...oh!« Ich laufe leicht rot an und schüttele heftig mit dem Kopf. »Nein! Milo ist total hetero, sieht man doch schon von hundert Metern Entfernung. Und wenn er schwul wäre, der würde doch nichts von mir wollen. Er hat nur ein zu schnell aufbrausendes Temperament«
»Ach so ist das. Na gut, wenn du es sagt, dann glaube ich dir«
Pascals tritt näher zu mir, drückt meinen Arm und gleitet daran hinab bis zu meiner Hand. Er legt seinen Kopf schief, um in mein nach unten gewandtes Gesicht sehen zu können. Es ist mir ein bisschen peinlich, dass er mitgekriegt hat, wie ich herumgeschubst werde, ohne mich dagegen zu wehren und die Tatsache, dass wir Händchen halten, hilft mir nicht zur Entspannung. Wahrscheinlich hält er mich für ein Weichei und ihn treiben hier Mitgefühle an, deswegen ist er so nett zu mir.
»Hat er dir weh getan? Tut mir Leid, dass ich so lange gebraucht habe, doch ich will nicht wie die anderen Schlichter bei jeder kleinen Meinungsverschiedenheit nerven. Sie machen sich damit ganz schön unbeliebt«
Ich verneine leise und wage es unter meinen Wimpern hoch zu blicken. »Er hat mich nicht verletzt«, sage ich atemlos und ermahne mich, normal Luft zu holen.
»Das ist gut, ich möchte nicht, dass du verletzt bist und wenn er das nochmal versucht, werde ich dich beschützen«
Mehrere Zentimeter größer als ich ist er und deswegen muss ich immer meinen Kopf anheben, wenn ich ihn ansehen will. Und sobald ich das tue, zucken jedes Mal meine Finger so wie jetzt, weil ich sie unbeschreiblich gern in den braunen Ringellocken vergraben möchte. Ein scheues Lächeln kommt auf meinen Mund, weil ich nicht richtig glauben kann, dass er sich Sorgen um mich macht und mich beschützen will. Niemand macht sich je Sorgen um mich oder will mich beschützen, auch nicht meine Eltern – besonders nicht meine Eltern.
Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihn anlächele, zieht Pascal mich an seinen warmen Körper und legt behutsam seine Hand auf meine Wange. Gut, dass sich um die Uhrzeit keiner hier in die Gänge verirrt.
Ich kann seine Muskeln durch die ganzen Klamotten spüren und von Nahem sieht er noch besser aus, als ich es mir vorgestellt habe. Aber was will er von mir? Ausgerechnet mir. Ich liege definitiv unter seiner Preisklasse. Oder ist das hier bloß, weil ich ein kleiner, unschuldiger Schüler bin, gegenüber dem er Beschützerinstinkte entwickelt hat? Wir haben uns oft unterhalten, doch so nah wie gerade waren wir uns bisher nie gewesen und diese Nähe macht mich nervöser denn je.
Pascal kümmert es nicht, er streift durch meine Haare, hält mich dann ein bisschen auf Abstand und mustert mich mit Hunger und oh – das geht doch sicher über den Beschützerinstinkt hinaus.
Wenn er auf sowas wie mich steht, kann ich mich schlecht beschweren, oder? In meinen Tagträumen der letzten Wochen haben wir viele, nicht jugendfreie Sachen angestellt, doch ich hätte nie im Leben gedacht, dass sie vielleicht zum Teil wahr werden könnten.
»Ich hoffe sehr, du stehst auf Kerle, wenn nicht, wird es für uns beide ziemlich prekär«
Dieses letzte Wort ist wie Musik in meinen Ohren, höre ich doch hier von Menschen in meinem Alter häufig sowas wie „voll nicht cool“, „behindert“, „krass“ oder gar „abgefuckt“ und so weiter.
Grinsend, und nun mutiger, presse ich mich an ihn. »Nein, ich glaub nicht, dass ich auf Kerle stehe«, erwidere ich mit krächzender Stimme, gebe mir innerlich eine kräftige Kopfnuss dafür.
»Oh, dann möchte ich mich schon mal für das hier entschuldigen«, flüstert er und seine zarten Lippen berühren meine sanft. Muss ich noch extra erwähnen, dass ich schwul bin? Und es, natürlich, keiner Menschenseele erzählt habe? Also ist das hier ganz schön kopflos von mir.
Meine Augenlider flattern zu und ich erwidere den Kuss sofort etwas unbeholfen, er schmeckt leckerer, als in meinen Vorstellungen, doch seine drängende Zunge, die unablässig einen Weg durch meine Lippen sucht, lasse ich nicht hinein – ich finde die Vorstellung einfach zu eklig, eine spuckefeuchte, fremde Zunge in meiner Mundhöhle tasten zu spüren. Zungenküsse liegen mir nicht und Pascal bemerkt auch bald, dass etwas nicht stimmt, er schiebt mich erneut von sich und sieht mich besorgter an.
»Was ist? Geht das zu schnell für dich?«
Toll, ich habe alles versaut, der Augenblick ist hin. So ein heißer Kerl küsst mich freiwillig und ich kann nicht mal seine Erwartungen berücksichtigen. Aber mich dazu zwingen, werde ich ganz bestimmt nicht, egal wie verführerisch er sich gerade über die Lippen leckt, mein Ekel ist Größer. Wie soll ich ihm das nun erklären?
»Nein, ich...ich..«, stottere ich und weiß nicht wohin mit den Augen, dazu werde ich rot und möchte mir nicht gern vorstellen, wie abschreckend ich momentan aussehe.
Mein Gesicht, welches sich hundertprozentig kaum von den Haaren unterscheiden lässt, die Zahnspange, die riesige Brille, die meine Augen um ein Vielfaches vergrößert – mehr muss ich wahrlich nicht sagen.
Es ist nicht mein erster Kuss, genauer gesagt hatte ich bereits einen Freund, die kurzweilige Beziehung endete aber mit einer mächtigen Gehirnerschütterung und nicht wenigen Prellungen. Ein weiterer Beweis dafür, dass ich ein Schwächling und Pechvogel bin. Doch das ist eine andere Geschichte und ich habe jetzt keine große Lust darüber nachzudenken.
»Roman?«
Verwirrt gucke ich zu ihm hoch, schiebe meine Brille nach oben, sie ist etwas runter gerutscht beim Küssen. Ich hasse mich manchmal dafür, dass meine Gedanken ständig abschweifen, dass bringt mir nicht wenige unangenehme Situationen ein.
»Weißt du, ich muss nach Hause, meine Eltern warten immer mit dem Essen auf mich und ich habe doch mal erwähnt, dass sie sehr streng sind«, rede ich mich aus und zeige ihm mein Gesicht nicht, das von der Lüge brennt. Ich kann ihm ja schlecht über mein Zungenkuss-Problem erzählen. Für was würde er mich halten? Auf seine ungläubigen oder entfremdeten Blicke kann ich gut verzichten.
»Hey, warte, nicht so schnell. Roman!«, ruft Pascal mir noch hinterher, aber ich habe mir bereits meine auf dem Boden liegende Tasche geschnappt und bewege mich hastig aus dem Gebäude, auf dem Weg zur Bushaltestelle. Dabei werde ich bis auf die Knochen nass, der schwache Nieselregen ist zu einem wütend peitschendem Wasserfall geworden. Ich verfluche meine Eltern, die nicht mal daran denken, mir je zu helfen, ein eigenes Auto zu kaufen. Schließlich werde ich in zwei Wochen volljährig und ich habe noch kein einziges Mal ein Geschenk von ihnen bekomme, also würde ein kleines, billiges Auto das auswiegen.
Am ganzen Körper schlotternd, warte ich auf den Bus, lasse meine Arme aus den dünnen Kapuzenpulliärmeln gleiten und schlinge sie im Inneren um meine bebende Brust. Es ist noch kein Winter, wieso fühlt es sich danach an?
Der Direktor hielt es wohl nicht für nötig eine überdeckte Bushaltestelle zu bauen! Dieser Geizhals – wofür verbraucht er die ganzen Spenden der Eltern?
Wenn ich noch weiter hier herumstehe, fange ich mir eine fiese Grippe ein – bei mir geht sowas recht schnell – doch ins Gebäude kann ich auch nicht mehr rennen, denn dann erwische ich den Bus nicht rechtzeitig.
Plötzlich ertönt ein lautes Hupen und meine Schultasche fällt mit einem nassen „Platsch“ auf den Asphalt, in eine braune Regenpfütze.
Oh, nein! Schleunigst knie ich mich hin und brauche noch eine Zeit lang, um meine Arme aus dem Pullover zu kriegen. Dann versuche ich die bereits feuchten Bücher und die ganzen verstreuten Stifte aufzusammeln – das hab ich nun davon, dass ich immer vergesse meine Tasche zu zuschließen!
Ich bin so damit beschäftigt meine Sachen zurückzustopfen, dass ich zuerst gar nicht bemerke, wie jemand mir dabei Hilfe leistet, bis unsere Hände sich kurz streifen.
Erstaunt lächelnd blicke ich auf und erwarte Pascals Gesicht vor mir zu sehen, doch es kommt ganz anders. Mir entgleiten alle Züge, als mich direkt Milos genervt blitzendes Augenpaar trifft.
Warum zum Teufel hilft er mir?
Ich senke meinen Gesicht erneut und fahre mit meinem Tun fort, meinen Helfer kann ich durch die nassen Brillengläser sowieso nicht mehr ausmachen.
Unordentlich und ungeduldig stopft er mein Zeug hinein, sodass es eigentlich noch schlimmer wird, aber ich sage nichts dazu – ich bin ja nicht lebensmüde.
»Na, seid ihr endlich soweit? Ich möchte nicht den ganzen Tag auf diesem unbequemen Sitz verbringen und euch zusehen«, ruft uns eine männliche Stimme aus dem schwarzen Wagen her und eine Autotür geht auf. Ich schließe meine Tasche, stehe unschlüssig da.
Meinte er damit, ich darf mitfahren, oder verstehe ich es falsch?
Mit einem gereizten Schnauben packt Milo unsanft meinen Oberarm und schleudert mich förmlich in die einladende Wärme hinein, wo mir ein alter Mann mit freundlichem Grinsen gegenüber sitzt.
Als Milo sich neben mich hingefletzt und die Tür zugemacht hat, setzt ein weiterer Mann, auf dem Fahrersitz, stumm das Auto in Bewegung und fährt aus der Schuleinfahrt auf die Hauptstraße, ich kann gerade noch den Bus ausmachen, der in die entgegengesetzte Richtung einbiegt.
Ich versuche mich aus meiner verrenkten Körperhaltung zu befreien, doch bohre Milo dabei aus Versehen meinen spitzen Ellenbogen in die Rippen.
»Verdammt, Bunny, ich schwöre, wenn du dich gleich nicht normal–«, fängt er an mich anzuschreien, wird aber durch den Alten unterbrochen, der immer noch freundlich lächelnd da hockt und seine Hände im Schoß gefaltet hat.
»Na, na, so spricht man nicht, Miloslav, lerne dich zu beherrschen – er wollte dich sicher nicht extra treffen, nicht wahr? Wie heißt du, junger Mann? Ich bin übrigens Pawel Titow«
Habe ich gerade richtig gehört? Miloslav?
Erwartungsvoll blickt der Alte mich aus seinen Augen an, die die Gleichen wie bei Milo sind, nur viel weicher.
Perplex nenne ich meinen vollständigen Namen und muss mich sehr beherrschen, um nicht laut loszuprusten. Milo hat tatsächlich aufgehört mich anzubrüllen und begnügt sich stattdessen mit hasserfüllten Blicken, die ich aber gekonnt ignoriere. Vielleicht sollte ich ihn ab heute Miloslav nennen, er mag den Namen ja anscheinend nicht, denn ich dachte immer, er heißt einfach Milo.
Der alte Mann, ich nehme stark an, es ist sein Großvater – wenn sie den gleichen Nachnamen haben – plappert weiter und wird mir zunehmend sympathischer. Ich mag Menschen, die unbeschwert sein können, wahrscheinlich weil ich selber nie so sein kann.
»Ich habe meinen Enkel hier abgeholt und da sehe ich dich dort im Regen knien, da habe ich zu ihm gesagt: Na, komm, Miloslav, hilf dem armen Jungen, sonst holt er sich noch eine böse Grippe, nicht wahr? Und dieser sture Bock hat sich zuerst auch noch geweigert, aber ich habe ihn überredet, ich schaffe es immer ihn umzustimmen, oder Miloslav?«
»Deda! Hör auf mich so zu nennen, du weißt, dass ich das nicht mag«, meckert er und starrt hartnäckig aus dem Fenster.
Der Mann am Steuer meldet sich plötzlich zu Wort:
»Junger Mann, sie müssen mir noch ihre Adresse nennen«
Ich kapiere erst gar nicht, dass er mich angesprochen hat, doch nach einem Hieb von Milo, der unsichtbar für seinen Großvater ist, diktiere ich stotternd meine Adresse.
»Na, wenn du Roman Tirell bist, dann kenne ich deinen Vater, wie geht es ihm? Ich habe gehört, er hat seine Arbeit verloren wegen der misslichen wirtschaftlichen Lage zurzeit. Du musst wissen, dass ich deinen Vater schon kenne, seit er ein aufmüpfiger Schmarotzer war. Ich habe an seiner Gesamtschule Geschichte unterrichtet. Der Kleine hat sich häufig Ärger bei mir eingeheimst, weil er abgeschrieben hat. Ach ja, wenn ich daran denke, wie lange das her ist; nun bin ich ein alter Mann und dein Vater hat so einen prächtigen Kerl als Sohn. Nach dieser Zeit habe ich ihn aber leider nicht mehr gesehen und nur kürzlich mal wieder etwas über ihn gehört. Du weißt ja sicher, wie viel die Leute hier tratschen« Er lacht und ich zucke zusammen, als mein Vater erwähnt wird – ja, allerdings, er hat seine Arbeit wirklich verloren, doch nicht wegen der wirtschaftlichen Lage, sondern weil er seinen Chef körperlich angegriffen hat und dabei sturzbetrunken war. Seitdem sitzt er zu Hause und lässt seine Wut an mir und meiner Mutter aus.
»Ja. Ihm geht es prima«, antworte ich und muss kräftig schlucken, Milo reißt sich auf einmal von seinem Fenster los und mustert mich. Hat er etwas herausgehört? Natürlich nicht, du Trottel, schalte ich mich selbst, was kann man da heraushören?
Ich unterhalte mich noch einige Minuten über die aktuelle Geschichtsklausur in der Schule, während Milo wieder nach draußen starrt und sich keineswegs am Gespräch beteiligt. Die Zeit verfliegt wie im Flug. Und auf einmal bemerke ich, dass wir bereits in meine Straße eingebogen sind. Das holt mich auf den Boden der Tatsacheb zurück.
»Wir sind angekommen«, ertönt erneut die Stimme des Fahrers und ich verabschiede mich überstürzt
»Wir sehen uns morgen, Bunny«, ruft Milo mir höhnend hinterher und darauf folgt eine Ermahnung seines Opas, die ich nur kurz mitanhöre, während ich die Einfahrt entlang zu meinem bescheidenem Heim renne. Es regnet immer noch in Strömen, meine nasse Kleidung wird noch nässer bis ich an der Haustür ankomme und nach dem Schlüssel in meiner Tasche krame.
Die Tür wird jäh aufgerissen und ich werde hineingezerrt und an die nächste Wand geschleudert. Mein stinkwütender Erzeuger steht in ordentlich gebügeltem Hemd vor mir, was so gar nicht zu seiner wütenden Fratze passt. Ich weiß, dass ich jetzt Ärger kriegen werde – ich habe sie, oder eher gesagt ihn, warten lassen.
»Was fällt dir ein, so spät zu erscheinen? Wir woll'n endlich essen, du undankbarer Bengel! Du respektierst unsere Hausregeln wohl überhaupt nicht! Ich bringe dir schon bei was Respekt ist, so wie mein Vater es mir auch beigebracht hat!«
Klatschend trifft mich seine schwere Hand im Gesicht und ich falle seitlich um, halte mit zusammengebissenen Zähnen die brennende Wange und spüre, wie mir sogleich etwas warmes und ekliges ins Auge tropft, sodass ich blinzeln muss und mein linkes Auge rot sieht. Meine Augebraue ist wahrscheinlich wegen einem seiner Ringe aufgeplatzt. Es pocht wie verrückt.
»Zieh dich ordentlich an und wasch dein Gesicht. Erst dann kommst du nach unten, verstanden? Ich erwarte dich in fünf Minuten und wehe du kommst eine Sekunde später«
Ich nicke, beiße mir auf die Unterlippe, um nicht loszuheulen. Nicht vor ihm! Diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun, doch meine feuchten Augen bleiben, zu meinem Pech, nicht unbemerkt.
»Und fange bloß nicht an zu flennen. Du bist so ein verdammter Schwächling, sieh dich nur an, Du bist mir peinlich! Du wärst jedem Vater peinlich, geh mir bloß aus den Augen!«
Ich erhebe mich schwerfällig und schleife mich nach oben in mein winziges Zimmer. Mir graut es schon vor dem Essen, weiß ich doch wie es ablaufen wird – meine fettleibige Mutter wird alles verschlingen und das ganze Essen über nicht aufblicken, mich nicht fragen wie mein Tag heute so war. Nein, sie wird stumm das Essen in sich schaufeln, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich werde, wenn möglich, das Gleiche versuchen, aber Beschimpfungen, Beleidigungen und die Hiebe von Seiten meines verhassten Vaters sind vorprogrammiert.
»Hey, Bunny. Mach deine Äuglein auf. Hey, verdammt!«, das letzte Wort, welches in mein Ohr gezischt wird, reißt mich aus meinem Halbschlaf und ruckartig richte ich mich auf. Gestern saß ich bis tief in die Nacht im Warteraum des Krankenhauses und wartete darauf, dass einer der ständig beschäftigten Ärzte sich dazu herabließ meine Augenbraue zu nähen. Es wollte nicht aufhören zu bluten und während des Essens musste ich eine Serviette darauf halten, damit nichts auf die weiße Tischdecke tropfte.
Irgendwann weit nach Mitternacht war es so weit – ich wurde mit fünf Stichen genäht und durfte wieder nach Hause gehen – meinen Eltern habe ich nichts davon erzählt, es gäbe nur Ärger – und musste mich deswegen heimlich ins Haus schleichen. Ich hatte Glück, niemand ist aufgewacht.
Nun sitze ich in der hintersten Klassenzimmerecke und neben mir hat sich der Mensch hingepflanzt, den ich am wenigsten sehen möchte. Was will der denn schon wieder von mir? Sonst ist dieser Platz immer leer und ich bin eigentlich ganz froh darüber – so nerven mich wenigstens meine Mitschüler nicht oder bemühen sich bei mir abzugucken.
»Was willst du?«, raune ich ihm zu und schaue mich um – keiner sieht zu uns rüber und Frau Garn schreibt weiter irgendwelche Matheaufgaben an die Tafel, denen keiner außer Taylor Rayn folgt.
»Wir treffen uns nach dem Basketballtraining hinter dem Gerätehäuschen. Ich rate dir, mich nicht warten zu lassen«, damit erhebt er sich und schleicht zurück auf seinen Platz, ohne dass es jemandem auffällt.
Erstaunt und etwas erschrocken, sehe ich ihn an. Macht er mich jetzt fertig wegen dem, was gestern war? Er hatte ja einen Termin mit dem Direx, woran ich indirekt beteiligt bin und wer weiß, was für eine Strafe man ihm gegeben hat? Oder will er einfach wieder, dass ich Schulzeug für ihn erledige? Ich wünschte, es wäre die zweite Möglichkeit.
Die restlichen Stunden vergehen rasend schnell und ich stehe gefühlt seit einer geschlagenen Stunde hinter diesem Häuschen, warte auf den, der mir gesagt hat, ich solle nicht zu spät kommen. So ein Heuchler!
»Bunny! Alles fit im Schritt?«, ertönt eine spöttische Stimme hinter mir, ich wende mich mit düsterer Miene um. Dieser Spruch ist sowas von lahm.
»Alles bestens«, antworte ich, weil mir nichts Besseres einfällt und ich ja mittlerweile kapiert habe, dass er es nicht mag, wenn man ihm nicht zuhört oder antwortet.
Sein von Spott gezeichnetes Gesicht wird für einen Moment ein wenig erstaunt. Er hat im Unterricht nur meine andere Gesichtshälfte zu sehen bekommen und hat die in Mitleidenschaft gezogene Augenbraue noch nicht betrachten dürfen.
»Dein Gesicht sieht aber nicht bestens aus. Was ist passiert, bist du über deine Zähne gestolpert?«
»Haha. Sehr witzig«, nuschle ich und senke mein erhitztes Gesicht, während er über seinen eigen Witz lacht. Wie ich das Erröten hasse, wie ich ihn hasse!
»Na, wenn du es nicht zugeben willst, auch egal.«, gluckst er schulterzuckend, wird jedoch gleich darauf ernst. »Kommen wir zum eigentlichen Thema. Hast du einen Brief von der Schule bekommen?«
Ich nicke brav und hole den besagten Brief aus der Jackentasche. Er ist noch ungeöffnet – ich habe mich noch nicht getraut ihn aufzumachen, seit er mir heute in der ersten Stunde von Frau Sarsa, der Schulsekretärin, gegeben wurde. Es kann dort zum Beispiel stehen, dass ich wegen irgendwas rausfliege oder etwas Ähnliches, genauso Schreckliches. Lieber schiebe ich das Öffnen vor mir her.
Milo sieht den versiegelten Brief und stöhnt theatralisch auf.
»Jetzt mach schon auf du Hirni, ich habe noch Wichtigeres zu tun«, schnauzt er unerbittlich, worauf ich nervös atmend gehorche und mich frage, was ihn das überhaupt angeht. Je mehr ich lese, desto mehr weiten sich meine Augen vor Schock. Ich weiche zurück und lasse den Brief fallen, als hätte ich mich daran verbrannt.
»Ja. Du hast richtig gelesen und eins möchte ich dir im Voraus– «
»Wieso werde ich ebenfalls bestraft?! Ich habe doch nichts getan!«, keuche ich entrüstet, unterbreche ihn damit.
Ich kann es nicht fassen! Wieso ist es immer so ungerecht?
Übertrieben verdreht Milo die Augen, bevor er unfreundlich fortsetzt:
»Halt die Klappe und hör mir zu, Bunny. Ich saß bei Pross und er hat erst auf mich eingebrüllt und dabei die Scheinchen gezählt – nichts Ungewöhnliches also – aber dann meinte er auf einmal zu mir, und das ist seine genaue Wortwahl: "Meine Schule braucht noch freiwillige soziale Helfer für ein Projekt, welches mir...ich meine natürlich der Schule, eine Menge Geld bringen wird und da du schon mal hier herumsitzt, wirst du sicher gern mitmachen – zusammen mit diesem Gastschüler, Romen, oder wie auch immer er heißt. Ihr zwei werdet von den zuständigen Leuten einen Tag vorher darüber informiert, wo ihr gebraucht werdet. Jeden Tag eine andere Arbeit für euch, hast du das soweit verstanden? Bin ich nicht genial? Zwei Fliegen mit einer Klappe, wie man so schön sagt. So muss ich mich nicht darum kümmern, Schüler dafür anzuwerben und du hast Zeit, dein Problem mit diesem Romin zu lösen"«
Diese Information und der Fakt, dass mein Stammkunde sich so eine lange Rede merken kann, ist zu viel, ich lehne mich mit wackeligen Knien an die Häuschenwand. Das kann doch nicht wahr sein!
»Das hat er gesagt? Dass du Zeit haben wirst, deine Probleme mit mir zu lösen? Was soll das bitteschön heißen? Ist das nicht illegal? Und du hast ihn einfach so bestochen?«
»Ja«, meint Milo ungeduldig und macht eine wegwerfende Handbewegung, als wäre es nicht von Belang. »Mach nicht so 'nen Stress. Hast du nicht das Eigentliche gehört? Wir müssen zusammen als "freiwillige Helfer" schuften, übersetzt: Schnarcher füttern und rundum bedienen, Kloschüssel schrubben oder Obdachlosen Dosensuppe einschenken in diesen scheiß hässlichen Schürzen! Und das alles auch noch mit ausgerechnet dir! Musstest du mich so aufregen gestern?«
Mit weit aufgerissenem Mund stelle ich mich aufrechter hin und funkle ihn dann teils ungläubig, teils wütend an. Das war ein Schlag unter die Gürtellinie!
»Ach, jetzt bin ich für alles verantwortlich, oder was? Du warst doch derjenige, der auf mich losgegangen ist, während Pascal noch im Flur stand, du Genie«, werfe ich ihm an den Kopf, von meiner Schüchternheit keine Spur. Dieser verblödete Affe will die ganze Schuld auf mich schieben? Kann er sich schön abschminken – dieses Mal nicht. Ich habe jetzt wirklich genug.
»Boa, jetzt komm nicht mit diesem ganzen "wer von uns beiden ist hier der Schlauere" an. Die Welt besteht nicht nur aus intelligenten und dummen Menschen, kapier das–« Plötzlich stockt er und mustert mich aus zusammengekniffenen Augen. »Du kennst diesen Schlichter persönlich?«
Okay, jetzt muss ich es auch einmal sagen, oder in meinem Fall eher flüstern: »Fuck«
Habe ich mich verplappert, ahnt er nun etwas? Nein, rede ich mir zu, Milo ahnt sicher nichts, er ist nicht der Hellste, oder zumindest dachte ich das noch bis zuletzt.
Irgendwas antworten muss ich ihm trotzdem.
Aber wie es das Schicksal will, bin ich super schlecht im Lügen, man merkt es mir sofort an, weil ich total rot werde, deswegen lasse ich es lieber, wenn ich nicht darauf abziele, mich völlig zu verraten – ihm die ganze Wahrheit sagen, wäre auch nicht sehr vorteilhaft.
»Er ist sowas, wie mein Bodyguard. Ich brauche doch einen, wenn ich solche Kunden, wie dich, habe«, meine ich nach einem Räuspern und werde nur einen Hauch roter im Gesicht als vorher, denn eigentlich ist es ja nur zur Hälfte gelogen. Rede ich mir zumindest ein. In der letzten Zeit ist Pascal wirklich fast immer in der Nähe und ist sogar dabei, wenn ich mein kleines Unternehmen betreibe – wir haben zwar noch nie richtig darüber gesprochen, aber ich glaube, er findet es nicht schlimm, dass ich auf diese Weise mein Geld verdiene, zumindest sagt er es nicht.
»Dein Bodyguard? Wen willst du verarschen? So ein armer Streber wie du, hat doch nicht genug Kohle dafür«, lacht Milo hämisch auf und scheint sich gar nicht mehr einkriegen zu können. Kein Wunder bei der unglaubwürdigen Lüge, die ich ihm aufgetischt habe. Aber mein Gehirn scheint nach der letzten Nacht einfach nicht mehr so gut zu funktionieren.
Toll, mein Kopf fühlt sich an, als wäre es eine Glühbirne – ich leuchte bestimmt wie eine Ampel auf Rot, jedoch nicht vor Scham, sondern vor Wut auf diesen unverschämt gackernden Kerl vor mir.
»Nicht alle werden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren! Ich habe auch keinen Esel, der Goldbarren scheißt oder Eltern, die im Geld baden. Ich muss für mich selbst sorgen, weil mein Dad gefeuert wurde und meine Mutter eine fette Sau ist, die nichts auf die Reihe kriegt, außer täglich zu kochen. Ich bekomme nicht wie du, alles in den Arsch geschoben, auf das ich mit dem Finger zeige, du verwöhntes Arschloch«
Jetzt habe ich ihm ja beinahe meine ganze Lebensgeschichte erzählt, super gemacht.
Milo sieht mich aus halb geschlossenen Lieder gelangweilt an, als ich schließlich schweratmend innehalte. Stille breitet sich aus, keiner von uns sagt etwas, ich meine, was auch? Diesmal habe ich es echt übertrieben mit den Metaphern. Gott, ist das bescheuert. Kann sich die Erde nicht auftun und mich verschlucken, sofort? Auch bin ich zu erstaunt darüber, dass solche Wörter wie „Arschloch“ aus meinem Mund herauskommen können, als dass ich im Moment etwas sagen könnte. Vielleicht habe ich ja doch eine Gehirnerschütterung?
Extra langsam und bedrohlich wirkend, schreitet Milo auf mich zu und ich weiche mit jedem seiner Schritte einen zurück.
Heute ist keiner da, der aufpasst, dass dieser unberechenbare Sportler mich nicht verprügelt. Vielleicht sollte ich schon vorher anfangen zu schreien – einer der Hausmeister wird mich doch sicherlich hören können und die Polizei rufen. Er überrascht mich, indem er ganz gefasst, mit keiner sichtlichen Regung im Gesicht, erwidert:
»Leg mal deine Klischee-Brille ab, Bunny, und dann kannst du sehen, dass wir nicht alle gleich sind. Ich dachte du wärst schlauer als das. Wir treffen uns am Montag – vermutlich in irgendeinem Heim für Obdachlose. Und ich finde immer noch, dass du schuld bist« Mit einem letzten, angeekelten Blick auf mich, rempelt er mich beim Vorbeigehen heftig an.
Seit wann ist der denn so altklug geworden? Und überhaupt – wieso verpasst er mir keine oder schüchtert mich ein, wie sonst auch? Na gut, geschlagen hat er mich zwar noch nie so richtig und ich bin nicht scharf darauf es herauszufordern, aber er macht mir trotzdem ständig Angst. Ich bleibe noch eine Weile dort stehen und versuche alles zu verarbeiten.
»Hey, Roman, da bist du ja, ich habe dich überall gesucht. Bist du mir heute etwa aus dem Weg gegangen?«, fragt mich eine weiche Stimme nah an meinem Ohr, worauf ich mit pochendem Herzen herumfahre und einen lächelnden Pascal erblicke, dessen Miene sich augenblicklich in Wut verwandelt, als er mich genauer betrachtet.
»Hat das dieser Kerl vom letzten Mal gemacht? Wenn ich diesen verdammt–«, fängt er fluchend an, doch ich hebe müde die Hand und schüttele den Kopf traurig, worauf er verstummt. Wir kennen uns nur ein paar Wochen lang, aber in dieser Zeit haben wir uns gut angefreundet, obwohl ich ihm fast nie etwas über mich preisgebe, er dafür mehr von sich.
»Pascal, das war nicht Milo«
»Wer war es dann? Sag es mir!«, fragt er zudringlich und reißt mich in eine feste Umarmung, in der ich dankbar versinke. Am liebsten würde ich hier und jetzt anfangen zu heulen wie ein Kleinkind, doch das kann ich mir nicht leisten, ich würde ihm dann mein Geheimnis verraten. Es soll keiner erfahren, von wem ich ständig blaue Flecken und Prellungen kriege – dass mein eigener Vater es ist und ich mich nie widersetzen kann oder es auch nur versucht habe. Es wäre einfach zu demütigend für mich, ach was, für meine gesamte Familie, die eh schon einen schlechten Ruf hat in dieser Vorstadt, wegen unserer Durchschnittlichkeit inmitten von all dem Reichtum.
Ich habe haufenweise Verwandte, wie meine kleinen Cousins und Cousinen, die ich mag und nicht möchte, dass man über sie tuschelt oder sonstiges. Außerdem wüsste ich nicht, wohin ich gehen könnte, wenn mein Vater mich aus dem Haus schmeißen würde. Deswegen muss ich das mit Pascal, was es auch ist, beenden, bevor es richtig anfängt.
Schweren Herzens löse ich mich aus seinen Armen und bringe einen Abstand zwischen uns. Muss er unbedingt heute so gut aussehen? Seine süßen Löckchen fallen ihm in die Stirn und er duftet so gut nach frischgewaschener Wäsche.
»Pascal, ich glaube, das sollten wir lassen. Ich meine, ich bin nicht mal volljährig und du könntest ins Gefängnis kommen oder deinen Job verlieren, wenn uns jemand erwischt. Du möchtest das doch sicher nicht riskieren«, breite ich ihm meine angeblichen Bedenken aus, obwohl mir das alles egal wäre, wäre ich in einer anderen Position und müsste nicht befürchten, dass er mich irgendwann ausquetscht. Dazu kommt, dass ich es noch nichtt fertiggebracht habe, mich zu outen, Gott bewahre! Dann hätten meine Mitschüler einen Grund mehr mich auszugrenzen.
Plötzlich legt Pascal mir einen Finger auf die Wange und dreht mein Kopf zu sich, nimmt mit der anderen Hand die Brille von meiner Nase. So kann ich nur noch seine verschwommene Silhouette ausmachen.
»Wir lassen uns nicht erwischen und ich weiß genau, dass du in zwei Wochen achtzehn wirst. Wenn dir das hier nicht gefällt, belästige ich dich nicht wieder, einverstanden?«
Wer könnte diesem Mann wiederstehen? Ich jedenfalls nicht. Sobald ich scheu genickt habe, legen sich weiche Lippen auf meine und machen sanfte Bewegungen, bei denen ich mich seufzend ergebe und den Kuss schließlich gerne erwidere. Keine Zungen ist im Spiel.
»Du machst mich schon von Anfang an total verrückt, wusstest du das? Seit du mir so schüchtern deinen Namen verraten hast. Ich riskiere es gerne für dich und du kannst mir später erzählen, wer dir das angetan hat«, sagt er leise, sein Atem streift mein Gesicht.
Verklärt sehe ich in seine schönen Augen, als er mir meine Brille wieder aufsetzt und kein Wort bringe ich aus Rührung heraus. Kann es sein, dass er es ernst mit mir meint? Dass er sich sogar in mich verliebt hat? Vielleicht ist er mein Held, der mich aus meinem bisherigen Leben rettet, das von Demütigung vonseiten Menschen, die stärker sind als ich, Langeweile und Büffelei geprägt ist. Pascal küsst mich erneut, aber diesmal verlangender und ich lasse mich fallen, genieße es aus vollen Zügen.
»Kommst du noch zu mir? Wir können zusammen was trinken und ich bestelle Pizza«
Hoffnungsvoll lächelt er mich an und natürlich sage ich zu: »Pizza hört sich gut an« Heute ist Freitag und schon nach siebzehn Uhr, da müsste mein Vater schon längst in seiner Lieblingsbar sitzen. Es wird mich heute keiner zuhause vermissen.
Sein Gesicht fängt an zu leuchten. Mit einem liebevollen Blick zu mir, ergreift er meine Hand und führt mich zu seinem Auto, welches auf dem Lehrerparkplatz steht. Zum Glück sind bereit alle Schüler und Lehrer weg und wir scheinen die einzigen auf dem Schulgelände zu sein. Pascals Auto ist ein grüner Volkswagen, in dem wir ungefähr zehn Minuten lang fahren und uns dabei über dies und jenes unterhalten. Wir haben den gleichen Musikgeschmack und wir erzählen uns lustige Geschichten aus der Kindheit, wobei ich nicht viel mitreden kann. Im Kindesalter wurde ich bei jedem kleinen Verbrechen bestraft – entweder musste ich stundenlang in der Wohnzimmerecke herumstehen, oder ich bekam den Gürtel meines Vaters zu spüren. Es hing davon ab, ob er zu Hause war oder nicht. Er meint immer, man muss Kindern schon von klein auf Disziplin und Respekt vor den Älteren angewöhnen – bei ihm eher einprügeln.
Pascal lässt mich vor einer Garage aussteigen und ich warte dort, bis er das Auto abgestellt hat und zu mir zurück kommt. Er wohnt in einer ruhigen Wohnsiedlung, ein bisschen außerhalb der Vorstadt, besser gesagt Kaff, in dem ich lebe.
»Komm«, sagt er und führt mich zur Tür eines kleinen Häuschens, welches aussieht, als würde hier eine nette, gutbürgerliche Familie wohnen. Es besteht aus einfachen, roten Backsteinen und hat einen ordentlichen, nicht sehr großen Vorgarten mit lauter Blumen und Büschen. Irgendwie kann ich mir Pascal nicht in diesem Haus vorstellen.
Innen ändert sich meine Meinung auch nicht – alles ist so familiär eingerichtet, praktische Möbel, überall Pflanzen und unauffällige Tapeten. Naja, ist ja auch egal, wenn er drauf steht. Vielleicht hat er es nur noch nicht fertig eingerichtet – von ihm habe ich erfahren, dass er vor nicht all zu langer Zeit von Holland hierher gezogen ist, deswegen auch der süße Akzent.
»Also, wie wäre es mit Salamipizza, extra viel Käse? Was willst du dazu trinken? Bier gibt’s leider nicht mehr«, meint er während er vor dem offenem Kühlschrank steht und gleichzeitig einen Telefonhörer an das Ohr hält.
Ich setze mich im Wohnzimmer auf ein gemütlich aussehendes Sofa und spiele nervös mit meinen Händen, kaue an meinen Nägeln. Hunger habe ich zwar nicht wirklich, aber ich antworte dennoch:
»Klar, gerne. Ein Glas Wasser, bitte«
Er spricht kurz in den Hörer, bestellt uns wie erwünscht eine Salamipizza mit doppelter Portion Käse und reicht mir danach das Glas Wasser, bevor er sich nah bei mir niederlässt.
»Ich bin ab morgen ein "freiwilliger" Helfer – mit Milo zusammen«, erzähle ich nach einem Schluck, um die Stille zu überbrücken.
»Habe ich schon gehört. Tut mir Leid, ich glaube, das hast du mir zu verdanken. Ich hätte diesem Kerl eine Abreibung verpassen sollen, anstatt ihn zu Pross zu schicken«
»Ist in Ordnung, du hast alles richtig gemacht, Milo ist derjenige, dem ich das zu verdanken habe«
Pascal dreht sich vollständig zu mir um und legt eine Hand auf meine Wange, streicht hauchzart über die geschundene Augenbraue.
»Also, willst du mir vielleicht doch erzählen, wer dir–«
Bevor er noch etwas sagen kann, schmeiße ich mich fast auf ihn und presse meine Lippen auf seine, worauf er überrascht aufkeucht, mich aber trotzdem freudig empfängt. Ich bin nicht minder verwundert.
Meine Hände krallen sich in seine fluffigen Haare, streichen über die breite Brust, jedoch traue ich mich nicht unter sein Shirt zu greifen, im Gegensatz zu ihm – seine Finger gehen sofort auf Wanderschaft und verbleiben anschließend auf meinem Hintern. Immer wieder sucht seine Zunge einen Weg in meine Mundhöhle, findet aber keinen, bis er seufzend aufgibt und sich stattdessen meinem Hals widmet.
Ehe ich mich versehen kann, liege ich schon nackt in seinem großen Bett und sehe ihm zu, wie er sich aufreizend langsam der Kleidung entledigt. Wie wir so weit gekommen sind, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Zwischen den stürmischen Küssen hat er mich wohl irgendwie hierher bugsiert, ohne, dass ich es mitbekommen habe.
Mein Atem geht zittrig schnell, ich fühle, wie mir Blut in den Kopf und auch in die Lendenregion schießt, als er mich erst mal von Kopf bis Fuß gierig betrachtet. Ich kneife die Augen zusammen, weil ich es auch wirklich nicht ertragen kann, auf diese Weise angesehen zu werden. Was gibt es da groß zu bewundern? Ein dünner, äußerst hellhäutiger Körper ohne jedes Anzeichen von Muskeln.
»Sieh mich an«, verlangt Pascal flüsternd.
Nur zögerlich tue ich ihm den Gefallen und öffne die Augen einen Spalt breit – er sitzt rittlings auf meinen Oberschenkeln, die muskulösen Arme links und rechts auf dem Bett, neben meinem hochrotem Kopf abgestützt.
Zufrieden lächelnd senkt er seinen Mund samt der neckischen Zunge wieder auf meine erhitzte Haut, spielt dabei mit meinen Nippeln, worauf ich fest den Mund zusammenpresse, um bloß keinen Laut von mir zu geben. Mein eigenes Keuchen und Stöhnen zu hören, finde ich irgendwie…abtörnend. Oder es ist mir einfach unangenehm, ich kann es nicht genau bestimmen. Jedenfalls vermeide ich das nun, indem ich fest in meine Faust beiße – Pascal macht es mir recht schwer ruhig zu bleiben. Er bahnt sich einen Weg von meinem Hals nach unten, küsst, wie es mir scheint, jede Stelle an mir und wirft mir laufend zärtliche Blicke zu. Seine Hände leisten auch gute Arbeit, sie erkunden Regionen, die noch keiner vor ihm erkundet hat und sind dabei unendlich behutsam, als hätte er Angst mich zu zerbrechen. Eine starke Gänsehaut bedeckt meinen ganzen Körper und will nicht abklingen.
Dann er ist schon bei meiner Erregung angelangt, leckt genüsslich darüber und lässt mich dabei nicht aus den verlangend glänzenden Augen. Wimmernd ziehe ich Luft in meine Lungen, als er seine geschwungenen Lippen um mich stülpt und anfängt ab und auf zu fahren. Es erregt mich ungemein, ihm dabei zuzusehen. Mit zittrigen Fingern taste ich wild um mich, auf der Suche nach einem Kissen, welches ich nach einem Moment finde und mir infolgedessen auf mein Gesicht drücke.
»Roman. Geht es dir gut, was ist los?«, vernehme ich Pascals gedämpfte Stimme durch das Kissen, aber dann zieht er es mir weg, schaut mich forschend und auch etwas erstaunt an.
»Es geht mir gut, mach weiter«, sage ich erstickt und versuche seinen Kopf wieder zu meiner Mitte zu schieben, doch er weicht mir lachend aus und saugt sich überall rund um meine Männlichkeit fest, bevor er nochmals stoppt und mich intensiv anguckt.
»Nein, im Ernst, mach da weiter, wo du aufgehört hast«, wiederhole ich, er jedoch übergeht meine Bitte.
»Hattest du schon einmal mit einem Mann Sex?«, fragt er unverhofft und ich werde gleich eine Stufe roter. Wieso will er das wissen? Sehe ich etwa so aus oder benehme mich auffällig unerfahren?
Beleidigt und rotglühend robbe ich von ihm weg, mache Anstalten aufzustehen, doch er hält mich am Arm fest und zieht mich auf das Bett, somit unter sich zurück.
»Ist es so abwegig, dass ich es schon mal hatte...du weißt schon was«, will ich scheu und gleichzeitig gereizt wissen. Ich kann nicht mal das Wort aussprechen!
Er lächelt kopfschüttelnd.
»Natürlich nicht, aber das war doch nur eine Frage. Ich wollte dich nicht überfordern«
Die Türklingel bringt mich davon ab, mich noch weiter lächerlich zu benehmen.
»Die Pizza ist da, ich komme gleich wieder«
Pascal schlingt sich die Tagesdecke um die Hüften und schlendert zur Tür, lässt mich hier allein!
Grinsend beobachtet er meine Mimik, als er im Türrahmen steht und kehrt gleich darauf um.
»Der Bote stellt die Pizza vor die Tür, er kennt das schon von mir. Bezahlt habe ich bereits online«
Ich nicke bedeppert, denn er versucht mich um den Verstand zu bringen, mit seinen Händen und den Küssen. Nach einiger Zeit spüre ich einen glitschigen Finger in mir, der sich so sanft wie nur möglich vortastet, millimeterweise, und mich dabei dehnt.
Dazu kommt noch ein weiterer Finger und danach ein weiterer, bis ich es kaum aushalten kann und mich unkontrolliert hin und her winde, bringe aber keinen Ton heraus, weil sonst viel mehr herausgekommen wäre, als nur Worte.
»Bist du etwa schon soweit?«, fragt Pascal an meinem Hals knabbernd.
Wieder nicke ich nur, also reißt er flink die Verpackung des Kondoms auf, welchen er sich dann ziemlich geübt überstreift.
Überrascht reiße ich die Augen auf, als er mich auf die Seite dreht und sich hinter mich legt, mich im Nacken küsst, sodass sich die kleinen Härchen dort aufrichten. Wie automatisch winkle ich mein rechtes Bein an, es fühlt sich richtig an. Seine Finger streicheln die Innenseite meiner Oberschenkel und dann, endlich, versenkt er sich mit einem verhaltenen Stöhnen in mir, hält kurz inne, wegen meines kleinen Zusammenzuckens – ich hatte schon fast vergessen, dass es am Anfang so brennt.
Er ist so lieb, es jagt mir einen Schauer über den ganzen Körper. Zögernd bewegt er sich, mich nicht außer Acht lassend und findet schließlich einen angenehmen Rhythmus in dem er auch meinen Schaft massiert.
Zugegeben, diese Situation ist ziemlich neu für mich – Sex hatte ich zwar wirklich mit meinem Ex-Freund, wenn man eine dreiwöchige Bekanntschaft im Computercamp so nennen kann, doch der war lange nicht so zärtlich gewesen.
In den Sommerferien, da lernte ich ihn kennen und sobald wir anfingen regelmäßig und ausgiebig miteinander zu knutschen, wollte er schon zur Sache gehen. Ich war so blöd ihn gewähren zu lassen, ohne vorher groß zu überlegen. Nach diesem einem Mal wollte er es natürlich wiederholen, aber ich weigerte mich strikt, weil mir seine Grobheit nicht gefallen hatte. Rücksicht ist wohl ein Fremdwort für ihn.
Wegen meiner Kratzbürstigkeit schlug er mich also so doll zusammen, dass ich mit einer ordentlichen Gehirnerschütterung ins Krankenhaus kam und ihn zum Glück nie wiedersehen musste.
Pascals Bewegungen in mir gewinnen stets an Tempo, wie auch sein Keuchen und Stöhnen direkt an meinem Ohr, ich beiße mir auf die Lippen als er die bestimmte Stelle in mir trifft, die mich Sterne sehen lässt. Ich schließe die Augen und zähle bis zehn, weil er nun immer und immer wieder trift und mich so näher zur Erlösung bringt. Meine Hüften rucken ungewollt seiner Hand um mich entgegen und ich atme saugend ein und aus.
Mit aller Kraft verhindere ich einen Schrei als ich letztlich in seiner Hand komme, aber mir rutscht nichtsdestotrotz ein undefinierbares, leises Geräusch aus dem Mund. Er dagegen stöhnt ungeniert was das Zeug hält, sobald er den Höhepunkt erreicht. Danach bleiben wir ganz still liegen und ich würde sofort einschlafen, wenn er nicht angefangen hätte, erst sich und dann mich mit einem feuchten Taschentuch sauber zu machen. Errötend nehme ich es ihm ab und mache es eigenständig, kann nicht mal zu ihm hochgucken, weil ich mich so entblößt fühle, was ich im Grunde auch bin.
»Komm her«, sagt er leise, schlingt seine Arme fest um mich, bettet mein Kopf in seine Halsbeuge und bedeckt meine Schulter mit vielen kleinen Küssen.
Das Ganze ist für mich nur schwer zu begreifen, ich kann schlicht nicht verstehen, warum er etwas von mir will. Von Roman Tirell, dem Streber, der Schularbeiten für Geld schreibt, dem Versager, der keinen einzigen Freund hat. Wenn nur diese Scham und Unsicherheit verschwinden würden! Dann könnte ich mich auch einmal im Leben gehen lassen – aber es passiert nie.
»Du bist so leise gewesen. Ist es bei dir immer so oder war ich einfach schlecht?«
Unsicher lache ich auf.
»Ich bin immer so leise«
»Okay, dann ist gut, aber irgendwann werde ich dir schon ein Stöhnen entlocken«
Beiläufig schaut Pascal auf die Uhr, die gegenüber dem Bett hängt und weitet erschrocken die Augen. »Ich muss jetzt dringend beruflich telefonieren, aber du geh duschen, ich geselle mich gleich dazu«
Damit lässt er mich los, schnappt sich hastig seine Shorts, die er anzieht, und die Hose vom Boden, fischt sein schwarz glänzendes Handy daraus und verschwindet aus dem Zimmer.
Verblüfft folge ich seiner Anweisung und gehe in den angrenzenden Raum, das blau gekachelte Bad, steige unter die Dusche nachdem ich die Brille abgenommen habe und nehme mir ein x-beliebiges Shampoo und ein Duschgel. Der heiße Wasserstrahl tut richtig gut und ich fühle mich gleich wohler und ruhiger.
Nachdem ich fertig bin, schlüpfe ich nötigerweise in den dunkelgrünen Bademantel, der auf einem Haken neben der Dusche hängt, Handtücher sind nirgends zu sehen.
Als ich schon am Herausgehen bin, wecken verstrubbelte, knallig orangene Haare meine Aufmerksamkeit und ich betrachte mich im Spiegel.
Ein braun-grünes, von hellen Wimpern umrandetes Augenpaar erwidert zweifelnd meinen Blick. Was würde ich nicht alles dafür geben diese Ähnlichkeit zu meinem Vater loszuwerden – wir haben die gleiche Haar- und Augenfarbe. Er ist jedoch viel robuster gebaut als ich. Aber die vollen, rosa Lippen, die man meiner Ansicht nach schon fast als Schmolllippen bezeichnen kann, habe ich nicht von ihm geerbt, sondern von meiner Mutter, die den Familienfotos nach früher sogar mal ganz hübsch war.
Zu meinem Glück habe ich keine Sommersprossen wie die meisten rothaarigen Menschen, dafür aber so manche kleine Leberflecken, die überall auf meinem Körper verteilt sind und mich ehrlicherweise stören – sie heben sich zu sehr ab von meiner blassen Haut und es sieht deswegen so aus, als hätte sie mir jemand mit einem Textmarker aufgemalt.
Obwohl ich so mager bin, habe ich dennoch eine passable Figur, das heißt, wenn ich etwas mehr essen und dazu Sport treiben würde, was ich nicht tue. Mir fehlt schlicht die Zeit dazu und manchmal vergesse ich wegen dem Stress mit den Schulaufgaben zu essen. Mag Pascal tatsächlich das alles? Das erschließt sich mir nicht.
Als ich wieder im Schlafzimmer bin und mich so gut wie möglich mit dem Bademantel abtrockne, höre ich ein leises Vibrieren.
Habe ich es mir nur eingebildet? Es war zu leise. Doch dann wiederholt sich das Vibrieren und ich folge dem bis zu Pascals Jacke, die mit den übrigen Sachen am Boden liegt.
Ohne weiter darüber nachzudenken, greife ich in die Jackentasche und befördere daraus…ein Handy. Ein kleines, aufklappbares Model, welches gerade anfängt von Neuem zu vibrieren in meiner Hand.
Soll ich…? Es geht mich ja eigentlich nichts an, warum Pascal zwei Handys braucht, aber es macht mich dennoch stutzig. Hat er etwa ein Doppelleben wie manche Menschen in Filmen?
Innerlich mit mir selbst kämpfend klappe ich es auf – eine SMS lesen schadet doch kaum und wenn es ein Notfall ist, bei dem er gebraucht wird, dann tue ich Pascal damit einen Gefallen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lese ich mir die erste Nachricht durch und meine Augen werden riesengroß:
„Pascal, falls du dich nicht mehr erinnerst – du hast eine Tochter und eine Frau, die schon vor einer Dreiviertelstunde von dir abgeholt werden mussten! Immer vergisst du es! Ich tätöwiere es dir auf die Stirn nächstes Mal! Und jetzt beweg' deinen Knackarsch ins Auto und hole uns auf der Stelle ab, Lana heult mir die Ohren voll!“
Und noch ein paar andere Nachrichten sind da von der gleichen Nummer, die ich jedoch nicht lese. Das tue ich mir sicher nicht an.
Wie benebelt lese ich meine Klamotten auf und streife sie mir in dem gleichen Zustand über. Dann torkle ich ins Wohnzimmer, wo Pascal mit dem Rücken zu mir steht und noch immer mit jemandem telefoniert. Ob es seine besagte Frau ist, der er erklären muss, wieso er zu spät kommt?
Meine Tasche werfe ich mir über die Schulter und stehe daraufhin zum Aufbruch bereit einfach da, starre auf Pascals Hinterkopf, kann mich komischerweise nicht bewegen. Und als würde er meinen starrenden Blick spüren, dreht er sich zu mir um, ein freudiges Lächeln auf den Lippen, welches erlischt. Mein Atem geht langsam und ich fühle mich ganz leer, so als hätte die Nachricht alles aus mir gesaugt – die Freude, dass ich in dieser Wohnung mit ihm bin, die Hoffnung, dass es etwas Schönes werden würde, dass er mich beschützen würde.
Ich habe mich in ihm gewaltig geirrt, er ist nicht so nett und makellos, wie ich gedacht habe. Er hat ein Kind und ist verheiratet! Mit einer Frau! Sollte das nicht das Erste sein, was man erwähnt, bevor man mit jemandem schläft? Was habe ich nur gemacht, dass er mich so entwürdigend behandelt? Damit ist jetzt endgültig Schluss.
»Du solltest deine Frau und deine Tochter nicht länger warten lassen, sonst werden sie sich noch fragen, weswegen du sie so lange versetzt hast«, sage ich und erkenne meine Stimme gar nicht mehr wieder, sie ist durchtränkt von Sarkasmus und Bitterkeit.
Pascal erstarrt und sein Handy fällt ihm aus der Hand.
»Roman…«, setzt er stockend an.
»Spare es dir, okay? Ich wurde noch nie auf diese Art verarscht, aber es gibt ja bekanntlich für alles ein erstes Ma. Herzlichen Glückwunsch«
»Ich wollte es dir sofort sagen – ich hatte Angst, dass du dich dann nicht auf mich einlassen würdest. Es tut mir so Leid«, fährt er fort und kommt mir näher. Mein Augen fangen an zu brennen und Tränen sammeln sich bereits darin, doch ich halte sie mit aller Macht zurück, ich weine nicht vor diesem Lügner!
»Du hattest Recht, ich würde mich niemals auf einen verheirateten Mann einlassen, denn das ist hinterhältig und falsch! Wann hattest du überhaupt vor, mir das zu erzählen?«, schreie ich nun.
Pascal sieht mich flehend um Verzeihung an, ich aber beachte das nicht.
»Roman, seit ich dich gesehen habe, wollte ich nur eins – dich! Ich will dich immer noch, bitte, lass uns das klären, wir finden einen Ausweg, ganz bestimmt, du bist doch ein schlaues Kerlchen«
»Das schlaue Kerlchen verschwindet jetzt und will nicht, dass du es jemals wieder ansprichst«
Wütend stapfe ich zur Haustür und reiße sie auf, bevor ich hinaustrete, drehe ich mich noch einmal zu ihm um.
»Es hätte echt was werden können, ich hab dich sehr gemocht, aber du hast mir nur falsche Hoffnungen gemacht, du bist ein Lügner, der nicht nur mich belogen hat, sondern auch seine Familie. Ich werde dir nie verzeihen, kapiert?«
Damit schleudere ich die Tür hinter mir zu und renne blindlings nach draußen. Hauptsache weg von diesem Haus und der Person da drin. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen, ich kann sie nicht mehr zurückhalten und alles zieht sich in mir zu einem festen, schmerzhaften Knoten zusammen. Ich verfluche mich selbst für meine Dummheit und Naivität. Keinesfalls wird mir so etwas wieder passieren, ich werde es nicht zulassen, verspreche ich mir selbst und laufe immer weiter.
»Das meinst du nicht ernst, oder? Als freiwilliger Helfer? Wie dumm bist du eigentlich?«
Stöhnend drehe ich mich auf den Rücken und klatsche meine Hände vor die Augen, damit das Licht aufhört mich so zu blenden.
»Verpiss dich aus meinem Zimmer, du Schwanzlutscher. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nichts in meinem Zimmer verloren hast?«
Ein empörtes, aber nicht wirklich beleidigtes Schnauben kommt aus dem Mund meines Bruders, der gemütlich auf meinem Sessel sitzt und seine Füße auf dem von Pornozeitschriften bedeckten Couchtisch abgelegt hat, als wäre es sein Schlafzimmer.
»Willst du mir das noch ewig vorhalten, ich war besoffen! Und ich versteh gar nicht, warum du so homophob bist. Die Kerle sind gar nicht so schlimm, sie haben halt nur andere Vorlieben als wir«, erzählt er, wie immer ganz der Gerechte.
Brummend, noch verschlafen, stütze ich mich auf die Ellenbogen.
»Das musst du ja wissen, was? Und dein Name klingt trotzdem schwul«
Ein Basketball knallt mir seitlich gegen den Kopf, sodass mir die Ohren dröhnen.
»Ey, spinnst du? Dafür bin ich noch zu verpennt!«, schreie ich und springe endgültig aus meinem Bett. Dumm nur, dass ich die Angewohnheit habe nackt zu schlafen und deswegen bestimmt nicht besonders einschüchternd wirke.
»Pack deinen Dödel wieder ein du Homophobist! Du weißt genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn man sich über meinen Namen lustig macht. Davon hatte ich in der Schule genug. Also echt, Sergej und Gay klingt nicht annähernd gleich«
Ich verdrehe die Augen und ziehe mir schnell Boxershorts, ein Shirt und Jogginghose über.
»Ja ja, jetzt fang' nicht mit deiner Mitleidstour an. Wir haben's alle verstanden: Kinder sind grausam. Und das Wort Homophobist gibt es nicht, also les' noch mal ein Lexikon durch, bevor du mich belehrst«
Mich über seinen Namen lustig zu machen ist einer meiner Lieblingsbeschäftigungen. Ich mag meinen auch nicht besonders, deswegen stelle ich mich stets als Milo vor. Miloslav hört sich einfach beschissen an, mein Vater wollte ja unbedingt aller Welt zeigen, dass wir aus Russland kommen, als er unsere Namen ausgesucht hat.
Diesmal wirklich angepisst, macht mein Bruder sich aus dem Staub, aber davor meint er noch:
»Erzähl' dem Alten lieber gar nichts. Behalte die Sache mit Pross, diesem Rotschopf und der freiwilligen Arbeit für dich. Sonst wird er wieder ausflippen und ich will nicht alles abbekommen, denn er ist im Moment nicht sehr gut auf mich zu sprechen«
Das ist stark untertrieben. Mein Vater würde ihn nur zu gerne erdrosseln, wenn er danach nicht seinen Job verlieren würde. Sergej hat echt Scheiße gebaut. Er war vor ungefähr einer Woche stockbesoffen und ließ Nacktfotos von sich machen. Wenn ich sage Nacktfotos, dann meine ich splitterfasernackt und in den Armen eines Typen. Nun kursieren diese Fotos überall im Netz, was dem Ruf meines Vaters einen ordentlichen Knacks verpasst hat – es zeigt, dass er seinen eigenen Sohn nicht im Griff hat und deshalb hat er es sich zur Aufgabe gemacht, seinem Zweitältesten eine strenge Erziehung zu verpassen. Tja, so ist das mit uns Jugendlichen.
»Danke für deinen weisen Rat. Ich wäre natürlich nie selbst drauf gekommen. Jetzt zieh endlich Leine und beweine dich in deinem eigenen Zimmer«
Sobald er weg ist, mache ich ein paar Dutzend Liegestützen auf dem Boden und Klimmzüge an der Stange, die an meinem Türrahmen befestigt ist, damit die Wut abflaut, die sich mal wieder in mir aufgebaut hat, als dieses kleine Opfer namens Roman erwähnt wurde. Bunny wird büßen für die Scheiße, die er verursacht hat! Seiner angeschlagenen Augenbraue nach, hat ihm jemand bereits eine verpasst, aber noch lange nicht genug. Dass es ein „Jemand“ war, steht außer Frage, so ängstlich wie der aus der Wäsche geguckt hat, als ich ihn danach fragte. Ich würde demjenigen ja danken, jedoch habe ich den Verdacht, dass Bunny mir das nicht verraten wird.
Okay, es war möglicherweise nicht so durchdacht von mir, ihn vor dem seltsamen Schlichter/Bodyguard – ich muss permanent lachen, wenn ich mir das vorstelle, Bunny hätte einen Bodyguard. Mit diesem Typen stimmt wohl was nicht, wenn er den Nerd wirklich freiwillig beschützt – doch er regt mich mit seiner Art einfach nur auf. Die roten Haare und die übergroße, hässliche Brille, die mich praktisch dazu auffordert, sie ihm von der Nase zu schlagen. Dazu sein scheinheiliges und unschuldiges Auftreten, so als würde er nicht denken, er wäre der Schlauste auf der ganzen Schule und wir anderen unterbemittelt, nur weil wir mehr Kohle haben als dieser aufgeblasene Wichtigtuer!
Ich würde ihm ja gern die Genugtuung nehmen und erzählen, dass ich nicht seine Aufsätze abgebe, sondern meine eigenen, und ihn nur anheuere, um den Schein zu wahren, aber nein – ich möchte auf keinen Fall als Streber gelten. Mein Ruf wäre ganz hin, keiner würde mich mehr respektieren. Es sollen ruhig alle weiter glauben, ich hätte nichts als Watte in der Birne, denn solche Streber wie Bunny befinden sich nicht sehr weit oben auf der Beliebtheitsskala, sie werden lediglich gerne benutzt.
Und wegen diesem Pumuckl muss ich nun als Helfer schuften, obwohl ich eigentlich keinem ein Haar gekrümmt habe.
Das Gute dabei ist, dass ich es ihm heimzahlen kann, wenn wir zusammen in irgendeinem dunklen, abgelegenen Raum sind und auch, dass ich in dieser Zeit nicht irgendwelche dummen Praxistage machen muss, die eigentlich in dieser Woche angesagt wären. In der Schule wird es auch mit jedem Tag anstrengender, bald komme ich nicht mehr mit und muss doch von so was wie Bunny Arbeiten annehmen. Noch ist es aber nicht so weit und ich habe vor, es so lange wie möglich hinauszuzögern.
Mal sehen, vielleicht kann ich auch schwänzen und die Zeit mit Sinnvollerem totschlagen, wie zum Beispiel mit meinem Motorrad rumfahren oder Deda und seine Frau, die halb so alt ist wie er, in seinem Anwesen besuchen. Da bin ich immerzu willkommen und er hat einen gigantischen Pool, wogegen mein Vater von so einem Luxus nichts hält. Eine Sauna und eine Garage voller Autos, na sicher, aber kein Pool.
»Miloslav? Komm zu Mama«, höre ich von unten meine Mutter rufen.
Bin ich ein Hund oder was? Ich werde bestimmt nicht bei ihr anlaufen wie ein solcher.
»Was ist denn, Mam?«, knurre ich die blonde, dezent, wie sie es nennt, geschminkte Frau an, die in einem viel zu dünnen Kleidchen und zu hohen Schuhen in der Tür steht. Sie ist immerhin schon über vierzig, da muss man doch langsam aufhören solche Klamotten zu tragen, in denen man alles überdeutlich sieht und den Männern fast gar nichts mehr für die Fantasie übrig bleibt.
Für mich, als ihren Sohn, ist es nicht gerade angenehm die Mutter so zu sehen. Da soll sie lieber langweilige Rollkragenpullover und Schlaghosen tragen.
»Hast du vergessen den Kuchen abzuholen, den ich bestellt habe, Schatz? Ich habe dich doch gestern daran erinnert, Herrgott. Du bist genau wie dein Vater!«
Wütend fahre ich herum und fauche:
»Ich bin kein bisschen wie er. Und das hast du sicher nicht – ich war nicht derjenige, der letztens diesen Köter bei einer Freundin da gelassen und danach die Polizei angerufen hat, weil ich dachte, er wäre verschleppt worden«
Meine Mutter macht ein erschrockenes Gesicht, was bei ihr nicht so einfach ist wie bei anderen Menschen, da ihres mit Botox vollgestopft und schon mindestens drei Mal unters Messer geraten ist.
»Rede nicht so mit deiner Mutter! Ich habe dich geboren, etwas Dankbarkeit wäre durchaus angebracht! Achja und – Maxi ist kein Köter, er ist ein reinrassiger Chihuahua!« Sie zupft mit spitzen Fingern an ihrer perfekt liegenden Frisur, aber löst dabei unbeabsichtigt mehrere Strähnen und zieht eine Schnute. Kein hübscher Anblick.
»Jetzt mach dich daran den Kuchen abzuholen, Schatzi, ja? Tu das für deine Mama. Ich kann es ohne Führerschein nicht selber abholen. Warum bist du so bockig? Anja ist wieder zurück und ihr seid doch ein Herz und eine Seele, du musst fröhlich sein!«
»Das war, bevor sie mich in dieser Irrenanstalt alleingelassen hat und nach Holland abgehauen ist, ohne nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Wir haben schon seit Jahren nicht miteinander gesprochen. Ich weiß nur, dass sie wieder geheiratet und eine sechsjährige Tochter hat, mehr auch nicht«
»Sie hat also schon eine Göre am Hals? Das ging ja schnell«, meint sie und pustet gedankenverloren auf ihre Nägel.
Breit grinsend öffne ich meinen Kleiderschrank, um andere Sachen auszusuchen, die auch für das Motorradfahren geeignet sind und frage ebenso grinsend: »Ja, darf ich dich also Baba nennen?«
Ein entsetztes Zischen. »Wage es ja nicht! So alt bin ich noch lange nicht, um als Oma durchzugehen. Also wirklich. Na schön, dann erledige es und vergiss nicht, den Kuchen danach in den Kühlschrank zu stellen«
»Wieso kann es die neue Haushälterin nicht machen? Das ist ihr Job«, maule ich, während ich mich in eine Lederhose zwänge.
»Ich habe ihr frei gegeben, wir essen heute ja bei deiner Schwester zu Mittag, also wozu die unnötigen Überstunden bezahlen?«
»Ja, wozu braucht eine ausländische Mutter, die allein ihre Kinder ernähren muss, auch unnötige Überstunden?«, erwidere ich sarkastisch und quetsche mich an ihr vorbei aus dem stark nach Schweiß müffelnden Raum.
Dauernd benutzt sie die Ich-habe-keinen-Führerschein-Ausrede, um etwas nicht zu tun.
Ich schreite an den Gemächern meines ältesten Bruders, Egor, vorbei. Sein Name passt blendend zu ihm – Egor mit dem riesigen Ego.
Plötzlich wird die Tür aufgerissen und ein lachendes, zierliches Mädchen platzt heraus und läuft direkt in mich hinein. Sie prallt an meinem Oberkörper ab und stützt sich an dem Rahmen ab, um nicht auf dem Hintern zu landen. Ich dagegen stehe aufrecht wie eh und je.
»Dämliches Huhn, pass' auf wo du hinläufst!«, fauche ich sie an.
Es ist wahrlich nichts Neues für mich ein fremdes Mädel in diesem Haus zu treffen, vorallem Egor kann man ruhigen Gewissens als Frauenheld betiteln.
Diese, vor mir, würde unschuldig aussehen, wenn die aufreizende Pose nicht wäre, bei der man von meinem Platz aus einen guten Einblick in ihren Ausschnitt hat. Wimpernklimpernd schleudert sie ihre Mähne mit einer geübten Handbewegung hinter die Schulter und entschließt sich offenbar, meine Beleidigung zu überhören.
»Oh. Hi, ich bin Alessia und du musst der berüchtigte Milo sein«
Alessia, die hergezogene Cousine von Clarisse, der Schulschönheit, ist auch berüchtigt. Nicht zuletzt für ihre Künste im Bett.
»Ja, der bin ich anscheinend«
Gelangweilt lasse ich meinen Blick über sie schweifen. Lange, strohblonde Haare und große, braune Rehaugen, mit denen sie wahrscheinlich alle um den Finger wickeln kann. Außer einem langärmeligen Männer T-Shirt und rosafarbenen Slips aus Spitze, scheint sie nichts anzuhaben.
»Glotz' sie nicht so dumm an«, blafft der plötzlich aufgetauchte Egor mich an und presst Alessia von hinten an seine nackte Brust, als würde ich versuchen, sie hier und jetzt flachzulegen.
»Keine Sorge, da gibt’s nicht viel zu glotzen«, rufe ich lachend beim Davongehen – ich bin zwar nicht der, den man als Schwächling bezeichnen kann, aber mein großer Bruder ist eben der große Bruder und auf eine Abreibung am Samstagmorgen habe ich keinen Bock. Er läuft mir ein paar Schritte hinterher bis ich schneller werde, dann gibt er direkt auf. Ich spiele schließlich Basketball und er macht nur Muskeltraining für seine weiblichen Fans. Es ist also klar, dass er keine Chance hätte mich zu erwischen.
Wir sind zusammenfassend vier Geschwister, ich bin der jüngste, und ähneln uns alle zum gruseln – jeder von uns hat dunkelbraune, fast schwarze Haare und die grauen Augen unseres Vaters, nur ich habe als einziger die blauen meiner Mutter übernommen.
Das Haus ist einstöckig und flächeraubend, die vielen Räume sind beinahe mit genauso vielen Fluren miteinander verbunden. Jeder, der hier erstmals allein umherwandert, verirrt sich irgendwo in diesem Gewirr und manchmal passiert das sogar mir noch – vorallem wenn ich nicht ganz nüchtern bin oder die ein oder andere bunte Pille eingeworfen habe. Das kann damit enden, dass ich einfach aufgebe und am nächsten Tag vermutlich im Ankleidezimmer meiner Mutter aufwache. Die vollgekotzten Sachen muss ich dann brav bezahlen, trotz dem, dass sie mehr als genug davon hat.
In unserer Tiefgarage angekommen, schnappe ich mir einns der zahlreichen Schlüssel, die ordentlich an Häkchen hängen und setze mir einen schwarzen Helm auf.
Nachdem das erledigt ist, schiebe ich mein Motorrad aus dem Ständer und der Reihe von insgesamt Dreien, betätige den Startknopf und starte es mit einem Drehen, sobald ich darauf sitze. Das zufriedene Grinsen gräbt sich in meine Züge, als ich sanft aus der Garage fahre. Ich bin zwar noch lange nicht alt genug so eine Maschine fahren zu dürfen, aber es hat auch Vorteile einen einflussreichen und vermögenden Vater zu haben.
Es gibt kein schöneres Geräusch, als das Knurren meines Babys, das neuste BMW GS, und kein schöneres Gefühl, als das leichte Vibrieren, welches mir eine gewohnte Gänsehaut einjagt.
Die Bäume und Häuser fliegen an mir vorbei, werden zu einem einzigen, wechselnden Farbfleck. Ich versinke wie jedes Mal in einem wohltuenden Rausch und nehme außer der Straße vor mir und dem Gerät unter mir nichts anderes mehr wahr, bis ich widerwillig an meinem Ziel, der Bäckerei, anhalten und absteigen muss.
Den Helm unter dem Arm, schlendere ich betont lässig hinein, ein Glöckchen klingelt und ein herrlicher Duft nach Gebäck gemischt mit Kaffee dringt mir in die Nase. Ich kann nicht anders, als diesen tief einzuatmen. Nicht wenige Leute sitzen an kleinen Tischchen und unterhalten sich, essen oder trinken etwas. Die Kellnerinnen wuseln dazwischen mit einem Tablett in den Händen, keiner beachtet mich. Leise, undefinierbare Musik plätschert aus den Boxen, die in den Ecken angebracht sind.
Eine Verkäuferin mittleren Alters, mit einer roten Schürze um die Hüften, steht hinter der Backwarentheke und lächelt mir freundlich entgegen.
»Guten Morgen, was wünschen Sie?«
»Bestellung für Titow. Bitte«, füge ich hastig hinzu, das Höfliche liegt mir nicht so gut. Die Frau guckt auf einen Planer und nickt mir dann bestätigend zu.
»Da haben wir es. Einen Moment, bitte«
Sie verschwindet hinter einer schmalen Tür mit der Aufschrift „Zutritt nur für Personal“.
Derweil sehe ich mich nach jemandem bekannten um, doch es ist niemand da, den ich kenne. Gut so, muss ja nicht jeder wissen, dass ich auf meine Mutter höre und die Arbeit unserer Angestellten erledige.
Unerwartet werde ich leicht an der Schulter angetippt und wirble herum. Der "Kiffer" steht vor mir, aber in letzter Zeit sieht er gar nicht mehr so aus, als würde er noch kiffen.
»Sieh mal an, der nicht mehr kiffende Kiffer. Ist es wahr, dass deine Eltern dich auf Entzug geschickt hatten?«, erkundige ich mich spöttisch, lehne mich gegen das Glas der Theke und nehme mir eins von den Probierhäppchen auf Zahnstochern.
Michael schaut unbeeindruckt zu mir hoch und kratzt sich dazu an seinem glatt rasierten Kinn, wo früher immer ein unregelmäßiger Bartwuchs spross.
»Jo, haben sie, aba das tut nich zur Sache. Du schuldest mir Scheinchen, falls du's vergessen hast, und zwar 'ne Menge«
Genervt rolle ich mit den Augen. Als Kiffer, der ab und zu vergessen hat, wer ihm wie viel schuldet, hat er mir wesentlich besser gefallen. Aber eins muss ich von ihm wissen: »Verkaufst du was?«
Prompt kommt die Antwort, bei der er mich kritisch mustert:
»Nur noch das Übriggebliebene, danach hör' ich auf. Wieso?«
»Vorgedrehte?«
»Bin ich 'n Coffeeshop, oda was? Zehn fürn Gramm«
»Zehn? Mann, das ist das Doppelte!«, sage ich ungläubig und meine Faust juckt schon vor Tatendrang, doch der Dealer, bei dem ich was kaufe, ist ausgestiegen und noch einen anderen außer Michael kenne ich zu meinem Pech nicht. Eigenlich rauche ich ja nicht, aber ab und zu zur Beruhigung ist es perfekt.
»Entschuldigen Sie! Hier ist ihre Bestellung«, die Frau ist wieder hinter der Theke aufgetaucht und hält mir ein hellblaues Päckchen hin, welches ich mühsam unter mein Arm klemme.
Ihr Blick wandert von mir zu Michael und sofort wird ihre Miene sauer, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Michael, Schatz, du sollst unsere Kunden doch nicht belästigen, geh wieder nach Hause«
»Ja-a! Er is nur 'n Mitschüler, Mum!«
»Das ist ihr Sohn?«, rutscht es mir lachend heraus, als ich sie beide nacheinander betrachtet habe. Sie sieht mich daraufhin mit verkniffenem Mund und zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Ja, allerdings. Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt«
Bevor ich etwas entgegnen kann, hat Michael mich schon aus dem Laden bugsiert.
»Also eine Ähnlichkeit habe ich da nicht bemerkt«
Das stimmt auch – seine Mutter hat was von einer Inderin, lange, schwarze Haare, eine hellbraune Hautfarbe und er ist ein normaler, braunäugiger Kerl mit straßenköterblonden, schulterlangen Zotteln.
»Wurdest du adoptiert? Oder bist du ganz nach deinem Alten?«
Sowie wir draußen sind, schlage ich grob seine Hand von meinem Oberarm weg – so darf mich keiner anfassen. Ich bin nicht sein Idioten-Kumpel Xander.
»Geht dich nix an. Lass die Kohle rüberwachsen, wenn du noch was haben willst!!«
Ich scheine genau ins Schwarze getroffen zu haben, denn so aufgeregt habe ich ihn noch nie erlebt, er ist sonst eher der gleichgültige Typ, der sich nichts anmerken lässt.
»Du kannst mich mal kreuzweise, dein Pot ist ein Scheiß und ich bezahl' dafür nicht den doppelten Preis. Kannst dir jemand dümmeres zum Verarschen suchen. Peace out«
So ein Abgang wäre genau mein Ding.
Damit setze ich mir obercool mein Helm auf den Kopf, springe wieder auf mein Motorrad und will davonrasen, das Päckchen mit dem Kuchen habe ich sicher zwischen der Lederjacke und meiner Brust verstaut. Da sehe ich, wie aus heiterem Himmel, eine vertraute Gestalt die Straße überquert und dem Anschein nach, auf dem Weg in die Bäckerei hinter mir ist. Mein schöner Abgang ist also dahin.
Bunny.
Aber ein hinkender Bunny, mit hochgezogenen Schultern und einem schmerzverzerrten Gesicht. Er hat einen Arm um den Oberkörper geschlungen und die andere Hand zu einer Faust geballt, als würde er sich extrem anstrengen.
Barsch setze ich den Helm wieder ab, um so besser sehen zu können. Mein schadenfrohes Lachen lenkt sein Augenmerk auf mich, als ich schwungvoll absteige.
»Hey, Bunny! Wer hat dich denn so zugerichtet? Das will ich nur wissen, um der Person eine Dankeskarte zu schicken«
»Lass den Kleinen«, fordert Michael, der zu mir getreten ist.
»Halt du dich da raus. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm offen«, schnauze ich ihn an, wende den Blick nicht von Bunny ab. Er hat mittlerweile ein paar Schritte von mir entfernt angehalten und schaut unschlüssig zwischen Michael, mir und der Bäckerei hin und her.
»Hier, mitten aufm Parkplatz und vor den Leuten, kannste deine sogenannte „Rechnung“ nich begleichen. Apropos Rechnung, du schuldest mir immer noch Kohle«
Verwundert glotze ich den früheren Kiffer an. »Du kannst ja nahezu normal sprechen!«
»Ja, aber das macht mehr Mühe, also gewöhn' dich nich dran« Unbeteiligt zuckt er mit den Schultern und streckt mir dann auffordern seine Hand hin, worauf ich in meinen Hosen krame.
»Vierzig reicht wohl fürs Begleichen. Und jetzt stör' mich nicht, ich muss diesen verfluchten Bunny…Scheiße der ist schon drin!«
Bunny hat sich offenbar unbemerkt an mir vorbei geschlichen, als Michael mich, ob beabsichtigt oder nicht, abgelenkt hat.
»Lass den Kerl doch und fahr' zurück. Dein Kuchen schmilzt sonst, ich kenn' mich da aus«
»Dann warte ich halt bis Montag, macht jetzt auch keinen Unterschied. Wir sehen uns – hoffentlich nicht sehr bald«
Nun sause ich endgültig auf meinem Motorrad weg.
Zu Hause angekommen und mein Baby an dessen Stammplatz gebracht, stelle ich den etwas aufgeweichten Kuchen in den Kühlschrank und nehme dabei sogleich die niedrige Schüssel voller Bohnensoße mit auf mein Zimmer. Ich liebe dieses Zeug, ich könnte es jeden Tag essen und würde nicht genug davon kriegen. Das ist so ziemlich das Einzige, was mich bei einer neuen Haushälterin interessiert, und was ich sie als allererstes frage – ob sie eine gute Bohnensoße kochen kann. Denn wenn nicht, hat sie meiner Meinung nach nicht das Recht, hier zu arbeiten.
»Kriegt du davon keine Blähungen?«
Die derzeitige „Freundin“ meines Bruders unterbricht mich beim konzentrierten Auslöffeln der Soße. Bedächtig drehe ich mich samt meinem Drehstuhl in ihre Richtung. Sie hat nun schwarze Leggings bis zu den Knien und ein transparentes, langes T-Shirt an, darunter blitzt ein neonpinker BH hervor.
»Wenn du länger bleibst, wirst du es schon sehen«
Eigentlich habe ich nicht beabsichtigt, dass es sich so zweideutig anhört, sie soll mich in Ruhe essen lassen.
Ob Egor sie einfach allein gelassen hat? Das tut er manchmal, wenn seine Mädchen anfangen ihm auf den Sack zu gehen – er klaut ihre Handys, lässt sie irgendwo im Haus herumirren bis sie genug haben und dann wirft er sie raus, und das alles, weil es ihm Spaß macht. Man sollte wissen, dass bei uns alles gleich aussieht, jede Tür ist gleich, jeder Flur gleicht dem anderen und so weiter.
Naja, wenn er heulende Weiber spaßig findet, bitte, nicht mein Problem, Hauptsache sie kommen nicht bei mir an.
»Das war keine Aufforderung hier zu bleiben, okay? Such ruhig weiter nach deinem Handy, ich habe es aber nicht«, sage ich gereizt, als sie sich auf meinem Bett niederlassen möchte.
»Du bist genauso wie man dich beschreibt, Arschloch«, meint sie abfällig und macht ganz langsam Anstalten aus dem Zimmer zu stolzieren. Ich schaue ihr nachdenklich hinterher und treffe eine Blitzentscheidung – ich springe auf und eile zu ihr, drücke dann ohne Umschweife meine Lippen auf ihre. Ich weiß genau warum sie sich in mein Zimmer "verirrt" hat. Ihre Blicke haben sie verraten.
»Ich steh' auf Zicken«, knurre ich tief aus und knabbere dann an ihrem Hals, während meine Hand ihre Brust sucht, bis sie zittrig seufzt, ihre harten Nippel sind durch den Stoff gut fühlbar. Erregt schubse ich sie nicht sehr zimperlich auf mein Bett, reiße ihr förmlich die Leggins zusammen mit den Slips in einem Schwung herunter und spreize ihre Beine, um zwischen sie Platz zu nehmen. Indessen sind ihre Finger ebenfalls geschäftig, sie schiebt meine Boxershorts nach unten – die Hose ist bereits in die Kniekehlen gerutscht. Als die Haut unserer Unterkörper sich berührt, stöhnen wir beide auf und ich werde steinhart in ihrer zierlichen Faust.
Keine Zeit vergeudend klemme ich ihre Oberschenkel unter meinen Achseln ein und lasse meine Zunge kurzweilig über ihren Bauch und immer tiefer gleiten, nur solange ich mir ein Kondom überziehe, den sie vorher aus ihren Händen gezaubert hat. Ihre Beine schlingen sich um meine Mitte, und dann positioniere ich mich mit meiner Spitze direkt an ihrem Spalt und stoße ohne Vorwarnung wild ein, was sie zu einem spitzen Schrei bringt und anschließend zum lustvollen Stöhnen. Meine Bewegungen sind zuerst unkontrolliert, doch ich finde schnell einen Rhytmus, während ich sie am Becken festhalte, damit sie in meinem Tempo bleibt. Es ist still im Zimmer, nur das klatschende Geräusch von Haut auf Haut und unsere Laute der Befriedigung sind zu hören. Wie intim es auh sein mag, wir sehen uns nicht in die Augen. Nach angemessener Zeit werfe ich keuchend meinen Kopf in den Nacken und bin bereits kurz vor dem Highlight, als sie sich mir abrupt entzieht und befielt:
»Nimm mich von hinten«
Bitte was? »Nein–«
»Ich will es aber ausprobieren, ich hatte das noch nie!«, sagt sie weinerlich und setzt eienen Dackelblick auf.
»Von mir aus kannst du es mit meinem Bruder „ausprobieren“ aber ich will nicht der Erste sein, klar?«
Mädchen ohne jegliche Erfahrung in dem Bereich sind da ganz schön empfindlich und ich bin jetzt nicht in der Stimmung mir ihre Jammerei anzuhören, falls es ihr zu schmerzhaft wird.
Sie rückt noch weiter von mir weg und überkreuzt ihre Beine.
»Wenn du es nicht machst, dann lass ich dich gar nicht mehr ran«
Verzweifelt schaue ich auf meinen fast platzenden Freund und dann auf sie. Ihr selbtgefälliger Ausdruck macht es mir leichter. Nein, das kann ich auch selber zu Ende bringen wenn nötig, ich lasse mich von ihr nicht erpressen.
»Dann geh raus, du Flittchen, du kannst ja Egor anbetteln gehen«, zische ich Alessia an, drängle sie von meinem Bett runter, obwohl sie untenrum nichts anhat und nehme stattdessen ihren vorgewärmten Platz an.
»Das ist…Ich…«, stottert sie ungläubig und sammelt ihre Sachen auf, steht danach tatenlos da und starrt mich an.
»Was? Dachtest, du bist so gut? Oder, dass ich so schwanzgesteuert bin, dass du dir alles erlauben kannst? Bei mir bist du falsch, ich habe nichts gegen einen eigenen Handjob einzuwenden«, meine ich und massiere mich zum Beweis ungehemmt, träge, vor ihren Kulleraugen.
Mit einem wütendem und leerem „Das wirst du noch bereuen!“ verpufft sie sich aus meinem Zimmer und ich weiß, dass wir uns noch mindestens einmal wiedersehen werden, wenn sie irgendwann zu mir angekrochen kommt. Ich hoffe aber, es ist ihr zu peinlich und sie erzählt nichts davon Egor – er wird ungemütlich, wenn man sich an seinem Eigentum vergreift.
»Miloslav? Schatz, bist du fertig? Wir wollen los zu Anja«
Erschrocken schnelle ich auf die Füße und schlüpfe hektisch in ein weißes Hemd und blaue Jeans, stachele die kurzen Haare mit Haargel etwas mehr auf und stürme in den Eingangsflur, wo bereits meine Familie versammelt steht – außer meinem Vater, der irgendwo im Ausland ist und natürlich meiner Schwester Anja, zu der wir unterwegs sind. Meine Mutter tippelt ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und ist für ein einfaches Mittagessen zu schick gekleidet – ein wallendes, dunkelblaues Satinkleid.
Also echt übertrieben.
»Endlich! Wie immer lässt der Herr auf sich warten. Kommt jetzt, wir werden zu spät kommen, wenn wir nicht in zehn Minuten dort sind! Husch«
Wir alle gehen im Gänsemarsch zur Limousine und steigen nacheinander hinein.
»Sergej, tu dieses schreckliche Metallstück aus deinem Ohr, Egor zieh deine Beine mehr an, du machst mein Kleid noch dreckig. Miloslav, hast du das Hemd vorher bügeln lassen, das sieht nämlich nicht so aus«
So aufgedreht war sie schon lange nicht mehr. Als ihre heißgeliebte Anja abgehauen ist, hat sie sehr darunter gelitten und hat seitdem versucht sie zum Rückzug zu bewegen, während ich kein Wort mehr mit der Verräterin gewechselt habe. Anja war Mams Liebling – danach hat sich das zwar größtenteils auf mich verlagert, aber sie ist dennoch ihre einzige Tochter geblieben. Ihre Dochen'ka.
Die Fahrt vergeht nach der Nörgelei größtenteils im Stillen, jeder macht sein eigenes Ding – ich und Sergej hören unsere Musik mit Kopfhörern, Egor tippt geschäftig in sein Handy und meine Mutter telefoniert dauernd kichernd mit einer ihrer Frisör-Freundinnen.
»Wir sind da Frau Titow«, lässt der Chauffeur wissen. »Soll ich warten?«
»Oh, nein danke, ich rufe Sie an, Viktor, wenn wir abgeholt werden müssen. Tschü-üs. Los, raus Kinder«
Vor mir erblicke ich ein stinknormales, familiäres Backsteinhaus mit ordentlichem Vorgarten, in dem bunte Blümchen gepflanzt sind. Was habe ich eigentlich anderes erwartet?
»Hier wohnt sie? Passen wir da auch alle rein?«, fragt Egor abfällig niemand wirkliches.
»Tze. Egor, nicht jeder kann sich ein großes, schönes Haus leisten, wie wir es haben. Lasst uns reingehen. Miloslav, kannst du bitte klingeln?«
Wie gebeten drücke ich die Klingel, auf die noch kein Name geschrieben wurde. Einen Augenblick passiert gar nichts und dann erklingt ein Schlüsselklirren und Egor drängt mich nach vorne, sodass ich in die geöffnete Tür reinstolpere – unmittelbar vor meine Schwester. Sofort richte ich mich auf und setzte mein Pokerface auf.
»Hallo, Anja«
»Hallo«, sagt sie leise, umarmt uns der Reihe nach unbeholfen und senkt dann den Kopf, als ich die Arme vor der Brust verschränke, um ihr so zu signalisieren, dass sie sich ihre Umarmung sonst wohin schieben kann. Nach einem hörbar tiefen Einatmen, tritt sie einen Schritt zur Seite und macht eine halbwegs einladende Handbewegung ins Hausinnere.
»Geht den Flur entlang, ich habe Essen für euch vorbereitet, es ist alles auf dem Tisch. Ich muss Lana kurz das Gesicht sauber machen und dann komme ich wieder«
Sie ist älter geworden seit unserer letzten Begegnung und sieht auch müder aus, ihre Haare sind länger, sie hat Lachfältchen und mehr Speck auf den Hüften als je zuvor. Früher war sie davon besessen wie die Models auszusehen, jetzt anscheinend nicht mehr. Sie ist so fremd.
Hinter ihr entdecke ich ein kleines, pummeliges Mädchen, die mir ein zahnlückenreiches Lächeln schenkt, mit einem triefenden Schockobart. Süß die Kleine, sieht Anja und der Familie Titow allerdings nicht annähernd ähnlich. Sie hat braune Löckchen und ebenso braune Augen, sie erinnert mich an irgendwen …
Wir trotten schweigend durch den Flur in ein Esszimmer, wo ein Tisch steht, voll beladen mit Essen, sogar eine gebratene Ente ist dabei.
»Das sieht doch lecker aus«, zwitschert meine Mutter, den Kuchen dazwischen quetschend – seit Anja und sie in einer innigen Umarmung lagen, als wäre nichts gewesen und alles verziehen und vergessen, ist sie so überfröhlich.
»Ich kann das nicht essen! Da ist zu viel Fett drin und ich bin doch zurzeit auf eine andere Ernährung umgestiegen«, beschwert Egor sich unüberhörbar und pflanzt sich auf einen der Stühle hin. Ich tu es ihm kopfschüttelnd gleich.
»Du meinst deine Weiber-Diät?«
Zornig will er nach mir greifen, aber wird von Mam aufgehalten und zurück auf den Stuhl gedrückt. Deswegen begnügt er sich mit: »Das ist keine Diät, du Depp«
Anja gesellt sich zu uns in den Essraum, ihre Tochter Lana an der Hand und an der anderen–
Ach du Kacke!
»Mam, Egor, Sergej…Milo, das ist meine Tochter Lana und das ist mein Mann Pascal«
Pascal, der neue Mann meiner Schwester, arbeitet bei mir an der Schule und ist nebenbei der Bodyguard Bunnys – was ist das für eine gequirlte Scheiße?
Für alle unbegründet, falle ich in ein schallendes Gelächter und kann gar nicht mehr aufhören.
Und noch ein Schlag in die Magengrube – daraus wird meiner Erfahrung nach ein tellergroßer Bluterguss – er strengt sich nicht mal an, keine Spuren zu hinterlassen. Wenn ich gewollt hätte, könnte ich mit diesen sehr leicht beweisen, was er mit mir anstellt und ich wäre ihn los, vielleicht endgültig – doch so leicht ist das eben nicht, mir fallen viele Gründe ein es nicht zu tun: Er ist mein Vater, einen andern kriege ich nicht, zudem bin ich noch nicht volljährig und müsste entweder zu Pfelgeeltern oder bei meiner Mutter bleiben. Das Zweite ist eher unwahrscheinlich, sie würde es nicht schaffen, zu arbeiten oder gar für uns beide zu sorgen. Ich zog mich so gesehen selbst groß, nur meine Großeltern halfen mir dabei, bis sie bei einem Busunfall vor sieben Jahren starben und ich urplötzlich ganz allein war. Beschweren kann ich mich jedoch nicht – so ist halt mein Leben, ich kann es nicht ändern.
Diese Schläge sind die Strafe für den Brief, den ich von der Schule gekriegt habe und den ich normalerweise nicht meinen Eltern gezeigt hätte, aber er musste unterschrieben zurückgegeben werden. Deswegen ging ich zu meinem Vater – meine Mutter ist eine Legasthenikerin, sie hat nie schreiben oder lesen gelernt. Jedenfalls hat er den Brief durchgelesen, wo drinstand, dass ich wegen unsozialem Verhalten als freiwilliger Helfer aushelfen soll. Er brüllte rum, ich würde Schande über unsere Familie bringen, obwohl ich von Milos Großvater doch erfahren hatte, dass er seiner Zeit auch nicht der Unschuldigste war. Wieder kann ich mich nicht wehren und lasse alles über mich ergehen bis er fertig mit mir ist. Danach liege ich bewegungslos auf dem Fußboden, habe die Augen geschlossen und warte, dass der Schmerz ein wenig abklingt. Es tut so weh – nicht nur körperlich sondern auch seelisch, wie kann er mir sowas antun, seinem eigenen Sohn, und aus welchem Grund?
Von unten höre ich ihn bellen, was sich nach „Heb' deinen Arsch und hol Brot. LOS“ anhört.
Ich rolle mich auf die Seite und versuche so vorsichtig wie möglich aufzustehen, ohne die schmerzenden Gegenden meines Körpers zu belasten, doch trotzdem kann ich nur schwer einen Schrei verhindern. Ächzend, einen Arm um den Bauch geschlungen, erhebe ich mich vollends und wechsele angestrengt die Schlabberklamotten gegen Jeans und Shirt. Zum Kühlen bleibt mir anscheinend keine Zeit mehr, es muss bis später warten – was ich bestimmt noch bereuen werde – also schlurfe ich zähneknirschend aber schleunigst aus dem Haus, nicht, dass ich wieder auf meinen Vater treffe.
Den Weg zur Bäckerei bringe ich mit viel Hinken und Qual hinter mich, zu meinem Glück ist es nicht so weit bis dahin. Ich habe noch diesen und den nächsten Tag um mich zu erholen, dann ist Montag und das heißt mit Milo zusammen irgendwo arbeiten für umsonst. Das ist so gemein!
Gerade überquere ich die Straße, da höre ich ein mir gut bekanntes, schadenfrohes Lachen. Milo! Oh, bitte nicht heute!
Er steigt von seinem schicken Motorrad und ich muss zugeben, dass er dabei ziemlich cool wirkt.
»Hey, Bunny! Wer hat dich denn so zugerichtet? Das will ich nur wissen, um der Person eine Dankeskarte zu schicken«
Das ist überhaupt nicht lustig! Ich würde alles dafür geben ihm für das Gesagte eine scheuern zu können, buchstäblich alles. Er weiß doch gar nicht was los ist, aber was würde es schon ändern, falls doch?
Auf einmal bemerke ich auch Michael, der auf Milo einredet und mir dabei Handzeichen macht, die ich als „geh schon“ interpretiere. Ich beschleunige mein Hinken und schaffe es an Milo vorbeizukommen, ohne, dass er es registriert. Ein himmlischer Duft weht mir in die Nase – ich liebe den Geruch nach frisch Gebackenem, es lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Schade, dass ich mir nichts kaufen kann. Kaufen! Ich habe mein Geld vergessen und zurück kann ich doch nicht, mein Dad würde ausflippen wenn ich mit leeren Händen zurück komme! Ich stehe da, mitten in der Bäckerei, wie bestellt und nicht abgeholt, die Frau hinter der Theke sieht mich abwartend lächelnd an, und ich habe keine Ahnung was ich nun machen soll.
Plötzlich tönt ein Glockenklingel und Michael hinter mir fragt: »Was'n los?«
»Ich habe das Geld vergessen«, antworte ich ehrlich, es gibt keinen Anreiz zu lügen.
Er schnaubt und drückt mir etwas in die Hand, als ich sie öffne befindet sich dort vierzig Euro.
»Deswegen guckst du wie so'n verschrecktes Kaninchen? Hier, die hab ich Milo abgezogen«
Demnach verzieht er sich in der Tür hinter der Theke, ehe ich das Geld abwehren oder mich bedanken kann. Erleichtert seufzend kaufe ich ohne Eile einen Laib Mischbrot und trete wieder hinaus – Milo ist nirgends zu sehen. Gut so, ich werde übermorgen und die nächsten Wochen genug von ihm haben. Sobald ich daran denke, wird mir schon speiübel. Ich hoffe, wo wir arbeiten werden, gibt es genug Platz, um mich zu verstecken. Es wurmt mich immer noch, dass ich wegen dem ganzen Mist die Praxistage verpassen werde.
»ÜBERRASCHUNG! OMG! Roman! Du bist so gewachsen. Deine Brille ist...immer noch die selbe LOL!«, kreischt ein überdrehter, rothaariger Lockenkopf und reißt mich von den Füßen – wir landen beide im Gras meines Vorgartens.
Überrascht blinzele ich meiner gleichaltrigen Cousine ins rotwangige Gesicht und ächze unter ihr schmerzhaft.
»Sina, was tust du denn hier? Steh bitte auf, mir tut alles weh«
Sie entlastet meinen geschundenen Körper und hilft mir beim Aufstehen.
»Oh. Dein Dad wieder?«
Beschämt entgehe ich ihrem wissenden Blick. Sina ist die einzige, der ich das erzählt habe und sie behütet alle meine Geheimnisse bereits seit Jahren, weil ich sie darum gebeten habe.
»Egal! Wie gesagt, das ist eine Überraschung, ich ziehe zu euch ins Haus, ist das nicht toll? Naja, zumindest so lange, bis meine Eltern ihren teuren Kram hierher geschafft haben. Und Mam hat ihre Agoraphobie, hat Angst vor Reisen. Natürlich ist da auch der Leopard, Piedro, der echt anspruchsvoll ist, er braucht viel Pflege und so – schließlich wird er später in einen Mantel oder einen Teppich verarbeitet, das ist Dads neues Hobby.…« Meine Cousine verdreht übertrieben ihre Augen. »Achja, ich besuche auch die gleiche Privatschule wie du. Sag was!«
Diesmal falle ich ihr um den Hals und lache erfreut auf, ich liebe Sina einfach, sie hat immer gute Laune und ich mag ihre hyperaktive Art, mit der sie es bei jeder Gelegenheit schafft, mich zum Lachen zu bringen. »Das ist genial!«
Das ist mein Ernst – das ist super genial, das Beste was mir in den letzten Wochen passiert ist. Sofern sie bei uns zu Besuch ist, verhält sich mein Vater wie ein netter, fürsorglicher Vater und das ist eine gute Abwechslung zu seinem sonstigen Verhalten, eine Art Pause von Schmerzen.
»Oh, Roman, ich bin so froh dich mal wieder zu treffen, ist ein Jahr her seit dem letzten Mal, nicht? Du hattest Locken wie ich und nicht so raspelkurze, aber es passt zu dir. Erzähl, hast du einen süßen Kerl am Hacken?«, plappert sie, hackt sich bei mir unter und wir gehen so ins Haus, mein Vater ist wahrscheinlich weg, mit seinen Kumpels vor dem Fernseher saufen, ich wundere mich woher er Seinesgleichen findet – in dieser Vorstadt sind die meisten wohlhabend und arrogant, keine Säufer.
»Es gibt…gab da einen. Pascal«, erwidere ich zögernd, mache den Fernseher an und setze mich zu Sina aufs Sofa.
»Uh, Pascal, klingt sexy! Er ist doch sexy? Warte, „gab“? Es ist vorbei? War er zu hart beim Sex oder hat er einen mickrigen–«
»Sina«, unterbreche ich sie errötend und halte mir die Ohren zu, muss dennoch grinsen über ihre Unverschämtheit, sie hat mir gefehlt. »Nein, es war viel schlimmer. Er ist verheiratet und hat eine Tochter, aber bevor ich das herausfand, hat er mich…wir haben…ehm«
»Wie Karnickel miteinander gevögelt?«, ratet sie, bettet meinen Kopf in ihren Schoß, streicht meine Augenbraue entlang, das macht sie seit wir Kinder sind, um mich zu beruhigen und es funktioniert – meine Röte flaut stetig ab.
»So ungefähr. Es ist aber vorbei, ich will nichts mehr von ihm wissen«
»Ist auch verständlich, mein armer Lieblingscousin! Dieser Mistkäfer!!« Ihre Wuschelhaare fliegen in alle Richtungen, als sie kopfschüttelnd den Fernsehschalter auf den Teppich pfeffert, und die Batterien herausrutschen. Ich bin im Moment zu faul, um es aufzuheben und schließe stattdessen meine Augen, genieße ihr Streicheln, das mich langsam in den Schlaf lullt.
»Du brauchst Ablenkung, Süßer«, ruft sie fröhlich und hat vor, sich zu erheben, aber ich erinnere sie noch rechtzeitig, mit einem Kniff in ihren Oberschenkel, daran, dass ich noch auf ihrem Schoß liege.
Murrend mache ich es mir wieder bequemer und sie setzt das Streicheln fort.
»Ich werde ab nächste Woche genug Ablenkung kriegen, glaube ich«
»Inwiefern? Gehst du in den Puff? Oh nee, ich meinte Schwulenclub. Ich kann dich gerne begleiten, vielleicht schaffe ich es einen umzupolen, wäre doch extrem cool!«
»Nein, ich wurde unfreiwillig als freiwilliger Helfer eingeteilt, wegen Milo«
»Oh, du redest von diesem blauäugigen Schnuckelchen, mit dem du dich nie verstanden hast und der dich piesackt?«
»Ich verstehe mich mit keinem, genau gesagt, aber ja, der ist es. Er gibt mir die ganze Schuld und sagt „ich hätte ihn nicht so aufregen sollen“. Dabei war er derjenige, der mich herumgeschubst hat. Sina, du kannst dir nicht vorstellen, wie ich diesen Kerl hasse«, gebe ich wütend zu und balle die Fäuste, doch sie nimmt mir die Brille ab und erklärt: »Ruh' dich ein wenig aus, ich hole dir nur schnell etwas zur Kühlung – du hast es selbst vergessen, so wie ich dich kenne«
Sie tut wie gesagt und legt mir nach einer vergangenen Minute ein Kühlkissen unterhalb der Rippen. Woher sie weiß, wo sich der Bluterguss bildet, ist mir ein Rätsel, aber ich bin sehr glücklich darüber, sie hier zu haben.
Am Montagabend stehe ich mit einer Umhängetasche um die Schulter und einem breiten Grinsen im Gesicht an der Bushaltestelle, Sina ist an meiner Seite. Sie hat mir versprochen zu bleiben, bis der Bus kommt. Wer hat sich das überhaupt ausgedacht um diese Uhrzeit noch aufzubrechen?
Das restliche Wochenende war das Beste seit langem, gänzlich ohne die Schikanen meines Vaters, dafür reichlich Knabberzeug, Filme und Quatschen.
Nun fühle ich mich auf die nächsten Wochen, also auch auf Milo, vorbereitet und das verdanke ich allein meiner süßen Cousine, die so positiv geladen ist.
Allerdings verwischt das Grinsen zu einer Grimasse, als ich Milo auf dem protzigen Motorrad anfahren sehe. Er parkt das Teil und schlendert, eine Kippe rauchend, gemächlich auf uns zu. Von oben herab mustert er erst mich und danach Sina, deren Fingernägel sich in meinen Unterarm krallen.
»Ist er das? Wohow! Der ist ja noch heißer geworden als vor einem Jahr! Ob ich Fotos mit ihm machen kann und sie unter „Mein Freund“ bei Facebook reinstellen darf?«
Zischend entziehe ich meinen Arm ihren scharfen Nägeln, werfe ihr einen vernichtenden Blick zu, worauf sie schuldbewusst die Lippen aufeinander presst und sich mit Mühe von Milos Anblick losreißt.
»Auf wessen Seite bist du eigentlich? Also ich entdecke da nichts Heißes«
»Du musst ihn objektiv betrachten–«
Auch objektiv betrachtet wirkt er bloß hohl und grob.
»Sina! Hast du vergessen, was er ständig mit mir macht?«
»Okay, okay! 'Tschuldige Süßer, du hast Recht – er ist potthässlich. Sogar eine Gesichtsoperation würde da nicht weiterhelfen und–«
Im Prinzip habe ich sonst nichts gegen ihren Redefluss, aber manchmal kann es stören.
»Schon gut, sei still«, rede ich dazwischen, weil Milo bereits sehr nahe ist.
»Bunny, bist du bereit die Woche mit mir zu verbringen? Das wird mit Sicherheit spaßig, du wirst sehen«, begrüßt er mich, erst jetzt fällt mir die kleine Reisetasche in seiner Hand auf – ich stutze und er bemerkt es. »Ach, habe ich vergessen, dir den Infozettel weiterzugeben? Wir machen einen einwöchigen „Ausflug“ zu dem besten Pflegeheim im ganzen Umkreis – inklusive Übernachtung«
»WAS?!«, kommt es ungläubig von Sina, während ich vor Schreck erstarre.
»Du bist ja wirklich so ein Arschloch wie man hört, sogar noch bösartiger! Falls du meinem Roman auch nur ein Haar krümmst, breche ich dir all deine perfekten Finger! Ich kratze deine eisblauen Augen heraus und binde sie mir um den Hals und deine Zunge werde ich–«, schreit sie, ich halte ihr den Mund zu.
Milo macht unwillkürlich einen Schritt nach hinten und blinzelt kurz, indes Sina die Drohungen ausspricht. Gleich darauf jedoch erlangt er seine alte Selbstbeherrschung wieder und knurrt ernsthaft aggressiv:
»Bunny, pfeif' deinen Rottweiler zurück, sonst setzt es was, das verspreche ich dir! Ist mir schnuppe, dass sie ein Mädchen ist«
Ich halte diese vorsichtshalber an den Schultern fest, nicht dass sie auf Milo losgeht – im Grunde hätte ich nichts dagegen einzuwenden, aber der Bus biegt in die Einfahrt ein und ich muss außerdem das mit der Übernachtung irgendwie regeln. Einfach verschwinden kann ich nicht – nicht, ohne meinem Vater vorher zu warnen. Milo hat keine Ahnung, was er mit diesem blöden Streich angerichtet hat. Wie soll ich aus dieser Misere heil herauskommen?
»Einsteigen! Ich warte nicht ewig«, grölt der Busfahrer, sobald die Bustür offen ist.
»Aber…aber…ich habe kein Gepäck!«, stammle ich panisch, doch Milo bugsiert mich in den Bus, ohne, dass ich was dagegen tun kann, die Türen schließen sich zischend und ich habe nicht mal die Zeit, mich zu verabschieden oder gar mein Problem zu lösen.
Meine Cousine winkt wie verrückt, als ich an eines der Fenster stürme und Milo, der am anderen steht, zeigt ihr herbe Handzeichen. Lachend setzt er sich auf den Platz ganz hinten, stöpselt sich Kopfhörer in die Ohren und schließt entspannt die Augen. Und ich dagegen bin kurz vorm verzweifeln, zähle inständig darauf, dass Sina so lieb ist und alles mit meinem Vater klärt – ein Handy wäre im Augenblick durchaus nützlich, doch andererseits bin ich auch froh ihn nicht anrufen zu können. Keine Wechselkleidung, keine Zahnspangenbürste, kein Waschzeug und dazu kommt Milo – wie soll ich diese Woche überleben? Warum hasst er mich derartig?
»Setz dich hin, verdammt noch mal, wir müssen noch einen Passagier abholen. Also, das ist doch unmöglich…da soll ich den Kerl extra abholen, obwohl es ein Umweg ist…den Sprit wird er mir bezahlen…«, brummt der Fahrer vor sich hin, worauf ich mich überfordert auf einen harten Sitz niederlasse und nachdenke. Noch jemand muss abgeholt werden? Ein Aufpasser möglicherweise, oder ein freiwilliger Helfer, so einer wie Milo und ich?
Der Bus ruckelt über ein mächtiges Schlagloch und ich wundere mich darüber – die Straßen in unserer Vorstadt hat perfekt asphaltierte Straßen und Schlaglöcher gibt es nur außerhalb. Es kommt ein lautes Fluchen von vorne und der Bus stoppt mit quietschenden Reifen, die Tür faltet sich zusammen und ein Kerl springt hinein. Er scheint außer Atem zu sein, ein Reisetasche hat er auch in den Händen und damit schlendert er den Busgang entlang, die Beschimpfungen des Busfahrers ignorierend. Sein Blick haftet sich an mir fest und ich schnappe fassungslos nach Luft.
Was habe ich getan, um das hier zu verdienen? Milo und Pascal, ausgerechnet die Personen, die ich am meisten meiden will. Mein Kopf fängt an zu glühen, weil Pascal mitten im Gang steht und mich entschuldigend anstarrt. Erst nachdem ich mich bei Sina ausgeheult hatte, hat sich die anfängliche Wut auf ihn gelegt, es ist nur noch Traurigkeit da. Ich dachte, es würde mit ihm alles besser werden, ich könnte mich auf ihn verlassen, schließlich war er so nett und zärtlich zu mir gewesen und hat sich wochenlang die Mühe gegeben sich mit mir anzufreunden. Alles eine Täuschung. Und wozu? Bloß um mit mir zu schlafen? Ich wende den Kopf ab und gucke aus dem Fenster, damit ihm meine aufsteigenden Tränen nicht auffallen.
»Roman, ich wurde gezwungen mitzufahren, ich–«
»Sieh mal an, mein lieber Schwager hat sich zu uns gesellt, das muss Schicksal sein«, tönt Milo sarkastisch, Pascal knurrt daraufhin hörbar und setzt sich ein paar Sitze vor mich.
Prompt verschlucke ich mich an meiner eigenen Spucke und huste. Habe ich richtig verstanden, Schwager? Ich habe mit Milos Schwager geschlafen, wie makaberer kann es noch werden? Was würde er wohl mit mir anstellen, wenn er herausfinden würde, dass ich mit dem Mann seiner Schwester was habe, beziehungsweise hatte? In kleine Stücke würde er mich zerschneiden und darauf herumtrampeln, nicht weniger! Müde schließe ich die Augen, versuche die Gedanken an die beiden zu verscheuchen und einzuschlafen; es gelingt mir sogar nach einer Weile in ein unruhiges Schlummern zu fallen.
»Roman, wir sind da«
Ein Schulterrütteln weckt mich auf, Pascals Gesicht, welches von den kleinen Buslämpchen erleuchtet wird, befindet sich höchstens eine Handbreit vor meinem und ich schrecke zurück. Gleich darauf versetzt Milo mir aufeinmal einen kräftigen Schulterhieb.
»Aufstehen, Bunny, kannst du es auch kaum erwarten?«
»Hey, lass ihn, was ist dein Problem?«, fährt der Größere ihn an und seine Hand zuckt verdächtig.
»Er ist mein verdammtes Problem, aber dich geht das 'n Scheiß an, lieber Schwager Schrägstrich Bunnys Bodyguard«
Seine Nasenflügel blähen sich, er sieht gehässig auf mich herunter und marschiert dann aus dem Bus.
Ich tue es ihm schleunigst gleich, damit ich mit Pascal nicht allein sein muss, oder es noch peinlicher wird, als es sowieso schon ist.
»Roman, wir müssen auch Mal reden…«, flüstert er, als ich an ihm vorbeigehe, doch ich beachte es schweren Herzens nicht und trete in die Dunkelheit. Dort erblicke ich ein riesengroßes Landhaus mit einem doppelt so großen Garten.
»Folgt mir, ich zeige euch eure Zimmer«, beordert eine dickliche Frau in Schwarz ohne jegliche Begrüßung und führt uns zielstrebig ins Haus – wir müssen ihr natürlich folgen.
Milo hat sich seine Ohrstöpsel wieder reingesteckt und schlurft geräuschvoll mit den Schuhen, was ihm einen mahnenden Blick von der Frau einbringt, der gar nichts nützt. Sobald wir drinnen sind, weht mir ein durchdringender Geruch nach lackiertem Holz gemischt mit Medizin entgegen, was mich stark an ein Krankenhaus erinnert, die ich nicht ausstehen kann – ich war schier viel zu oft in welchen. Und hier soll ich diese Woche verbringen, ich kann nur hoffen, dass ich mich mit alten Menschen beschäftigen muss, denn mit denen komme ich erstaunlich gut klar, da ich früher reichlich Zeit bei meinen Großeltern verbracht habe.
»Wir haben nur zwei Gästezimmer frei, die Freiwilligen gehen in die Nummer 12, die Schlüssel liegen auf den Betten, nicht verlieren, und Sie…«, sie schaut auf eine Liste in ihren Händen und ich hebe meine Hand um zu widersprechen – auf halber Höhe hält Milo mich fest und verhindert es so.
»…Herr Risan, begleiten mich weiter, Sie werden in der Personal-Etage übernachten. Morgen um acht Uhr früh, werde ich Sie beide abholen, wir dulden keine Verspätungen«
Damit macht sie kehrt und Pascal begleitet sie ohne mich nochmal anzusehen. Alles in mir schreit danach, ihm hinterherzulaufen und ihn anzubetteln, mich nicht mit dem neben mir allein zu lassen.
»Los, Bunny, davor kannst du dich nicht drücken«, lacht Milo und ähnelt meiner Meinung nach einem Comic-Bösewicht. Mir schwirren verrückte Gedanken im Kopf rum, zum Beispiel, dass ich zu Fuß nach Hause laufen könnte, oder zu Pascal gehen und bei ihm übernachten – das klingt auf jeden Fall besser, als mit Milo in ein und demselben Raum zu schlafen. Wer weiß, was er vorhat? Ich habe keine Lust mit einem Eimer Wasser geweckt zu werden oder ähnliches Blödes.
Ich bleibe im Türrahmen stehen, inzwischen wandert er im Zimmer herum, schmeißt seine Tasche aufs Bett an der rechten Seite und lugt in den Schrank auf derselben. Zwischen unseren Betten ist nicht viel Abstand, was mich äußerst beunruhigt, und sonst gleicht die Einrichtung eher einer etwas größeren Besenkammer, in das zwei Betten, ein Nachtisch und ein Schrank gequetscht wurden.
»Kack' dir nicht in die Hose, Bunny, ich bin am Ende, deswegen kannst du beruhigt Schläfchen halten, außerdem habe ich grad nicht die Stimmung für Späße. Kommst du heute noch rein? Mach die Tür hinter dir zu«
Milo zieht sein Shirt und Hose vor meinen Augen aus und schmeißt zum Schluss alles, seine Boxershorts eingeschlossen, achtlos auf den Boden und lässt sich aufs Bett fallen, mich hat er dem Anschein nach vollkommen vergessen oder es ist ihm egal, dass ich dabei bin und ihn beobachte – mit offenem Mund. Wir haben zwar wöchentlich zusammen Sport, aber ich bin stets in einer ganz anderen Abteilung und habe ihn deshalb nie ohne Kleidung gesehen. Ich hasse mich selber zutiefst dafür, dass ich das überhaupt denke, aber sein Körper ist der Hammer und unten rum hat er offenbar eine Intimrasur – eine auffällige – die ich noch nie zuvor gesehen habe. Generell ist er durchtrainiert und leicht gebräunt, mir schießt das Blut in die unteren Regionen und mein Herz wummert doppelt so stark in der Brust. Wie kann er bloß so unverschämt sein und ich kriege das nicht hin? Einer wie er kriegt den Superbody, ich das Gegenteil davon!
Eilig streife ich meine Klamotten, die Shorts selbstverständlich nicht, und die Brille ab und schlüpfe unter die dünne Decke. Milo ist offenbar eingeschlafen und meine Lider schließen sich ebenfalls.
Mitten in der Nacht werde ich durch ein Geräusch aus meinem schönen Traum gerissen – ein Geräusch, als ob etwas entfernt Glas zerbrechen würde. Ich setze die Brille wieder auf und sehe mich um, entdecke, dass mein Zimmernachbar nicht mehr in seinem Bett liegt und die Tür sperrangelweit offen ist. War er das?
Neugierig geworden erhebe ich mich und schleiche lautlos, auf Zehenspitzen, in den mäßig beleuchteten Gang, an dessen Ende Milo sich befindet und seine rechte Hand in eine andere Tür reingesteckt hat. Er bebt, so als ob er unterdrückt kichern würde. Was macht der Idiot da?! Einen hilfsbedürftigen Menschen ausspionieren?
Fast geräuschlos tipple ich auf ihn zu und gucke über seine Schulter in den Türspalt hinein.
Ach du…!
Mit einem baffen Ächzen weiche ich zurück und kralle mich versehentlich am Arm meines Vordermanns fest, welcher in die Höhe springt und gleichzeitig zu mir herumfährt, sodass wir gegeneinander prallen.
»Gott, Bunny«, zischt er wütend, schubst mich grob von sich weg und versteckt irgendwas hinter dem Rücken.
Ich bin zu perplex, um nachzuforschen, was es ist, oder etwas dagegen zu tun, als er mich wieder in Richtung unseres Zimmer schiebt.
»Ich habe geahnt, dass mit den beiden was nicht stimmt, aber das…«, kopfschüttelnd verzerrt sich sein Gesicht zum einen Teil angewidert und er schüttelt sich. »Das ist widerlich«
Es ist schön, hätte ich beinahe widersprochen, kann aber gerade noch die Klappe halten. Xander und Casper haben wild miteinander geknutscht und es schien so, als würde da noch mehr laufen. Wie lange das wohl so geht, womöglich von Anfang an? Sind sie deswegen so unzertrennlich? Oder ist es bei ihnen das erste Mal? Auf mich haben sie nie wie ein Paar oder ähnliches gewirkt, eher wie sehr enge Freunde – naja, wahrscheinlich weil sie es geheim halten möchten, so wie ich, was meine Sexualität betrifft. Ich sollte dringend aufhören daran zu denken!
»Sie sahen glücklich aus…«, murmele ich zu mir selbst.
»Was hast du gesagt?«, fragt Milo mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen und gähnt sichtlich müde.
»Nichts«
»Wie auch immer, Bunny, ich geh' jetzt pennen, hoffentlich kriege ich keine Albträume von dem Scheiß«
Ich senke den Blick zu Boden, beschämt, dass ich Neid verspüre – Neid auf Xander und Casper, ich wünsche, ich hätte jemanden, der mich so anguckt und berührt. Am besten einen, der nicht verheiratet ist.
»Roman, was macht du so spät hier?«
Na toll, wenn man vom Teufel spricht – oder besser denkt. Fast augenblicklich sammelt sich das bestimmte Wasser in meinen Augenwinkeln.
»Nichts«, wiederhole ich, nun im Versuch entschlossener zu klingen – was nicht so gut klappt. Die Vorwürfe und die Wut sind wie weggeblasen, als hätte sie nicht existiert. Dagegen ist das Gefühl wieder erwacht, welches mich veranlasst hat mit ihm zu schlaffen, eine Vertrautheit und dazu was anderes.
»Nichts also«, sagt er, verringert wie nebenbei ein wenig die Distanz und mein Wunsch den Tränen freien Lauf zu lassen nimmt noch mehr zu. Hat er mich nicht genug gequält? Dieser Geruch nach frischer Wäsche und seiner Haut bringt mich ganz außer Fassung.
»Roman, du kannst dir nicht vorstellen, wie Leid es mir tut, ich hatte nicht vor dich zu verletzen–«
»Du hast mich aber verletzt«, flüstere ich dazwischen und meine Schultern sacken herab. Nicht mal ein halber Meter verhindert, dass ich mich weinend in seine Arme werfe.
»Bitte, Roman, weißt du, ich konnte dir nicht widerstehen, du bist so–«
»Dumm, unattraktiv, naiv?«, zähle ich bitter an den Fingern ab und wenn es einen Wettbewerb geben würde, wer auf der Welt am jämmerlichsten ist, würde ich ihn sicherlich gewinnen.
Pascal umfasst mein Gesicht mit seinen Händen, ich bringe nicht die Kraft auf, mich zu widersetzen. Hauchzart berühren sich unsere Lippen für ein paar Sekunden und trotzdem wird mir das Atmen schlagartig schwerer. Er schaut mich liebevoll an und lächelt leicht.
»Ich wollte sagen liebenswürdig, schön und süß. Das bist du und viel mehr«
Ich drehe mein Gesicht weg, behalte aber den sonstigen Körperkontakt – ich bin nicht bereit es in diesem Zeitpunkt aufzugeben. »Wieso hast du das dann gemacht?«
Er lehnt seine Stirn an meine und sein warmer Atem streift mich, als er spricht.
»Ich habe selber keine Ahnung, ehrlich, ich dachte, dass ich meine Frau liebe! Aber aufeinmal treffe ich dich und erkenne, dass ich mich die ganze Zeit über selbst belüge, und nur mit ihr zusammen bin, weil wir eine gemeinsame Tochter haben«
»Und? Was war das für dich? Ein einmaliger Seitensprung oder hattest du vor, mich als eine Affäre zu halten und deine Familie vor mir zu verbergen, bis es irgendwann herauskommen würde?«
Jedes Wort brennt in meiner Kehle und obwohl es unwahrscheinlich ist, möchte ich, dass es nicht stimmt, dass es eine andere Erklärung gibt. Doch Pascals Mimik ist Antwort genug – ich schiebe ihn zur Seite.
»Roman…wir…ich meine…«, seufzend bricht er ab und setzt von Neuem an. »Verzeih mir«
Er greift nach meinem Kinn und drückt mich gleichzeitig an sich, hinzu kommt sein sanfter Mund. Ich rede mir ein, dass es mir keineswegs gefällt, jedoch muss ich zum Schluss zugeben, dass ich es genossen habe.
»Auf keinen Fall will ich dich verlieren – das mit uns fängt doch gerade erst an und ich tue alles dafür, dass du mir vergibst. Ich finde schon einen Ausweg und überlege mir, wie wir das lösen können. Bitte gib mir eine zweite Chance. Du kannst natürlich darüber nachdenken und mir später deinen Entschluss mitteilen, solange warte ich auf dich«
Vor Rührung fließen Tränen meine Wangen herunter. Vielleicht...? Nein, überstürzt darf ich diese Entscheidung nicht treffen, ich muss mir das gründlich durch den Kopf gehen lassen.
Es fühlt sich gut an, wie er mich hält und dass er derjenige ist, der nicht die Finger von mir lassen kann.
Mitten in meinem Schönheitsschlaf vernehme ich ein Geräusch, welches überhaupt nicht in ein Pflegeheim gehört. Zuerst denke ich, es ist ein Teil meines Traumes, aber als es sich wiederholt, mache ich brummend die Augen auf und setze mich im Bett auf. Was, oder besser gesagt, wer, ist das zum Teufel? Ist es das, was ich annehme, was es ist?
Meine Neugier kann ich nicht mehr in Zügeln halten und springe auf, nehme mein Handy mit, da sich darin auch eine Taschenlampe befindet – ich will schließlich keinen Ärger, falls noch Personal in den Gängen herumläuft. Ich mache mir nur die Mühe meine Boxer anzuziehen, weil ich nicht vorhabe lange wegzubleiben. Ein Blick auf Bunny bestätigt mir, dass er tief und fest schläft. Ich schmunzele immer noch höhnisch, sobald ich mich an sein Gesichtsausdruck erinnere, als ich ihm von unserem kleinen Ausflug erzählte oder als er mich dabei beobachtete, wie ich komplett nackt ins Bett stieg. So was könnte ich die nächsten Tage öfter machen, ich muss nur aufpassen, dass mir mein nerviger Schwager nicht in die Quere kommt. Apropos Schwager:
Das Essen bei meiner Schwester war grauenvoll – zumindest für die anderen – ich vergnügte mich die ganze Zeit auf Pascals Kosten und erwähnte sogar sein Nebenjob als Bodyguard. Bloß hatten alle so eine verkrampfte Stimmung, dass keiner wirklich meine Witze zu schätzen wusste.
Anja starrte auf ihren Teller und wenn sie aufblickte, versuchte ich sie mit Blicken zu vernichten, meine beiden großen Brüder, Egor und Sergej, waren in ihre Handys vertieft und meine Mutter stellte nach jedem Bissen bescheuerte Fragen über die Rezepte, die Anja ziemlich wortkarg beantwortete. Pascal fütterte die Kleine, obwohl diese bereits in die Schule ging und ein ganz schön großes Vokabular hatte, für ihre Größe. Sie benutzte Beschimpfungen, die nicht mal ich kannte! Als Pascal ihr versehentlich Kartoffelbrei auf die lila Bluse schmierte, wurde sie wütend und war gar nicht mehr aufzuhalten. Ich glaube sie sagte, unter Anderem, so etwas wie „Hat dir jemand ins Hirn geschissen?“, und das mit ihrer engelsgleichen Stimme und einem leichten Lispeln. Dieses Mädchen mochte ich seit dem Augenblick an mehr als die übrigen im Raum. Ihr Daddy dagegen war nicht so begeistert und schickte sie wütend, und rot im Gesicht, in ihr Zimmer, meine Schwester folgte und wir kriegten eine mächtige Standpauke mit, nach der die Kleine nicht mehr aufhören wollte zu schreien und zu heulen, wie ein sterbendes Tier. Tja, so ging es den ganzen Abend lang.
Aber egal, jetzt muss ich mich auf die Gegenwart konzentrieren, denn es scheint hier etwas Interessantes zu geschehen und ich, Milo Titow, werde es auf keinen Fall verpassen.
Im Flur sind die Geräusche zwar einen Deut lauter, aber nicht so geräuschvoll, dass es die anderen Bewohner aufwecken würde. Ich betätige den Knopf an der Seite meines Handys und sofort wird der Flur ein paar Schritte weit vor mir erhellt. Eilig folge ich den leisen Geräuschen bis hin zu einer Tür, die von den anderen nicht zu unterscheiden ist, außer dass hier auf dem Schildchen kein Name zu sehen ist.
Ohne zu zögern drücke ich vorsichtig und extrem langsam die Klinke herunter, die Taschenlampe schalte ich vorsichtshalber aus, aber das Mondlicht erhellt das Zimmer so viel, dass ich fast alles gut erkennen kann. Und was ich da erkenne, haut mich fast um, ich presse mir schlagartig die Hand vor den Mund, um keinen Mucks von mir zu geben, dabei weiß ich nicht genau, ob ich lachen oder verblüfft aufschreien sollte. Ich entscheide mich für keines von beidem, aktiviere schnell die Nachtsicht-App und drücke auf Aufnahme, halte danach das Handy in die schmale Türspalte.
Die zwei Kerle knutschen wild miteinander, auf einem Krankenbett. Der Blonde sitzt auf der Mitte des Schwarzhaarigen und reibt sich ziemlich offensichtlich daran. Mein Gott! Als ob dieser Umstand nicht schon verrückt genug ist, erkenne ich die beiden. Das ist dieser Psycho, Casper Kolec oder so, und der andere ist seine Klette namens Xander Rayn, aus der Klasse unter mir. Daraus wird sich sicher eine super Story ergeben und mir fallen viele Möglichkeiten ein, wie ich dieses Video nutzen kann. Von einer fiesen Demütigung über Erpressung und mehr. Ich grinse in Vorfreude und würde mir klischeehaft die Hände reiben, wenn diese nicht gerade mit Filmen beschäftigt wären.
Einer von ihnen stöhnt auf und überhaupt scheinen sie ja mächtig Spaß zu haben. Wären das nicht zwei Typen, würde es mir noch mehr gefallen ihnen zuzusehen, obwohl ich nicht behaupten kann, dass mich das hier nicht schon anmacht. Moment – was denke ich da zum Kuckuck?! Es sind Kerle! Hallo?! Daran ist Alessia Schuld, diese miese Bitch hat mich nicht kommen lassen und seitdem hatte ich keinen Sex mehr.
Plötzlich ächzt jemand hinter mir und es krallen sich Finger in meine rechte Schulter. Erschrocken springe ich herum. Und wer steht da?
»Gott, Bunny«, zische ich wütend, schubse ihn grob von mir weg und verstecke das Handy hinter dem Rücken. Der muss nicht unbedingt mitkriegen, was ich hier treibe.
Dieser Trottel sieht schockiert und sprachlos aus und ich schiebe ihn mit einem letzten Blick ins Zimmer hastig Richtung unseres zurück, bevor die Jungs drinnen doch noch etwas bemerken. Wie viel hat Bunny wohl gesehen?
»Ich habe geahnt, dass mit den beiden was nicht stimmt, aber das…«, angewidert verzerre ich mein Gesicht und schüttele mich. »Das ist widerlich«
Selbst ich höre heraus, dass es nicht sehr überzeugend klingt, sondern zum Teil auch belustigt, aber sei es drum.
»Sie sahen glücklich aus…«, murmelt er da und ich stutze.
Hat er das im Ernst gesagt – und zwar mit einem Hauch Neid? Glücklich?
»Was hast du gesagt?«, frage ich mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen und gähne müde. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Ich will das Ganze schnellstens hinter mich bringen und schlafen gehen. Was ich mit dem Video machen kann, überlege ich mir morgen.
»Nichts«, erwidert Bunny übereilt. Augenrollend trete ich in unser Zimmer und lasse ihn ungeschoren davon – vorläufig. Morgen wird er bereuen, dass er mich nicht nur verfolgt, sondern sich auch noch an mich herangeschlichen hat, dieses kleine Opfer.
»Wie auch immer, Bunny, ich geh' jetzt pennen, hoffentlich kriege ich keine Albträume von dem Scheiß«, grummel ich zum Abschluss und lasse meinen Worten Taten folgen. Wobei Bunny dort stehen bleibt, wo ich ihn gelassen habe und mich nicht beachtet, stattdessen einfach weiter vor sich hin starrt, mit einen komischen Gesichtsausdruck.
Ich werfe meine Boxershorts unters Bett, ziehe die Decke über mich und schalte die Aufnahme an dem Handy aus, das hatte ich vorher nämlich vergessen. Was aus dem Video geworden ist, kann ich mir auch morgen angucken. Ich bin einfach zu müde.
Etwas später in der Nacht werde ich nochmals aufgeweckt, aber nun wegen Bunny, der vergeblich versucht leise zu sein, aber eher das Gegenteil erreicht.
Er kommt jetzt erst? Wo ist er denn die letzten Stunden geblieben? Hat er hier eine neue Freundin gefunden? Ich muss mir fest auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen über meinen eigenen Witz. Im Prinzip kann es mir scheißegal sein. Es ist ja nicht so, als ob es mich brennend interessieren würde, was der Freak so in seiner Freizeit macht. Er steigt direkt in sein Bett und nach einem Moment Stille dringt ein gedämpftes Schluchzen zu mir herüber. Der heult doch nicht die ganze Nacht lang rum, oder? So kann ich auf keinen Fall wieder einschlafen. Ich warte ein paar Minuten – eigentlich höchstens eine halbe Minute – dann knurre ich unfreundlich: »Hör auf rumzuheulen, du Memme, manche Menschen wollen schlafen!«
Augenblicklich verstummt Bunny und fängt stattdessen an zu schniefen. Das wiederum reizt mich sogar mehr und ich knurre nochmals wie ein wütiger Hund: »Noch ein Mucks und ich komme zu dir rüber, ich schwör es dir, Bunny!«
»Schon gut«, murmelt er kaum hörbar in das Kissen, aber seine Schultern beben weiterhin stark. Ich gebe mich damit jedoch zufrieden und schließe friedlich lächelnd die Augen – ist auch höchste Zeit, meinem Handy nach ist es bereits drei Uhr nachts. Verdammt, wie soll ich später aufstehen?
»Milo?«
»Verpiss dich«
»Die Frau war da und hat gesagt, wir sollen in einer viertel Stunde vor unserer Tür warten«
»Verpiss dich!«, zische ich erneut.
»Fein, selbst Schuld, wenn du später Überstunden leisten musst«, kommt es trotzig zurück und ich setze mich ruckartig auf.
»Was war das?«, frage ich ungläubig, den Schlaf aus den Augen blinzelnd. Hat Bunny mir gerade widersprochen? Dieser weicht zurück, sein Blick wechselt zwischen meinem Unterleib und meinem Gesicht, da wird mir bewusst, dass ich mal wieder nackt jemanden einschüchtern will. Doch bei Bunny scheint es auch so zu klappen, er greift mit sichtlich zitternden Händen nach der Türklinke und ist nach einem „Ich warte lieber draußen“ aus dem Raum verschwunden.
Von mir aus. Kopfschüttelnd trinke ich einen Schluck Wasser und mache danach wie jeden Morgen meine Sit-ups und Liegestützen bis ich schwitze. Zum Duschen habe ich wohl keine Zeit mehr, eine Katzenwäsche muss reichen. Die Zähne putze ich hastig während des Pinkelns und style anschließend meine kurzen Haare ein bisschen nach oben.
Die letzte Nacht war nicht sehr entspannend – wie befürchtet habe ich von zwei sich abschleckenden Kerlen geträumt. Zwar erinnere ich mich an keine Details, aber das reicht mir schon, um mich über mich selbst zu ekeln. Dementsprechend schlechte Laune habe ich und die Aussicht irgendwo zu schuften, macht es nicht besser. Dummer Bunny! Alles seine Schuld! Ich hätte ihm irgendeinen Streich oder soetwas heute Morgen spielen sollen, ich war jedoch zu müde dafür.
»Ich warte nicht gern«, sagt wie aus heiterem Himmel die Frau von gestern, ich erblicke sie im Spiegel und fahre schäumend herum. Bedecke den wichtigsten Teil meines Körpers bedürftig mit den Händen. Ich bin nicht scheu, aber habe auch keine Lust, dass die Dicke etwas sieht, was ihr nicht zusteht.
»Hat man hier keine Privatsphäre? Das ist ein Badezimmer!«
Wie lange hat sie mich wohl beobachtet? Hat die gesehen, wie ich pinkle? Steht sie auf sowas? Leute beim Pinkel zugucken. Bevor ich das laut fragen kann, sagt sie: »Wenn Sie in einer Minute nicht draußen sind, müssen Sie Überstunden leisten, Herr Tirell hat es Ihnen sicher schon mitgeteilt«
Ich brauche einen Moment um zu checken, dass sie damit Bunny meint. Sein Nachnahme ähnelt meinem – zumindest die ersten beiden Buchstaben, ist mir noch nie aufgefallen. Milo Titow und Roman Tirell, ganz ähnlich und doch unterschiedlich genug um zu bemerken, dass wir beide aus komplett anderem Holz geschnitzt sind. Wieso denke ich grad überhaupt darüber nach?
Als ich wieder aufschaue, ist die Frau nicht mehr zu finden. Wie hat sie das denn angestellt, ohne dass ich es mitgekriegt habe? So fett, wie die ist, müsste man sie von kilometerweiter Entfernung hören.
Ich schlüpfe in meine Kleidung und hole meine Schuhe unter dem Bett hervor, danach trete ich in den Flur hinaus, wo Pascal, Bunny und die Perverse auf mich warten – die Letztere tippelt ungeduldig mit ihrem Fuß herum und blickt sichtbar gereizt mir entgegen. Soll die sich nicht so anstellen.
Pascal wirft komische Blicke zu Bunny rüber, der ganz in sich zusammengesunken an der Wand lehnt. Was hat der denn wieder?
»Da wir nun vollständig sind, können wir ja anfangen. Herr Risan, Sie hätten im Grunde gar nicht mitkommen müssen, denn für Sie war hier nichts vorgesehen« Sie guckt auf ihren überdimensionalen Notizblock. »Aber da Sie da sind, habe ich Sie beim Außendienst eingeschrieben. Sie werden das Auto fahren mit dem wir die Patienten chauffieren, denn unser Fahrer hat sich diese Woche krank gemeldet. Gehen Sie in den Vorgarten, dort warten auf Sie zwei Pfleger, die Ihnen alles Weitere erklären werden«
Mein Schwager bewegt sich nicht von der Stelle und die Frau erkundigt sich ungehalten: »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
»Keine Blödheiten, kapiert?«, wendet Pascal sich an mich und hebt warnend den Zeigefinger. Gott, sieht er bescheuert aus.
Demzufolge dreht er sich zögernd um, nicht ohne ein letztes Mal Bunny anzusehen, und schreitet langsam nach hinten zur Eingangstür. Also irgendwas ist bei den beiden definitiv passiert. Hat Pascal es satt, dieses Opfer zu verteidigen und immer in seiner Nähe zu lauern? Das kann ich nachvollziehen. Ich frage mich ohnehin warum er damit angefangen hat. Was kann Bunny schon bieten außer seinen billigen Referaten und Schulaufsätzen, die dank mir keiner mehr in der Schule kaufen wird? Innerlich klopfe ich mir auf die Schulter dafür, auch wenn ich mir nun jemand anders suchen muss.
»Folgen«, weist die Frau uns an und wir gehen auf eine Treppe zu, die nach unten führt. So wie die läuft und sich benimmt, könnte man meinen, sie hätte buchstäblich einen Stock im Arsch. Hoffentlich muss ich sie nicht so oft ertragen. Die hat sich nicht mal vorgestellt.
»Sie helfen den heutigen Tag in der Küche, im Keller, aus und–«
Unsanft wird sie durch mein Aufstöhnen unterbrochen. »Wieso unbedingt in der Küche? Bunny, sag du auch mal was!«
Ich stoße ihm grinsend meinen Ellenbogen in die Rippen und sehe dabei, welche fetten Augenringe der Junge hat. Er reagiert nur, indem er unverbindlich nickt und dann einen Schritt von mir weg macht, damit ich ihn nicht erreichen kann. So macht das keinen Spaß, er zeigt keine richtige Reaktion!
Meinen Zwischenruf übergehend fährt die Perverse – ich habe entschieden sie so zu nennen – fort:
»–morgen bekommen Sie eine andere Aufgabe, ich hole Sie wie zuvor vor ihrer Tür ab. Da, hinter dieser Tür befindet sich die Küche. Bei Fragen an das Personal wenden« Damit rauscht sie an Bunny und mir vorbei, so als könnte sie uns nicht schnell genug loswerden. Schon im nächsten Augenblick wird die Metalltür aufgerissen und ein Schwall stickiger Luft wirbelt heraus.
»Oh, Hallöchen, ihr müsst die armen Schweine aka freiwillige Helfer sein«, begrüßt uns eine ziemlich sexy Braut mit Schürze und Kopftuch, dazu ein XXL-Ausschnitt, der tief blicken lässt. Oh mein Gott, das muss doppel D sein! Vielleicht wird es hier nicht so übel, wie angenommen.
»Ich zeige euch eure Arbeitsaufgaben, geht rein. Ich bin Karin«
Mein linker Arm schiebt Bunny beiseite, der den Mund aufmacht, um sich vorzustellen, und meine rechte Hand ergreift die mir entgegen gestreckte Hand der brünetten Frau. Für ein Mädchen hat sie ganz schön grobe Hände, aber darüber kann man hinwegsehen.
»Milo, volljährig, single«, scherze ich ernst und halte sie einen Moment länger fest als nötig.
Karin lächelt lasziv und streicht die mittellangen Haare aus dem Gesicht während sie mich von oben bis unten mustert und dann anerkennend die Augenbrauen hebt. Sie delegiert uns in eine Großküche – dabei berührt sie mehrfach meinen Hintern – wo mehrere Frauen, in den gleichen Schürzen wie sie, geschäftig herumwuseln. Sie ist nicht gerade kontaktscheu, die Kleine, wenn nur alle Mädchen so wären…
»Schön dich kennenzulernen, Milo. Ich bin froh, dass du da bist, hier weht sonst nur selten frischer Wind«
»Ich bin kein Wind, ich bin ein Sturm«, rutscht es mir aus.
Da prustet sie los, so dass ein paar Köchinnen sich zu uns umdrehen. Okay, der Spruch war echt lahm. Ist ja peinlich.
Neben mir sehe ich Bunny schmunzeln und der Umstand, dass er mich auslacht, macht mich extrem wütend. Leider hat er sich hinter mich gestellt, sodass ich ihn keine Kopfnuss geben kann, und ich will mich von Karin nicht abwenden.
»Was grinst du so bescheuert, Bunny? Habe ich was Lustiges gesagt?«, frage ich deswegen nur warnend.
»Ja, das war lustig«, antwortet stattdessen Karin, eine Schnute ziehend.
»Mit „Bunny“ meinte er mich«, sagt der eigentlich Angesprochene und seine Augen weiten sich, so als ob er selbst nicht glaubt, was er gesagt hat, zudem rutscht ihm die riesige Brille von der Nase und er schiebt sie sich zurück.
»Du nennst ihn Bunny? Warum?« Verständnislos runzelt sie die Stirn und redet mich an, als wären nur wir zwei hier – den Dritten beachtet sie nicht.
»Ist das nicht offensichtlich? Guck dir seine Zähne an«
Ist die dumm oder tut sie nur so? Sie holt Bunny am Pullover zu sich und guckt sich wie geheißen seine Zahne an, schiebt sogar dessen Unterlippe nach unten, wogegen er ihre lackierten Finger zur Seite schlägt und sie angesäuert anschaut.
»Für mich sehen seine Zähne perfekt aus, wenn diese eklige Zahnspange nicht wär'. Ich hätte auch gern solche geraden Zähne. Also wieso nennst du ihn so?«
»Ich habe ihm in der Grundschule diesen Spitznamen verpasst«, erzähle ich augenrollend. Wieso ist das so wichtig?
»Du hast damit angefangen?«, empört sich Bunny und errötet bis zum Anschlag, ob vor Wut oder vor Scham – keine Ahnung. Muss ja wahrlich Scheiße sein, ständig so rot zu werden, aber wie sagt man: "Des einen Pech ist des anderen Freude" –oder so ähnlich.
»Wer sonst?« Auf diese Idee kam ich eigenständig in der ersten Klasse und bin bis heute stolz drauf.
»Weißt du, wie oft ich deswegen geheult habe damals? Wegen dir wurde ich pausenlos gehänselt! Sogar tote Kaninchen wurden mir in den Spind gelegt! Tote Kaninchen! Wer macht sowas?« Noch so eine gute Idee von mir übrigens.
»Oh, armer Bunny, möchtest du jetzt vielleicht eine Schulter zum Ausweinen?«
»Dieser Spitzname ist längst nicht mehr aktuell, meine Zähne sind mittlerweile gerade. Wenn du nicht wärst, würden die Leute aufhören mich so zu nennen!«
»Na und? Wen kümmert es, ob das „aktuell“ ist oder nicht? Mich zumindest nicht. Du warst Bunny und du bleibst Bunny«
»Ja, weil du ein mieser–«, fängt er zornig blitzend an.
»Was bin ich? Rede dir alles von der Seele, Bunny, aber Vorsicht, schau dich um! Dein lockenköpfiger Beschützer ist nicht anwesend diesmal«
Tatsächlich schaut er einmal um sich herum. Jeder der Anwesenden hat in seiner Arbeit inne gehalten und starrt uns an, wir sind anscheinend etwas zu laut geworden. »Was gibt’s hier zu glotzen?«, rufe ich in die Runde und verschränke die Arme. Diese Gaffer!
»Was ist hier los? Karin, wenn du diese Vögel nicht unter Kontrolle kriegst, muss ich das übernehmen«, bellt eine knochige, ältere Köchin, die mit einem Kochlöffel vor unseren Gesichtern fuchtelt.
»Nein, nein, Larissa! Ich habe alles im Griff, keine Sorge!«, erwidert sie hektisch und schleppt mich am Arm in die hinterste Ecke der Küche, wo ein ganzer Berg von Geschirr gestapelt ist, in und auf zwei riesigen Spülbecken. Daneben steht eine Gewerbespülmaschine, woraus in Abständen heißer Dampf aufsteigt. Natürlich ist es dort so heiß wie in einer Sauna. Ich ahne, was gleich kommt.
»So, der Vormittag wird euch reichen, um das Geschirr zu spülen, abzutrocknen und in die Schränke darüber zu stapeln. Dieses Geschirr ist teuer und muss deswegen per Hand gewaschen werden, also passt gut auf und zerbricht nichts, sonst werde ich dafür verantwortlich gemacht. Milo, ruf mich, wenn du mich brauchst. Du hast eine Stunde Pause um Zwölf bis ein Uhr, ich rauche immer eine im Vorgarten auf der Bank, du kannst dich gern zu mir gesellen«
Sie lächelt bedeutungsvoll und tänzelt davon. Bilde ich mir das nur ein, oder wackelt sie extra mit ihrem süßen Arsch? Geil! In der Pause werde ich zweifellos „eine rauchen“.
»Worauf wartet ihr, los, an die Arbeit«, bellt erneut die Alte und drückt uns Putzmittel, Geschirrschwämme und -bürsten in die Hände.
»Pause gibt’s in vier Stunden und ich warne im Voraus: Keine Schlamperei und Unsinn am Arbeitsplatz, danach soll alles blitzblank sein, bei Verstößen bleibt ihr länger, haben wir uns verstanden? Gut. Ich werde euch beobachten«
Zu missverstehen gibt es da nichts, deshalb nicke ich und Bunny tut dasselbe. Mit ihr treibt man keine Scherze, das kapiere sogar ich. Ich will keine Minute länger als notwendig in dieser Hitze und dem Gestank verbringen.
Mein Zimmernachbar dreht die Wasserhähne auf, schließt die Abflusslöcher mit den Stöpseln und gießt in einen der zwei Spülbecken Spülmittel hinein. Dann beginnt er einen Teller abzuwaschen, sobald die Becken zur Hälfte voll sind.
»Rutsch gefälligst, Bunny«, maule ich und mache mir grob Platz, obwohl es genug gibt. Ich kann einfach nicht, ohne ihn zu ärgern, vorallem wenn er als Folge rot wird oder anfängt zu stottern. Brummend tue ich einfach das gleiche wie er und es ist gar nicht so leicht, wie es den Anschein macht.
Nach einer sehr langen Weile, kurz vor der Pause genauer gesagt, sind meine Arme schon total müde und mir ist langweilig, deswegen kippe ich mehr Spülmittel hinein, damit es schaumiger wird. Und da passiert es – bei meinem fünfzehnten Teller, ja ich zähle mit, rutscht der mir aus der Hand und zerschellt krachend auf dem Fliesenboden. Ich reagiere auf der Stelle und rufe laut und entsetzt:
»Ach, Junge! Pass doch auf! Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht so viel Spülmittel reintun! Jetzt ist dieser tolle Teller zerbrochen wegen dir, du hast zwei linke Hände!«
Bunny weiß nicht wie ihm geschieht, da hat ihn die alte Köchin am Kragen gepackt und aus der Küche in einen Grenzraum gezerrt.
»Komm Bürschchen, ich habe eine andere Aufgabe für dich!«
»Aber ich war…das ist…ich nicht!«, versucht er sich stotternd zu retten, doch zu spät – die Frau ist zwar klein und dürr, hat aber genug Kraft ihn hinter sich her zu schleppen wie einen nassen Sack.
Schadenfroh lachend puste ich in den Schaumberg und setze meine Arbeit heiterer als zuvor fort.
»Eine Stunde Pause und keine einzige Sekunde länger! Meine Güte, bist du langsam! Wie viele Teller hast du geschafft? Nachher machst du es besser, sonst gesellst du dich zu deinem Freund Bettpfannen schrubben«
Diese alte Schabracke schon wieder!
Und – bitte was? Sie putzen Bettpfannen in einem Nebenraum der Küche? Wie unhygienisch ist das denn?
Ich brumme etwas Unverständliches und trete eilig den Rückweg in mein Zimmer an, um mich umzuziehen. Das T-Shirt, welches ich anhabe, ist von Essensresten, gemischt mit Spülmittel und Abwaschwasser bedeckt – so kann ich unmöglich zu Karin gehen, muss sie sich eben ein bisschen gedulden. Verdammter Mist! Wenn ich das jeden Tag machen muss, ist bald meine ganze Kleidung versaut. Manches davon ist bestimmt teurer als der ganze Schrank von Bunny, ach was, jedes Teil ist teurer als sein gesamtes Zeug. Nach dem ausgewaschenen Fummel zu urteilen, das er dauernd trägt.
Sobald ich die Tür hinter mir zugemacht habe, fällt mir der starke Geruch nach Urin auf.
Oh, Himmel, stinkt das! Bunny hockt in eine Decke eingewickelt auf dem Bett und aus seinen Haaren tropft Wasser herunter.
»Warum stinkt es hier so? Hast es nicht mehr bis zum Klo ausgehalten?«
Er antwortet nicht, guckt starr auf den Boden vor ihm.
Schulterzuckend streife ich mir mein verdrecktes Shirt ab und wühle in der Reisetasche nach einem frischen – da fällt mir plötzlich das Video ein, welches ich aufgenommen habe und meine Laune bessert sich schlagartig. Ich werde es simpel auf ein paar ausgewählten Seiten ins Netz stellen, die Links an Freunde schicken und es wird sich verbreiten wie ein Virus. Und dann warte ich ab, was geschieht – nur blöd, dass ich nicht zu Hause bin und den folgenden Trubel in der Schule miterleben kann.
»Dieses Video wird garantiert der Hit«, murmele ich zu mir selbst, hole mein Handy aus der Hosentasche und spiele es kurz ab. Gut geworden ist es ja, man kann die beiden Süßen bestens erkennen und vorallem was die da treiben.
»Xander und Casper hocken im Heim, habn' nix zu tun, fallen übereinander ein, da wird der eine so hart wie ein Stein–«
Bunny erhebt sich in der Decke gehüllt und erhascht einen Blick auf mein Display, bevor ich es aus seiner Reichweite bringe.
»Du hast sie gefilmt?!«, erborstet er sich lautstark und versucht mir das Handy zu entreißen, wobei ihm die Decke von den Schultern rutscht und er nur noch in Pants hin und her hüpft, als ich mich von ihm drehe. Es fängt an mir Spaß zu machen, ich gluckse und weiche Bunny mit Leichtigkeit aus, wedele mit dem Handy über seinem Kopf herum, um es dann hochzuheben, sobald er sich danach streckt.
»Milo! Wage es nicht das Video weiterzuschicken! Das ist privat!«
Ein leuchtendes Rot bedeckt sein Gesicht, den Hals und die Ohren – das ist zu komisch, mit tut der Bauch schon weh vor Lachen. »Was geht dich das an, Bunny? Du bist ja nicht da drauf!«
Noch einmal versucht er es zu kriegen, indem er sich auf die Zehenspitzen stellt, aber er kommt nicht ran.
»Das kannst du doch nicht machen? Sie haben dir nichts getan, lass sie in Ruhe ihre Liebe ausleben«
Lachtränen schießen mir aus den Augen. „Liebe ausleben“!
»Du bist so lächerlich, dass es beinahe nicht mehr lustig ist«
Dann tut er etwas, was mich komplett aus dem Konzept bringt, ich halte abrupt inne, senke langsam meinen Kopf und schaue nach unten. Bunnys Hand greift mir unverschämt in den Schritt, nicht stark, aber doch spürbar. Ich bin so paralysiert, dass ich zuerst nicht begreife, dass er mir das Handy abnimmt, ins Bad rennt und es stumpf im Klo runterspült. Ich wache aus meiner Starre auf. Diesem Zwerg hätte ich das nicht zugetraut. Er wird sowas von sterben!
»Bete, dass du das nicht getan hast«, meine ich überflüssigerweise mit gefährlich tiefer Stimme, die ich nur in ernsten Situationen benutze. Ich schnelle auf ihn zu und verpasse ihm einen Fausthieb direkt in den Magen. Ehe er fallen kann, hefte ich ihn an die Wand und donnere seinen Kopf dagegen – nicht zu doll, damit er nicht sofort das Bewusstsein verliert, aber doch stark genug, dass seine Zähne klappern. Bunny wimmert, steht jedoch aufrecht vor mir und beißt die Zähne zusammen, das Zittern bemerke ich trotzdem.
»Du bist ein ignoranter, selbstverliebter, verzogener, dämlicher Widerling! Du hast doch nichts anderes im Sinn außer dir selbst und wie du es am besten schaffst, Menschen wie mir das Leben zur Hölle zu machen, damit du dich selbst besser fühlst und den Anschein behälst, du hättest alles und jeden unter Kontrolle! Das ist Klischee pur, aber du bestehst nur daraus. Du wirst nie erfahren was Liebe ist, denn wer könnte so dumm sein und sich in dich verlieben? Deshalb verstehst du auch nicht, was durch die Veröffentlichung dieses Video ausgelöst werden könnte!«
Ich komme mir vor wie ein Stier und Bunny ist das rote Tuch. Nur mühsam kann ich mich beherrschen, obwohl mein ganzer Körper sich auf ihn stürzen will. Normalerweise läge er längst auf den Boden – blutend. Doch irgendwas hält mich zurück, trotz meiner vielen Drohungen bin ich nicht wirklich ein Schlägertyp. Ich kann nicht fassen, was er da von sich gegeben hat und vorallem kann ich nicht fassen, dass er damit voll ins Schwarze trifft. Nein! Das stimmt nicht, was denke ich da bloß? Er soll einfach aufhören diesen Müll zu labern, der mich total durcheinander bringt–
»Ja, richtig gehört! Und ich habe es satt, dass du mich ständig wie Dreck behandelst und runterputzt wo es nur geht! Das lasse ich mir nicht mehr gefallen«
»Und was willst du dagegen machen, Bunny? Verrate mir das mal. Mit deinem Bodyguard werde ich fertig«
Er wird sichtlich unsicherer und will sich aus meinem Griff befreien, obwohl es aussichtslos für ihn ist.
»Fertig werden? Ich…ich werde mir irgendwas ausdenken, verlasse dich drauf! Das Wichtigste ist aber, dass ich das Video zerstört habe und du damit keinen Schaden mehr anrichten kannst!«, entgegnet er stur und ich höre einen gewissen Stolz heraus.
»Zu spät, ich habe es allen meinen Bekannten geschickt und genau in diesem Moment schicken sie es weiter an ihre Bekannte und so weiter und so weiter«
Das ist eine glatte Lüge, na und? Erschießt mich doch!
»Du lügst«, nuschelt Bunny tränenerstickt, ich schüttele fies grinsend den Kopf und lasse ihn jäh los, so dass er nach vorn schwankt. »Nein, du lügst!«, schreit er nochmal, schlägt unvermutet auf meine Brust ein und brüllt weiter. »Du darfst die Beziehung zwischen den beiden nicht zerstören! Wenigstens sie sollen glücklich sein, wenn ich es schon nicht sein kann!«
Wa-as? Seine Faust holt erneut aus, ich kann sie rechtzeitig aufhalten – der Schlag vorhin hat zu meiner Überraschung wehgetan, allerdings würde ich das nie zugeben. Er hat ja mehr Kraft, als man ihm zumutet.
»Las mich los–«, weiter kommt er nicht, denn aus Impuls heraus wirbele ich ihn herum, verdrehe ihm die Arme bis zum Anschlag hinter dem Rücken und er schreit schmerzvoll auf. Als er erneut ungestüm zappelt, verstärke ich den Druck und komme ihm daher viel näher als mir lieb ist. Bei jedem Atemzug berührt mein Oberkörper seine Haut und die immer noch nassen Haare kitzeln mir nervig die Nase.
Es wird einen Augenblick vollkommen still, ich schlucke schwer, es ist mir mulmig zumute und irgendwie macht mir diese Nähe ernsthaft zu schaffen. Was ist hier los?
Mein Herzschlag beschleunigt sich deutlich und ohne, dass ich es kontrollieren kann, senkt sich mein Mund auf Bunnys Nacken herab und drückt sich darauf, er scheint gerade so verlockend. Ihm entrinnt ein überraschtes Keuchen und ein kurzes Zucken, aber er rührt sich nicht weiter und bei mir rauscht das Blut in den Ohren. Was tu ich hier? Irgendwie hat sich ein unbekannter Instinkt meinen Körper übernommen. Was dann geschieht, wird mich wahrscheinlich bis an mein Lebensende verfolgen, mein Denkvermögen schaltet sich aus und ich handle nur nach Lust.
Ich küsse mich nun seinen seitlichen Hals entlang, immer mehr wollend, beiße einmal herzlich hinein und lecke über die Stelle, sein Geschmack gefällt mir. Bunny gibt jedoch keinen Laut von sich und macht auch sonst nichts dagegen und das nehme ich als Einverständnis wahr.
Unverzüglich gehen meine leicht zitternden Hände im Eiltempo auf Wanderschaft, erkundigen die hektisch ab und auffallende Brust und die harten Nippeln, die Seiten, den flachen Bauch, den eine glatte, weiche Haut überzieht und gelange am Ende zu seinem Unterleib, wo ich nicht gerade zimperlich die Pants runterziehe. Ein kleiner, knackiger Po kommt zutage, der auch von einem Mädchen hätte stammen können. Ich atme abgehackt direkt in sein Ohr, weil mir der Wille kommt auch da rein zu beißen, und bei ihm bildet sich überall herum eine Gänsehaut. Daraufhin fasse ich Bunny an den schmalen Hüften und fange an mich von hinten zuerst langsam und dann wild an ihm zu reiben, als wäre ich ein rolliges Tier. Wortlos legt er seine Hände auf meine drauf, lässt den Kopf gegen meine Schulter fallen und erwidert die Reibung mit seinem Hintern ebenso unmissverständlich wie ich, bis dort eine Hitze entsteht, sich in meinem unteren Bereich alles zusammenzieht und die deutliche Erregung unangenehm gegen den Stoff drückt.
Nach einem weiteren, anstrengenden Schlucken, zerre ich mir schließlich die Hose herunter und Bunny beugt sich, an der Wand abstützend, gleichzeitig vor, damit ich freien Zugang habe und spreizt die Beine. Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke bei dieser Bereitwilligkeit. Diesmal ohne zu zögern oder zu überlegen setze ich meine triefende Schwanzspitze an und versenke mich mit einem Mal gänzlich in ihm, die hitzige Enge entringt mir ein dunkles Stöhnen.
Das ist…der absolute Hammer. So verdammt eng.
Nach einem weiteren Stoß merke ich allerdings, dass mein Vordermann sich ganz verspannt hat und knabbere deshalb besänftigend an seinem Nacken, mache kleine Kreise mit meiner Zunge auf seiner Haut. Tatsächlich entspannen sich seine Muskeln wieder und er bewegt sich mir entgegen. Es wundert mich, dass es so einfach geht, dass Bunny mich einfach so reinlässt und doch fehlt etwas ganz Bestimmtes.
»Stöhne, Bunny«, befehle ich.
»Ich will nicht«, antwortet er schüchtern.
»Mach es«
»Nein«, keucht er, als ich mit mehr Wucht in ihn eindringe und er zusammenzuckt.
Ich kralle meine Finger in die orangen Haare und biege seinen Hals mehr nach hinten, so dass sein Gesicht sich verzerrt. Spontan nehme ich ihm die nervige Brille ab, werfe sie treffsicher auf das Bett und küsse ihn hart auf den Mund. Erst verschließt er seine Lippen, aber als ich nicht aufhöre zu drängeln und stetig in ihn zu stoßen, öffnet er den Mund und meine Zunge gleitet gierig hinein. Heiß und synchronisiert bewegen unsere Lippen sich gegeneinander als hätten sie nie was anderes gemacht, ich stöhne lustvoll hinein. Dann fahre ich nur mit den Fingerspitzen flüchtig Bunnys Schaft entlang und mein Becken ruckt begleitend – endlich stöhnt er leise.
»Lauter«, knurre ich grinsend, wissend, dass ihn das auch anmacht.
Er schüttelt den Kopf und ich wiederhole das vorige Spiel, beiße dazu in seine Schulter, wonach ein lang gezogenes Stöhnen durch das Zimmer tönt, bei dem mir ein Schauern über den Rücken strömt.
Bunny hört jetzt gar nicht auf Geräusche von sich zu geben bei jedem Rollen meiner Hüften und dem Klatschen von Haut auf Haut. Ich lecke einmal ausgiebig über den blank gelegten, weißen Hals, sauge daran, und steigere meine Geschwindigkeit noch mehr, hämmere in ihn, als gäbe es nichts besseres und scheine auch richtig zu treffen, denn Bunnys Laute werden immer kehliger und verzweifelter. Mit offendem Mund atme ich feucht gegen seine Schläfe und da richtet er sich plötzlich gerader auf, seinerseits in meine Haare fassend, und fängt an sich mir ungeduldig entgegen zu stemmen und sich bei jedem meinen Eindringen von innen zusammenzuziehen. Oh Scheiße, macht er das etwa extra?
Mit weit aufgerissenen Augen und dem Mund im stummen Schrei trifft mich unerwartet ein gigantischer Höhepunkt, bei dem mir schwindlig wird und ich mich auf Bunny stützen muss – ich glaube, so schnell bin ich noch niemals zuvor gewesen. Bunny bringt sich eine Minute später mit seiner eigenen Hand zum Kommen und wir stehen danach keuchend da. Keiner bringt einen anderen Laut heraus. Aber langsam verschwindet der Nebel aus meinem Kopf und mir wird das Ausmaß des Geschehenenen bewusst. Ruckartig springe ich von ihm zurück, schnappe mir hastig meine Klamotten, ohne sie jedoch anzuziehen, und stürme stolpernd in den Flur. Auf Anhieb finde ich das Zimmer, in dem ich gestern die zwei Homos gesehen habe, schließe die Tür hinter mir und lasse mich daran plump zu Boden gleiten. Mit diesmal vor Panik statt Lust aufgerissenen Augen starre ich auf meine Hände indessen mir das Herz fast aus der Brust springt, so stark schlägt es.
Was zu Hölle?? Was habe ich nur getan?!
Als ich früh morgens aus dem Bett steige, um mir die steifen Beine zu vertreten, weil ich die ganze Nacht in der Embryo-Stellung und vollständig angezogen geschlafen habe, treffe ich im Flur auf die dicke Frau, anscheinend unsere Betreuerin hier. Sie befielt mir unwirsch mich fertig zu machen und Milo ebenfalls aufzuwecken, sobald ich wieder ins Zimmer gehen würde.
Und nachdem ich eine halbe Stunde ziellos umher gelaufen bin und mein Kopf noch immer so voll war wie vorher, kehre ich zurück.
Pascal und ich machten gestern etwas rum und hatten dann romantischen Versöhnungssex, wenn man es so nennen kann. Danach kam ein langes Gespräch, bei dem am Ende doch nichts herauskam. Er entschuldigte sich die ganze Zeit nur und erklärte mir, warum er das alles getan hat. Doch ist „du bist unwiderstehlich für mich“ wirklich eine Entschuldigung? Sicher bin ich mir da nicht.
Noch habe ich ihm nicht verziehen und die Tatsache, dass er eine Frau und eine Tochter hat, wird auch nicht einfach so verpuffen, obwohl ich mir das vom Herzen wünsche. Bloß sie stehen uns im Weg, wenn sie nicht da wären, hätte ich Pascal für mich und wir könnten zusammen sein. Vielleicht würde er mich sogar bei sich zu Hause wohnen lassen und ich müsste es nicht mehr mit meinem Vater aushalten. Schamgefühl steigt in mir hoch – so darf ich nicht denken, seine Familie hat keinerlei Schuld an dem Mist. Doch mit einem verheirateten Mann würde ich nichts anfangen! Gott, was soll ich tun? Ich bin hin und her gerissen. Einerseits möchte ich ihn nicht verlieren und andererseits bin ich sehr verletzt, dass er mich belogen hat und seine Frau mit dazu.
In unserem Zimmer schläft Milo wie ein Baby und macht laute Atemgeräusche, die Bettdecke verdeckt dürftig seinen nackten, leider auch perfekten Körper. Wenn er nicht so ein Arsch wäre…Oh, nein so weit will ich nicht mal denken!
Im diesem Zustand sieht er selbst aus wie ein Baby aber ich weiß ganz genau, dass der Schein trügt. Und nun habe ich die Aufgabe den schlummernden Drachen zu wecken. Na toll! Dank ihm kann ich meine Zähne nicht mal vernünftig putzen und muss meinen Mund stattdessen einfach mit Wasser ausspülen, aber das dreckige Gefühl bleibt.
»Wach auf, Milo«, versuche ich es scheu an seinem Bett. Er reagiert nicht und ich starte von Neuem: »Milo?«
»Verpiss dich«, murrt er noch halb im Schlaf. Ich ergreife die Chance ehe er tiefer einschläft.
»Die Frau war da und hat gesagt, wir sollen in einer viertel Stunde vor unserer Tür warten«
Das hat sie zwar nicht wirklich gesagt, doch da er mein errötetes Gesicht nicht sieht, darf ich ein bisschen lügen.
»Verpiss dich!«, zischt Milo erneut.
»Fein, selbst Schuld, wenn du später Überstunden leisten musst«, gebe ich trotzig wieder und er springt ruckartig und hellwach auf.
»Was war das?« Ungläubig betrachtet er mich. Ich weiche etwas zurück, da er und sein kleiner, nicht kleiner, Freund mir zu nahe kommen und zudem schüchtert mich die gut sichtbare, muskulöse Sportler-Statur ein.
Weg hier! Zittrig greife ich nach der Türklinke und bin nach einem „Ich warte lieber draußen“ aus dem Raum marschiert.
Dort begegne ich der unfreundlichen Betreuerin, die in Gesellschaft von Pascal ist. In der beklemmenden Stille vergehen die Minuten wie Stunden und schlussendlich geht die Frau ins Zimmer rein, wahrscheinlich um Milo da rauszuschleifen. Jetzt bin ich mit dem Lügner allein und bringe kein Wort heraus.
»Hast du es dir überlegt?«
»Nein, und das werde ich auch nicht, solange du verheiratet bist«
Es klingt ja als ob ich ihn dazu zwinge, sich scheiden zu lassen, aber das ist gar nicht meine Absicht! Oder doch?
»Roman, ich hoffe dir ist klar, dass das nicht so simpel ist. Ich empfinde nichts für sie–«
Er wird durch die Betreuerin unterbrochen, deren Name ich nicht kenne, sie hat sich nicht vorgestellt.
Ihr Fuß tippelt ungeduldig, Pascal sucht meinen Blick und ich lehne mich erschöpft wegen des Schlafmangels an die Wand als Milo schließlich hinaustritt.
Danach schickt die Betreuerin Pascal weg und führt uns in den Keller, wo sich die Küche befindet und wo wir heute den Tag verbringen werden. Natürlich beschwert sich mein Zimmernachbar darüber, aber sie beachtet das nicht und erklärt uns alles weiter. So wie die Betreuerin gegangen ist, wird die Metalltür aufgerissen. Warme Luft wirbelt heraus.
Direkt als ich die aufgetackelte junge Frau erblicke, weiß ich Bescheid. Auch diese Tonne Make-up, die mega Brüste und die künstlichen Nägel trüben meine Sicht nicht. Es ist in Wirklichkeit ein Kerl und Milo fällt voll auf sie, oder ihn, rein. Ich glaube, dass er viel zu sehr von ihrem Ausschnitt abgelenkt ist. Die etwas zu hohe Stimme und die groben Züge, die durchschimmern, verraten „Karin“ unter anderem. Naja, ich bin auch ein selbsternannter Profi, denn sobald ich mir eingestand, dass ich schwul bin, informierte ich mich gründlich über alles, was im Entferntesten damit zu tun hat.
Sie/Er hat offensichtlich nichts gegen Milos blöde Anbaggerei – im Gegenteil, sie geht mit Vergnügen drauf ein. Wir werden in die stickige Küche geleitet, wo viele beschäftigte Frauen in schneeweißen Schürzen herumwuseln, kochen, braten und vieles mehr und gar nicht anhalten.
»Schön dich kennenzulernen, Milo. Ich bin froh, dass du da bist, hier weht sonst nur selten frischer Wind«, murrt sie und er erwidert:
»Ich bin kein Wind, ich bin ein Sturm«
Das hat er nicht gesagt, oder? Ich hätte angenommen, dass er mehr drauf hätte, denn gerade klingt er nach einem blutigen Anfänger mit null Erfahrung im Flirten. Das war wohl das Peinlichste, was ich je aus seinem Mund gehört habe. Ein Lachen bahnt sich aus meinem Bauch, aber ich unterdrücke es krampfartig und schmunzele stattdessen nur. Da ich bekanntermaßen ein Glückspilz bin, bemerkt es Milo postwendend und wird wütend.
»Was grinst du so bescheuert, Bunny? Habe ich was Lustiges gesagt?«
»Ja, das war lustig, Milo«, antwortet Karin an meiner Stelle, eine Schnute ziehend.
»Mit „Bunny“ meinte er mich«, rutscht es mir raus und ich weite erstaunt über mich selbst die Augen. Wieso habe ich das erwähnt?
»Du nennst ihn Bunny? Warum?«, fragt sie dümmlich, mich nicht beachtend – vermutlich bin ich nicht "männlich" genug für ihren Geschmack, oder sie steht einfach auf dumme Machos. Da bin ich froh drüber.
»Ist das nicht offensichtlich? Guck dir seine Zähne an«
Sie guckt wie geheißen auf mich, schiebt sogar meine Oberlippe nach oben, wogegen ich ihre lackierten Finger zur Seite schlage und sie angesäuert anschaue. Was fällt diesem Möchtegern-Mädchen ein mich anzutatschen?
»Also für mich sehen seine Zähne perfekt aus, wenn diese eklige Zahnspange nicht wär'. Ich hätte auch gern solche geraden Zähne. Wieso nennst du ihn so?«
»Ich habe ihm in der Grundschule diesen Spitznamen verpasst«, erzählt Milo Augen rollend.
»Du hast damit angefangen?«, empöre ich mich lautstark.
»Wer sonst?«
Ja, wieso wundere ich mich überhaupt? Wer sonst wäre auf diese tolle Idee gekommen?
»Weißt du, wie oft ich deswegen geheult habe damals? Wegen dir wurde ich pausenlos gehänselt! Sogar tote Kaninchen wurden mir in den Spind gelegt! Tote Kaninchen! Wer macht sowas?« Diese Sache hat mich total fertig gemacht. Das blutverschmierte, zugerichtete Tier fiel direkt in meine Arme – das war schrecklich, ich war ja noch ein Grundschüler. Danach hatte ich monatelang Albträume von toten Kaninchen.
»Oh, armer Bunny, möchtest du jetzt vielleicht eine Schulter zum Ausweinen?« Der Spott trieft aus seiner Stimme.
»Dieser Spitzname ist längst nicht mehr aktuell, meine Zähne sind mittlerweile gerade. Wenn du nicht wärst, würden die Leute aufhören mich so zu rufen!«
Nächste Woche bin ich ohne dieses fiese Ding! Zu Hause habe ich einen Kalender hängen, wo ich Kreuzchen mache nach jedem vergangenen Tag. Es ist kindisch – doch ich kann es kaum erwarten.
»Na und? Wen kümmert es, ob das „aktuell“ ist oder nicht? Mich zumindest nicht. Du warst Bunny und du wirst Bunny bleiben«
»Ja, weil du ein mieser–«, fange ich zornig blitzend an, werde durch ihn nochmals unterbrochen.
»Was bin ich? Rede dir alles von der Seele, Bunny, aber Vorsicht, schau dich um, dein lockenköpfiger Beschützer ist nicht anwesend«
Tatsächlich schaue ich dämlich um mich, jeder der Anwesenden hat in seiner Arbeit inne gehalten und starrt uns an, wir sind viel zu laut geworden.
»Was gibt’s hier zu glotzen?«, ruft Milo aufmüpfig in die Runde und verschränke die Arme.
Eine in die Jahre gelangte, knochige Köchin erscheint und verweist alle in ihre Schranken. Sie macht Karin Androhungen, wonach diese uns überstürzt unsere Arbeit an den Spülbecken erklärt und es fertig bringt, Milo lasziv grinsend ein zweideutiges Angebot für die Mittagspause zu machen. Ich kriege beinahe einen Lachkrampf, als ich mir das vorstelle und fange umgehend an zu spülen, damit er es nicht merkt. Er ist nicht sehr geschickt, was wahrscheinlich daran liegt, dass er noch nie in seinem Leben einen Schwamm in der Hand hatte.
Nach einer Weile, die eilends vergeht, da ich vollkommen in meiner Tätigkeit versunken bin, werde ich durch das Zerbrechen eines Tellers erschreckt und Milo ruft im nächsten Augenblick:
»Ach, Mann! Pass doch auf! Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht so viel Spülmittel rein tun! Jetzt ist dieser wunderschöne Teller zerbrochen wegen dir, du hast zwei linke Hände!«
Danach geht alles rasch – die alte Köchin zerrt mich fluchend in einen Nebenraum und zwingt mich dort eklige Bettpfannen zu schrubben. Ich hasse, hasse, hasse Milo! Er soll verflucht sein!
Meine Klamotten bleiben nicht unbeschadet bei der undankbaren Arbeit, die ich machen muss; trotz der Handschuhe und der quietschgelben Gummischürze. Der eklige Inhalt spritzt immer wieder hoch, wenn ich zu unvorsichtig bin und nach der dritten stinke ich schon wie ein Pumpsklo. Heilfroh stürze ich los, als die dürre Köchin die einstündige Pause ansagt. Dummerweise habe ich jedoch keine Sachen zum Wechseln mit und muss deshalb das was ich anhabe im heißen Seifenwasser einweichen lassen und hoffen, dass der Geruch bis morgen nicht mehr da ist. Bevor ich das allerdings tue, hole ich mir ein großes Handtuch aus dem leeren Zimmer am Ende des Gangs – in dem sich auch Milos und meins befindet – da wo ich Casper und Xander gesehen habe.
Sobald mein T-Shirt und die abgetragenen, dunklen Jeans im Waschbecken schwimmen, dusche ich ausgiebig, trockne mich ab und kuschle mich danach in meine Decke auf das Bett.
»Was ist hier passiert? Hast es nicht mehr bis zum Klo ausgehalten oder was?«, will Milo Nase rümpfend wissen, sobald er in den Raum kommt.
Ich antworte ihm nicht und gucke stur auf den Boden vor mir, aber in der Magengrube bildet sich eine heftige Wut auf ihn. Er ist daran Schuld, dass ich keine Ersatzanziehsachen habe und dass ich Bettpfannen putzen muss und dass ich überhaupt hier gelandet bin! Er ist für all das verantwortlich!
»Dieses Video wird garantiert der Hit«, murmelt er und ich höre sein Grinsen regelrecht heraus.
Wie kann er es nur wagen jetzt zu lachen, wo es mir so schlecht geht? Und über was für ein Video redet er da? Unauffällig hebe ich den Kopf und beobachte, wie Milo auf etwas in seinem Handy guckt.
»Xander und Casper hocken im Heim, habn' nix zu tun, fallen übereinander ein, da wird der eine so hart wie ein Stein–«
Hab ich richtig verstanden? Xander und Casper? Dieser Satz macht mich erst recht stutzig.
In die Decke gehüllt erhebe ich mich, schleiche mich näher an ihn und sein Handy heran und erhasche einen kurzen Blick auf das Display, bevor er es aus meiner Reichweite bringt.
»Was sagt du? Was für ein Video…du hast sie gefilmt?!«, erborste ich mich lautstark und versuche ihm das Handy sofort zu entreißen, wobei mir die Decke von den Schultern rutscht und ich nur noch in Pants hin und her hüpfe. Ich habe keine Chance gegen Milo, das weiß ich, aber ich kann nicht aufgeben! Das geht nicht! Das Video darf nicht an die Öffentlichkeit geraten, das würde die Beziehung der beiden zerstören und die andern schwulen Jungs hätten nur noch mehr Angst vor dem Coming-Out, mich einschließend.
Man würde Xander und Casper beschimpfen, auslachen, mobben und ihnen viele andere schreckliche Dinge antun, da bin ich mir sicher. Ich werde mit Pascal wohl nicht mehr glücklich werden, aber sie können es noch, vorausgesetzt ich kann Milo aufhalten. Meine Wut im Bauch breitet sich überall aus und steigert sich stetig, am liebsten würde ich ihn einfach schlagen.
Milo macht es offensichtlich auch noch Spaß mich vor ihm hüpfen zu lassen, denn er wiehert wie ein Pferd und hält mich zum Narren, indem er mit dem Gerät erst über meinem Kopf wedelt und es hochhebt sobald ich mich danach strecke.
»Milo! Wage es nicht, das Video weiterzuschicken! Das ist privat!«
Das kümmert ihn nicht, er lacht nur noch lauter und ich werde roter.
»Was geht dich das an, Bunny? Du bist ja nicht da drauf!«
»Das kannst du doch nicht machen? Sie haben dir nichts getan, lass sie in Ruhe ihre Liebe ausleben«
»Du bist so lächerlich, das es beinahe nicht mehr lustig ist«
Er kapiert es einfach nicht! Der letzte Satz von ihm und seine Lachtränen bringen das Fass endgültig zum Überlaufen – ich tu das, was nötig ist. Er wird mich anschließend umbringen, aber ich versuche es trotzdem. Ich greife Milo unverschämt in den Schritt, knete sogar ein bisschen, und er ist so paralysiert, dass ich die Gelegenheit habe ihm sofort das Handy zu entwenden, ins Bad zu rennen und es im Klo runterzuspülen. Erleichtert, dass das endgültig erledigt ist, schaue ich zu ihm. Wie ich befürchtet habe, dampft er regelrecht vor Zorn, doch ich werde nicht wegrennen wie ein Feigling, sondern ertrage es wie ein Kerl. Es wird nicht das erste und sicher nicht das letzte Mal sein, dass mich jemand verprügelt.
»Bete, dass du das nicht getan hast«, meint er mit gefährlich tiefer Stimme, schnellt auf mich zu und verpasst mir einen Fausthieb direkt in den Magen. Diese Stelle ist noch nicht mal richtig ausgeheilt von den Schlägen meines Vaters und deswegen tut es noch mehr weh, als gewohnt.
Ehe ich zusammenklappe, heftet er mich an die Wand und donnert mein Kopf dagegen,sodass meine Zähne klappern. Ein leises Wimmern entgleitet mir, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, ihm nicht zu zeigen, dass ich Schmerzen habe. Ich stelle mich aufrecht hin und beiße die Zähne aufeinander, schaue ihn mit soviel Hass an, dass meine Augen tränen.
»Du bist ein ignoranter, selbstverliebter, verzogener, dämlicher Widerling! Du hast doch nichts anderes im Sinn außer Dir selbst und wie du es am besten schaffst, Menschen wie mir, das Leben zur Hölle zu machen, damit du dich selbst besser fühlst und den Anschein behältst, du hättest alles und jeden unter deiner Kontrolle! Das ist Klischee pur, aber du bestehst nur daraus. Du wirst nie erfahren was Liebe ist, denn wer könnte so dumm sein und sich in dich verlieben? Deshalb verstehst du auch nicht, was durch die Veröffentlichung dieses Video ausgelöst werden könnte!«
Milo wird mich sowieso verprügeln, also kann ich das ruhig aussprechen. Ihm gefällt es nicht so gut wie mir, wie mir scheint, aber er sieht auch einen Tick verwirrt aus oder bilde ich mir das ein? Außerdem macht er keine Anstalten mich zu schlagen, deswegen fahre ich fort: »Ja, richtig gehört! Und ich habe es satt, dass du mich ständig wie Dreck behandelst und runterputzt wo es nur geht! Das lasse ich mir nicht mehr gefallen«
»Und was willst du dagegen machen, Bunny? Verrate mir das mal. Mit deinem Bodyguard werde ich fertig«
Was meint er denn damit? Dass er auch Pascal etwas antun wird? Ich wehre mich erfolglos gegen seinen festen Griff.
»Fertig werden? Ich…ich werde mir irgendwas ausdenken, verlasse dich drauf! Das Wichtigste ist aber, dass ich das Video zerstört habe und du damit keinen Schaden mehr anrichten kannst«
Darauf bin ich stolz und es hilft mir im Moment die Angst vor Milo zu überwinden.
»Zu spät, ich habe es allen meinen Bekannten verschickt und genau in diesem Moment schicken sie es weiter an ihre Bekannte und so weiter und so weiter«
Mir bleibt fast das Herz stehen. Oh bitte, nein! Lass das nicht umsonst sein! Schnurstracks bahnen sich Tränen hinauf – noch kann ich sie zurückdrängen.
»Du lügst«, nuschle ich erstickt.
Das ist eine Lüge, ganz bestimmt!
Er schüttelt fies grinsend den Kopf und lässt mich unvermutet los, so dass ich nach vorn schwanke.
»Nein, du lügst!«, schreie ich nochmal und schlage mit aller Wucht auf seine Brust ein. »Du darfst die Beziehung zwischen den beiden nicht zerstören! Wenigstens sie sollen glücklich sein, wenn ich es schon nicht sein kann!«
Jetzt habe ich mich definitiv verplappert, aber es ist mit egal. Meine Faust holt automatisch erneut aus, Milo fängt den Schlag vorher ab, denn noch einmal lässt er sich nicht von mir treffen.
»Las mich los–«, weiter komme ich nicht, denn er wirbelt mich herum und verdreht mir die Arme bis zum Anschlag hinter dem Rücken. Ich schreie schmerzerfüllt auf und zapple rum, doch er verstärkt den eisernen Griff nur noch mehr und es schmerzt höllisch, ich höre auf zu zappeln, damit nicht noch mehr Druck darauf ausgeübt wird.
Eine bleierne Stille legt sich in den Raum, was mir komisch erscheint, und in der nächsten Sekunde spüre ich plötzlich sanfte, warme Lippen, die sich auf meinen Nacken drücken und keuche schockiert auf. Was…? Beinahe hätte ich aufgeschrien, als sich das wiederholt, denn das beweist, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Mir rutscht das Herz irgendwo in die Kniekehlen, ballert dort weiter, und jedes meiner Muskeln ist bis zum Zerbersten angespannt, ich kann mich nicht rühren.
Was geht hier vor? Was tut Milo da? Er tickt doch nicht mehr richtig.
Seine Lippen liebkosen inzwischen meinen Hals und er beißt sogar hinein, um dann spitzzüngig, kreisend über diese Stelle zu lecken. Mir rauscht das Blut in den Ohren und in meinem Kopf entsteht ein Chaos, ich fange unkontrolliert an zu beben, während heiße Hände nicht gerade zärtlich meine Brust und meinen Bauch erkunden, kurz in meine Nippel zwicken, die sich geradewegs aufrichten, die Seiten entlang streichen – stetig begleitet von einer unglaublichen Welle Gänsehaut – und auch nicht vor meinen Pants Halt machen, die sie mir ohne Umschweife herunter ziehen. Mir bleibt der Atem in der Kehle stecken.
Soll das ein schlechter Scherz sein? Das seltsamste an der Sache ist, dass mich das Ganze erregt, mein ganzer Körper vibriert vor Lust. Vielleicht bin ich masochistisch veranlagt?
Da schrillen alle möglichen Alarmglocken und meine Knie werden zu Wackelpudding vor Unsicherheit, aber Milo hält mich fest umklammert. Ich könnte um Hilfe schreien oder mich heftig wehren, doch aus einem Grund, den ich nicht kenne, mache ich das nicht, sondern lege meine Hände auf seine drauf, die um meine Hüften liegen, und erwidere die Reibung mit meinem Hintern ebenso wild, wie er es tut. Dass er mich vor ein paar Minuten geschlagen hat, lasse ich gekonnt außer Acht.
Es fühlt sich aufregend und berauschend zugleich an, sobald ich Milo hinter mir erhärten spüre und das Herz in meinen Kniekehlen rutscht aufeinmal eine Etage höher, wo sich bereits Blut angesammelt hat. Mir ist klar, dass es Milo ist, der das verursacht hat und es ist mir gleich. Zumindest momentan.
Ich nehme wahr, dass er sich die Hose herunter zerrt und wie ferngelenkt, ohne meine Erlaubnis, bringt sich mein Körper erwartungsvoll in Position – Beine gespreizt und die Arme an der Wand abstützend, mit geweiteten Augen. Meine Lunge ist eng vor Aufregung, als ich sein nun nacktes Glied gegen meine Poritze vorüberstreifen spüre und ich hätte beinahe aufgestöhnt. Es ist, als ob das alles nur ein Traum wäre, ein Alptraum oder Wunschtraum, keine Ahnung, aber es ist reizvoll. Wie ein Drogenrausch. Der nackte Oberkörper, der bei jedem Atemzug meine Haut am Rücken streift, strahlt eine Hitze aus, die auf mich überspringt, mich ansteckt. Kein Laut ist bisher aus meinem Mund gekommen, so wie es bei mir immer ist, er dagegen keucht mir ins Ohr.
Absolut ohne Vorwarnung dringt Milo dunkel stöhnend in mich ein und ich verkrampfe mich sogleich, danke Gott, dass ich erst vor wenigen Stunden Sex mit Pascal hatte und deswegen noch etwas gedehnt bin. Der unumgängliche Schmerz lichtet den nebligen Zustand meines Hirns und ich bin schon im Begriff ihm den Ellenbogen in die Rippen zu rammen und abzuhauen, doch dann halte ich inne – spielend und zärtlich knabbern Zähne an meinem Nacken und er lässt kleinere Küsse da. Das jagt mir kleine Stromschläge die Wirbelsäule hinunter bis dahin, wo wir verbunden sind und meine Muskeln entspannen sich wieder, ein weiterer Stoß bewirkt das selbe. Er füllt mich bis zur Gänze aus, und ich fühle mich voll und übermäßig erhitzt, er scheint überall zu sein. Das leichte Brennen verbindet sich auf eine Weise mit Lust, die ich zuvor noch nie erlebt habe und auch nie gedacht hätte, dass mir sowas gefallen würde. Ich habe mich stets für einen Blümchensex-Typ gehalten und bin nun total durcheinander.
Es wird zur regelrechten Tortur jegliche Geräusche meinerseits zu vermeiden, so sehr will es aus mir raus und sich Gehör verschaffen.
»Stöhne, Bunny«, befielt Milo mir, als hätte er meine Gedanken gelesen. Diese dominante Stimme macht mich an, lässt mich sogar vor Wollen erzittern.
»Ich will nicht«, antworte ich scheu.
»Mach es«
»Nein«, keuche ich, als er mit noch mehr Wucht in mich eindringt. Milo krallt seine Finger in meine Haare und biegt meinen Hals nach hinten. Danach schnappt er sich die Brille auf meiner Nase, schmeißt diese irgendwo hin und küsst mich ungestüm auf den Mund. Augenblicklich verschließe ich meine Lippen, da seine Zunge einen Weg in meine Mundhöhle sucht. Doch er hört einfach nicht auf zu drängen und stetig in mich zu gleiten. Ich sehe ihn an. Die Augen hat er zu und er scheint das alles sehr zu mögen, wieso sollte ich mich nicht auch so gehen lassen wie er? Zögerlich öffne ich den Mund, lasse seine samtige, feuchte Zunge hinein, die meine anstupst und umschmeichelt. So gut ich eben kann, erwidere ich den Kuss. Es ist…unfassbar, dass ich es vorher so strikt abgelehnt habe! Unsere Lippen bewegen sich darauf heiß und synchronisiert gegeneinander, als hätten sie nie was anderes getan. Milo stöhnt lustvoll in mein Mund. An diesem Punkt fahren seine Fingerspitzen flüchtig meinen Schaft entlang und sein Becken ruckt begleitend – ein leises Stöhnt entrinnt mir ungewollt und unsere Lippen trennen sich dabei. Oh Gott! Es halt mir noch in den Ohren!
»Lauter«, knurrt er.
Vehement schüttele ich den Kopf und schaue ihm bittend in die Augen, aber zu meinem Leidwesen wiederholt er das vorige Spiel und beißt dazu in meine Schulter, wonach ein lang gezogenes Stöhnen durch das Zimmer tönt.
Einem Herzinfarkt nahe, erkenne ich, dass es aus meiner Kehle stammt und ich den Mund nicht mehr verschlossen halten kann, alle unterdrückten Empfindungen finden in Form von Stöhnen einen Weg hinaus. Milo leckt mir ausgiebig über den blank gelegten Hals, saugt daran – was alle meine Härchen zu Berge stehen lässt – und steigert seine Geschwindigkeit noch mehr, hämmert in mich, als gäbe es nichts besseres. Immer wieder trifft er die richtige Stelle und meine Laute klingen kehliger und verzweifelter. Mit offendem Mund atmet er feucht gegen meine Schläfe, worauf ich mich mehr aufbaue, meinerseits in seine Haare greife und ihm den Hintern entgegen stemme, um ihn tiefer zu haben. Es ist so intensiv, dass ich meinen Kopf in den Nacken auf seine Schulter lege und noch lauter stöhne. Kleine Schweißtröpfchen vermischt mit Wasser tropfen aus meinen Haaren den Körper hinab. Ich verspüre alles zur selben Zeit.
Es dauert nicht lange, da fühle ich, wie Milos Schwanz pulsiert, er hefitg vorrückt und sich schwer auf mich stützend heiß in mir ergießt. Ich bringe mich gleich danach selbst zum kommen, in dem ich meine Hand benutze. Da hält die Zeit förmlich an – er an mich gelehnt, ich kann sein Herzschlag spüren, seine Lippen auf meinem Hals – und danach vergeht der schöne Moment.
Milo bemüht sich um Kontrolle, das weiß ich auch ohne meine Brille, denn ich höre sein Ringen nach Atem und den Schuss Panik darin. Später sehe ich bloß noch den Schemen, der gehetzt aus dem Zimmer stürzt.
In den Nachwehen des Orgasmus gleite ich auf den Boden, vergrabe mein Gesicht in den angezogenen Knien und klammere mich an die letzten Augenblicke der süßen Gedankenlosigkeit.
Er ist weg. Hat mich hier allein stehen gelassen und verabscheut sich jetzt hundertprozentig selbst. Ehrlich gesagt, habe ich nichts anderes erwartet als das, doch es tut dennoch weh und kratzt an meinem ohnehin bereits kellertiefen Selbstvertrauen. Bereuen tue ich es nicht – es war hart, heiß und mitreißend, das völlige Gegenteil von dem Sex mit Pascal, was nicht heißen soll, dass Pascal schlecht im Bett ist. Dieser Sex war anders. Es hat mir gefallen, das gebe ich zu, ich habe mich zum ersten Mal vollkommen geöffnet, war frei von Hemmungen und Unsicherheit, aber ein weiteres Mal wird das nicht geschehen. Und eigentlich hasse ich ihn doch, oder? Jeder normale Mensch würde es zumindest tun. Mein Kopf schwirrt.
Ist er schwul oder war das ein Experiment für ihn? Ich verstehe ihn nicht. Wieso hat er das überhaupt angefangen – und es besteht kein Zweifel, dass er den ersten Schritt gemacht hat. Auf jeden Fall war das eine fette Überraschung. Ein Gedanke bohrt sich schlagartig in meine Seele. Was ist, wenn er mich bloß dazu benutzt hat und es ihm egal ist, wer ihm Befriedigung verschafft? Was ist, wenn er mich jetzt damit irgendwie erpressen will? Ich bin so dumm, dass ich da mitgemacht habe! So dumm!
Erst als ich etwas Nasses auf meinen Wangen spüre, erkenne ich, dass ich weine und sogleich wische ich die Tränen weg und erhebe mich entschlossen, taste vorsichtig nach der verlorenen Brille.
Habe ich Pascal wegen dieses Experiments betrogen? Nein! Er hat mich betrogen und betrügt mich sicherlich auch jeden Tag mit seiner Frau! Also warum empfinde ich diese Schuld? Ist es, weil ich es ausgerechnet mit Milo getan habe, dem Menschen vor dem mich Pascal ständig schützen möchte? Sehr denkbar.
Die Brille finde ich auf einem der Betten und setze sie wieder drauf. Ein gewisser Trotz kommt in mir auf – ich werde Milo zeigen, dass ich damit umgehen kann und mich nicht so leicht von ihm unterkriegen lasse! Dass es für mich auch nur Sex war und nichts sonst und, dass ich nicht hier herumsitzen und heulen werde, gebrochen. So betrachtet ist zwischen uns nichts gelaufen und es ist alles in bester Ordnung. Es klopf an der Tür und so schnell ich kann, schlüpfe ich in meine Pants und wickle die auf dem Boden liegende Decke eng um mich. Der Wanduhr nach, habe ich noch knapp zehn Minuten bis die Mittagspause vorbei ist.
Davor muss ich mir unbedingt was zum Anziehen besorgen.
Ich mache die Tür auf. Es ist Pascal, der ein Tablett voll mit Essen in den Händen hält.
»Hey«
»Hallo«, grüße ich heiser zurück – ob es wegen dem Stöhnen ist? – mache jedoch keine Anstalten ihm den Weg frei zu machen.
»Ich habe dir etwas zu Essen geholt, falls du noch nichts gegessen hast«
Rasch nehme ich das Tablett entgegen und vergesse dabei völlig die Decke festzuhalten, sie rutscht an mir runter – zum zweiten Mal an diesem Tag.
Pascal betrachtet mich von Kopf bis Fuß und beißt sich besorgt auf die Unterlippe, als er die blauen Flecken sieht die meinen Oberkörper übersähen, öffnet den Mund, sagt aber nichts.
Er macht einen Schritt auf mich zu, doch ich halte das Tablett fest umklammert zwischen uns, so dass er nicht an mich herankommt.
»Roman…«
»Kannst du mir Kleidung von dir leihen? Wegen–«, irgendwie muss ich mich anstrengen, seinen Namen auszusprechen. »Milo hat „versäumt“ mir zu sagen, dass das hier länger dauert. Deswegen habe ich nichts mit. Also: Leihst du mir ein paar Klampotten oder nicht?«
Langsam nickt er.»Natürlich. Ich bin gleich wieder da«
Sobald er fort ist, beschließe ich auf dem Bett zu essen und setze mich hin, das Tablett auf den Knien balanzierend.
»Au!«
Das Ganze unappetitlich scheinende Essen landet krachend auf dem Fußboden, als ich wie von der Tarantel gestochen aufspringe. Schimpfend reibe ich mir den Hintern, der brennt wie Feuer und mir schießen Tränchen in die Augen. Ich lege mich vorsichtig bäuchlings hin und möchte am liebsten sterben, aber ich muss die restlichen Bettpfannen zu Ende schrubben. Die Sauerei, die ich im Zimmer verursacht habe, mache ich später weg. Mir fehlt gerade schier die Kraft dazu.
»Was ist denn hier passiert?«, fragt Pascal mich erstaunt und legt einen Stapel Klamotten ans Fußende des Bettes. »Hast du überhaupt geschlafen?«
Zärtlich streichen seine Finger mir durchs Haar, der Kontrast zu Milos Berührungen fällt deutlich auf. Er sitzt vor mir in der Hocke und sein Gesicht schwebt wenige Zentimeter entfernt vor meinem, er ist besorgt, und ehe ich mich besinnen kann, greife ich nach seinem Kragen, ziehe ihn zu mir heran und küsse ihn.
Ohne Zunge.
Das war ja klar! Weshalb kann ich es bei ihm nicht? Wieso, wieso, wieso?
Wütend wie ich bin, stoße ich Pascal grob von mir, als hätte er mich gegen meinen Willen geküsst. Er plumpst auf den Boden und starrt mich verwirrt an.
»Habe ich was falsch getan-«
»Nein. Mir geht es nicht so gut«, erkläre ich beschämt. »Kannst du mich bitte bei der Betreuerin abmelden? Ihr sagen, dass ich krank bin? Das wäre nett von dir«
»O-okay«, stottert er, rapelt sich auf und lässt mich folglich allein.
Oh, mein Gott, was habe ich nur angerichtet? Das Ganze kann problematisch werden.
»Warum bist du in der Pause nicht gekommen? Hast dich verirrt, oder was?«, gesellt sich Karin zu mir nach draußen, während ich mir schon die zweite Kippe reinziehe und fröstelnd über meine Arme ruble. Ich hätte eine Jacke anziehen sollen, doch dafür müsste ich ins Zimmer gehen, wo Bunny sich zurzeit befindet und auf diese Begegnung kann ich wirklich verzichten.
»Hatte zu tun«, antworte ich wortkarg und atme nochmal tief ein, bevor ich die Zigarette zu Boden werfe und sie mit dem Schuh zertrete. Bilder von einem männlichen, verschwitzten und schmächtigen Körper schwirren mir ununterbrochen vor Augen und ich kneife sie fest zusammen, damit sie endlich verschwinden. Es hilft nicht.
Ich hatte ihn nach der Pause nicht gesehen, er hatte sich vermutlich in unserem Zimmer verkrochen und ist da nicht mehr rausgegangen. Gut so, ich war froh ihn nicht wieder in der Küche zu sehen, ich wäre völlig ausgetickt.
Warum ich das getan hatte, will mir nicht richtig klar werden. Meine einzige Erklärung ist, dass ich zu lange keinen Sex mehr hatte und mein Körper deswegen eigenständig wurde. Dieser nervige Bunny trägt auch daran Schuld – er hüpfte halb nackt vor mir her und ist so zierlich, dass man ihn locker mit einem Mädchen verwechseln kann. Ich muss bloß verhindern, dass das erneut geschieht. Und ich muss das Ganze sofort aus dem Kopf kriegen, sonst drehe ich noch durch. Langsam wende ich mich an die rauchende Karin, die mich mit hochgezogenen Brauen mustert.
»Irgendwie siehst du Scheiße aus«
Ohne auf ihren Kommentar zu achten, nehme ich ihr die Zigarette aus der Hand und zertrete sie. »Bock auf ne heiße Nummer, Karin?«
Sie strahlt und streckt mir ihre Arme entgegen. »Ich dachte schon, du fragst nie!«
Karin drückt mich gegen die Glastür, schiebt ihr Knie zwischen meine Beine, saugt und leckt gierig an meinem Hals und lässt ihre Hand flink in meine Hose gleiten, wo sie sofort anfängt meinen Schwanz zu stimulieren.
Ich keuche erregt und knete nebenbei ihre strafen Brust, doch das ist nicht das, was ich wollte.
»Warte, ich dachte eher an was anderes«, wende ich ein, denn ich muss dringend eine Weiblichkeit spüren und nicht bloß die Finger von jemandem. Das brauche ich im Moment einfach um den Kopf frei zu kriegen und mir meiner selbst wieder sicher zu sein.
Karin legt mir einen Finger an die Lippen, damit ich nicht weitersprechen kann und öffnet den Hosenstahl.
»Ich werde dir den besten Blowjob verpassen, den du jemals hattest, Süßer, keine Sorge«, sagt sie, kniet sich vor mich hin und holt ihn heraus, dabei bin ich erst halb erigiert.
Ergeben schließe ich die Augen und stöhne, als sich ihre rotgeschminkten Lippen um meine Eichel legen und ihre Zunge drumherum tanzt. Sie kann das wirklich gut! Als allerdings Bunnys Gesicht jäh vor mir erscheint, hebe ich sie hastig hoch und verfrachte uns ohne Umschweife zu der steinernen Bank in der Nähe, wo drauf ich sie ablege.
»Milo–«, versucht sie mich aufzuhalten, ich jedoch überhöre sie.
»Dein Lutschen reicht nicht!«, erkläre ich beinahe verzweifelt und schiebe ihren bauschigen Rock ungeduldig nach oben, aber sie erschwert mir die Arbeit, weil sie sich aufeinmal heftig widersetzt und meine Arme zerkratzt.
Den Grund dafür erspüre ich eine Sekunde darauf, als meine Finger am Ziel ankommen. Zutiefst erschrocken schreie ich auf und fahre wie von einer giftigen Schlange gestochen zurück, lande dabei auf dem Rasen vor der Bank. Mein Blick wechselt fassungslos zwischen der Hand, die ich weit vor mir halte, und dem Höschen von Karin, woraus ein…Hoden herauslugt. Ein Hoden!
»Oh, Gott! Fuck! Du bist ein Kerl! Das ist doch eine verdammte Horrorshow hier!«, brülle ich heiser, rapple mich und meine Hose wieder hoch und raufe mir hin und herlaufend die Haare. Karin – oder wie auch immer „es“ heißt – richtet den Rock, steht auf und schnalzt bedauernd mit der Zunge.
»Okay, aus der heißen Nummer wird anscheinend nix mehr. Schade, ich habe gehofft deine Dämlichkeit ein bisschen länger ausnutzen zu können, aber du musstest ja unbedingt deine Finger überall hinstecken«
Ihre Stimme klingt plötzlich gar nicht mehr so weiblich und mir fallen auch die männlichen Gesichtszüge auf. Wie konnte ich das Offensichtliche übersehen?! Bin ich doch so dumm wie manche sagen?
»Verpiss dich bloß, Freak! Auch wenn du wie ein Mädchen gekleidet bist und riesige Titten hast, bist du ein Typ, und ich werde dir ohne zu zögern deine gebleichten Zähne rausschlagen!« Vor lauter Wut weiß ich nicht wohin mit mir.
»Schon gut, beruhig' dich, Großer. Ich haue ja ab!«, murrt sie und leckt sich lasziv grinsend über die Lippen. »Aber gebs zu, es hat dir gefallen, wie ich dich vorher verwöhnt habe«
»Du scheiß Zwitter! Komm her und ich kill' dich!« Ehe ich sie erreichen kann, ist sie fluchtartig hinter der Terrassentür verschwunden.
Ist es ein Zufall, dass ich erst den einen Kerl ficke und danach fast einen anderen?
Mir steigt die Galle hoch und ich stütze mich krümmend auf die Knie. Es kommt nichts außer Säure aus meiner Kehle, denn ich habe heute nicht gefrühstückt und das Essen habe ich verpasst.
Es ist bereits Abend, nach der Mittagspause musste ich das restliche Geschirr zu Ende spülen, danach durfte ich alles trocken wischen und in Schränke stapeln. Nun habe ich frei und könnte schön auf dem Bett lümmeln und PlayStation spielen, stattdessen muss ich im Haus oder draußen rumgammeln, da ich auf keinen Fall auf Bunny treffen will.
Andererseits – mir ist saukalt und wieso sollte ich wegen ihm auf etwas verzichten? Ich werde so tun, als wäre das, was zwischen uns passiert ist, das Normalste der Welt! So ist es am Einfachsten, wie ich finde, denn ich bin keiner von denen, die sich vor etwas verstecken. Na und, ich habe einen Kerl gefickt, das bedeutet noch lange nicht, dass ich eine Schwuchtel bin! Mein Körper hatte es nötig und da kann ich doch nichts dafür!
Von dieser Erkenntniss bestärkt mache ich entschlossen kehrt und schreite ins Gebäude und zu unserem Zimmer. Vor der Tür Nummer zwölf halte ich an, reiße sie nach einem Durchatmen auf und schließe sie mit dem Fuß hinter mir.
Bunny schläft bäuchlings auf seinem Bett, doch wegen des Knalls, den ich verursache, wacht er ruckartig auf und starrt mich aus riesengroßen Augen an, als wäre ich eine Gestalt aus seinen Albträumen, was gar nicht so abwegig ist.
Ich setze das übliche, höhnische Lächeln auf, marschiere auf das Bad zu und entledige mich meiner Kleidung; ich habe vor lange und ausgiebig zu duschen, denn ich hatte heute keine Gelegenheit dazu. »Na, Bunny, alles klar? Wie geht’s deinem Arsch so?«
Ihm klappt die Kinnlade herunter und er wirkt vollends perplex. »Du leugnest es gar nicht?«
»Wieso sollte ich es leugnen? Ich musste mir irgendwo Erleichterung verschaffen und da warst du gerade zur Stelle, du unterscheidest dich kaum von einem Mädchen«, begründe ich und schnappe Shampoo und Duschgel aus meiner Tasche, nur noch in Boxern gekleidet. Bunny sieht aus, als hätte ich ihm eine triftige Ohrfeige verpasst und ich glaube sogar aufkommende Tränen zu erhaschen, die er hektisch wegblinzelt. So eine Memme! Dann erhebt er sich und nähert sich mir mit einem anklagend auf mich gerichteten Zeigefinger. Er hat ebenfalls bloß Pants an und unwillkürlich lasse ich meinen Blick über ihn schweifen. Ein großer, blauer Fleck erstreckt sich unterhalb seiner Rippen. War ich das etwa? Unmöglich, dieser verblasst schon, also war das jemand anders. Sein Finger bohrt sich mir stechend in die Brust.
»Rede dir ruhig ein, dass ich wie ein Mädchen aussehe, aber wir beide wissen, dass das nicht stimmt!«
Ich lache auf. »Und ob das stimmt, hast du dich im Spiegel angeguckt, Bunny?«, erwidere ich giftig und schlage seine Hand weg.
Was muckt er sich so auf? Sonst ist er doch auch nicht derart aufmümpfig und übermütig. Stur schüttelt er den Kopf und bohrt erneut einen Finger in meine Haut, jetzig weiter unten in meine Bauchmuskeln, die sich anspannen.
»Ja, das habe ich, aber da entdecke ich nichts weibliches. Ob du es zugibst oder nicht – du hast mich, ein männliches Wesen, genommen«
Genommen?! Allein Bunny kann derartiges bringen!
»Dann musst du dir eine neue, hässliche Brille kaufen, diese funktioniert nicht! Denkst du jetzt, du kannst dir alles bei mir erlauben, weil wir gevögelt haben, oder was? Ich kann immer noch die Scheiße aus dir herausprügeln, also überspann' den Bogen nicht!«
Von Neuem schlage ich den Finger Bunnys zur Seite und will an ihm vorbei, doch er hält mich auf, indem er sich vorne beidhändig gegen meine Schultern stemmt.
Verblüfft stoppe ich und stiere auf ihn herunter. Das kann doch nicht sein, dass er sich sowas traut.
»Aber das wird nicht nochmal passieren, oder? Du weißt jetzt genau, dass ich ein Kerl bin?« Etwas Lauerndes schleicht sich in seine Gesichtszüge.
»Das wusste ich auch vorher, mein Körper brauchte das lediglich, da ich zu lange keinen Sex hatte! Es wird sich aber nicht wiederholen, entspann dich! Und zieh endlich Leine, wenn du keine blutige Nase willst! Verdammt, kannst du einem auf den Geist gehen!«
Ehe ich ihn beiseite schubse, setzen sich seine Hände, die mich vorher aufhielten, in Bewegung und streichen meine Brust abwärts bis zu dem Saum meiner Shorts und ich halte wummerden Herzens den Atem an. Was hat dieser Wurm vor?
»Okay, ich verstehe. Da du deine „Erleichterung“ gehabt hast, muss das hier dich völlig kalt lassen«, sagt er – einer seiner Finger schlüpft hinein und berührt eine Stelle ganz nah an meiner Männlichkeit. Mein Unterleib zieht sich mit einem Ruck schmerzhaft zusammen und ich ächze. In den Boxern zeichnet sich langsam ein Zelt ab und ich kann nichts dagegen tun, außer es böse anzublitzen. Wie kann das denn so schnell laufen – sicherlich weil Karin es nicht zu Ende gebracht hat und nicht wegen Bunny.
Dieser lächelt gewinnend, sobald er meine Erektion bemerkt und zieht sich zurück, doch so leicht lasse ich ihn nicht davon. Fix habe ich ihn gepackt. Scheiß drauf, er hat es schließlich darauf angelegt!
»Hier bin ich derjenige, der Spielchen treibt und nicht du, merk dir das ein für alle mal, Bunny«, zische ich und steige samt ihm in die Dusche.
»Aber ich–«
»Du hast das begonnen«, unterbreche ich seinen Protest und drehe die Wasserhähne auf. Heißes Wasser strahlt uns an. »Nun musst du es ausbaden, du Homo« Ich grinse, drehe ihn wieder um, damit wir die gleiche Position wie letztes Mal einnehmen können und werfe meine Boxer aus der Kabine.
Dass er schwul ist, daran habe ich keinen Zweifel, ich ärgere mich, dass ich das nicht früher gecheckt habe – so ein Würstchen wie er kann doch nur schwul sein. Würde sich ein Hetero etwa so an mich drücken und in dieser Pose vor mir dastehen, wie es bei ihm gerade der Fall ist? Und ich will einzig meinen Spaß haben, den habe ich nun mal nötig, was ist daran so verkehrt, dass ein Junge ihn mir beschafft? Das bedeutet rein gar nichts! Ich stehe auf Mädchen und basta und da keins in der Nähe ist, muss Bunny mir eben aushelfen. Wenn wir erst wieder zu Hause sind, werde ich so viele Frauen nageln bis mein Freund schlapp macht und das hier werde ich schnellstens vergessen.
»Milo, ich möchte das nicht!«, flüstert er zittrig, dessen ungeachtet ist er bereits nackt und ich erspähe seine eigene Härte.
»Dein Schwanz sagt was anderes«, argumentiere ich spöttisch und nehme zwischen seinen Schenkeln Platz.
Bunny sieht mit Kulleraugen an sich herunter und dann zu mir. Wassertröpfchen bedecken seine Brillengläser, er beißt sich auf die Lippe und bebt stark. »Aber diesmal nicht so hart«
Etwas hat sich in seiner Stimme verändert – er klingt nicht unsicher oder ängstlich, sondern eher so, als könnte er es kaum erwarten, was auch die reizvolle Reibung seines Hinterns an meinem Schaft erklärt.
»Du magst es hart, Bunny, da kannst du mir nichts vormachen«
Mit einem Stoß spieße ich ihn auf und er quittiert es mit einem lauten Stöhnen.
»Auch eine?«, ich strecke eine Kippe rüber zu Bunny, der mit mir aus dem Fenster des Badezimmers lehnt. Er zupft konzentriert an den grünen Blättern des Busches rum, der direkt vor unserem Fenster wuchert.
»Ich rauche nicht«
»Wer hätte das gedacht?«, gebe ich zurück und zünde mir eine an.
»Spielst du nicht Basketball?«
»Ja, aber ich rauche nicht immer – bloß wenn ich Stress habe«, rutscht es mir heraus, obwohl ich überhaupt nicht vorhatte, dieses Detail zu verraten.
Bunnys Mundwinkel zucken verdächtig nach oben. »Du hast also Stress? Warum?«
»Darum eben!«, brumme ich und werfe ihm einen genervten Blick zu.
»Es hat nichts damit zu tun, was grad war?«
Okay, wir hatten grad wieder Sex, jedoch rechtfertigt das nicht seine Unverschämtheit, die ihm nicht ähnelt.
»Nein, hat es nicht!«
»Oder, dass du erfahren hast, dass Karin eigentlich keine Karin ist?«
Ich starre ihn argwöhnisch an und schnippe die Kippe weg, ich rauche nie welche zu Ende. »Woher weißt du davon?«
Schulterzuckend grinst er in sich hinein. »Das musste geschehen, so wie du sie angemacht hast und das Karin eine Transe ist, sieht doch ein Blinder«
»Schön für dich, du Klugscheißer, war aber nicht so spaßig, als ich ihren Schwanz in der Hand hatte!«
Bunny lacht aus vollem Halse und ich stimme zögerlich mit ein, obgleich ich es vorher nicht so lustig fand. Ich glaube, das ist das erste mal, dass ich ihn lachen höre.
Dann werde ich schlagartig ernst und packe hart sein Kinn, damit er mir in die Augen blickt.
»Wenn ich erfahre, dass du dich verquatscht hast, zieh ich dir die Haut ab, haben wir uns verstanden? Und ich rede hier von der Sache mit Karin und der…anderen Sache«
»Für wie dumm hältst du mich? Ich werde niemandem ein Wort sagen«, krächzt er und schluckt hart, das Lachen ist weg. Ich lasse ihn los und strubbel durch seine karottenfarbigen Haare.
»Guter Junge«
Ich kann mir nicht ausmalen, was geschehen würde, falls jemand davon erfährt. Das wäre wortwörtlich die Hölle auf Erden.
Bunny glättet umgehend seine Haare, schaut auf den Boden und deutet auf die Badetür.
»Kannst du bitte rausgehen, ich muss aufs Klo«
»Ich habe schon alles dort gesehen, keine Umstände«
Wütend stemmt er seine Hände in die Hüften und funkelt mich an. »Geh raus, Milo! Ich kann nicht pinkeln, wenn jemand dabei ist!«
»Okay, okay, reg dich ab«
Breit grinsend nehme ich das Badetuch, das um meine Hüften gewickelt ist und hänge es an den Haken zum Trocknen.
»Und nur damit du es weißt: Ich lasse es nicht erneut zu!«, sagt er und versucht krampfhaft nicht auf meinen Unterleib zu glotzen, das merke ich.
»Pah! „Zulassen!“ Du warst Feuer und Flamme, erzähl mir nicht, dass du es zulassen musstest!«
Das macht mich irgendwie sauer. Er hört sich ja an, als ob ich ihn gezwungen hätte mir seinen Arsch entgegen zu strecken und vor Lust zu stöhnen
»Kannst du jetzt raus?«, verlangt er nachdrücklicher.
Ich verdrehe die Augen und marschiere ab. »Du bist so verklemmt, Bunny«
In unserem Zimmer werfe ich mich auf das Bett, den Kopf auf die Hand gestützt, decke mich zu – es ist hier nicht gerade warm – und kann nichts mit mir anfangen, außer auf Bunny zu warten. Es läuft bergab mit mir. Er kommt auch nach einer Minute und läuft geradlinig zu den Klamotten, die auf seinem Bett liegen.
Als er sein Handtuch auf den Boden fallen lässt, um sich was Frisches anzuziehen, pfeife ich auf und amüsiere mich über sein errötetes Gesicht.
»Woher hast du die Sachen?«
»Die hat mir Pascal geliehen«, antwortet er und steigt in eine Jogginghose, die ihm eindeutig zu groß ist.
»Von meinem Schwager? Soso, bist wohl eng mit ihm befreundet, was? Jedenfalls siehst du lächerlich damit aus«
»Tja, und wem habe ich es zu verdanken, dass ich es tragen muss?«
»Und wem habe ich es zu verdanken, dass ich hier rumgammeln muss?«, entgegne ich scharf.
»Mir nicht! Du hast Pascal angegriffen und deswegen wurdest du hierfür verdonnert und mich hast du da reingezogen!«
»Eine Runde Mitleid für den armen, unschuldigen Bunny!«
»Wie auch immer«, murmelt Bunny schon ganz angekleidet und trottet zur Tür.
»Wohin denn so eilig?«
Es ist bereits dunkel draußen und es interessiert mich wirklich, wohin er um diese Uhrzeit vorhat zu gehen.
»Ich glaube nicht, dass es dich etwas angeht, Milo«, nuschelt er.
»Habe ich vergessen zu erwähnen, dass wir nach neun Uhr nicht im Haus umherschleichen dürfen? Willst du Ärger riskieren?«
Innerlich gebe ich mir eine schallende Ohrfeige. Warum lüge ich ihm was vor, damit er hier bleibt? Vielleicht wegen der Langeweile, die ich nicht aushalten kann? Jedenfalls scheint die Lüge zu wirken, Bunny setzt sich aufs Bett und vergräbt seinen Kopf in den angezogenen Knien.
»Ich darf nicht noch mehr Ärger kriegen, mein Vater bringt mich um« Sobald er das ausgesprochen hat, verkrampft er plötzlich und wird vollkommen still, scheint sogar den Atem angehalten zu haben.
»Das kenn' ich, mein Alter scheut auch nicht vor „handfesten“ Predigten. Und er wurde darin ausgebildet, die schmerzhaftesten Stellen zu treffen ohne Spuren zu hinterlassen« Mein Mund hört einfach nicht mehr auf mein Gehirn und plappert Zeug vor sich hin. Dass mein Dad eher der gewaltsame Typ Vater ist, habe ich bisher niemandem erzählt. Bunny schaut auf und sieht mich forschend und zugleich scheu an.
»Und du nimmst das so locker hin?«
»So wie du bloß rumzuheulen, bringt offensichtlich nichts! Er ist nur selten da und wenn doch, verschwinde ich vorher. Doch vor seinen Überraschungsbesuchen kann ich mich nicht drücken, wenn ich ganz brav war und nichts angestellt habe, lässt er mich in Ruhe. Naja, so ist das halt. Sobald ich diese Scheiß Schule abgeschlossen habe, haue ich ab aus diesem Kaff und such mir ne Wohnung oder sowas«
Ich habe es aufgegeben meinen Mund zu halten – ein bisschen mit Bunny reden schadet wohl kaum, obwohl ich den Verdacht habe, er wird sich sonst was darauf einbilden.
»Ich suche mir bereits eine Wohnung, denn ich will mit achtzehn ausziehen und keine Minute länger dort bleiben« Er ist aufgetaut und traut sich normal meinen Blick zu erwidern.
»Hast du den Bluterguss und die Wunde an deiner Augenbraue von deinem Dad?«
Entsetzen schleicht sich auf sein Gesicht, er springt zu mir rüber und rüttelt mich an den Schultern. »Bitte verrate niemandem was davon, bitte!«
Ich schüttle seine Hände ab und setze mich entnervt auf.
»Das hatte ich auch nicht vor, du Schisser! Für wen hältst du mich, den Satan persönlich?«
Ihm entweicht ein erleichterter Seufzer und er richtet seine Brille müde auf der Nase.
»Also vorausgesetzt du tust was für mein Schweigen«, grinse ich und wackle bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.
»Nein! Mein Hintern tut immer noch weh von dem ersten mal!«
Aufgebracht verschränke ich die Arme vor der Brust. »Dermaßen hart wars nicht, du übertreibst!«
»Und wie hart das war!«, fährt er mich völlig errötet an und ich lache.
»Gefallen hats dir trotzdem. Ich bin halt unschlagbar«, stelle ich selbstsicher fest, aber er geht nicht drauf ein, sondern legt sich stattdessen unter seine Bettdecke, kehrt mir den Rücken zu und murmelt:
»Lieber schlafe ich, als mich länger mit dir zu unterhalten«
Schmunzelnd knipse ich das Licht aus und tu es ihm gleich.
In der Nacht wache ich auf, da ich dringend pissen muss und auf dem Rückweg vom Bad bemerke ich das leere Bett und sehe mich im Zimmer um. Wo zum Teufel ist Bunny hin?
Da ich aber momentan nicht zum Wandern auferlegt bin, lege ich mich wieder hin und schlafe schnell ein.
Am nächsten Morgen ist er da und versucht seine Haare mit den Fingern in Ordnung zu bringen, als wäre er gar nicht weg gewesen – oder habe ich das bloß geträumt? Sicher bin ich mir nicht und ich werde auch nicht nachfragen, sonst denkt er nachher, ich würde mich für ihn interessieren oder sowas. Jedenfalls erledige ich mein allmorgendliches Ritual, was aus Zähne putzen und Haare stylen besteht, und wir gehen danach vor die Tür, wo die Betreuerin uns erklärt, dass wir heute im Garten arbeiten müssen.
»Der Gärtner erwartet euch draußen und wird euch alles weitere erklären. Morgen ist euer letzter voller Tag hier, ihr werdet im Keller Wäsche falten, auch da wird euch alles erklärt, von Karin. Übermorgen um acht Uhr früh werdet ihr von einem Bus abgeholt. Noch Fragen?«
»Ja. Muss es unbedingt Karin sein?« Das konnte ich mir nicht verkneifen.
»Keine Fragen also. Den Garten findet ihr draußen«
»Doofe Schnepfe«, murmele ich ihr hinterher, derweil schreiten wir durch das Gebäude zur Terrassentür, wo ich gestern eine geraucht habe und treffen im Vorgarten direkt auf einen gut gebauten Mann so in den Vierzigern.
»Ich bin der Rolf. Und ihr müsst meine beiden treuen Helferlein sein«, brummt der durch seinen Vollbart. »Habe aber mit kräftigeren Bürschchen gerechnet«
»Was soll das denn bedeuten? Ich bin kräftig genug ohne wie ein Schrank auszusehen!«, plustere ich mich sogleich auf. Der Mann lacht, ein tiefes, dröhnendes Geräusch, welches ihn von oben bis unten erschüttert. Bunny grinst. »Natürlich bist du kräftig genug, Junge!« Nachdenklich kratzt er sich seinen Bart und mustert uns kritisch. »Aber Holz hacken könnt ihr wohl trotzdem nicht. Hmm…wartet kurz« Damit stapft er von Dannen und betritt an der rechten Seite des Gartens ein Gerätehäuschen.
»Also ich kann ihn jetzt schon nicht leiden«
»Ist doch ganz nett«, meint Bunny achselzuckend. »Zumindest lässt er sich kaum mit einer Frau verwechseln«
»Ha-ha-ha«, lache ich künstlich und muss mir in Echt das Lachen verbeißen. »seit wann bist du so lustig, Bunny?«
»So, für jeden eine«, drückt Rolf uns die Rechen auf und eine Rolle schwarzer Säcke. »Kehrt den Laub am besten in die Ecken und füllt es am Ende in die Säcke. Den Rest werde ich selbst erledigen. Alles paletti?«
»Ja«
»Ja«, maule ich unzufrieden. Es wird nicht sehr unterhaltsam werden, diesen Garten kann man ruhigen Gewissens einen Park nennen und der Laub liegt einfach auf jedem freien Fleck Gras ungefähr einen halben Meter hoch!
»Ein bisschen mehr Begeisterung, Junge«, dröhnt Rolf. »So wie gestern kriegt ihr eine Stunde Mittagspause und da ich so lieb bin, habt ihr frei, sobald ihr fertig seid. Ich wünsche euch viel Spaß«
Bunny legt die Rolle zur Seite, schiebt die Ärmel seines dicken Pullover hoch, der zweifellos nicht ihm gehört, und beginnt bald Herbstblätter zu rechen. »Soll ich dir zeigen wie man das macht?«
»Nein, das habe ich schon oft getan«, schwindle ich – eigentlich habe ich bisher nicht mal gewusst, das man Rechen für Laub kehren gebraucht, aber das würde ich ihm doch nicht auf die Nase binden!
Der Vormittag zieht sich wie Kaugummi, Bunny und ich haben erst einen Bruchteil des Gartens geschafft und in der rechten Ecke ist jetzt ein mannshoher Laubhügel entstanden. »Und ich dachte Geschirr spülen wäre schon schlimm genug, aber in diesem Sauwetter diesen stinkenden, matschigen Laub wegzukehren ist schlimmer«
»Sei froh, dass du keine Bettpfannen schrubben musstest«, wirft er ein, schwingt seinen Rechen und trifft den Laubhügel, der sich natürlich in alle Richtungen verteilt.
Mit offenem Mund starre ich erst auf die neu gewonnene Arbeit und dann auf Bunny. Der Rechen liegt auf dem Gras und er erwidert eingeschüchtert meinen vernichtenden Blick.
»Ich bringe dich um«, rufe ich und werfe mein Rechen ebenfalls hin.
»Das war nicht extra, Milo!«
Er rennt von mir davon, als ich nach ihm schnappe und ich verfolge ihn, habe ihn selbstverständlich binnen Sekunden eingeholt und mit meinem Gewicht zu Boden geworfen. Wie ein Fisch windet er sich und zappelt, ich fixiere einen seiner Arme, aber sein anderer bleibt frei und dann tut er was Unerwartetes. Flinke Finger gelangen irgendwie in meine Achselhöhle und ich keuche auf und lasse sofort von ihm ab. »Scheiße!« Ich kann es nicht ertragen gekitzelt zu werden, das ist so gut wie mein größter Schwachpunkt.
»Du bist kitzelig?«, wundert sich Bunny atemlos.
»Nein«, kommt es viel zu schnell aus mir geschossen und ich versuche mich aufzurappeln, doch da springt er mich aus heiterem Himmel an, legt richtig los und kitzelt mich. Ein wahnsinniges Lachen steigt meine Kehle hoch und alles verschwimmt vor meinen Augen wegen den Tränen, ich krümme mich im Laub hin und her und kann nichts tun außer kümmerlich um mich zu schlagen, unterdessen seine Finger mich quälen.
»Hör…auf…ich…Roman!«
Unverzüglich hört er auf, ich blinzle hektisch und kann nun Bunnys Antlitz ausmachen, dessen Hände noch gekrümmt in der Luft schweben, er kniet neben mir.
Er starrt mich völlig geschockt an. »Wie hast du mich genannt?«
»Bunny«
»Nein, du hast mich bei meinem richtigen Namen genannt!«
»Du musst dich verhört haben«, wehre ich ab und halte mir meinen schmerzenden Bauch, doch er schüttelt unnachgiebig den Kopf und beugt sich zu mir herunter.
»Gib es zu oder ich kitzle dich!«
»Ja ja! Ich habe dich Roman genannt, aber nur weil ich nicht ganz bei Sinnen war! Gewöhn' dich also nicht dran. Meine Güte, du machst aus jedem Scheiß einen Elefanten«
Ächzend stütze ich mich auf die Ellenbogen.
Seine grün-braunen Augen mustern mich stilll durch die Brille und er neigt sich ein Stück weiter zu mir, sodass unsere Lippen wenige Zentimeter trennen und ich seinen warmen Atem spüren kann. Ich bin noch recht durch den Wind und kapiere nicht konkret was hier grad läuft, aber als meine Lider herunterklappen und er mich für eine Millisekunde küsst, erlange ich meinen Verstand zurück und versetzen ihm einen groben Hieb. Er purzelt nach hinten und schirmt sich mit seinen Armen vor weiteren Schlägen ab, die nicht kommen. Mich zu voller Größe aufrichtend schaue ich wutschnaubend auf ihn herunter.
»Du hirnloser Spast, was fällt dir ein mich einfach so zu küssen und vorallem unter freien Himmel, wo es jeder sehen kann?!«
»Ich dachte–«
»Das ist ja das Problem, du hast nichts gedacht!«, unterbreche ich sein piepsiges Stottern.
»Hoho! Junge, das reicht! Ihr habt Pause!«, ruft da Rolf von der anderen Seite des Gartens her und ich weiß zwar nicht wie viel er mitgekriegt hat, doch es ist mir im Moment egal.
Rüde hieve ich Bunny am Pullover hoch, marschiere mit ihm unterm Arm den kürzesten Rückweg in unser Zimmer und schubse ihn dort auf mein Bett. Er guckt ziemlich dumm aus der Wäsche, als ich mich aus der Kleidung schäle, mich auf ihn niederlasse und küsse.
»Wir haben eine Stunde«
Ich bin verzweifelt und durcheinander.
Nicht nur, dass Milo und ich Sex hatten in der Dusche und es mir wieder so gut gefiel wie beim ersten Mal, nein, danach tauschten wir uns über unsere Väter aus und ich erkannte, dass ich ihn die ganze Zeit über falsch eingeschätzt habe.
Ich begreife bis jetzt nicht, warum genau ich ihm mein größtes Geheimnis erzählt habe – es sprudelte einfach so aus mir heraus, wie Champagner beim Öffnen.
Es ist total irrsinnig!
In seiner Nähe fühle ich mich irgendwie ganz anders, ich werde offener und habe so gut wie keine Hemmungen. Naja, vor allem wenn wir es tun. Von dieser Erkenntnis bekam ich in der Nacht riesige Angst und außerdem Schuldgefühle gegenüber Pascal. Ich konnte diese nicht aushalten und ging schließlich zu ihm ins Zimmer. Wir redeten – es war so wie erst vor kurzem, als wir uns ganz normal unterhalten konnten in den Schulpausen, nur, dass wir nun nebenbei in seinem Bett lagen und kuschelten. Die Sache mit seiner Frau habe ich nicht vergessen, oh nein, es ist so, dass ich nach dem Sex sowas brauche und da Milo nicht der Typ dafür ist, hole ich es mir bei Pascal. Ich verstehe, dass es vollkommen falsch ist und ich das eigentlich lieber lassen sollte, doch es fühlt sich gut an und solange wir in diesem Heim sind, kann ich es doch mal genießen. Habe ich es nicht verdient? Danach wird sich ja alles zum Alten wandeln. Milo wird mich dissen, mit Pascal werde ich keinen Kontakt mehr haben und wieder allein sein. Bis dahin kann ich die Gelegenheit nutzen beides zu haben – bloß einmal im Leben kann ich doch eigennützig sein.
Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass das mit Milo so weit geht, dass wir schon zum dritten Mal miteinander geschlafen haben – in einem normalen Bett! Dass er mich mit meinem richtigen Namen angesprochen hat, hat mir einen seltsamen, freudigen Stich in den Bauch verpasst. Zu blöd, dass ich nicht in seinen Kopf schauen kann, dann wüsste ich wenigstens, was in ihm vorgeht und wie er dazu steht – von sich aus sagt er nichts, ich kann nur raten. Ist er nun schwul, sexuell verwirrt oder gibt es einen anderen Grund für sein unerklärliches Verhalten? Er kann mir nicht auftischen, dass er mich bloß für seine Bedürfnisse benutzt, ich bin immer noch ein Kerl, also männlich! Ein Hetero, wie er es vorgibt zu sein, legt deswegen nicht einfach so einen anderen Typen flach! Das kann ich nicht glauben, das wäre absurd.
In mir keimt heimlich der Verdacht, dass er gerade in einer Selbstfindungsphase steckt. Ich kann mich dabei nicht entscheiden, ob es jetzt etwas Gutes oder eher Schlechtes ist und wie tief ich darin verwickelt bin. Hat er Gefühle für mich? Meine kleine Beruhigung ist, dass zumindest diese ständige Verwirrung verschwinden wird, sobald ich hier weg bin. Und ich muss auch nicht befürchten, dass dieses neuerdings bei seinen Berührungen auftauchende Kribbeln in meiner Magengegend stärker wird.
»Was starrst du mich so an?«, fragt Milo und klopft aufgebracht mit der Faust auf die Bügelmaschine ein, da ihm erneut die Decke darin stecken geblieben ist.
»Ich hasse dieses verdammte Ding!«
Lachend nehme ich vor ihm Platz, öffne den Deckel und drehe die Decke aus der Walze.
»Du darfst das nicht so hinein stopfen, lege es gerade hin«
»Ich lege dich gleich gerade hin«
Ich drehe mich verblüfft zu ihm. Was war das, bitte?
»Das war ein Witz«, beantwortet er meine stumme Frage und geht hastig zu der anderen Bügelmaschine rüber. Alle Mitarbeiter sind bereits in die Pause gegangen und wir sind alleine hier.
»Okay…«, nuschle ich und platziere, rot im Gesicht, ein neues Stück Wäsche auf das Anlagebrett. Das war doch eindeutig eine Andeutung oder irre ich mich? Damit kann ich irgendwie nicht umgehen.
»Wenn du es nicht zu schnell machst, dann kriegst du es hin«
»Zumindest muss ich mich hier nicht schmutzig machen«
»Achja, du bist ja eine Diva« Mich ein bisschen über ihn lustig zu machen, gehört inzwischen zu unseren Unterhaltungen, aber natürlich muss ich aufpassen, wie weit ich mich vorwage.
»Halt doch die Klappe«, ruft Milo schmunzelnd und wirft mir ein zusammengeknülltes Tuch an den Kopf.
»Roman? Ihr habt doch jetzt Mittagspause, oder nicht? Können wir uns unterhalten?«, bittet Pascal mich unerwartet in der Tür lehnend und wir beide gucken gleichzeitig in seine Richtung.
»Ehm…okay« Ich setze mich in Bewegung, werfe einen unauffälligen Blick zu Milo, der uns Augenbrauen hebend beobachtet.
»Bunny, hast du vergessen, dass wir was vorhaben?«
»Ja–«, fange ich stotternd an, aber Pascal unterbricht mich forsch.
»Was könnt ihr beide schon vorhaben? Und ich bin sicher, dass kann warten. Kommst du, Roman?«
Völlig verunsichert blicke ich zwischen den beiden hin und her. Was soll das hier werden?
Pascal ergreift unverhofft meinen Oberarm. »Bitte, das ist wichtig!«
»Gut«, stimme ich zu und folge ihm aus dem Raum, den wütend starrenden Milo außer Acht lassend. Der hat doch eh bloß das eine mit mir vor.
»Was gibt es denn?«
»Du bist gestern nicht zu mir gekommen, warum?«
»Ich hatte etwas anderes zu tun«, weiche ich aus und versuche ihm nicht in die Augen zu sehen. Was könnte ich denn stattdessen sagen. "Milo hat mich in diesem Zeitpunkt von hinten genommen"? Er soll nicht weiter nachfragen, ich kann nicht lügen! Schwer seufzend fährt er sich durch die Locken.
»Roman, ich weiß, dass ich mich nicht genug entschuldigen kann für meinen dummen, egoistischen Fehler, aber du quälst mich! Mit dem Kuss hast du mir Hoffnung gegeben und dass wir vorgestern zusammen waren, hat auch dazu beigetragen. Doch gestern warst du wiederum nicht bei mir, bist heute so distanziert. Sag mir bitte, ob du mir die zweite Chance gibst oder nicht. Die versprochene Lösung unseres Problems wird nicht lange auf sich warten lassen, ich verspreche es dir! Bis dahin will ich trotzdem nicht auf dich verzichten« Er nimmt mein Gesicht in seine Hände, wie es seine Art ist und küsst mich bittend, verlangend. Nach einem Zögern erwidere ich und kralle meine Finger in sein Hemd. Ich habe seine zärtlichen Lippen vermisst.
»Also bist du einverstanden? Du gibst mir die Zeit das alles zu regeln und bleibst auch solange bei mir?«, wispert er nah an meinem Ohr und beißt leicht ins Ohrläppchen, ich lehne mich erschauernd gegen seine starke Brust. Soll ich es tun? Soll ich das tun, was ich möchte und nicht was richtig und anständig ist?
»Ja, ich bleibe bei dir«
Jetzt ist es raus und ich schwöre mir selbst, nicht weiter darüber zu grübeln, dass ich dabei eine Familie zerstöre. Pascal wird das regeln und wir werden ja nur vorübergehend eine „Affäre“ führen. Alles wird gut. Ich brauche ihn. Ich brauche diese Sicherheit die er ausstrahlt.
Er umarmt mich fest und haucht freudestrahlend einen Kuss auf meinen Scheitel. Sofort fühle ich mich in meiner Entscheidung bestärkt. Diese Geborgenheit könnte ich niemals aufgeben.
»Sollen wir in mein Zimmer gehen und was essen?«
»Ich verhungere fast«, lächele ich, rücke meine Brille zurecht und schlinge einen Arm um ihn beim Fortschreiten.
Wir essen nichts Besonderes – nur Kochnudeln, die Pascal in einem kleinen Laden geholt hat. Hier gibt es weit und breit keinen Supermarkt und deswegen musste er stundenlang mit einem Patienten und zwei verärgerten Pflegern im Wagen durch die Gegend fahren, bis er einen winzigen Lebensmittelladen gefunden hat.
Ich hätte Milo vermutlich Bescheid geben müssen, er wird doch total sauer, wenn ich ihn versetze. Andererseits haben wir auch nichts Festes ausgemacht, also kann er diesen Tag ruhig ohne seine „Befriedigung“ überleben. Und ich auch! Was wird er wohl tun, wenn ich das Zimmer betrete?
»Wo bist du denn in Gedanken, Roman?« Irritiert mustern mich seine Augen.
„Bei Milo“, hätte ich beinahe ehrlich gesagt.
»Nirgends« Wie immer laufe ich rot wie eine Tomate an und stelle die Nudeln auf dem Nachttisch ab. Es ist, als ob ich einen Schalter für das Rotwerden hätte und jede Lüge würde ihn umlegen.
Pascal interpretiert es vollkommen falsch, lächelt und zieht mich auf seinen Schoß.
»Ich vermisse deinen nackten Körper«, haucht er in meinen Mund und mir bleibt das Herz fast stehen. Oh Gott, er will Sex! Irgendwie fühle ich mich unwohl dabei – bin ich ein Flittchen, wenn ich mit ihm und nebenbei auch mit Milo schlafe? Aber habe ich nicht genau das beabsichtigt?
Seine Finger wandern unter den Pulli, den er mir geliehen hat und streicheln meinen Oberkörper, zwirbelten ganz leicht meine Nippel, ich ächze und strecke die Arme nach oben, damit er es mir abstreifen kann und helfe ihm aus dem Hemd raus. Er fängt meine Laute mit seinem Mund auf, dreht mich beiläufig auf seinem Schoß herum, sodass ich nun rittlings drauf sitze.
Das Blut schießt mir unaufhaltbar nach unten, ich taste über seine Muskeln und reibe mich erregt an der Ausbeulung in seiner Jeans.
Milo hat definitiv ausgeprägtere Muskeln am Bauch und an Armen, ich habe ihm heute Morgen dabei zugeschaut, wie er verschiedene Übungen machte – das war wohl heiß. Auf diese Weise habe ich ihn nie vorher betrachtet, mir war zwar aufgefallen, dass er attraktiv ist, aber nicht dermaßen. Seine Gemeinheit hat das erfolgreich überschattet.
Innerlich rüge ich mich. Das ist wirklich nicht gut, dass ich in dieser Situation an Milo denke und die beiden sogar vergleiche! Um sämtliche Aufmerksamkeit wieder auf Pascal zu lenken, steige ich von ihm ab und mache mich auch an den Schnüren meiner Jogginghose zu schaffen. Aber schlagartig hält er meine Hände fest.
»Sagst du mir jetzt endlich woher du das hast? Das sieht schlimm aus«
Bestürzt streichen seine Fingerkuppen an den Rändern des unübersehbaren Blutergusses an meiner Seite und er sieht zu mir auf. Das kann ich ihm nicht so schlicht preisgeben! Nicht jetzt und vielleicht nicht ihm.
Eilig stülpe ich den Pulli über mich und versperre ihm die Sicht auf den großen blauen Fleck.
»Das war blöd. Ich bin am ersten Tag beim Spülen ausgerutscht und gegen das Spülbecken gestoßen«
»Aber…?«
»Ich muss noch…pinkeln«, rufe ich und schließe die Zimmertür hinter mir. Das war die blödeste Ausrede der Welt! Gibt es einen Kurs, wo man besser lügen lernt, falls ja, würde ich ihn gerne belegen.
Ich rücke aufatmend mein halb erigiertes Glied zurecht und watschele in die untere Etage. Wieso kann ich es ihm nicht einfach sagen wie ich es bei Milo getan habe? Möglicherweise befürchte ich, dass er nicht verstehen wird, dass ich mich nicht wehre. Oh man, keine Ahnung! Meine eigenen Beweggründe kann ich nicht genau begreifen – das ist angsteinflößend und macht mich zudem traurig.
Die Mittagspause ist vorüber, also stapfe ich zurück in den Wäscheraum, wo die Mitarbeiter wieder alle am Arbeiten sind und kriege eine andere Arbeitsaufgabe. Nun muss ich die Wäsche nach Farben sortieren und in dafür geeignete Körbe werfen, Milo bügelt am anderen Ende des Raumes weiter. Das ist unlogisch, ich bin doch viel geschickter darin als er! Wenigstens kriege ich Gummihandschuhe dafür, denn manches ist nicht gerade das, was man sauber nennen kann. Urinflecke und Schlimmeres begegnet mir, aber ich halte tapfer durch und halte so oft wie möglich den Atem an.
Am Abend werden wir auch von hier entlassen und anstatt in unser Zimmer zu gehen, verstecke ich mich vor Milo und warte. Ich warte so lange, bis ich mir sicher bin, dass er schläft und schleiche anschießend hinein. Zum Glück schlummert er wirklich tief und fest, ich kann unbesorgt duschen, ohne Angst zu haben, dass er mich überfällt. Darauf habe ich momentan überhaupt keine Lust und Milo hätte mich dazu überredet – mithilfe seines Körpers.
»Wo hast du gestern so lange gesteckt?«, begrüßt Milo mich am nächsten Morgen, rasend Sit-ups machend. Die Arme hat er zu einem Kreuz geformt hinter dem Kopf und atmet in Stößen ein und aus. Man muss beachten, dass er nichts am Leib trägt und Schweiß glänzt auf seiner prachtvollen Brust. Dieser Umstand bringt meine Lenden ganz schön zum Zucken.
»Ich habe mit Pascal geredet«, zucke ich mit den Schultern, wickle mich mehr in die Decke und klappe die Lider herunter. Leider erregen mich die Geräusche, die er erzeugt, ebenfalls.
»Worüber redet ihr ständig? Seit ihr beste Freunde oder was?«
Erleichtert klammere ich mich an den Rettungsstrohhalm: »Ja, wir sind gut befreundet«
»Findest du es nicht merkwürdig, dass du mit meinem Schwager befreundet bist?«
»Warum interessiert dich das?«, erwidere ich unbedacht und als er nicht antwortet, werde ich aufmerksam.
Milo hat in seiner Übung gestockt und blinzelt mich an, den Mund einen Spalt geöffnet, was ihn geistesabwesend aussehen lässt.
»Mich interessiert eben alles«, patzt er und macht wieder weiter, ich presse mir seufzend ein Kissen auf die Ohren.
Das war ja komisch. Und seit wann bitte interessiert ihn alles? Hat es ihn interessiert wie ich mich fühlte bei seinen Demütigungen? Nein, eher nicht.
»Mich interessiert gerade auch, ob wir es diesmal in einer halben Stunde schaffen. Wir fahren nämlich gleich Heim« Eine Hand wandert meinen Rücken hinab auf meinen Po und kneift hinein – ich reagiere nicht – die zweite entreißt mir das Kissen.
»Ich möchte nicht«, sage ich gepresst, werde jedoch mit einem Ruck herumgerollt. Milo grinst vielsagend und kniet über mir, sein betörender Geruch vermischt mit Schweiß steigt mir in die Nase.
»Das behauptest du immer und dann wenn ich loslege–«
»Nein! Ich meine es todernst!«, rede ich dazwischen und schiebe ihn von mir weg. Kapiert er nicht, dass ich nicht in der Stimmung bin? Die Information, dass das hier die letzten Minuten sind, in denen ich ohne meinen Dad bin, turnt mich so gar nicht an.
»Ach echt?« Er senkt seine Lippen zu meinem Hals und liebkost mich zart, während ein Finger nach dem anderen in meine Pants klettert. Ich stöhne und hebe unwillkürlich meinen Unterleib an. Oh, nein! Mein eigener Körper ist ein elender Verräter.
»Milo, ich meine es todernst«, probiere ich es von Neuem, jetzt nicht mehr so bestimmend wie vorher.
»Entspann' dich, Bunny!« Und das tue ich. Diesen Küssen, die ein leichtes Prickeln auf meiner Haut auslösen als ob tausend Ameisen über mich krabbeln würden, kann ich nicht widerstehen. Mein Herz klopft ziemlich holprig.
Aber wieso tut er das? Was fühlt er dabei? Warum mit einem Jungen und vor allem, warum ausgerechnet ich? Das will ich jetzt wissen! Ich mache den Mund auf und –
»Roman, bist du bereit? Der Bus–«
Pascal.
Stille. Wir alle drei erstarren.
Komischerweise bin ich der Erste, der auftaut. »Das ist…das ist nicht so wie es aussieht«, stammle ich schockiert und winde mich zur Hälfte unter Milo hervor, der sich keinen Millimeter bewegt.
»Du dreckiger, kleiner Bastard!«, brüllt Pascal, erreicht uns mit zwei großen Schritten, packt Milo am Nacken und schleudert ihn von mir herunter vor das Bett, verpasst ihm einen kräftigen Tritt in den Bauch. Den nächsten Tritt fängt Milo ab und gewinnt durch einen sehr kompliziert wirkenden Griff die Oberhand. Nun liegt Pascal auf dem Boden, einen Arm eingequetscht unter sich, den anderen Arm verdreht Milo nach hinten und drückt ihm dabei ein Knie auf die rechte Gesichtshälfte und das andere auf die Rippen.
»Anja hat dir wohl nicht erzählt, wer unser Dad ist oder wie er uns erzogen hat?«, zischt er und verlagert sein Gewicht mehr auf Pascals Seite.
»Milo, lass ihn, was tust du? Du brichst ihm noch die Rippen!«, quengele ich kläglich und laufe tatenlos um die beiden herum. Himmel, wie soll ich Milo aufhalten?
»Du stehst auf Jungs, die sich nicht gegen dich wehren können. Das ist widerlich«, presst Pascal angestrengt hervor, man versteht ihn sehr schlecht. Plötzlich lässt Milo ihn wie verbrannt los.
»Ich bin kein beschissener Vergewaltiger!«
Pascal rappelt sich auf und massiert sich seine Schulter. »Das sah gerade aber ganz anders aus«
»Frag deinen Schützling doch mal!«, faucht Milo zurück und sieht mich auffordernd an.
»I-ich…«, stottere ich überfordert und verdecke mit den Händen die Beule in meinen Pants. Pascal fällt die Geste gleich auf und er runzelt die Stirn.
Seinem anklagenden Blick nur schwer aushaltend, flüstere ich: »Er hat mich nicht versucht zu vergewaltigen, das war freiwillig«
Fassungslosigkeit und Unglauben zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. »Du meinst, ihr habt was miteinander?«
»Ja«, nicke ich und schlucke einen überdimensionalen Kloß herunter, der es mir erschwert zu sprechen.
»Seid ihr zusammen? So was wie ein heimliches Pärchen, das sich nicht traut zu outen, oder wie?«
»Ich habe nix zu outen! Das einzige was wir miteinander haben ist Sex«, schaltet sich Milo abfällig ein und ich starre ihn an. Er soll nicht weitersprechen. »Sinnloser, unverbindlicher Sex, ohne jegliche Beziehung, klar? Ein Mittel zum Zweck«
Seine Worte treffen mich stärker als gedacht – sie bohren sich wie spitze Nadeln in meine Brust und es tut weh – ich schlucke nun aufsteigende Tränen herunter und das Gefühl von etwas Schwerem und Erstickendem drückt auf meinen ganzen Körper, bis ich mich einfach taub fühle. Heftig blinzelnd beiße ich mir auf die Unterlippe, um sie zum Stillstand zu bringen. Es ist sogar noch schlimmer, als damals die Realisierung, dass Pascal mich angelogen hatte.
Was habe ich denn erwartet? Dass er zugibt etwas für mich zu empfinden? Mist! Habe ich in diesen Tagen etwa angefangen etwas für ihn zu empfinden, ohne dass ich es bemerkt habe? Das ist wirklich das Letzte, was ich will! Doch nur so lässt sich diese bittere Enttäuschung in meinem Inneren erklären. Wie konnte ich das nur zulassen?
»Ist das wahr, Roman?«, fragt Pascal mich direkt.
»Ja, wir hatten bloß Sex, nichts weiter«, krächze ich hohl, weil meine Kehle so trocken ist.
Milo verschränkt die Arme und würdigt mich keines Blickes.
»Was geht es dich an mit wem Bunny fickt?«
Muss er ständig dieses hässliche Wort benutzen?
»Ich mache mir Sorgen um ihn«
»Tja, sobald wir hier weg sind, brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen darum zu machen, dass ich ihn „vergewaltigen“ werde, sondern höchstens, dass ich euch beide erledige, wenn ihr etwas über das Geschehene ausplaudert«
»Damit meinst du die Tatsache, dass du schwul bist?«, höhnt Pascal.
Unerwartet überbrückt Milo den Abstand und verpasst ihm einen brutal aussehenden Fausthieb auf eine Stelle über der Augenbraue. Pascal fällt mit einem Keuchen wieder zu Boden und ich schlage mir erschrocken die Hände vor den Mund.
»Ich bin nicht schwul, du Schwächling, und du kannst froh sein, dass ich nicht meine ganze Kraft dazu benutzt hab. Meine Schwester tut mir sehr Leid, so einen wie dich erwischt zu haben.«
Hastig kleidet er sich an und schmeißt seine Sachen in die Reisetasche. Beim Rausgehen bleibt er in der Tür stehen und dreht sich zu mir um, unsere Blicke treffen sich und haften für ein paar Sekunden aneinander. Ich würde gerade alles dafür geben in seinen Augen lesen zu können. Dann ist er draußen und ich laufe ihm nach, halte seine Hand fest.
»Milo…«
»Junge, pack' mich nicht an! Das wars', der Spaß ist vorbei, wir fahren nach Hause. Dort habe ich genug heiße Bräute, die ich „nehmen“ kann, dich brauche ich also nicht mehr als Ersatz! Vergiss einfach was hier gelaufen ist und fertig!«
Der Ton, indem er spricht, verursacht mir Überlkeit und Kopfschmerzen. »Aber warum hast du dann mich…du weißt schon was, und nicht die Frauen hier«
Milo schüttelt genervt den Kopf und streift meine Hand ab, die nun unnütz herunterhängt.
»Du warst am leichtesten zu haben«
Es ist ein Tiefschlag.
»Das ist doch…« Mein Kinn bebt und ich stütze mich an der Wand ab, meine Sicht verschwimmt, ich bin kurz davor in mich zusammenzubrechen und den Widerstand dagegen aufzugeben – ich spüre bereits einen trockenen Schluchzer in der Kehle aufsteigen. Er jetzt auch noch! Ich nehme einen zittrigen Atemzug durch den Mund, der sich wie bei einem Ertrinkenden anhört und kneife kurz die Augen fest zusammen, versuche mich mit aller Macht zusammenzureißen, doch es klappt nicht. Ein Wimmern entweicht mir stattdessen. Die Trännen sollen weg, ich darf nicht weinen! Milo darf es nicht sehen! Ich darf ihm nicht die Genugtuung geben, mich zum heulen gebracht zu haben! Nicht schon wieder! Erist es nicht wert, keiner ist es wert!
Schlagartig fährt ein Ruck durch meinen Körper und die Verletzlichkeit verpufft, anstelle rückt Wut, die mir Stärke gibt. Es ist wie eine harte, undurchdringlich Mauer, die sich in Schallgeschwindigkeit um mein Herz aufgebaut hat und mir das freie Atmen ermöglicht. Ich fühle mich gleich so viel besser und ich weiß auch was ich sagen soll: »Du bezeichnest Pascal als Schwächling, dabei kannst du nicht mal vor dir selbst zugeben, dass du schwul bist, und das nenne ich schwach«
Milo traut seinen Ohren nicht, nach seiner Mimik zu urteilen. Ich habe es so satt, dass man mich ununterbrochen verletzt und ich nichts tue. Jetzt ist das Limit endgültig erreicht, der Kessel kocht über, und ich lasse mir das nicht mehr gefallen!
»Und dass du mich magst, gibst du auch nicht zu, habe ich recht?«, fahre ich unbeirrt fort und mein Herz klopft stark.
»Was laberst du für ein Dreck?«, regt sich Milo auf und nähert sich mir bedrohlich – ich weiche nicht zurück. Nie mehr.
»Das ist kein Dreck, das ist ein Fakt, Milo, verwechsel' das nicht«
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn kurz und wild, vergrabe meine Finger fest in seinen Haaren und ziehe leicht daran. Er schwankt, als ich von ihm ablasse und fasst sich ungläubig an die Lippen.
»Du wirst selber zu mir kommen, das wirst du noch sehen«
Zornig mache ich auf dem Absatz kehrt, mit geballten Fäusten und aufrechtem Gang.
Veränderung steht auf dem Plan. Nun werde ich die Zügel in die Hand nehmen und werde mich nicht mehr rumschubsen lassen von solchen hirnlosen Idioten wie Milo oder von solchen treulosen Männern wie Pascal! Ich weiß, dass habe ich schon gedacht, als ich das mit seiner Familie herausfand, doch diesmal bin ich mir darin hundertprozentig sicher.
Lange genug habe ich das ertragen und es reicht! Meine Wünsche und Bedürfnisse haben ab sofort Vorrang. Und denjenigen, die sagen, dass man sich nicht von einem Augenblick auf den anderen verändern kann, werde ich es beweisen. Die Zeiten in denen ich mich bemitleidet habe sind endgültig vorbei, das habe ich verstanden und dem lasse ich Taten folgen. Keiner wir mir helfen. Ich muss mir selbst helfen. Alle Typen sind doch gleich, sie alle tun mir weh, jeder tut mir weh – sei es mein brutaler Vater, sei es meine gleichgültige Mutter. Sie alle haben mich enttäuscht.
Pascal fängt mich im Zimmer ab, die Gegend um seine Augenbraue schwillt von Milos Schlag bereits an. »Roman, wie konntest du nur?«
Ich zucke mit den Schultern und ziehe meine eigenen Klamotten an, die zum Trocknen am Bettgestell gehangen haben.
»Hat es dir etwas bedeutet?«
»Nein und es tut mir Leid«, lüge ich und werde kein bisschen rot, im Gegenteil – es fühlt sich gut an.
»Ich verstehe – das war so was wie die Rache, weil ich dich hintergangen habe. Aber ich bin bereit es dir zu verzeihen, doch schwör' mir, nie wieder mit ihm zu schlafen«
Zu verzeihen?! Beinahe hätte ich aufgelacht. Wie dreist kann man sein! Ich bin derjenige, der ihm verzeihen muss und nicht andersrum. Trotzdem schwöre ich es ihm.
Er umarmt mich, ich schließe die Augen und lächele zufrieden. Pascal hat es mir wirklich abgekauft.
»Diesem kleinen Scheißer werde ich es zeigen! Wenn ich daran denke, dass er dich angefasst hat…«
»Was hast du vor?«, will ich verwundert wissen.
»Ich werde seiner Familie erzählen, dass ich ihn mit einem Jungen erwischt habe. Nach allem was ich über deren Vater gehört habe, wird der nicht so begeistert sein, dass sein Jüngster ihm keine Enkel schenken wird«
»Mach das nicht«, sage ich und winde mich aus der Umarmung.
»Warum nicht?«
»Wenn du das tust, dann wird er mich bestimmt auch verraten und dazu bin ich noch nicht bereit. Und bist du dir absolut sicher, dass seine Familie dir mehr glauben wird als ihm?«
Er kratzt sich nachdenklich am Kopf.
»Nein, das eher nicht. Vielleicht hast du ja recht. Na gut, der Bus muss gleich da sein, hat die Betreuerin gesagt. Lass uns losgehen, wenn wir nicht noch länger hier bleiben wollen«
Mit finster gerunzelter Stirn starre ich die Tischplatte an.
Wie lange ist es schon her, dass Pascal uns erwischt hat und Bunny sich so untypisch benommen hat – eine Woche mindestens. Und so lange quäle ich mich schon rum, mit der Frage, was verdammt nochmal nicht mit mir stimmt.
Einiges hat sich verändert, ich kann ihn jetzt nicht wie früher zusammenscheißen. Versucht habe ich es ja, aber dann dachte ich daran, was im Heim geschehen ist und hatte auf einmal das bedrängende Gefühl, alle die zuguckten, wüssten Bescheid darüber. Echt schlimm, habe anscheinend Paranoia. Deshalb meide ich eher den Kontakt mit ihm, außer lahmen Witzen auf seine Kosten oder ein paar gerufenen Beleidigungen ist nix drin.
Trotzdem kann ich nicht umhin, ihn jeden verdammten Tag zu sehen, schließlich sind wir in der selben Klasse und auch in den Pausen sitzt er neuerdings direkt vor meiner Nase in der Cafeteria, meistens in Gesellschaft von Pascal oder seiner rothaarigen Freundin und Michael. Seine neuen Freunde.
Etwas an ihm ist anders geworden, ihn umstrahlt so eine Art Selbstbewusstsein und meine Blicke erwidert er auch einfach so, wird dabei nicht mal rot, wie sonst. Was mit ihm geschehen ist, dass er plötzlich nicht mehr mit hängenden Schultern rumläuft und sich traut im Unterricht zu diskutieren, weiß ich nicht und eigentlich hat es mich ja gar nicht zu interessieren. Total komisch.
»Hast du den kleinen Bunny heute Morgen schon gesehen, ich dacht', ich kipp um«, grinste Markus, ein Möchtegernmacho aus der Klasse unter mir, und rotzt auf den Boden vor seinem Stuhl.
»Nö, hab die ersten beiden Stunden verpennt«, zucke ich mit den Schultern und beachte ihn mit einem angeekelten Blick. Dieser Kerl nervt mich zurzeit nur, vor allem die nasale Stimme und die ständig klimpernden Kettchen an seinem Hals bringen mich aus dem Häuschen .
»Dann guck ma' zur Tür«, fordert er mich auf und deutet auf diese.
Ich schlürfe gelangweilt an meinem Proteinshake und schaue in diese gezeigte Richtung, nichts Besonderes erwartend.
»Scheiße!«, röchele ich im nächsten Moment, da mir der Shake aus der Nase läuft, ich huste und kann meinen Augen kaum trauen.
Reed hiebt mir heftig auf den Rücken. »Nicht so überstürzen, Milo«
Grob wedele ich seinen dürren Arm ab und wische mir die Nase mit einer Serviette sauber.
So ziemlich die gesamte Aufmerksamkeit der Schüler in der Cafeteria ist auf Bunny gerichtet. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wirklich er das ist und nicht irgendein anderer Typ, der entfernt Ähnlichkeit mit ihm hat. Unser Tisch befindet sich ziemlich nah am Eingang. Ich, Markus, Reed und noch ein paar meiner Klassenkameraden, können also auch die Details seiner Verwandlung ausmachen.
Sein Deckhaar ist hochgegelt und die Seiten sind in einem Sidecut raspelkurz rasiert, die hässliche Brille ist weg, ebenso wie seine Zahnspange. Er trägt einen dunkelgrünen Wollpullover und schwarze, enge Jeans, dazu khakifarbene Boots, oder wie auch immer diese Dinger heißen. Alles in allem gleicht er einer Schaufensterpuppe aus einem der teuren Herrenläden.
Dieses Outfit passt überhaupt nicht zu Bunny, wie wir ihn kenne. Was soll das und woher hat er das Geld dafür? Ihm scheint es nicht sonderlich zu gefallen im Mittelpunkt zu stehen, seiner Gesichtsfarbe nach.
Der rothaarige Rotweiler hakt sich bei ihm unter und zieht ihn stolz wirkend zu dem kleinen Tisch ganz hinten, wo bereits Michael sitzt. Die gaffende Menge beschäftigt sich langsam wieder mit ihren eigenen Problemen, während ich ihn weiterhin betrachte. Lachend sitzt er dort und unterhält sich angeregt, aber dann verstummt er plötzlich und lässt seinen Blick durch die Cafeteria schweifen, bis er bei mir ankommt. Tief bohrt sich seine braun-grüne Iris in meine und auf seinen Lippen liegt ein angedeutetes Lächeln.
Ich schlucke, atme tief ein. Ich fühle mich seltsam und mein Gesicht ist ungewöhnlich heiß, fast so, als würde ich erröten. Doch das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn es gibt nämlich keinerlei Grund dazu. Naja, doch – ich habe erneut das lästige Gefühl, als wüsste jeder in diesem Raum Bescheid.
Hastig unterbreche ich den Sichtkontakt, schaue mir die in der Nähe befindenden Leute an, aber die sind mit anderen Dingen beschäftigt, und fasse mir klammheimlich an die Brust, wo ich ein stark schlagendes Herz verspüre. Verrückt, einfach nur verrückt.
»Hast du was Scharfes gegessen oder warum könntest du grad Bunnys Zwilling sein?«, höhnt Markus.
»Halt dein Maul, du Zahnstocher«, murmele ich halbherzig, glotze die Brösel auf dem Tisch an und bin bemüht meinen Kopf nicht zu heben. Okay, ich muss hier definitiv mal raus. Dieser scheiß Bunny! Hat er mich etwa infiziert?
Ich sage meinen Freunden kurz Bescheid, dass ich eine rauchen gehe und höre noch, wie sie hinter meinem Rücken tuscheln, bevor ich ganz außer Hörweite bin.
»Der is ja eigenartig drauf«
»Hat sich wohl verliebt, der Milo«
»Als ob, der ist nicht so einer. Ich hab ihn noch nie mit ner Freundin gesehn, ihr?«
»Nee, Milo ist der Mann für ein paar mal hoppeln und das wars«
Wütend reiße ich die Tür auf und zünde mir im Laufen eine Kippe an, verbrenne mir dabei aber die Daumenkuppe, lasse sie fallen und fluche lautstark. Hinter dem Gerätehäuschen auf dem Schulgelände lehne ich mich gegen das eiserne Tor daneben und schaue in den Himmel, wo nun ein leichter Nieselregen herunter regnet.
Wenn ich angenommen habe, dass ich, sobald ich wieder zu Hause bin, normal werde und alles automatisch vergessen kann, habe ich mich gewaltig geschnitten.
Man könnte meinen, ich bin ein Junkie auf Entzug, bin immerzu zappelig und unruhig, kurz vorm Platzen. Was oder wer meine Droge ist, will ich gar nicht erst vertiefen, ich finde diese Idee einfach zu lachhaft. Ich meine, der Sex war schon gut, aber auch nicht so gut, dass ich es normalerweise wiederholen würde. Andererseits hatte ich auch noch nie vorher Sex mit einem Kerl. Bunny versprüht eine Anziehungskraft, die ich selbst nicht ganz verstehe und die mir ziemlich zu schaffen macht, da das vollkommen unmöglich für mich ist. „Milo ist der Mann für ein paar mal hoppeln und das wars.“ Diese Aussage hat bis jetzt jedes einzelne Mal zugetroffen und ich habe an die Mädchen, mit denen ich geschlafen habe, danach nicht mehr gedacht. Ist es bei Bunny bloß anders, weil er ein Kerl ist?
Vorgestern hatte ich mit Alessia Sex und es war wie sonst auch – ich hatte Spaß dabei und es hat uns beiden gefallen, doch irgendwas hat da trotzdem gefehlt. Irgendwas Bestimmtes, ich komme nicht drauf, was es ist.
Bin ich jetzt ein Bi, weil ich es mit Männern und mit Frauen gern treibe? Meine feste Überzeugung, dass ich vollkommen hetero bin, gerät mit jedem vergangenen Tag ins Wanken, nicht zuletzt, weil ich mich öfters dabei erwische, wie ich ihm hinterher sehe und auf sein Arsch glotze.
Nach der Nummer mit Alessia habe ich es nicht mehr ausgehalten und alles meinem Bruder, Sergej, gebeichtet. Und wenn ich sage alles, dann meine ich auch buchstäblich alles. Er ist der Einzige, der mich einigermaßen verstehen kann und der die Klappe hält. Im Kopf lasse ich es Revue passieren.
»Du verarschst mich doch?! Oh, heilige Scheiße! Oh. Heilige. Scheiße! Mein Hetero von Bruder hat einem Kerl gefickt«, tönte er und fiel vor Lachen fast vom Drehstuhl, der in seinem Zimmer stand.
»Schrei es noch lauter heraus, du Depp, damit es auch die Nachbarn hören«, zischte ich zornig und machte das offene Fenster zu, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass es jemand außer uns hörte, da die nächsten Häuser zu weit entfernt sind.
»Ach, wie süß, ist es dir etwa peinlich?«
Genervt wollte ich raus marschieren, doch er hakte seinen Fuß in meine Beine und ich stoppte noch rechtzeitig, um nicht ins Stolpern zu geraten. Sergej hob beruhigend die Hände und wurde ernst.
»Ist ja okay, sorry, spiel jetzt nicht beleidigt! Ich bin bloß baff, dass ausgerechnet du mit deiner Sexualität Schwierigkeiten hast. Von uns drei Brüdern hätte ich es von dir am wenigsten erwartet. Bei Egors Narzissmus kann man ja nie wissen und ich habs schon getestet und es hat mich nicht sonderlich beeindruckt«
»Ja, ja, das hast du mir schon mehrmals mitgeteilt! Jetzt setze endlich deine psychologischen Talente ein und hilf mir, verdammt!«, unterbrach ich unwirsch seine Rede und ließ mich schwer auf einen Sitzsack plumpsen.
Fachmännisch legte er seine Finger aneinander und beugte sich auf seinem Stuhl ein wenig vor, musterte mich.
»So weit ich dich verstehe, bist du mehr bisexuell als schwul. Du magst beides…«
»Oh, Mann, ich bin am Arsch«, stöhnte ich abgrundtief und verdeckte meine Augen mit der Armbeuge.
»Sieh es doch mal positiv: Du wirst nie Mangel an Sexpartnern haben und du kannst es leicht vor der Welt verbergen«
Ich linste Augenbrauen runzelnd zu ihm auf. »So klingt es ja ganz toll, aber ich wäre trotzdem lieber „stockhetero“, wie du es nennst«
Sergej grinste frech. »Und was deinen Süßen anbelangt: So wie du leidest, magst du ihn wohl und findest es schrecklich, weil ihr euch früher nicht ausstehen konntet und weil es eben mit ihm anders ist als mit den vielen Mädchen«
Schlagartig richtete ich mich auf und zeigte ihm den Vogel.
»Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank? Das ist–«
»Leugnen, leugnen, leugnen, das ist so typisch für dich, Milo. Es zwingt dich ja keiner sich zu outen! Steck' dich nicht in irgendwelche Schubladen, sondern sei offen für alles – so wie ich«
»Das hat dich auch sehr weit gebracht, was? Peinliche Fotos von dir im Netz, Prügel von Dad, Hausarrest, Geldentzug, soll ich fortfahren?«, zählte ich an den Fingern ab, während er sein Gesicht verzog und sich gedankenverloren über seinen Kiefer rieb. Auf dieser Stelle prangte vor Wochen eine gut sichtbare Prellung.
»Wenigstens habe ich keinen Schiss vor mir selbst!«
Unzufrieden schaute ich zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Gespräch sollte mir helfen wieder normal zu werden – Sergej, dieser Scheißer, erreichte das komplette Gegenteil und ließ mich noch stärker zweifeln.
»Wir haben nur ein paar mal gefickt, das heißt nicht, dass wir uns plötzlich mögen«
Versöhnlich seufzend ging er vor mir in die Hocke, legte eine Hand auf meine Schulter.
»Bruder, ich rate dir, dich nochmal mit dem Kleinen zu treffen. Er hat dich bis jetzt nicht verraten, also kannst du dir mit seiner Hilfe Klarheit über deine tatsächliche Sexuallität verschaffen, ohne dabei Angst um deinen "Ruf" zu haben. Nimm es lockerer und habe nicht so Angst davor, dir etwas einzugestehen, was neu ist. Es wäre nicht das Ende, wenn du bi bist«
Ja, als ob! Das sagt sich so leicht, wenn man nicht selbst davon betroffen ist. Es wäre das absolute Ende für mich, meinen Ruf, mein ganzes bisheriges Leben.
Es klingelt zum Ende der Pause und ich fasse gleichzeitig einen Entschluss – ich werde Sergejs Rat befolgen, denn ich kann meine ständige aufkommende Unsicherheit nicht aushalten, die macht mich reizbar und verschlingt meine gute Laune, sodass ich nur noch zickig und mürrisch auftrete, langsam reicht es.
Sergej war ja immer schon der Mitfühlende und Tiefgründige in unserer Familie, aber dass er so…hilfreich ist, habe ich vorher nicht gewusst. Kein Kunststück, bei der Menge von Liebesfilmen, die er sich reinzieht und den vielen Kummerkastenblogs, bei denen er angemeldet ist. Er würde viel besser in meine Situation passen, man hält ihn ohnehin für schwul.
Bloß stellt sich die Frage, wie ich Bunny dazu bringen soll, sich mit mir zu treffen, ich habe ihm nicht sehr nettes Zeug an den Kopf geworfen, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben.
Am nächsten Schultag sitze ich wie auf heißen Kohlen auf dem Stuhl im Unterricht und mein Bein zuckt im Rhythmus, ich kann es nicht unterdrücken. Sobald es klingelt, stürme ich als Erster aus dem Klassenzimmer, ignoriere die Rufe meiner Freunde. Ich höre aus meinem Versteck die Rothaarige, die ununterbrochen labert und weiß, dass Bunny bei ihr ist. Vorsichtig luge ich aus dem Abstellraum und als er sich alleine auf den Weg ins Jungenklo macht und niemand in der Nähe ist, schnappe ich mir seinen Arm und zerre ihn zu mir hinein. Zuerst zappelt er rum, doch ich schwenke ihn herum und so erblickt er mich.
»Ach, du bist es«, sagt er, ich zische und halte seinen Mund zu.
»Nicht so laut, ich will nicht, dass mich jemand mit dir hier erwischt!«
Er schiebt meine Hand weg und runzelt die Stirn. »Was willst du von mir, Milo? Ich dachte, du hättest alles gesagt«
»Warum diese neue Aufmache?«, zögere ich es wissentlich heraus.
»Ich habe mich verändert«, erwidert er und meint es auch noch ernst.
Darauf gluckse ich spöttisch. »Tatsächlich? Dich verändert?«
»Ja«, stellt er schlicht fest.
Nervös fahre ich mir durch die Haare und beäuge die von Spinnennetzen bedeckte Zimmerdecke – leichter als in seine Augen zu gucken. Soll ich das wirklich tun?
»Vielleicht habe ich es ein bisschen übertrieben«, meine ich zurückhaltend und nicht vielsagend.
Es ist ziemlich ungewohnt, dass er keine Brille trägt und mich deshalb irgendwie noch direkter ansieht. Zudem entdecke ich in seinem Blick keine Unsicherheit wie sonst üblich und das wiederum macht mich spürbar unsicherer. Das gibt’s doch nicht!
»Du hast mich als Mittel zum Zweck bezeichnet!«
Ich seufze. »Sei doch kein Weichei und nimm dir nicht alles so zu Herzen!«
Bunny fuchtelt mit seinen Händen vor meinem Gesicht rum und wird rot, vermutlich aus Wut. »Darum geht es nicht! Du hast mich ausgenutzt als wäre ich eine blöde Sexpuppe für sexuell Verwirrte«
Okay, dieser Vergleich ist gar nicht so falsch.
»Wenn es dir nicht gepasst hat, warum hast du dann mitgespielt?«
»Und was ist mit dir?«, lenkt er von seiner Person ab. »Denkst du immer noch, dass du vollkommen hetero bist?«
Hierauf antworte ich nicht, presse meine Zähne aufeinander. Auch wenn ich Zweifel habe, vor ihm spreche ich diese nicht aus!
Bunny stiert mich unerbittlich an. Woher bloß dieses Selbstvertrauen? »Also nochmal: Was willst du von mir, Milo?«
Das wüsste ich auch gern. Wozu habe ich ihn hierher gezerrt?
Achja, wegen Sergej. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen!
Einatmend schließe ich kurz die Lider und dann bricht der Damm.
»Ich will Klarheit und ich will wieder vollständig normal sein, klar? Doch das kriege ich nicht hin! Vor diesem Heim war alles in Ordnung. Gott! Ich hör mich schon an wie ein Waschlappen«, knurre ich und balle frustriert die Fäuste. Das läuft irgendwie aus dem Ruder und das ist besorgniserregend.
»Scheiße!«, rufe ich zitternd aus, haue mit der Handfläche gegen die Tür, weil mir nichts anderes einfällt.
Ich hasse es zutiefst über diese Gefühlsduselei reden zu müssen – dafür bin ich nicht geschaffen – aber ich sehe momentan keinen anderen Weg. Richtig verzweifelt bin ich in dieser elendlangen Woche geworden, in der ich viel zu viel Zeit frei hatte, auch zum Grübeln, das ist mir fremd. Diese Sache hat sich in mein Gehirn gefressen wie ein Parasit und verwandelt langsam aber sicher mein Leben zur Hölle und das besagte Gehirn zur Matsche. Hätte ich im Heim bloß meine Selbstbeherrschung nicht verloren, wäre der Schlamassel nicht passiert.
Bunny legt mir eine Hand auf den Arm und streichelt zärtlich drüber, wir beide bemerken, wie sich die feinen Härchen aufrichten, auf seinen Wangen zeichnet sich ein sanftes Rot ab, ein anderer Ton als vorhin. Das ich das unterscheiden kann, lässt mich frösteln.
»Milo…Heißt das–«
»Daran bist nur du Schuld«
»Du tust mir echt Leid«, sagt er trocken und macht aufeinmal Anstalten sich an mir vorbeizuquetschen – bei diesem Kontakt reagiert mein Körper auf eigene Faust.
Ich reiße ihn zurück, dränge mich an ihn und bleibe mit meinem Mund ein Stück weit entfernt vor seinem.
»Wir werden nie ein Paar oder so ein Mist sein, checkst du das?«
Er nickt stockend.
»Möglicherweise, aber auch nur möglicherweise bin ich bi, ich habe nicht aufgehört Frauen zu lieben nur weil wir Sex hatten. So ist das nicht«
»Was ist das hier dann überhaupt?«, wispert er verwirrt, sichtlich bemüht, sich nicht zu bewegen.
»Wie kann man so versessen darauf sein, allem einen Namen zu geben?«
Unser warmer Atem vermischt sich und mir rast das Herz in der Brust als ich ihn so betrachte, vorallem starre ich seine weichen Lippen an. Bunny leckt sich erwartungsvoll über diese und ich fange seine rosa Zunge ein, er keucht, presst sich bebend an meinen Körper und lässt sogleich seine Hände über meine Muskeln gleiten, als hätte er bloß drauf gewartet. Ich erschauere heftig, sobald ich sie ab und auffahren fühle. Er scheint nicht genug davon zu kriegen oder hat es so dringend nötig wie ich. Mein Zeigefinger fährt indessen schleichend seine Wirbelsäule abwärts bis zum Hosenbund der Jeans, unter dem ich mit beiden Händen besitzergreifend zupacke und daraufhin seine Hüften mir entgegen rucken.
»Dein „möglicherweise“ kannst du offensichtlich wegstreichen«, stöhnt Bunny halb, ich erstarre und trete hastig nach hinten, knalle mit dem Kopf gegen das Regal voll Klopapier und ein paar Rollen regnen auf mich herunter.
Es stimmt also hunderprozentig, dass ich nicht normal bin und ich kann es nicht mehr leugnen, denn grade habe ich mich aufgeführt wie ein hungriges Tier mit einem rohen Stück saftiges Fleisches vor sich.
Wenn mein Dad das rauskriegt, wenn jemand anders das rauskriegt…. Schlagartig wird mir übel und total schwindelig, als wäre ich auf einen dieser bescheuerten Karussells, ich hechele. Gott, kriege ich hier grad einen Panikanfall?
Das ist doch besser als ganz schwul, besser als ganz schwul, wiederhole ich Sergejs Worte in Gedanken und es funktioniert zu meiner großen Erleichterung und Überraschung – ich werde ruhiger. Scheint so, als wäre mein Bruder doch zu etwas zu gebrauchen.
»Was hast du…«, fragt Bunny, aber unvermutet klopft es stürmisch an der Tür und er verstummt Augen aufreißend.
»Roman, ich weiß genau mit wem du da drin bist und ich werde gleich die Tür eintreten! Macht auf«
Die Verrückte merkt wohl, dass es nicht abgeschlossen ist, da kein Schloss vorhanden ist, platzt rein und packt Bunny, wirft mir einen vernichtenden Blick zu.
»Arschloch! Lass meinen Cousin endlich in Ruhe, du tust ihm ständig nur weh! Er hat was Besseres verdient als dich«
»Sina!«, beruhigt er sie und hält sie an den Schultern fest.
»Du hast ihr alles erzählt?«, fauche ich ihn an und sehe mich nach Fremden im Flur um, keiner da.
Sina bleckt tollwutartig die Zähne. »Ja, wir haben keine Geheimnisse voreinander! Komm, Roman, gehen wir in die Cafeteria«
Auf den Boden starrend, tritt dieser von einem Bein auf den anderen und murmelt: »Geh schon mal voraus, ich folge dir sofort«
Als sie sich stur nicht von der Stelle rührt, setzt er ein nachdrückliches „Bitte“ hinzu.
Sie schnalzt mit der Zunge und stemmt die Hände in die Hüften. »Du lernst wohl nie dazu, was?«
Bunny nimmt sie peinlich berührt zur Seite und sie flüstern angeregt. Ich kann allerdings alles hören, was ihnen offenbar nicht klar ist:
»Roman, du bist naiv, du fällst erneut auf ihn rein!«
»Er hat gerade zugegeben bi zu sein, Sina–«
»Pah! Na, und? Ich habe mir nicht solche Mühe mit deiner Verwandlung gegeben, damit er dir wieder das Herz rausreißt und es von Neuem in Stücke zerhackt, aber diesmal wird es viel mehr wehtun« Sie demonstriert es ihm bildlich vor, indem sie ein imaginäres Herz aus ihrer Brust reißt, es auf den Boden schmeißt und mit einer ebenso imaginären Axt ausschweifend drauf los hackt.
»Mache dir keine Sorgen um mich, ich bin nicht mehr so wie früher«
»Dein Aussehen verändert nicht automatisch deine Persönlichkeit, du Dummchen!«
»Bitte, Sina, ich muss nur kurz mit ihm reden«
»Und ich bringe ihn um, wenn du heulend bei mir ankommst«, ruft sie mit dem Finger auf mich gerichtet und rauscht demnach an mir vorbei, ihre wilden Locken wippen hinterher. Die ist echt irre.
»Wenn sie–«, fange ich gefährlich an, doch er unterbricht mich.
»Sie wird es nicht verraten, Milo. Du hast mein Wort drauf«
Komischerweise gebe ich mich damit zufrieden. »Na, hoffentlich ist es was wert«
Alles in mir schreit, sträubt und windet sich dagegen, aber ich spreche das Nächste doch aus: »Wir könnten uns heute bei mir zu Hause treffen«
Bunnys Gesicht hellt sich auf, doch er versucht das angstrengt zu kontrollieren, indem er seine Lippen lächerlich ernst schürzt und die Brauen runzelt. »Ja, könnten wir«
Ich nicke und drehe mich um. »Um sieben dann«
»Warte!«, bittet er.
»…?«
Er verschließt meine Lippen mit seinen, schlingt die Arme um meinen Nacken und für einen Augenblick vergesse ich, wo wir sind und wer wir sind und erwidere den feurigen Kuss sehr ausgehungert. Viel zu schnell macht er einen Schritt rückwärts, grinst und verschwindet hinter der Tür der Jungentoilette. Ich ruble mir müde über das Gesicht und habe nicht den leisesten Schimmer, warum ich das getan habe. Was ich von ihm wollte, habe ich doch jetzt, also gibt es keinen Anlass mich weiter mit ihm abzugeben. Theoretisch. Blöd, dass Theorien eben bloß Theorien sind.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du seine Einladung angenommen hast«, schüttelt sie zum bestimmt hundertsten Mal den Kopf und beißt wütend in ihre Banane, dass es schmatzt. »Ich habe dir nicht beim Umstyling geholfen, damit du das alles an Milo verschwendest«
Michael grunzt belustigt. Er weiß schon darüber Bescheid, dass ich schwul bin, aber wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls hat er nichts dagegen wie es scheint und komischerweise fühle ich, dass mein Geheimnis bei ihm genauso sicher ist wie bei Sina.
»Allein die Tatsache, dass er mich zu sich nach Hause eingeladen hat, zeigt, dass er gar nicht so ist, wie er es vorgibt zu sein«, lächele ich Sina an und packe mein Sandwich aus der Folie.
»Nein, Tatsache ist, dass er dich nur eingeladen hat, um dich flachzulegen – nicht mehr und nicht weniger«, spuckt sie lauter Bananenstücke aus.
Von meiner Sicht der Dinge überzeugt, schüttele nun ich den Kopf und schiebe das Sandwich beiseite. Sogar diese kleine Bewegung tut weh. Mein ganzer Körper, die ganzen Muskeln tun mir verdammt weh. Die Schmerzpillen haben gerade erst aufgehört zu wirken und heute darf ich keine mehr nehmen, leider.
Ich hätte Sina wirklich nicht das auf die Nase binden sollen, was mit Milo im Heim passiert ist. Aber wenigstens habe ich ihr nicht verraten, dass Pascal und ich mehr als nur Freunde sind – und dass, nachdem was er mir angetan hat. Sie würde mich umbringen, das ist sicher.
»Da kommt übrigens dein Aufpasser wieder. Ich schätze wir sehen uns nach Schulschluss.«
Sie packt Michaels Arm und marschiert mit ihm auf den Pausenhof. Ich bleibe dagegen sitzen und drehe mich auf dem Stuhl um, lächele leicht, als ich Pascal kommen sehe.
»Wie geht’s dir so?«, fragt er und legt mir unter dem Tisch eine Hand auf den Oberschenkel.
»Gut« Nervös schaue ich durch die Cafeteria, doch keiner scheint uns groß Beachtung zu schenken – außer einem blauen Augenpaar, welches mich ungeniert anstarrt, ein gewisser Glanz darin. Was denkt er sich gerade? Warum guckt er mich so an? Stellt er sich vielleicht vor, was wir heute Nachmittag machen könnten in seinem Zimmer? Gott, ich klinge ja schon notgeil.
Pascals Hand ist zwar für ihn nicht auszumachen, aber lieber gehe ich auf Nummer sicher und schiebe sie weg.
Wie würde Milo wohl reagieren, wenn er herausfinden würde, dass ich etwas mit dem Mann seiner großen Schwester am Laufen habe? Nicht auszumalen, was für Konsequenzen das hätte.
Bei einer der Horrorvorstellungen schaudere ich und wende mich wieder meinem Brot zu, beiße einmal ab und kaue trocken. Milos Blick spüre ich förmlich im Nacken, ignoriere es jedoch – das habe ich in den letzten Tagen gelernt zu beherrschen.
»Und, kommst du heute nach der Schule zu mir rüber?«
Das erinnert mich wieder daran, dass Pascal noch da ist und ich zucke bloß mit den Schultern. Er ist zärtlich und nett, das schon, aber er regt mich immer mehr auf, nicht zuletzt, weil er bisher nichts unternommen hat, um alles zu regeln wie er versprochen hat.
»Was ist mit deiner Frau? Deiner Tochter?«, stelle ich deshalb die Gegenfrage und nehme wahr, wie er schuldbewusst in sich zusammen sinkt.
»Sie fahren mit Anjas Mutter irgendwohin. Zuerst wollte sie Milo dabei haben um sich mit ihm zu vertragen, aber er zeigt ihr ja noch die kalte Schulter. Ich habe ihr gesagt, dass sie darüber glücklich sein soll–«
Ruckartig halte ich inne. »Hast du ihr etwas erzählt?«
Pascals Miene verfinstert sich um einiges. »Nein. Allerdings war ich so kurz davor«, sagt er und hält seinen Zeigefinger und Daumen millimeterweit auseinander. »Nur wegen dir habe ich es nicht getan. Wie gesagt, ich hasse es zu wissen, dass seine dreckigen Pfoten dich angefasst haben«
Er knurrt und ich glotze in die Leere.
Diese „dreckigen Pfoten“ haben mich vorhin in der Kammer zum Erbeben gebracht – auch wenn Milo mich verletzt hat und auch wenn ich mich wirklich verändert habe, ich kann nicht anders, als jede seiner Berührungen zu genießen. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich so schwach bin, aber ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht ihn endgültig wegzustoßen, es ging nicht. Vielleicht wird alles besser, vielleicht sprechen wir uns heute bei ihm Zuhause aus und…ja, was eigentlich? Er hat mit klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass aus uns nie ein Pärchen werden wird oder etwas Ähnliches, also warum habe ich mich trotzdem dazu bereit erklärt, heute zu ihm zu kommen?
Nach einem langen Schweigen, rede ich schließlich: »Wenn hier einer eifersüchtig sein darf, dann bin wohl ich das, oder? Du bist derjenige, der jede Nacht mit einer Frau ins Bett geht«
Unter dem Tisch nimmt er meine Hand, streichelt über den Handrücken und lächelt mich sanft an. »Ich schlafe nicht mit ihr – nicht in dem Sinne«
Ich erwidere darauf nichts, man kann an seinen Augen erkennen, dass er die Wahrheit sagt. Bin ich überhaupt eifersüchtig oder ist es mir egal? Milo stellt irgendwie wieder alles in den Schatten, sogar meine Beziehung zu Pascal.
»Hat dir das Geschenk gefallen?«
Leicht grinsend zeige ich ihm die teure Uhr an meinem anderen Handgelenk, das ist zugegeben das teuerste Geschenk, dass ich je gekriegt habe. »Ja, vielen Dank, die Uhr ist sehr schön. Wofür ist das?«
»Komm mit mir«, weicht er aus und zieht mich hoch und aus der Cafeteria. Nur zu deutlich ist mir bewusst, dass Milos Blick ununterbrochen an mir klebt bis ich aus seiner Sicht in dem Flur verschwunden bin.
»Mach die Augen zu, bitte. Ich habe eine Überraschung für dich«
Widerwillig tue ich das, worum er mich bittet und lasse mich von ihm weiterführen. Ich höre, wie er eine Tür öffnet und nachdem wir drin sind wieder schließt und spüre seinen warmen Atem an meinem Hals, als er hinter mir flüstert:
»Das ist dafür, dass du mir noch eine Chance gibst«
Sobald ich die Lieder hochklappe, scheint mir sanftes Kerzenlicht entgegen und ich seufze ein hingerissenes „Wow“.
»Gefällt dir das auch?«
Unfähig zu sprechen nicke ich bloß, betrachte alles genauer.
Kerzen stehen auf den schmalen Regalen links und rechts und eine breite Matratze, auf der lauter Rosenblätter verstreut sind, verbraucht den übrigen Platz des Raumes. Geradewegs auf der gegenüberliegenden Wand hängt ein riesengroßes Plakat mit einem Sonnenuntergang drauf. In diesem Zimmerchen gibt es kein einziges Fenster. Dann bemerke ich ein kleines Kästchen neben der Matratze und laufe darauf zu, klappe den Deckel auf.
Kondome und Gleitgel.
»Oh«, nuschele ich und lasse den Deckel errötend wieder herunterklappen, gucke zu Pascal rüber, der mir lächelnd die Arme entgegenstreckt, in die ich hineinfalle. Ich fühle mich glücklich und geschmeichelt und das erinnert mich wiederum daran, warum ich ihm diese Chance gegeben habe – er gibt mir das Gefühl geliebt zu werden.
»Das ist wunder-wunder schön. So was hat noch nie jemand für mich gemacht«
Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn und schlingt seine Arme fest um mich, ich ächze, aber er hört es nicht.
»Ich habe diesen Raum zufällig entdeckt und mir sofort gesagt: Das ist es!«
»Und wozu ist dieser Raum?«, stelle ich mich dumm und grinse.
»Naja, für alles eben. Alles, was du möchtest«, wispert er und küsst mich zart, diesmal auf den Mund – auf dem vor Kurzem noch Milos leidenschaftliche Lippen lagen. Ob er es schmecken kann? Den Geschmack von Milo? Ach, Quatsch, rüge ich mich innerlich.
Pascals Zunge tippt gegen meine Lippen und ich öffne sie einen Spalt breit, ich erlaube es ihm, meine Mundhöhle zu erforschen, zum ersten Mal. Der Kuss wird tiefer, fordernder und er nimmt meinen Hintern in seine Hände, knetet und schiebt mich gegen die Tür. Schmerzvoll zische ich und mache mich von ihm los, trete zur Seite. »Heute nicht, Pascal. Ich habe überall Schmerzen«, murre ich leidlich und kreise meine Schultern.
Mit einem verwunderten Ausdruck lässt er von mir ab.
»Habe ich dir nicht erzählt, dass ich trainiere? Ich hebe Gewichte und so weiter«, erkläre ich, als wäre es das Selbstverständlichste. Nun ist Pascal noch verwunderter – um nicht zu sagen schockiert.
»Du hasst Sport!«
Ach, nee, bin ich kurz davor zu fauchen.
Er mustert mich skeptisch von Kopf bis Fuß, eine Augenbraue gehoben, während ich die Arme vor der Brust verschränke. Seine Reaktion beleidigt mich schon sehr, er tut ja so, als wäre es das achte Weltwunder.
»Irgendwas hat sich an dir verändert«, sagt er ernst. »und ich meine nicht das Offensichtliche« Er deutet auf mich, ich starre ausweichend zu Boden und nähere mich der Tür.
»Hör zu, ich komme zu spät, wenn ich jetzt nicht loslaufe. Es klingelt gleich, also gehe ich. Außerdem werde ich nicht mitten in der Schule mit dir Sex haben, Pascal, also ist dieser Raum unnötig«
Das war gemein. Der alte Roman würde derartiges nicht sagen.
Unschlüssig stehe ich vor der schweren Tür aus rotem Holz, mein rechter Zeigefinger schwebt wenige Zentimeter vor dem goldenen Klingelknopf und ich kann mich nicht dazu bringen endlich zu drücken.
Das ist ein Fehler – das waren Sinas Worte bevor ich aus dem Haus ging und die nun in meinem Kopf herumkreisen.
Ich habe sogar Pascal abgesagt, um hierfür genug Zeit zu haben.
»Du musst draufdrücken, weißt du? Dafür sind Klingeln nämlich da«, kommt eine Stimme hinter mir und ich fahre erschrocken herum, geradezu ertappt. Vor mir lehnt ein junger Mann – groß, schlank und ein unverschämtes Grinsen auf den Zügen. Ist das nicht einer von Milos Brüdern?
Er streckt mir die Hand entgegen und ich nehme sie höflich, weiß aber nicht, was ich erwidern soll, er hat mich überrumpelt.
»Ich bin Sergej Titow, Milos großer Bruder«, stellt er sich vor und als ich nun doch den Mund aufmache um das gleiche zu tun, unterbricht er mich und grinst, wenn es überhaupt geht, noch breiter: »Du musst dann „Bunny“ sein« Meinen Spitznahmen unterstreicht er mit Anführungszeichen in der Luft und mustert mich nebenbei ausgiebig. »Milo hat dich ganz anders beschrieben, aber ich habe dich an deinen Haaren erkannt«
Lachend strubelt dieser Sergej mir durch die Haare und ich starre ihn verblüfft an, denke darüber nach, was er gesagt hat. »Milo hat mit dir über mich geredet und er hat mich beschrieben?«, ist das Einzige, was mir rausrutscht und das wiederum bringt den Kerl erneut zum Lachen. »Er labert von kaum was anderem. Ständig heißt es Bunny hier, Bunny dort«
Da wird mir klar, dass er mich bloß verarscht und ich wende mich um, drücke entschlossen die Klingel, nicht mehr bereit mich mit ihm zu unterhalten. Die Tür wird innerhalb zweier Sekunden aufgerissen und ein verschwitzter Milo empfängt uns.
»Oh«, murmelt er und schaut auf seine Armbanduhr. »Ich habe nicht auf die Zeit geachtet, sorry«
»Das ist eine glatte Lüge, er wusste genau wie spät es ist«, flüstert mir Sergej ganz leise ins Ohr, mit einem verschwörerischem Gesichtsausdruck, und stößt mir seinen Ellenbogen in die Rippen. Erst jetzt bemerkt Milo ihn.
»Was flüsterst du da?«, faucht er wütend zwischen mir und Sergej blickend, der die Tür hinter uns zumacht. »Müsstest du nicht eigentlich bei deinem Früchtchen sein?«
Beruhigend hebt sein Bruder beide Arme, man sieht, dass es ihm schwer fällt die ernste Miene aufzusetzen. »Chill out, Bruderherz. Ich hol nur meine Schlüssel und dann lasse ich euch Turteltäubchen allein«
Turteltäubchen?! Hat Milo ihm etwa alles erzählt? Der Milo, den ich kenne, wird doch nicht ausgerechnet darüber mit jemandem gesprochen haben. Oder aber er meint es als Scherz – Gott, ja sicher ist es ein Scherz und ich rege mich umsonst so auf.
»Halt die Klappe«, schreit Milo außer sich und wird tomatenrot, ist offenbar kurz davor zu platzen und derselben Meinung ist anscheinend auch der Dritte. Gelassen zuckt er die Achseln, wirft mir Augenbrauen wackelnd einen kurzen Blick zu und verschwindet im Flur auf der linken Seite der Eingangshalle. Jetzt sind wir allein. Milo wischt sich mit dem Tuch, das um seinen Nacken hängt über die Stirn. Mir ist ein bisschen unwohl.
»Hör nicht auf ihn…Was genau hat er dir gesagt vorhin?«
Ich versuche nicht zu erröten bei dieser Lüge: »Dass du besessen davon bist zu trainieren, aber das wusste ich ja schon vorher«
Zum Glück scheint Milo mir zu glauben, denn er nickt besänftigt und deutet in den Flur, in den auch Sergej verschwunden ist.
»Mein Zimmer ist dort drüben. Also komm, wenn du dich nicht verirren willst hier«
»Verirren?«, frage ich und folge ihm ins Zimmer.
Chaotisch, jedoch lange nicht so doll, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Man könnte fast meinen, er hätte aufgeräumt.
»Ja, verirren. Mein Haus ist ein verdammtes Labyrinth. Das können dir die ganzen Mädchen, die hier noch irgendwo rumlaufen bestätigen«, lacht er und zieht sein durchschwitztes Tanktop aus.
Ich setze mich auf den braunen Sessel, bedacht, die Klamotten, Zettel und Zeitschriften nicht runterzustoßen, die die Armlehnen belagern. Der kleine Tisch, der an meinen Knien steht, ist von Pornozeitschriften bedeckt – Heterozeug, nackte Frauen und lauter anderer, für mich uninteressanter Sachen. Wie kann Milo sowas anmachen? Soweit ich mich zurück erinnern kann, haben mich zum Beispiel Frauenbrüste nie beeindruckt. Was mich allerdings beeindruckt ist der nackte, muskulöse und proportionierte Körper vor meiner Nase. Leise entweicht mir Luft aus den Lungen und ich kralle mich an meine Knien fest bis es wehtut.
»Ich muss duschen«, erklärt er und schaut mich mit einem schief gelegten Kopf an, als wartet er auf etwas. Eine Antwort?
»O-okay, ich bleibe solange hier sitzen und fasse auch nichts an, keine Sorge«, krächze ich also und könnte schwören ein enttäuschtes Flackern auf seinem Gesicht gesehen zu haben.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren marschiert er ins Bad, was direkt aus seinem Zimmer zu erreichen ist und erst als ich das Wasser plätschern höre, wird mir bewusst was er eigentlich erwartet hatte.
Er wollte, dass ich mit ihm komme! Oh, Mann, bin ich dämlich! Ist es jetzt schon zu spät? Vielleicht möchte er es gar nicht mehr. Naja, er hätte mich auch direkt fragen können.
Nach fünf Minuten spaziert er sich mit einem Handtuch abtrocknend ins Zimmer. So langsam, dass es schon verdächtig ist, schlüpft er in frische Kleidung.
»Und warum hast du mich nun eingeladen, Milo? Damit du nackt vor mir herlaufen kannst?«
Es kostet mich Überwindung das auszusprechen ohne unsicher zu klingen und an Stelle einen spöttischen Ton einzubinden.
»Witzig«, höhnt Milo und kriegt das viel besser hin als ich – das hat er einfach drauf.
»Ich kann auch wieder gehen. Es ist mir zu blöd«, sage ich und stehe ruckartig auf um meine Aussage wahr werden zu lassen, denn ich werde hier nicht herumsitzen und mich von ihm runtermachen lassen. Doch eine starke Hand um meinen Oberarm stoppt mich und ich wimmere vor Schmerz. Sofort lässt Milo mich los, als hätte er sich an mir verbrannt. »Was hast du denn aufeinmal?«
Ich reibe mir den Arm und blicke ihn böse an und er mustert mich.
Als ich angefangen habe Sport zu machen und Gewichte zu stemmen, habe ich nicht geahnt welche Qual das bedeutet.
»Nichts«, antworte ich etwas verspätet. Er muss nicht unbedingt wissen, dass ich so ein Weichei bin und nicht mal ein bisschen körperliche Tätigkeit vertrage. Aber Milo umfasst erneut meinen Arm, jetzt um einiges sanfter – tastet es fast fachmännisch ab. »Deine Muskeln sind ja total verspannt.« Ein Starren und dann: »Du machst Muskeltraining?«
Das gleiche schockierte Getue wie bei Pascal!
Da ich es für entwürdigend halte darauf einzugehen, reiße ich mich von ihm los, jedoch habe ich die Rechnung ohne Milo gemacht, der belustigt gluckst und mich ohne Umschweife packt und auf sein Bett schubst, sodass ich auf den Bauch lande.
»Dann hast du es mächtig übertrieben. Du darfst nicht alles aufeinmal geben, sondern musst es dir schrittweise erarbeiten.«
Bevor ich auch nur irgendwas unternehmen kann, hat sich Milo bereits rittlings auf mich gesetzt und meine beiden Arme fixiert, somit macht er es mir unmöglich aufzustehen.
»Lass mich los, Milo, das tut weh!«, jammere ich und versuche mich zu befreien, doch stattdessen werde ich wie durch Zauberei meinen Pullover los, worunter ich nichts mehr anhabe. Hat er das vor, was ich annehme, was er vorhat?
Er drückt mich nieder und sagt gereizt: »Dann hör auf zu zappeln, du Idiot! Ich will doch nur helfen und dich nicht vergewaltigen« Helfen? Wenn er es nichts auf Sex abgesehen hat, auf was dann?
Zögernd halte ich still, fühle im nächsten Moment etwas kaltes und glitschiges auf meine Schulter klatschen. Was zum…? Verdeppert linse ich so weit nach hinten, wie mein Hals es mir erlaubt – Milo reibt seine Hände geschäftig aneinander, legt sie anschließend auf meinen Rücken und beginnt, das Gel in meine Nackenmuskeln zu massieren.
Wieder entweicht mir ein Wimmern und ich kralle meine Finger ins Lacken.
»Was…machst du da, Milo?«
»Siehst du doch genau«, meint er und arbeitet sich abwärts und nach dem wieder nach oben.
»Und dürfte ich fragen warum?« Ich ende mit einem zischenden Einsaugen der Luft.
Milo greift fest zu, genau an der Stelle auf meinem Arm, wo er mich vorhin auch gepackt hat und das tut höllisch weh.
»Noch eine Frage und ich hör auf, kapiert?«, grollt er Augen rollend und nachdem ich nicke, setzt er seine Hände dazu ein dort meinen Bizeps zu massieren. Blinzelnd lasse ich meinen Kopf auf das Bett fallen und kann nicht glauben, was gerade passiert. Milo Titow massiert mich! Und zwar weil ich Muskelkater habe und er mir helfen will. Sina wird mir das niemals abkaufen.
»Hör auf so bescheuert zu grinsen, Bunny«
Seine Stimme soll ruppig klingen, doch ich höre das Schmunzeln heraus und ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus.
Hastig reiße ich mich zusammen und lösche das Grinsen von meinem Gesicht, die Wärme bleibt.
Seine Finger treffen wirklich jeden brennenden Punkt in meinen verkrampften Muskeln und er kriegt es irgendwie hin, diesen Schmerz zu entschärfen, es sogar angenehm zu machen.
»Auf diese Weise wirst du auch nicht schneller stärker, Bunny. Dadurch bekommst du höchstens eine Muskelzerrung«
Muss er mit mir reden, als wäre ich ein unerfahrenes Kind? Milo hat zwar mehr Muskeln, aber ich habe dafür mehr Hirn, also soll er nicht so tun, als wäre er etwas Besseres.
»Ich mache es eben auf meine Weise«
Ich überhöre das sarkastische Schnauben nicht, aber momentan ist es mir egal – ich schließe entspannt meine Augen und hätte beinahe zufrieden geschnurrt wie ein Kätzchen. Entdecke ich hier gerade Milos geheimes Talent?
Dann spüre ich, wie er mir die Hose von den Beinen streift und lasse es bereitwillig zu. Er klatscht erneut das kühle Massagegel auf meine Haut, derzeitig auf meine Waden, wo er anfängt sich stetig nach oben zu arbeiten. Still ist es im Raum, weil keiner einen Laut von sich gibt, doch je höher er kommt, desto mehr Blut fließt in meine Körpermitte, die Gänsehaut wird stärker und desto schwieriger wird es ein Stöhnen zu unterdrücken oder ein Seufzen. Noch eine Weile geht das so, dass ich fast einnicke.
»Gefällts dir?«, haucht Milo mir da ins Ohr und ich flüstere ein „Ja, sehr“.
»Dann komm mit. Ich habe eine kleine Überraschung«
Sein Gewicht verschwindet und ich öffne die Augen, als er mich äußerst vorsichtig hochzieht und mit sich nimmt. Dabei lässt er meine Hand nicht los, was mir Herzklopfen verschafft und ich mir auf die Lippe beiße muss, um ein glückliches Lächeln zu verkneifen. Eigentlich sind unsere Hände nicht direkt verschränkt oder sowas – er hält mich lediglich am Handgelenk fest, doch hin und wieder streicht sein Daumen über meinen Handrücken, während er mich durch unzählige Flure führt. Es macht mir sogar nichts aus, dass ich nur in Unterwäsche bekleidet durch Milos Haus laufe. Allerdings kann ich natürlich nicht umhin zu bemerken, dass Pascal heute in der Schule fast das Gleiche gesagt hat wie Milo gerade und das macht mir was aus.
»Wie lange noch? Mir wird langsam kalt«, nörgele ich, ziehe meine Schultern hoch und schlinge den freien Arm fester um meinen Oberkörper. Zwei Arme würden wahrscheinlich mehr helfen, jedoch will ich Milo meine Hand nicht entziehen und so unseren Kontakt unterbrechen. Mir kriecht eine Gänsehaut den ganzen Körper entlang, aber die von der schlechten Sorte und nicht von der schönen. Was hätte ich im Moment nicht alles für die Klamotten gegeben, die Sina mir gekauft hat in irgendeinem teuren Schicki-Micki-Laden.
»Hättest dir was anziehen sollen«, lacht Milo und führt uns immer weiter den Kellergang entlang, der mir wie ein Tunnelgang vorkommen würde, wenn die Wände nicht so ordentlich wären. Wie lang kann so eine Tiefgarage eigentlich sein?
Ich grummel genervt vor mich hin und hüpfe von einem Fuß auf den anderen, weil meine Füße sich mittlerweile wie zwei taube Klötze anfühlen. »Du hast mich nicht gelassen!«
Er hält abrupt inne, reißt mich an der Hand näher und ich pralle hilflos und mit einem Keuchen gegen seine Brust. Sogleich drückt er mich an seinen warmen Körper – ebenso wie er die Lippen auf meine presst, verschlingend. Seine Fingerspitzen streifen fein meine Wirbelsäule herunter, vom Nacken bis ganz zum Steißbein, und verharren dort für einige Sekunden. Ein kleiner Tumult beginnt in meiner Bauchgegend und ich umschlinge seine Taille.
So plötzlich wie er angefangen hat, beendet Milo den für meinen Geschmack viel zu kurzen Kuss wieder und erst jetzt bemerke ich etwas benebelt die Kellertür hinter mir, die eine eisige Kälte ausstrahlt.
Er ist so nah, dass ich seine Worte auf meiner Zunge schmecken kann: »Ist dir jetzt wärmer?«
Natürlich erröte ich und drehe den Kopf zur Seite. »Nein«
Milo grinst halb, ein bisschen lasziv – das habe ich ja noch nie bei ihm beobachtet, sieht aber toll aus, und deutet mit einem Nicken auf die Tür. »Gleich wird dir noch viel wärmer. Da geht’s rein«
War das zweideutig gemeint? Ich bin wirklich schlecht darin, so etwas zu erkennen, kein Wunder bei so wenig Übung. Und ich drehe mich um, trete ein, nachdem er aufgemacht hat. Milo bittet nicht, dass ich die Augen schließe oder umschlingt mich zärtlich von hinten, wie Pascal, doch das habe ich auch nicht erwartet – er ist eben anders als Pascal, nicht so kitschig und romantisch veranlagt und das ist auch gut so.
»Ein Schwimmbecken«, stelle ich lächelnd fest.
»Und ein Whirlpool daneben«
Irre ich mich, oder freut Milo sich nicht weniger das Becken vor sich zu sehen als ich? Seine Augen glitzern förmlich.
Schon so lange war ich nicht Schwimmen – wegen den offensichtlichen Verletzungen auf meinem Körper kann ich das nicht, das würde zu viele Fragen aufwerfen.
»Wieso ist das so weit entfernt im Keller?«, will ich wissen und schaue mir die reich verzierte Decke, ebenso wie die Wände und den gekachelten Boden des Schwimmbeckens genauer an. Wow. Milos Eltern scheinen sehr wohlhabende Leute zu sein.
»Weil das das Becken unseres Nachbars ist«, sagt er schulterzuckend, während er sich aus seiner Kleidung schält und ich starre ihn ungläubig an, die anfängliche Freude ist weg.
»Das ist ja eine sehr schöne Überraschung! Spinnst du? Wieso hast du mich hierher geschleppt? Was ist, wenn sie runter kommen, um zu schwimmen? Sie werden die Polizei holen und–«
»Gott, Bunny! Entspann dich mal! Sie sind vereist, okay?« Er winkt unbesorgt ab und das beruhigt mich tatsächlich etwas. Weiterhin grinsend geht er näher an das Becken, sodass er nun mit dem Rücken zu mir steht, er kickt seine Boxershorts zur Seite und wirft mir einen spielenden Blick über die Schulter zu, bevor er reinspringt«
Ich betrachte ihn fasziniert während er unter die Oberfläche gleitet, als würde er dort leben, um danach aufzutauchen und die nassen Haare nach hinten zu streichen, ein strahlendes Lächelnd auf den Lippen, was mich fast dazu bringt, zu ihm zu gehen und es fort zu küssen.
»Worauf wartest du? Kannst du nicht schwimmen?«
»Ich…« Ja, worauf warte ich eigentlich? Bei ihm brauche ich mich nicht schämen und zudem kennt er meinen Körper nur allzu gut. Mit diesem Gedanken werde ich die Pants los und springe zu ihm ins Wasser, doch sobald ich auftauche und nach Luft schnappen will, schlucke ich stattdessen Wasser, da Milo mir einen ganzen Schwall davon ins Gesicht spritzt.
Gurgelnd und hustend japse ich nach Luft und drehe meinen Kopf, um besser Sauerstoff zu kriegen, aber er hört schnell auf, zum Glück. Sein Lachen kling mir laut in den Ohren, denn es wird von den Wänden wiedergegeben und erscheint umso lauter, es bringt mich ebenfalls zum Schmunzeln, obwohl ich immer noch nach Atem ringe und mir die Nase brennt.
»Lebst du noch?«
Ich werde das Gefühl nicht los, dass Milo sich wie ein Kind freut hier zu sein.
»Ja, aber du gleich nicht mehr« Und damit hole ich aus und spritze einen Schwall Wasser in Milos offenen Mund, da er noch lacht. Sofort fängt er an zu husten sowie ich vorhin und gleichzeitig wild zurück zu spritzen. Daraus wird eine richtige Wasserschlacht, bei der wir die ganze Zeit zwischen Lachen, Keuchen und Husten abwechseln, das hört erst auf, als ich bereits an den Beckenrand geflüchtet bin und der Boden dort unerwartet absinkt, sodass ich abrutsche und abtauche und mir dazu den Kopf anschlage.
Dadurch verliere ich vollkommen die Orientierung unter der Wasseroberfläche und weiß gar nicht mehr, wo oben und unten ist, Panik kommt in mir auf, ich sehe nichts und rudere mit den Armen auf der Suche nach Halt.
Als ich bereits Lebensangst kriege, ziehen mich starke Hände hoch und ich kann endlich den erlösenden Sauerstoff inhalieren.
»Alles klar, Roman? Soll ich vielleicht Mund-zu-Mund-Beatmung machen?«
Ich lache schmerzvoll und würge dabei Wasser aus, Milo hilft mir mich auf den Rand zu setzten, bleibt jedoch im Becken und ich versuche die ganze Flüssigkeit aus meiner Lunge zu kriegen. Da wird mir eines bewusst:
»Du hast mich wieder Roman genannt«
Er verdreht die Augen und legt den Kopf auf seine Arme, die er neben mir platziert hat. Milo sieht süß aus, wenn seine Haare ganz ungegelt sind und er sie trotzdem anscheinend unbewusst mit Daumen und Zeigefinger aufstacheln will, bis er merkt, dass das gar nicht geht.
»Warum nennst du mich immer noch Bunny?«, frage ich neugierig, wieder zu Atem gekommen, und mustere ihn – er zuckt die Achseln und ich seufze tief, im Glauben er würde darauf nicht antworten, was er doch tut:
»Du bist eben schon seit der Grundschule Bunny, ich kann dich nicht anders nennen, das wär…komisch«
»Verstehe«, tue ich eigentlich nicht, aber ich lasse es mal so stehen. »Wieso sind wir nicht bei dir schwimmen gegangen? Leute in solchen Häusern wie deinem haben doch alle ihr eigenes Hallenbad«
Seine Züge werden plötzlich hart, als hätte ich was falsches angesprochen und er lässt sich zurückfallen, auf dem Rücken gleited.
»Mein Alter hält das für zu protzig – so wie ziemlich alles, was Spaß macht. Er tut immer noch so, als ob wir „Normalbürger“ währen, wie er das nennt«
»Aber dein Haus–«, setze ich verwundert an, doch er redet dazwischen und schwimmt ein paar Züge vor mir her.
»Er ist eben ein doppelmoralisches Arsch und jetzt hör auf Fragen zu stellen. Ich habe dich übrigens einmal in der Grundschule schwimmen gesehen und da warst du so gut wie ein Ziegelstein. Und dass du grade fast ersoffen bist, beweist das«
Ich schnaube, aber in Wirklichkeit bin ich erstaunt zu hören, dass Milo das früher gemerkt hat, ohne sich darüber lustig zu machen und mich vor der ganzen Klasse zu hänseln. Das wäre ein gefundenes Fressen für ihn, er war schon in der Grundschule fies genug.
»Achja? Seit damals ist aber viel Zeit vergangen«
Tief atme ich ein, tauche unter Wasser und bleibe einige Augenblicke dort verweilen, langsam die Arme und Beine bewegend, in der rauschenden Stille, die drückend und gleichzeitig irgendwie beruhigend ist. Hier kann man die Muster noch besser betrachten am Beckenboden und Milos Körper sieht noch perfekter aus, doch lange kann ich die Augen nicht offen halten, da das Chlor anfängt darin zu brennen. Also benutze ich den Rest Atem in meinen Lungen, um die letzten Meter Abstand zwischen Milo und mir zu überwinden und direkt vor ihm aufzutauchen. »Und vieles hat sich geändert«, flüstere ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um über Wasser zu bleiben. Er beißt sich leicht auf die Unterlippe und starrt währenddessen auf meine.
Ich bin echt froh Pascal abgesagt zu haben, dass hier ist so viel besser als kuschelnd einen Film zu gucken und danach vielleicht miteinander zu schlafen und mir dabei anhören zu müssen, wie Leid es ihm doch tut, dass er unsere Beziehung versteckt. Naja, bei Milo weiß ich nicht mal, was das ist, aber mit ihm ist es trotzdem besser und auch spaßiger – ich stoppe mich innerlich.
Oh Gott, sind das im Ernst meine Gedankengänge? Dass Milo besser ist – und das nach dem, was er mir im Heim an den Kopf geworfen und mich jahrelang runtergemacht hat? Ich schwärme hier über ihn, als wäre das gar nichts. Sie sind beide keine Musterknaben und ich vergleiche sie hier miteinander, weil ich mit beiden etwas habe. Eine Affäre? Im Grunde bin ich genauso schlimm wie sie, also habe ich nicht mal das Recht sie zu verurteilen, oder?
Was ist bloß aus mir geworden?
Milo mustert mich mit gerunzelter Stirn und scheint nach etwas zu suchen.
Mit einem säuerlichen Geschmack im Mund unterbreche ich den Moment, wende mich ab und will wieder an den Rand flüchten, doch er folgt mir aus dem Wasser und drängt mich danach in die Richtung des Whirlpools, ohne dass ich vorher an meine Pants gelange.
»Milo, mir ist die Lust vergangen…«, sage ich und bedecke nun doch bedürftig meinen Unterleib mit den Händen, da mir unwohl zumute ist. Er dagegen setzt sich bereits in den blubbernden Pool.
»Sei kein verdammter Spielverderber, Bunny«
Nach einem Blick seinerseits gebe ich mich ziemlich rasch geschlagen und klettere zu ihm hinein, ein bisschen Zwischenraum lasse ich trotzdem da. Blubbernd umspielt das Wasser meinen Körper, es ist ruhig und ich vermeide es ihn anzuschauen, wegen der Angst, er würde etwas darin entdecken, was ich nicht will, das einzige was zu hören ist, ist das Plätschern. Aus den Augenwinkeln kann ich beobachten, wie er mich beobachtet.
»Weißt du…was ich im Heim gesagt habe…. Also du und ich…das Ganze ist einfach zu abgedreht für mich«
»Wem sagst du das«, erwidere ich leise und muss ein Grinsen unterdrücken – Milo versucht sich zu entschuldigen? Wer hätte das jemals gedacht? Das lässt meine Wangen heiß werden und ich drehe meinen Kopf zu ihm, er wirkt so süß durcheinander. Einen Augenblick schauen wir uns an, bevor er unvermutet mit einem Schwung zu mir rutscht und sich zum Kuss vorbeugt.
Ich kriege gar nicht mit, wie um Himmels Willen ich auf seinem Schoß lande und seinen Nacken umklammere, die Augen geschlossen und die Lippen mit Milos verbunden.
Unsere vollkommen nackten Körper berühren sich an vielen Stellen und mir stockt der Atem vor Erregung. Er presst meinen Oberkörper an seinen und ich schlinge auch noch meine Beine um ihn, aber wir wollen beide mehr, denn unsere Münder werden fordernder und die Bewegungen gegeneinander ungeduldiger.
»Hast du es schon mal in einem Pool getrieben, Bunny?«, raunt Milo mir ins Ohr und küsst sich meine Halsbeuge entlang, indes er unsere Erregungen gegeneinander reibt. Davon könnte ich beinahe kommen. Diese Intensität hat mir gefehlt, bei Pascal ist es einfach nicht so.
Ich schüttele hörbar schluckend den Kopf, mir fallen die Augen automatisch zu und ich wippe auf und ab in seinem Rhythmus.
Milo ist leidenschaftlich und auf eine Weise gefährlich und Pascal ist zärtlich und liebevoll. Wieso kann ich nicht alles in einem haben?
»Dann wird’s Zeit für deine Entjungferung, oder?«
Anstatt zu antworten, gebe ich einen undefinierbaren Laut von mir, welchen er wohl trotzdem richtig interpretiert und meine Hüften umfasst. Eigentlich ist es als Kompliment gemeint, doch was ich als Nächstes in meinem vernebelten Zustand denke, spreche ich laut aus, was ich erst beim Erstarren Milos, bemerke.
»Du bist der einzige, mit dem ich es ohne Kondom und Vorbereitung mache. Normalerweise–«
»Wie war das?«
Panisch reiße ich die Augen und den Mund auf und will etwas sagen, damit der nicht zu beschreibende Ausdruck aus Milo Gesicht verschwindet, werde aber erneut unterbrochen:
»Und hier ist das Hallenbad…Was zum–? Hey! Wer seid ihr? Raus aus dem Pool! Das hier ist Privatbesitz«
Diese Stimme ist fremd, männlich und hat ihren Ursprung bei den Treppen, die versteckt hinter einer Wand liegen, auf die ich gar nicht geachtet habe. Neben einem untersetzten Mann im Poloshirt, der uns angeschrieen hat, steht allerdings noch eine andere Person, die, wenn es geht, noch fassungsloser aussieht, als wir alle zusammen.
»MILO?!«
»Anja«
Warum habe ich eigentlich nicht vorher die Tatsache bedacht, dass der Whirlpool arbeitet, obwohl die Nachbarn angeblich verreist sind?
»Anja«, sage ich einfach ihren Namen, weil ich keine Ahnung habe was ich sagen soll und schlucke für alle hörbar, spüre meinen Kehlkopf überdeutlich auf und ab hüpfen. Es herrscht Totenstille und alle starren sich gegenseitig an, sprachlos, verärgert, schockiert, ängstlich. Von Außen sehe ich vielleicht erstarrt aus, doch in meinem Kopf brodelt es wie in einem Vulkan und Gedanken spielen verrückt. Die vorige Offenbarung Bunnys, dass er noch einen anderen Typen am Start hat, verschiebt sich vorerst in den Hintergrund.
Oh, Scheiße, heilige Scheiße! Das erste was mir einfällt ist, schreiend wegzurennen oder unter Wasser zu tauchen, damit sie mich nicht alle so anglotzen, ich beherrsche mich dennoch. Dann leugnen?
Das hier kann man aber nicht so leicht bestreiten, weil es mehr als offensichtlich ist, was Bunny und ich hier getrieben haben, bevor man uns gestört hat. Er sitzt immer noch auf meinem Schoß, die Arme um meinen Nacken geschlungen als hängt sein Leben davon ab und zu allem Überfluss sind wir beide erregt bis zum Anschlag. Deswegen fange ich gar nicht erst an mit dem „Das ist nicht so, wie es aussieht“ - Gelaber oder dergleichen, denn es ist genau so wie es aussieht. Man könnte meinen, wir wären aneinander festgeklebt und irgendwie kriege ich es nicht hin, mich weg zu bewegen.
Der „Nachbar“, der dem Anschein nach ein Makler oder Vermieter ist, macht den ersten Mucks – er blinzelt ein paar Mal und fängt dann wild gestikulierend an zu schimpfen, während auch in meine große Schwester Leben kommt.
Anja schlägt sich beide Hände vor Mund und Nase und schüttelt den Kopf langsam hin und her, ihre Augen hängen an mir wie an einem Außerirdischen, den sie im Zoo bestaunen kann. Von hier aus vernehme ich ihr geflüstertes „Milo…“, kann jedoch nicht zuordnen, ob sie einfach nur schockiert oder angeekelt klingt, beides ist möglich.
Ich sammle mich, schiebe den sichtlich überforderten Bunny mit einem Ruck von mir herunter – er verschluckt sich wieder an dem aufspritzenden Wasser – und steige, meine abflauende Erektion so gut es geht verdeckend, aus dem Whirlpool heraus, um meine Boxershorts aufzuheben.
»Milo, lass mich hier nicht so sitzen«, fleht er eindringlich, zu mir aufschauend – Mann, ohne Brille und die Zahnspange hat er wirklich eine komplett andere Wirkung – aber ich versuche ihn nicht zu beachten und stattdessen meine restliche Klamotten aufzusammeln, die brennenden Blicke in meinem Nacken spüre ich trotzdem.
»Ich werde Sie anzeigen, wegen unerlaubtem Eindringens! Warten Sie ab, das wird nicht ohne Konsequenzen bleiben, das verspreche ich! So etwas Abartiges dulde ich nicht. Frau Risan, ich versichere Ihnen, dass das nicht–«
»Halten Sie den Mund, das ist mein Bruder! Wir klären das alles später«, redet Anja zwischen die Tirade des Mannes und ich stoppe und drehe mich zu ihr.
Wütend presse ich die Lippen zusammen. Sie soll nicht so tun, als würde sie mich verteidigen und mir gefälligst auch nicht so in die Augen gucken, als müsste ich ihr Rede und Antwort stehen. Es geht sie nichts an, nicht mehr. Soll ich ihr etwa erklären, dass ich das alles eigentlich gar nicht will und es mir fast aufgezwängt wurde? Nein, das werde ich nicht, sie würde es nicht verstehen. Der Abstand zwischen uns ist viel zu groß, und das nicht nur im räumlichen Sinne. Wir kennen uns nicht, sie ist wie eine entfernte Verwandte, die zu Besuch gekommen ist, die ich aber nicht wirklich kenne.
Plötzlich überflutet mich die Scham darüber, was sie mitgekriegt hat und ich kann ihrem Blick nicht mehr standhalten. Das einzige, was mir im Moment richtig erscheint ist, hier zu verschwinden, Abstand zwischen Bunny, Anja und mich zu bringen. Auch wenn die Vorstellung, dass sich die Situation dadurch bessert, ziemlich kindisch und dumm ist.
Anja hat alles in der Hand und kann mit ein paar Worten mein Leben zerstören, wenn sie dazu Bock hat. Ein Wort zu Dad und ich bin erledigt, dann wars das, und doch bin ich viel zu stolz, um sie zu bitten, das nicht zu tun. Was bleibt mir also anderes übrig als wegzulaufen?
Ich wende mich dem Weg zu, entlang dessen ich vorher Bunny hierher geführt habe. Der Tag hätte so gut enden können – es war ein großer Fehler Bunny zu mir einzuladen oder auch nur zu denken, dass wir da weitermachen könnten, wo wir im Heim aufgehört hatten. Was war in mich gefahren?
»Warte wenigstens auf mich«, ruft Bunny mir hinterher, ich ignoriere ihn weiterhin. Kann er nicht ruhig sein, es ist schon peinlich genug für uns beide! Und darauf ergänzt er mit zittriger Stimme: »Wenn du mich hier sitzen lässt, dann war es das, Milo«
Ich mustere ihn über die Schulter und ich denke in Sekundenschnelle nach:
Das ist doch nicht sein Ernst, gerade jetzt? Versteht er denn nicht, dass ich weg muss? Meine Schwester weiß nun Bescheid, weiß, dass ich mit Kerlen vögele, verdammt!
Sie hatte vorhin diesen Ausdruck im Gesicht…
Aber was, wenn Bunny doch nicht blufft? Macht es mir was aus, wenn das mit uns beiden endet? Wäre es so schlimm?
»Ach, Shit!«, knurre ich und beuge mich, um sein einziges Kleidungsstück hier aufzuheben und ihm zuzuwerfen. Er fängt es zu meiner Überraschung, steigt sofort aus und zieht sie sich hastig über, ehe er sich mir anschließt. Anja bleibt da wo sie ist und der Mann hat im Hintergrund ein Handy am Ohr.
Grob schnappe ich mir Bunnys Arm und schiebe ihn durch die Metalltür.
Die Boxershorts kleben unangenehm an meinem Körper und mir frieren die Füße, ihm muss es nicht anders ergehen. Doch aufeinmal höre ich das Knallen der schweren Tür, die bereits weit hinter uns liegt und demnach einen Ruf und das folgende Echo: »Milo! Warte, bitte!«
Natürlich reagiere ich darauf nicht und beschleunige unseren Schritt sogar noch. Diese Heuchlerin soll mich in Ruhe lassen und wieder dahin verschwinden, wo sie war.
»Willst du nicht mit ihr reden?«, keucht Bunny, wir rennen als wären wir Kinder und würden mit meiner Schwester Fangen spielen. Das erscheint mir so lächerlich – er und ich, mit unseren durchnässten Boxershorts, die sich inzwischen wie eine zweite Haut anfühlen.
»Worüber?«, stelle ich die Gegenfrage und die uns begleitenden Schritte werden lauter.
»Zum Beispiel darüber, was noch vor ein paar Minuten da drin passiert ist? Willst du ihr nicht erklären–«
»Es gibt nix zu erklären, es ist nichts was sie angeht«, wehre ich ab und endlich erreichen wir die Tür, die in mein Haus führt und einladende Wärme empfängt uns.
»Deine Schwester hat uns erwischt! Sie hat dich verteidigt, also kann es doch sein, dass sie–«
Wiederholt lasse ich ihn nicht ausreden, gereizt: »Gott, Bunny, du weißt wohl nie wann es Zeit ist still zu sein, oder?«
Wir erreichen meine Zimmertür und dort schmeiße ich den Bündel Kleidung auf den Boden, um mir gleich was Neues im Schrank auszusuchen. Ihm gebe ich ein großes Handtuch, damit er sich richtig abtrocknen kann, doch er glotzt mich bloß an.
»Was stehst du so rum? Zieh dich an und geh nach Hause, oder lass dich mit Vorbereitung und Kondom bumsen«
Es ist mir ungewollt rausgerutscht und am liebsten hätte ich mir selbst einen Tritt in den Arsch verpasst, wegen des eifersüchtigen Tons, der mitklingt. Mann, kann das nicht aufhören?
»Milo, das ist nicht…dass ich mit euch beiden…so einer bin ich nicht«
»Du bist mir keine Rechenschaft schuldig, wir sind kein Schwuchtelpärchen, ich habs dir schon mal gesagt. Ist mir egal mit wem du sonst noch ins Bett steigst. Aber du hättest mich wenigstens vorwarnen können, wer weiß, was ich mir bei dir einfangen kann?«, erwidere ich kalt und stülpe mir ein hellblaues T-Shirt über den Kopf. Bunny sieht kurz verletzt aus, doch dann ist es so, als würde er es von sich werfen, genauso wie er das Handtuch wütend beiseite wirft. »Ich bin keine Schlampe, kapiert?«, schreit er. »Stell mich nicht so dar. Du bist bloß eifersüchtig, gib es zu! Dir ist nicht egal, dass ich jemanden außer dir habe«
»Das nennt man Wunschdenken, Bunny«, spotte ich und er kommt mir näher, mit weit aufgerissenen, wilden Augen.
»Und das was du machst nennt man Selbstbetrug. Du magst mich und« Schleichend macht er einen Schritt vor den anderen, hält mich mit seinem Blick gefangen. »du bist bloß zu stur oder zu ängstlich das einzugestehen«
Er hat vor noch etwas loszuwerden, seinem offenem Mund nach, doch in diesem Augenblick betritt Anja das Zimmer und ich stöhne auf.
»Obwohl du jahrelang weg warst ist das trotzdem beim Alten geblieben: Niemand betritt mein Zimmer ohne meine Erlaubnis«
»Das ist der erste Satz, den du an mich richtest«, meint sie irgendwie leicht erfreut und schaut dann Bunny an. »Könnten mein Bruder und ich unter vier Augen sprechen?«
»Ja, natürlich«, nickt er übereilig und macht Anstalten den Raum zu verlassen – ich halte ihn vorher fest, aber blicke zu Anja. »Er bleibt hier«, mach ich ihr klar.
Hauptsächlich tue ich das, weil ich ihr trotzen möchte und das ist kindisch, ich weiß. Bunny starrt zwischen ihr und mir hin und her und danach runter auf meine Hand, die seine umgreift – er bleibt neben mir und sein Blick wird weich.
Meine Schwester seufzt ergeben. »Milo, stur wie eh und je«
»Anja, überflüssig wie eh und je. Was hast du hier verloren?«, kontere ich.
»Ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe–«
Zornig balle ich meine Fäuste und mir ist egal, dass noch ein Dritter im Raum ist. »Viel falsch gemacht? Du bist einfach abgehauen und hast mich allein gelassen. Ich wusste nicht, wo du bist, warum du gegangen bist oder ob es dir gut geht – nur dieser beschissene, sinnlose Brief, indem steht, dass du weg musstest…«
Anja fließen große Tränen die Wangen herunter und ihre Unterlippe zittert stark, sie sieht hässlich aus, wenn sie weint – ihr Gesicht wird runzlig – das war schon immer so. »Bitte, Milo, ich…«
»Nein! Lass mich ausreden! Wir beide haben uns am besten verstanden, ich dachte wir würden uns alles erzählen und dann das.« Ich schüttle den Kopf ruckartig, damit sie nicht näher kommt. »Hast dich nicht mal verabschiedet. Das war am schlimmsten. Du hättest mir den Grund sagen sollen, ich hätte dir vielleicht geholfen. Du warst sechs beschissene Jahre weg. Sechs Jahre!«
»Milo, als ich gegangen bin war ich im zweiten Monat schwanger und hatte nicht die leiseste Ahnung von wem!«, kriegt sie raus.
»Was?«, frage ich verständnislos und trete unwillkürlich zurück.
Noch mehr Tränen fließen. »Ich wollte nicht abtreiben und Dad…Dad hätte mir nicht erlaubt es zu behalten. Verstehst du jetzt, warum ich nicht bleiben konnte? Er hätte es früher oder später rausgefunden und das Kind irgendwo in ein Heim gesteckt. Du weißt, er hat viele Verbindungen und du weißt, welche Prinzipien er bezüglich Kindern hat – keine, bis man einen Job hat und verheiratet ist. Punkt. Kannst du dir vorstellen, was er gemacht hätte, wenn er erfahren hätte, dass seine jungfräuliche, brave Tochter einen „Braten im Offen“ hat?«
Schockiert weiche ich zurück. Die Erkenntnis, dass sie aus diesem Grund gegangen ist, schlägt wie eine riesige Faust auf mich ein. Die ganze Zeit habe ich angenommen, dass sie mich aus Egoismus verlassen hat, dass sie einfach keinen Bock mehr hatte oder aus jugendlichem Leichtsinn. Doch dass sie diesen schwerwiegenden Grund gehabt hatte, ist mir nie auch nur in den Sinn gekommen. Das muss erstmal verdaut werden. Ich betrachte ihr tränennasses Gesicht und kann nichts rauspressen aus meinem Mund, weil ich mich so sehr schäme und gleichzeitig von Selbsthass zerfressen werde, scharf und brennend. Eine kleinere, warme Hand, die meine drückt, gibt mir mehr Standhaftigket.
»Bitte verzeih mir, dass ich mich nicht verabschiedet habe, aber du hättest mich überredet zu bleiben und das war nicht möglich. Und du warst noch so jung! Erst dreizehn. Ich hab dich enttäuscht, das tut mir unbeschreiblich Leid, sehr, sehr Leid. Jeden Tag habe ich dich angerufen, aber du wolltest nicht mit mir sprechen, meine Briefe, wie ich dich kenne, wahrscheinlich nicht mal durchgelesen…«
»Wieso hast du das nicht früher erzählt? Wir hätten das hingekriegt–« Meine brüchige Stimme bricht und meine Augen werden feucht. Etwas Unsichtbares krallt sich in meine Brust. Ich hätte sie jetzt gerne in den Arm genommen, aber ich kann mich immer noch nicht dazu überwinden.
Anja schluchzt und lacht halb auf, wischt sich die Tränen weg mit beiden Händen, während ich alles tue, um meine drin zu behalten. »Nachdem ich gegangen bin, habe ich es ja versucht – du hast mich nicht gelassen.«
Darauf habe ich keine Entgegnung, sie hat völlig Recht – ich bin ihr ständig ausgewichen und habe mir ihre Entschuldigungen nicht anhören wollen.
»Hör zu, Milo, ich muss jetzt Lena abholen und…Ich möchte dir klarmachen, dass ich vorhin im Pool nichts gesehen oder gehört habe, wenn du es so möchtest, und um dem Makler kümmere ich mich selbst. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass Dad davon Wind kriegt«
»Ich habe keine Angst vor ihm«
Sie lächelt zärtlich und fasst nach der Türklinke. »Doch hast du, so wie viele«
Plötzlich setze ich mich in Bewegung, als sie sich umdreht, und schlinge von hinten meine Arme fest um sie, bette meinen Kopf in ihre Halsbeuge und kann ihren vertrauten Geruch warnehmen.
Anja schnieft und lacht leise. »Wir kriegen das hin, okay?«
Leicht nicke ich und flüstere ihr ein „Danke“ ins Ohr.
»Nichts zu danken. Und: Ich habe nichts dagegen, also, dass du Kerle magst«
Mir entweicht ein kehliges Glucksen und ich lasse sie frei, damit sie sich zu mir drehen kann. Sie wuschelt mir durch die Haare.
»Ich bin bi«, berichtige ich sie grinsend. Sie lacht lauter, ich liebe ihr Lachen und habe es wirklich vermisst.
»Davon war ich mit sechzehn auch für eine Weile überzeugt«, meint sie und öffnet die Tür. »Ich muss wirklich los, Pascal kann Lena nämlich nicht abholen, weil er arbeiten muss. Und bevor ich es vergesse: Sei bitte nicht mehr so gemein zu Pascal, er liebt Lena wie seine eigene Tochter«
»Sie ist nicht Pascals leibliche Tochter?«, meldet sich Bunny entrüstet zu Wort. Den haben wir beide ganz vergessen. Wann hat er es geschafft sich anzuziehen?
»Nein, ist sie nicht. Wieso?«, gibt Anja zurück und er starrt sie an, etwas geht ihm eindeutig durch den Kopf, aber was? Er wird augenblicklich bleich wie ein Geist und wirkt irgendwie…wie ein in die Ecke gedrängtes Tier – anders kann ich es nicht beschreiben.
»Einfach so. Ehm, ich…ich muss noch was erledigen. Bis dann«
Überstürzt quetscht er sich an ihr und mir vorbei und läuft davon.
»Der wird sich verirren«, spricht Anja meinen Gedanken aus und wir sehen ihm nach. Was war das eben, zum Teufel?
»Nein, er ist ein schlaues Kerlchen«
Einen bedeutsamen Seitenblick kann sie sich nicht verkneifen. »Du musst es ja wissen«
»Deda hat dir dieses Haus gekauft? Vielleicht sollte ich mich auch schwängern lassen, abhauen und nach Jahren wiederkommen, damit ich ein Haus geschenkt kriege«
Anja schnaubt amüsiert. »Eigentlich ist das nicht lustig. Ich glaube, er hat das teilweise wegen seines schlechten Gewissens getan – weil er damals nicht da war«
»Wenn jemand Schuld daran ist, dass du abgehauen bist, dann ist es ja wohl unser lieber Daddy«, meine ich und kaue brutal an einem Ananasstück rum. Meine Wut auf ihn deswegen wird immer größer und gesellt sich zu den anderen Dingen, weswegen ich ihn nicht ausstehen kann. Diese Liste ist inzwischen ellenlang.
Wir sitzen in Badesachen am Beckenrand und haben unsere Beine bis zu den Knien in das Wasser gesteckt. Eine Schale mit geschälten Früchten steht zwischen uns, Ma hat das vorhin ganz aufgeregt hergebracht und ist danach hastig gegangen, um uns „ausreden zu lassen“. Sie ist total erfreut darüber, dass wir uns endlich vertragen haben.
Bisher haben wir nicht viel geredet, haben bloß Lena beim Plantschen im Whirlpool beobachtet und ein Stück Frucht nach dem anderen in den Mund gesteckt. Das haben wir früher oft gemacht – tatenlos und still da gesessen und irgendwo sinnlos hingestarrt, wir haben keine Worte gebraucht und das scheint sich überraschenderweise nicht geändert zu haben. Der Altersunterschied ist nie spürbar gewesen.
»Erzähl doch mal, wie es dazu gekommen ist«
»Wie was wozu gekommen ist?«, frage ich auf Zeit spielend, aber selbstverständlich weiß ich genau, was sie meint.
»Dass du dich in einen Kerl verliebt hast«, sagt sie schließlich und meine Hand um die Gabel verkrampft sich.
»Wieso denken alle, ich wäre verliebt? Das stimmt nicht. Wenn ich mich verliebe, dann sicher nicht in Bunny« Es klingt lange nicht so angewidert und selbstsicher wie vorgehabt.
»Du nennst ihn Bunny? Das ist so kitschig von dir«, wundert sich Anja Augenbrauen hebend und grinst, ihre Fältchen um die Augen wundern mich erneut einige Sekunden lang.
Genervt stöhne ich auf. »Den Spitznamen hat er seit der Grundschule, okay? Daran ist rein gar nichts kitschig«
»Weiß noch jemand außer mir, dass du schwul bist?«
Schlagartig bleibt mir ein Stück Mandarine im Hals stecken, ich huste und schüttele ungläubig den Kopf, während meine Schwester mich ruhig betrachtet und wartet, dass das Husten sich legt.
»Bi – ich bin bi und nicht schwul. Sag mal, verstehst du überhaupt was ich dir sage? Und ja, eine Cousine von Bunny und auch Sergej wissen es. Ich hoffe ihr bleibt die einzigen«
Anja legt die Gabel hin und nimmt meine freie Hand in ihre beiden. »Du kannst doch nicht für den Rest deines Lebens verstecken wer du bist, Milo«
»Natürlich kann ich das, wirst du schon sehen«, entgegne ich unbeeindruckt und reiße meine Hand aus ihrem Griff los, den Blick auf den Grund des Wassers geheftet. Sie hatte schon immer das Talent mich dazu zu bringen, dass ich ihr meine tiefsten Geheimnisse offenbare, aber jetzt darf ich das auf keinen Fall erlauben. Doch sie lässt sich nicht so leicht abschütteln.
»Nicht, wenn du dich in einen Mann verliebt hast«
Wütend kicke ich in das Wasser – es spritzt im hohen Bogen auf – und funkle sie ebenso wütend an. Die Gabel in meiner Hand habe ich fest in der Faust und zeige damit auf sie. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht verliebt in ihn bin? Soll ich es dir vielleicht auf die Stirn schreiben?«
Anja schlägt mir stumpf die Gabel aus der Hand, die daraufhin auf den feuchten Fliesen ins Wasser schlittert. »Zeig nicht mit einer Gabel auf mich! Mir brauchst du nichts vorzumachen, Milo. Du hast sogar zugelassen, dass er Privates – etwas über unsere Familie – mitanhört–«
»Glaub was du willst, es stimmt sowieso nicht«, bestreite ich unnachgiebig und langsam geht es mir auf den Keks.
Lächelnd schaut sie in die Richtung, in der ihre Tochter fröhlich spielt, spricht aber trotzdem weiterhin zu mir.
»Na gut, dann erzähl doch mal, wie es dazu gekommen ist, dass ich euch knutschend in meinem neuen Whirlpool erwischt habe«
Peinlich berührt male ich mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf meinen nassen Oberschenkeln, meine Lippen jedoch bilden ein angedeutetes Grinsen, das ich nicht unterdrücken kann. »Ist halt so geschehen«
Anja stößt mir spielerisch einen Ellenbogen in die Seite und wackelt nun mit ihren Augenbrauen, wie es auch Sergej oft tut. »Und seit wann „geschieht“ das?«
»Seit wir Sex in einem Pflegeheim hatten, Herrgott!«, fauche ich und reibe mir über die Stirn, bereits müde von ihrer Befragung.
»…Pflegeheim?« Jetzt ist sie offensichtlich verwirrt.
»Ja, wir hatten dort sowas wie eine Strafarbeit abgeleistet und so ist es halt geschehen«, murmele ich so leise wie möglich.
Eine nähere Erklärung tu ich uns beiden nicht an, nämlich dass ich ihn wie ein Tier angefallen habe.
»Ich freue mich für dich. Er ist echt süß, mit seinen roten Haaren«
»Ja«, stimme ich unbedacht zu und als mir klar wird, wobei ich ihr zugestimmt habe, weiten sich meine Augen und ich nehme das Gesagte hastig zurück: »Nein! Nein, er ist nicht süß und lass uns aufhören darüber zu reden! Fehlt nur noch, dass Lena was mitkriegt und alles ausplaudert«
»Ich kann gut nachvollziehen wie du dich fühlst, wirklich – die Angst vor den Reaktionen der anderen und vorallem die von Dads. Er hat sowas an sich…keine Ahnung…man hasst ihn und fürchtet ihn und trotzdem bringt man es fast nicht übers Herz, ihn zu enttäuschen«
Sie bringt es auf den Punkt. Genau diese Wirkung hat unser Vater und man kann sich dessen nicht entziehen, solange er in der Nähe ist, denn dann hat er unweigerlich alles unter Kontrolle. Es ist eine bewiesene Tatsache.
Ohne, dass ich was erwidert habe oder sonst etwas, fährt Anja gedankenverloren fort, die Knie zieht sie an die Brust.
»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen und ehrlich gesagt, bin ich nicht so scharf drauf. Am liebsten würde ich ihm ewig aus dem Weg gehen, anstatt ihm Pascal und Lena vorzustellen, was ich zweifellos machen muss, sobald er wieder da ist. Wenigstens bin ich jetzt erwachsener als früher und werde nicht mehr alles machen, was er von mir verlangt«
Ich schaue sie aufmerksam an und sie tut mir so Leid, ich fühle mich schlecht. Sie musste es schwanger und jung allein aushalten, ohne Zuhause oder jemanden, der ihr geholfen hat, bis sie Pascal getroffen hat. Die Schuldgefühle, dass ich sie so lange ignoriert habe und sauer auf sie war, klingen nicht ab und bohren sich immer weiter in mich. Wäre ich nur nicht so stolz und nachtragend gewesen, dann hätte sich alles viel früher geklärt. Ich bin ein Arsch.
Zärtlich ergreife ich ihre Knöchel und gucke sie solange an, bis sie meinen Blick erwidert.
»Ma meinte letztens, dass er bald kommt, aber er hat nicht gesagt wann genau, damit wir an diesem Tag nicht vorher abhauen können. Wenn er da ist, werde ich diesmal auch da sein, Anja, du musst das nicht allein machen.«
Sie lächelt mich dankbar an und ihr steigen wieder Tränen in die Augen. »Seit wann bist du so erwachsen geworden?«
Ich lache, stehe auf und greife nach meinem am Boden liegenden Handtuch. »Seit wann bist du so nah am Wasser gebaut?« Ich kann mir vorstellen, dass ich mich, seitdem ich dreizehn war, verändert habe und sie auch, wie ich herausgefunden habe – sie ist ruhiger und irgendwie auch weiser geworden.
»Kinde-er!«, flötet unsere Mutter, die unvermutet im Eingang aufgetaucht ist und übers ganze Gesicht strahlt. »Zieht euch an und kommt zum Eingang. Rasch, rasch!«
So schnell wie sie erschienen ist, ist sie auch verschwunden, als wäre sie gar nicht hier gewesen.
»Verdammt«, fluche ich laut und werfe das Handtuch zornig hin. Lena hört im Pool auf zu spielen und schaut neugierig zu uns rüber. »Mama, Onkel Milo hat ein böses Wort gesagt!«
»Was ist los?«, will Anja erstaunt von mir wissen und ich strecke ihr meine Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
Meine Stimme trieft vor Ironie als ich antworte: »Wenn man vom Teufel spricht. Dad ist da«
Einen tiefen Atemzug nehme ich noch, bevor mein Finger die Klingel reindrückt und das Geräusch sich in meinen Ohren mehrmals wiederholt. Im Kopf spiele ich meine vorbereitete Rede ab, verbessere, verkürze sie und bin trotzdem nicht zufrieden. Darauf kann man sich nicht vorbereiten wie auf einen Referat.
Gleich nachdem ich aus Milos Haus geflüchtet bin, habe ich mich auf den Weg zu Pascal gemacht. Aber bis gerade eben habe ich mich nicht getraut zu klingeln, war mir nicht sicher und bin es immer noch nicht völlig.
Nach mehreren Minuten, in denen ich zappelig warte, klingele ich mit Überwindung nochmal und bin kurz davor mich umzudrehen und es dabei zu belassen – bleibe jedoch. Wenn ich das jetzt nicht mache, überlege ich es mir am nächsten Tag womöglich anders. Das dritte Mal drücke ich auf die Klingel und die Tür geht schließlich einen Spalt breit auf. Ein verschlafener Pascal lugt durch die Öffnung, doch sobald er mich erkennt, öffnet er die Tür ganz. Seine Sachen sind unordentlich und sein Gesicht verknittert vom Schlafen, ein leichter Bartschatten bedeckt die Wangen. Mein Entschluss schwankt ein bisschen bei diesem niedlichen Anblick.
»Roman! Du bist doch da«
Überrascht und erfreut zugleich breitet er die Arme nach mir aus, aber ich schiebe ihn ohne ein Wort zu sagen beiseite und marschiere hinein. Er schließt die Tür hinter mir und ist offenkundig alarmiert.
»Ist was passiert?«, will er besorgt wissen, indes wir im Flur stehen bleiben und ich ihn einfach anstarre, nicht fähig damit anzufangen, wofür ich eigentlich hier bin.
Mein Hals wird jäh trocken als ich anfange. »Ja. Einiges. Du hast mich wieder belogen«
Er runzelt verwirrt die Stirn und schüttelt verneinend den Kopf. »Nein, habe ich nicht–«
»Hör auf zu lügen, du Lügner! «, unterbreche ich ihn lautstark und atme einen Stoß angehaltener, heißer Luft aus.
Pascal ringt die Hände und scheint geradezu verzweifelt. »Wie…ich weiß nicht, was du meinst!«, beteuert er und macht einen Schritt auf mich zu, näher traut er sich vielleicht nicht, denn ich zeige anklagend mit dem Finger auf ihn, wie Sonja es pflegt zu tun.
»Lena ist deine Stieftochter!«
Mich befremdet betrachtend, werden die Furchen auf seiner Stirn noch tiefer und er meint bedächtig: »Was macht das für ein Unterschied, sie ist wie eine Tochter für mich. Ich dachte nicht, dass ich das unbedingt betonen muss. Und woher weißt du das?«
»Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass du mir erzählt hast, dass du Anja aus Versehen geschwängert hast und du wegen Lena geblieben bist! Wie soll ich dir noch vertrauen?«
Daraufhin ist er still, sein Mund öffnet und schließt sich, als würde er versuchen etwas herauszukriegen, aber kein Laut kommt hinaus. Wut erfüllt meinen Bauch und meine Lust ihn irgendwie zu verletzten steigt in die Höhe. Es erstaunt mich selbst, dass es Wut ist und nicht Verletztheit oder Traurigkeit – im Voraus habe ich eigentlich angenommen, dass bei mir wieder Tränen fließen werden, aber dem ist nicht so. Zumindest noch nicht. Dagegen ist Pascal den Tränen näher denn je, in seinen Augen kann ich die Entschuldigungen ablesen, die ich mir nicht anhören werde.
»Roman–«
Nochmal rede ich ihm ins Wort, ruhiger: »Du hast mich das erste Mal belogen und hast mich verletzt und ich habe dir verziehen, weil ich nicht allein sein wollte. Und genau das hast du ausgenutzt. Ich habe gewartet, dass du alles regelst, aber das verlange ich nicht mehr von dir. Du möchtest eine oberflächlich heile Familie und nebenbei mich haben, beides gleichzeitig geht nicht! Das ist nicht richtig und das weißt du so gut wie ich«
Er schließt die Augen kurz und ich bin sicher, er ahnt was gleich kommt. Eine Weile lang überlege ich mir, ob ich es wirklich tun soll. Jetzt fühlt sich mein Herz plötzlich schwerer an und ich schlucke den mir bekannten Kloß herunter. Also doch nicht so leicht wie gedacht.
»Und deswegen müssen wir uns…«, meine Stimme wird belegt, ich räuspere mich und setze neu an: »Wir müssen uns trennen«
Auch wenn wir streng genommen nicht mal richtig zusammen gewesen sind. Das jedoch erspare ich.
In Pascal kommt Bewegung und er lacht ungläubig, tritt erneut einen Schritt auf mich zu, im Gegenzug mache ich dasselbe rückwärts.
»Das ist ein Witz«
Und da bricht es aus mir heraus: »Nein. Die Kleine hat einen Vater verdient. Ich kann ihr das nicht nehmen! Ich dachte zuerst, du wärst mir ein schlechtes Gewissen wert, aber mittlerweile…mittlerweile fühle ich mich so schuldig deswegen…wie ein schlechter Mensch«
Beschämt lasse ich den Kopf hängen und senke auch den Blick zu Boden. Was würden meine Großeltern von mir halten, wenn sie mich sehen würden? Was würde Milo dazu sagen? Milo. Er darf das auf keinen Fall je erfahren!
Alles was ich geplant hatte zu sagen ist gesagt und normalerweise müsste ich jetzt gehen – etwas hält mich auf, denn es ist noch nicht alles raus.
Das Ganze liegt mir schon lange auf der Seele, das habe ich jedoch stur in den Hintergrund gedrängt, weil ich einmal im Leben nur an mich denken wollte, egoistisch sein wollte – aber so einer bin ich nun mal nicht und werde bestimmt nicht so einer werden, wenn ich es verhindern kann!
Es ist falsch – das ist mir spätestens dann gänzlich klar geworden, als ich Anjas Geschichte gehört habe. Es hat mich schockiert und zugleich hat es mir mein Verhalten vor Augen geführt. Pascal hat sie damals aufgebaut und war für sie da in den schweren Zeiten, ich habe ihn ihr fast weggenommen.
Anja hat wie ein sehr liebevoller Mensch auf mich gewirkt und sie bedeutet Milo offenbar sehr viel, das habe ich bemerkt. Was ich ihr antue, hat sie schier nicht verdient und ihre Tochter noch weniger, und Milo auch nicht. Oh, Gott, wie konnte ich das tun?! Wie konnte ich denken, dass ich damit leben könnte?
Im Flur ist es ruhig, solange ich den innerlichen Vorwürfen endlich freien Lauf lasse. Mit doppelter Kraft prasseln diese auf mich ein wie ein gewaltiger Hagel und ich kann mich nicht davor schützen. Auf eine seltsame Art ist es erleichternd mich eigenständig fertig zu machen und die Schuldgefühle zuzulassen. Das zeigt doch, dass es noch nicht zu spät für mich ist, oder?
Aber mitten in meinem stummen Konflikt mit mir selbst, rückt Pascal wie aus dem Nichts zu mir und umfasst meine Wangen, sodass ich gezwungen bin, ihn direkt anzuschauen.
Verzweiflung ist in seinem Gesicht und in seiner Stimme:
»Wie ist es nur dazu gekommen, dass du so aus heiterem Himmel deine Meinung geändert hast? Sag mir das! Ich verstehe es nämlich nicht«
Ich blinzle Tränen weg, die ich nicht mal wahrgenommen habe und versuche mich zusammen zu reißen. »Hast du mir nicht zugehört? Es ist, als wäre ich eine dieser miesen Affären, die ganze Familien zerstören, um ihren Spaß zu haben! Ich habe Schuldgefühle! Sie sind schrecklich und es kann doch nicht sein, dass du sie nicht auch hast?«
Pascal drückt sich flachatmend an mich und lehnt mit gesenkten Liedern seine Stirn an meine, flüstert: »Aber wir lieben uns, oder nicht? Dann ist das egal«
Hat er das im Ernst gesagt? Ihm sind meine Schuldgefühle egal? Sind ihm Lena und Anja auch egal? Hier ist die beste Antwort das Schweigen.
»Also nicht«, stellt er nüchtern fest und entfernt sich bis an die gegenüberliegende Wand des Flures, wogegen er sich lehnt. Ein bitteres Lächeln zeichnet sich auf seinen Zügen, als sein Blick von oben nach unten an mir herunter gleitet und ich bilde mir ein, dass für einen Augenblick seine Augen an meinem Hals hängen bleiben.
»Ah, jetzt verstehe ich.«
»Was verstehst du?«, frage ich vorsichtig, dieser Ton macht mir Angst. Pascal lacht, vergräbt sein Gesicht in den Händen und schüttelt immer wieder den Kopf, schluchzt dann kurz und stark auf und gluckst wieder los. Es hört sich verrückt an.
Oh, Himmel, er soll nicht weinen! Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ihn trösten und sagen, dass alles wieder gut wird, obwohl es nicht stimmt?
Ich sammle immer mehr Spucke in meinem Mund, zum Zweck diesen elenden Kloß weg zu kriegen, jedoch hilft es nicht und ich gebe es auf.
Er schaut auf, seine Augen sind rot, doch das schmerzvolle Lächeln ist noch da. »Ich hätte ihn fertig machen sollen, als es noch nicht zu spät war«
Mein Herz fängt an zu rasen. Ich finde meine Stimme nicht, um das abzustreiten. Er weiß es, klar weiß er es. Es war naiv zu glauben, dass ich das hinkriege, ohne dass Milo reingezogen wird und falls Pascal hinter seiner Maske abgrundtief böse oder rachsüchtig ist, dann…dann würde alles auffliegen und Milo würde mich für immer hassen!
»Er schätzt dich nicht, für ihn bist du bloß ein Spielzeug, mit dem er spielt und wenn ihm langweilig wird, dann wirft er dich ohne zu zögern weg«
Aufgebracht balle ich meine Fäuste. Das stimmt nicht! So ist Milo nicht. Früher habe ich ihn für so einen Mistkerl gehalten, aber jetzt nicht, ich habe eine andere Seite an ihm kennengelernt. Doch meine Zunge fühlt sich viel zu schwer in meinem Mund an, um das auch auszusprechen, weil ich es tief in meinem Innern insgeheim anzweifle. So setzte ich stattdessen auf die Offensive:
»Und was wäre aus uns geworden, Pascal? Es war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich würde dein heimlicher „Lover“ bleiben und fertig. Das ist nicht besser«
Wie zuvor steht Pascal unvorhergesehen vor mir und küsst mich dazu, ganz weich und zart, ohne Zunge und nicht annähernd wild oder gar drängend. Es ist wie ein Beweis dafür, dass er das kann und Milo nicht. Dabei streichelt sein Daumen meine Kieferlinie entlang und fremde, kleine Tränen tropfen auf meine Haut. Langsam löst er sich von mir. »Ist das besser?«
Ich gucke zu ihm auf und presse die Lippen zusammen.
»Dieser Milo hat dich verändert. Nicht nur äußerlich, sondern ebenso deinen Charakter, du bist viel kälter geworden«, sagt er und klingt verächtlich.
Warum macht er es noch schwerer? Er stellt mich als den Bösen da, der ihm sein Herz gestohlen und im Stich gelassen hat. Obwohl er der größte Lügner hier ist.
»Bitte, Pascal, bitte lass das. Denk einfach an deine Familie, sie brauchen dich mehr als ich. Glaub mir, ich weiß wie es ist ohne einen gescheiten Vater aufzuwachsen, es ist nicht schön. Du bist sicher ein guter Vater«
Pascal nickt ernst blickend und seine Hände hören nicht auf, mich irgendwo zu berühren. »Ja, bin ich. Das ändert aber nichts an meinen Gefühlen zu dir. Wie soll ich damit leben? Ich liebe meine Frau nicht mehr und muss ständig an dich denken. Sie wird es merken, wenn ich sie nicht anfassen kann, oder umarmen, oder küssen. Das will ich nur mit dir tun«
Noch eine Minute länger mit ihm und ich nehme alles zurück und versinke in seinen Armen, die wirklich wärmen. Letztendlich überwinde ich mich dazu, seine Hände und ihn selbst weg zu schieben und rasch zur Tür zu laufen, doch in diesem Moment geht diese auf und ich knalle mit der Nase dagegen.
»Pascal, bist du das–oh, du bist doch der Rothaarige von vorhin!«
Die Nase haltend glotze ich mit aufgerissenen Augen Anja und dann ihre kleine Tochter erschrocken an, bin stumm und dränge meinen Instinkt, wie ertappt wegzurennen, nieder. Eine Erklärung, eine Ausrede muss schleunigst her und ich darf dabei nicht rot werden!
Sie schaut Augenbrauen hebend von mir zu Pascal und zurück, als würde sie sich fragen, warum ihr Mann verheulte Augen hat und der schwule Freund ihres Bruders ebenfalls. Was geht wohl in ihrem Kopf vor? Ahnt sie es?
»Pascal hat mir bei meinen Schulaufgaben geholfen, in Englisch bin ich ziemlich schlecht im Gegenteil zu den anderen Fächern.«
Anja sieht wieder ihren Mann an, der sich inzwischen unauffällig die Tränen weggewischt hat und sie ebenso bestürzt anglotzt wie ich.
»Ich hab ihm gesagt, dass ich jetzt nicht kann, weil ich aufeinmal krank geworden bin. Eine Grippe möglicherweise«, fügt er hinzu und versucht angestrengt normal zu klingen, seine Frau nickt darauf – ob sie es wirklich glaubt, steht in den Sternen.
Zum Glück quängelt die kleine Lena laut und stampft mit dem Fuß auf: »Mama! Du hast gesagt, wir besuchen unser neues Haus und schwimmen mit Onkel Milo! Lass uns endlich los!«
»Ist gut, Schatz. Wir müssen unsere Badesachen noch holen«, beruhigt Anja sie und streicht über ihr Haar.
Da ergreife ich meine Chance. »Ich muss…ich muss jetzt auch los, da Pascal mir ja nicht helfen kann. Vielleicht nächste Woche oder so«, lächele ich zittrig und sie machen mir Platz in der Tür. Ich bemühe mich ruhigen Schrittes davon zu gehen, nicht loszueilen und mich damit völlig verdächtig zu machen. Ich zwinge mich, nicht zurück zu blicken als ich davonwandere und eine riesige Last fällt vom meinem Herzen, sobald ich um die Ecke gebogen bin, wo ihr Haus nicht mehr zu sehen ist und ihre Blicke nicht mehr zu spüren sind.
»Oh, nein, nein, nein! Ich habe alles zerstört! Jetzt werde ich für immer alleine sein und ich werde nie wieder so einen wie Pascal finden!«, jammere ich in Höchstgeschwindigkeit und wandere von einer Wand meines Zimmers, zur anderen – leider ist mein Zimmer so klein, dass ich mich nach jedem vierten Schritt umdrehen und meinen Pfad zurück nehmen muss. Ich raufe mir mit Panik erfüllt die Haare und stoppe dann ruckartig, als mir ein Geistesblitz kommt, schaue Sina an, die auf meinem Bett sitzt und mich entgeistert beobachtet.
»Ich gehe zu ihm und sage, dass ich es nicht so gemeint habe! Er wird mir verzeihen und wir werden uns etwas überlegen. Ja, genau das werde ich jetzt tun!«
Gerade will ich zu meiner Zimmertür laufen, da stürzt Sina los und schneidet mir den Weg ab, indem sie sich vor mir mit dem Rücken an die Tür lehnt. Wütend funkelt sie mich an und schüttelt mich dabei schwindelerregend an den Schultern.
»Roman, hör dir bloß zu! Was für einen gequirlten Mist redest du da überhaupt? Ich lasse nicht zu, dass du hier rausgehst, bevor du dich ganz beruhigt hast! Das ist deine Unsicherheit, die aus dir spricht oder deine überschlagenden Hormone oder sowas – eins von beiden jedenfalls. Du hast gesagt, dass du dich verändert hast und nun willst du wieder in dein altes Muster fallen? Oh nein, nicht so lange ich hier bin und dich, Dummkopf, aufhalten kann«
Hat sie recht? Schlechte Angewohnheiten wird man ja bekanntlich am schwersten los und ich darf nicht schwach werden jetzt! Aber nichtsdestotrotz ist das Verlangen alles zurückzunehmen, was ich zu Pascal gesagt habe, vorhanden und es ist nicht einfach dagegen anzukämpfen.
»Okay«, murmele ich, damit Sina aufhört mich hin und her zu schütteln, davon wird mir schlecht, und tatsächlich lässt sie mich gleich los.
Mit einem tadelnden Finger und einem ebensolchen Gesichtsausdruck stemmt sie die Hände in die Hüften. Mir ist aufgefallen, dass sie ein paar Kilos dünner geworden ist und ich habe eine Idee, warum sie sich die Mühe macht abzunehmen, obwohl es nicht nötig ist – ein Typ namens Michael spielt da eine nicht unbedeutende Rolle.
»Dieser Pascal ist egoistisch und er nutzt dich nur aus, wie eigentlich fast jeder außer mir. Das hast du selbst erkannt und egal wie niedlich, zärtlich und gutaussehend er ist – dir tut er weh und das darf keiner. Zudem würdest du an den schlimmen Schuldgefühlen ersticken, weil du keiner bist, der das ignorieren kann. Du bist mein Roman, du bist stark und du schaffst es über ihn hinwegzukommen, alles klar?«
Kläglich schüttele ich den Kopf. »Und was, wenn er die Liebe meines Lebens ist?«
»Ach, Quatsch!«
Das ist eine ziemlich kurze Entgegnung für Sina, offenbar weiß sie nicht mehr, wie sie mich noch von ihrem Standpunkt überzeugen will. In diesem Moment hätte ich gern meine Brille zurück, ich könnte sie jetzt höher auf die Nase schieben – bisher habe ich nicht realisiert, dass mich diese Geste beruhigt hat.
Sinas Stimme klingt wie die einer Mutter, die ihrem Kind beibringen will, dass etwas nicht erlaubt ist, als sie nach einem Augenblick weiter zu mir spricht: »Und ich weiß nicht, ob ich es dir übel nehmen soll, dass du mich wegen Pascal angeschwindelt hast, oder ob ich dich in den Arm nehmen soll, damit du dich so richtig ausheulen, mein Oberteil mit Sabber und Rotz voll schmieren kannst und dich danach hoffentlich besser fühlst«
»Ich nehme die zweite Option«, sage ich und liege alsbald schniefend in einer innigen Umarmung.
»Aber bitte nicht zu viel Rotz, wenn es geht. Das geht nachher so schlecht raus«
Ich lache unwillentlich auf und ihre Arme umschlingen mich fest, ich spüre ihre Zuneigung sehr deutlich, was mir ein warmes Gefühl gibt. Was würde ich nicht alles dafür geben, dass sie für immer hier wohnen bleibt, aber das ist nur ein unerfüllbarer Wunsch und ich verscheuche jedes Mal jegliche Gedanken daran. Es macht mir eine riesige Angst, dass ich danach wieder in diesem Haus allein mit meinen Eltern bin und doch wird dieser Tag eintreten, ob ich es verdränge oder nicht.
»Du hast das Richtige gemacht, Roman. Denke lieber darüber nach, dass im Ozean viele Fische schwimmen und du ein besonders guter Angler bist«
In Wahrheit bin ich ein miserabler Angler. Das letzte Mal war ich mit meinem Großvater angeln – ich bin dabei fast ertrunken und habe meine Hand mit dem Angelhaken verletzt. Außerdem beweist das mein bisherihger Fang.
Ich bin dennoch dankbar, dass sie versucht mich aufzumuntern. Durch den Mund atmend, da meine Nase schon verstopft ist, umarme ich sie so fest ich kann – vielleicht tue ich ihr weh, sie sagt nichts dazu, sicher ist ihr bekannt, was mir durch den Kopf geht. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, dass sie bald weg muss, doch sie kennt mich gut genug.
Zärtlich streicht Sina mir über die Haare und ich versuche meine Tränen aufzuhalten, erlaube ihnen höchstens, sich in den Augenwinkeln anzustauen. Das Heimtückische daran ist jedoch, dass dieses Trösten immer nur noch mehr Tränen hervorruft und das leise „Scht“ hilft auch noch nach – sie laufen schließlich über.
»Wieso habe ich so viel Pech, Sina?«, frage ich stockend und möchte ernsthaft eine Antwort kriegen, denn diese Frage stelle ich mir häufiger und häufiger und finde es dennoch nicht raus.
»Gute Menschen ziehen das Schlechte an und du bist so gut, dass dich das Pech anzieht, wie Mist die Fliegen«, meint sie leichthin und ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll – nachdem, was ich in letzter Zeit gemacht habe, kann man mich kaum noch einen guten Menschen nennen, oder?
In dieser Sekunde schiebt sie mich prompt von sich und sagt entschieden: »Jetzt reicht es, genug Selbstmitleid für diesen Tag! Ich habe heute im Briefkasten ein Päckchen gefunden, an dich adressiert«
Sina bewegt sich in Richtung meines Kleiderschranks und holt daraus ein viereckiges, kleines Päckchen heraus, bevor sie wieder zu mir rüber geht.
»Von wem ist es?«, frage ich neugierig und spähe auf die Aufschrift. Normalerweise kriege ich keine Post oder gar Päckchen geschickt, das ist was Neues.
»Keine Ahnung. Dein Dad wollte, dass ich die Post reinhole und da habe ich es entdeckt, es war kurz bevor du von Pascal gekommen bist und ich habe es für dich solange versteckt, falls dein Vater rumschnüffelt. Eins kann ich dir sagen: Es war echt eine Tortur standzuhalten und es nicht auszupacken! Ich musste mir ständig auf die Finger schlagen. Also mach auf, schnell, schnell!«
Aufgeregt drückt sie es mir in die Hände und tritt von einem Fuß auf den anderen, ungeduldig mit ihren Haaren spielend.
»Ist ja okay«, beruhige ich sie, als sie mit ihren Fingern dazwischenpfuscht, um mir zu helfen, das braune Papier abzureißen.
»Was-? Ist das wirklich für mich?«
Verständnislos schaue ich auf das schwarze Smartphone, das zutage gekommen ist und drehe es hin und her, aber kein Zettelchen, welches den Absender verrät, ist daran befestigt.
»Ein Handy? Wer schickt dir ein Handy und das auch noch gebraucht?«, spricht Sina das aus, was mir ebenfalls gerade nicht klar werden will und entreißt es mir aus den Händen.
Sie betrachtet es argwöhnisch von allen Seiten und drückt auf alle Knöpfe, bis das Display aufleuchtet und auf einem einfachen orangen Hintergrund ein blinkender Briefumschlag zu sehen ist. Ich nehme es sofort wieder an mich und starre das blinkende Ding an. Soll ich, oder nicht?
»Jetzt drück drauf, worauf wartest du?«, drängt meine Cousine mich und mit einem mulmigen Gefühl stochere ich auf den digitalen Umschlang, bis dieser sich öffnet und eine Nachricht offenbart.
»Lies es laut vor!«
»“Morgen Punkt siebzehn Uhr, hinter dem Gerätehäuschen der Schule. Wehe du kommst zu spät“«
Das ist anscheinend die Art Einladung zu einem Date, die Milo für romantisch hält. Irgendwie ja süß.
Was er wohl vorhat? Wenn es ähnlich dem ist, was wir bei unserem letzten Treffen gemacht haben bevor man uns erwischt hat, wird es mir sicherlich gefallen. Allein die Vorstellung, dass er sich wahrscheinlich darüber Gedanken gemacht hat, auf welche Weise er mir diese Nachricht mitteilt, lässt mein Herz schneller schlagen. Milo denkt über mich in seiner Freizeit nach! Das ist kaum zu glauben.
Ich spüre, wie sich auf meinen Lippen ein strahlendes Lächeln bildet und ein leichtes und luftiges Etwas in meiner Brust ausbreitet. Auch Sina bemerkt meine Reaktion und ihre Mundwinkel ziehen sich nach unten, aber nur leicht. Sie verdreht die Augen. »Er hört sich ja an wie ein Diktator. Ich weiß echt nicht, wen ich schlimmer finde: Milo oder Pascal? Aber ich muss zugeben – und das fällt mir nicht leicht – das ist irgendwie süß von ihm. Wirst du dich mit ihm treffen? Nein, warte! Lass mich raten…«
Sie tippt sich gespielt ans Kinn und seufzt. »Deiner Gesichtsfarbe nach, wirst du es tun«
Nochmal zupfe ich an meiner Jeans und gucke auf die digitale Uhr auf dem Handy. Hätte ich bloß nicht auf Sina gehört und sie angezogen – die Hose sitzt viel zu eng und ich kann kaum einen richtigen Schritt machen, ohne wie jemand auszusehen, der eine kleine Gehbehinderung hat. Aber ich sollte ja unbedingt „zum Anknabbern“ aussehen, Sinas Wortwahl nach.
Ich bin zwar fünfzehn Minuten zu früh losgelaufen, aber lieber werde ich früher dort sein und auf ihn warten, als andersherum. Mit jedem Schritt, den ich der Schule näher komme, wächst meine Aufregung und ich werde grundlos nervöser. Es ist ja nicht so, dass es wirklich ein Date ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Milo es als Verabredung zum Sex bezeichnen oder etwas in der Art. Es sei denn, er hat seine Meinung im Thema „Beziehung“ geändert und will nun möglicherweise doch mit mir…Was denke ich da? Innerlich rufe ich mich zügig zur Ordnung und schüttele diese aufkeimende Hoffnung ab, die einfach zu irrwitzig ist. Es ist auch albern sich vorzustellen, wie es wäre, mit ihm in einen Club zu gehen oder ins Kino, ihn als meinen Freund vorzustellen, bei ihm Zuhause einzuschlafen, in seinen Armen und in Sicherheit. Dafür ist Milo nicht der Richtige, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Diese Tatsachen sind mir bewusst und sie dämpfen ein bisschen die Aufregung, jedoch nicht ganz.
Nach der letzten Abbiegung schreite ich durch das Schultor, das heute Nachmittag für die Basketballspieler offen gelassen wurde und dann weiter, hinter das Gerätehäuschen.
Vor Überraschung klappt mir der Mund auf, denn ich erblicke Milo – ganze zehn Minuten früher da – er steht an der Wand gelehnt und neben ihm ist sein glänzendes und funkelndes Motorrad.
»Du bist vor mir da«, platzt es mir raus und er lacht, mich kritisch musternd.
»Ich hatte Training. Und es war ja so klar, dass du dich falsch anziehst«, grinst er mir entgegen und stößt sich von der Wand ab. Ich schaue ebenfalls an ihm herunter, er hat eine Lederjacke und -hose an, die alles sehr deutlich umspannt und mir buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Leder steht ihm wirklich gut und ich liebe es, wenn seine Haare noch nass sind vom Duschen und nicht hochgegelt sind.
»Ich habe keine Lederklamotten«, erwidere ich nach einem Augenblick des Starrens, als er einen knappen Meter vor mir anhält und auf mich herunterschaut.
Soll ich ihn küssen? Umarmen? Alles in mir verzerrt sich danach und meine Finger zappeln sogar, in dem Drang sein Gesicht zu berühren.
Oder lieber doch ausharren, bis er zuerst was tut? Ich habe mir ja eigentlich vorgenommen, nicht mehr so unsicher zu sein, aber im Moment kann ich eben nicht anders.
Milos schönen Lippen zucken, er unterdrückt ein Grinsen und weiß bestimmt genau, was grade in meinem Schädel vorgeht und worüber ich grüble. Er wartet eventuell, dass ich den ersten Schritt mache.
Lange halte ich es in dieser intensiven Stille nicht aus, nähere mich ihm und bin nur noch eine Fingerbreite von seinen Lippen entfernt, als seine Augen vorher hastig nach links und rechts huschen und so alles zerstören. Sofort zucke ich zurück und senke schwer schluckend den Kopf. Um den unangenehmen Moment zu überbrücken, meide ich seinen Blick und krame das Handy raus, was durch meine enge Hose erschwert wird.
Jetzt begreife ich auch, warum er mich nicht von Zuhause abgeholt hat, das wäre nämlich logischer gewesen – er wollte nicht mit mir oder bei mir gesehen werden, es ist ihm peinlich, ich bin ihm peinlich und das tut weh. Am liebsten würde ich weglaufen, aber ich überzeuge mich selbst davon, dass er es nicht gemacht hat mit dem Zweck mich zu verletzten.
»Dein Handy«, sage ich und überreiche es ihm, er beißt sich auf die Unterlippe und wirkt plötzlich schuldbewusst.
»Das ist ein Geschenk, Bunny. Du brauchst es nötiger als ich«
Ich runzle finster die Stirn und halte es ihm weiterhin entgegen. »Ich bin früher ohne Handy ausgekommen und schaffe es auch jetzt, ich brauche deine Almosen nicht«
Milo fährt sich entnervt seufzend durch die dunklen Haare, ich kann fast beobachten, wie er seine Antwort erst zurückhält, um sie abzuwiegen. »Das sind keine Almosen. Das brauchst du, damit ich dich immer erreichen kann, okay?«
Darauf weiß ich allerdings nichts mehr zu erwidern.
Wortlos nimmt er mir das schwarze Gerät ab und stopft es in meine hintere Hosentasche, während ich tatenlos rumstehe und errötend fühle, wie er dabei beiläufig meine rechte Pobacke drückt. Dann geht Milo zu seinem Motorrad rüber, setzt sich drauf und winkt mich zu sich – ich gehorche widerstandslos.
»Hier«, gibt er mir einen schwarz lackierten Helm und grinst, als ich es bedeppert anglotze.
»Du erwartest von mir nicht im Ernst, dass ich auf dieses Ding steige, oder? Hast du überhaupt einen Führerschein?«
»Klar habe ich einen, sonst würde ich nicht jeden Tag fahren«
Ungläubig schüttele ich den Kopf und schiebe den Helm von mir, er dagegen drückt ihn wieder zu mir, auffordernder.
»Los, du Schisser, setz ihn endlich auf und hüpf dauf«
Nicht gerade einladend klopft er auf das freie Stückchen Sitz hinter ihm und wackelt mit den Brauen. »Das wird spaßig«
Noch nicht völlig überzeugt betrachte ich das Motorrad, welches eher das Gegenteil von einem sicheren Eindruck auf mich macht. Andererseits ist es mir das Risiko wert, wenn ich mich für eine Weile eng an ihn pressen kann – so betrachtet klingt es gar nicht so schlecht.
»Und was ist mit dir–?«, setze ich an, doch er unterbricht mich, bevor ich enden kann: »Ich brauche keinen Helm. Außerdem bist du viel zerbrechlicher als ich, und jetzt mach schon, ich will hier nicht festwachsen«
Zerbrechlicher? Ist das im Negativen gemeint, oder soll das heißen, er macht sich Sorgen, dass ich mich verletzen könnte? Diese letztere Vermutung lässt mich letztendlich den Helm überziehen, gleich hinter Milo aufsteigen und seine Brust umschlingen, während er das Motorrad zum Start bereit macht.
»Wohin fahren wir?«
»Wirst du sehen. Startklar?«, ruft er über den aufknurrenden Motor und ich nicke mit dem schweren Helm, obwohl mir eher nach Kopfschütteln ist.
Ich bin noch nie auf so einem Ding gefahren und weiß nicht annähernd, was da auf mich zukommt. In der einen Sekunde bewegen wir uns keinen Millimeter und in der nächsten falle ich beinahe vom Motorrad und muss mich mit Beinen und Armen an Milo krallen als hänge mein Leben davon ab – was gewissermaßen ja stimmt.
Ich kneife die Augen zusammen und spanne meine Muskeln an, presse mich noch fester an meinen Vordermann und quetsche ihn bestimmt unangenehm ein, aber das ist mir egal. Der vorbeirasende Wind erzeugt ein lautes Rauschen in meinen Ohren, welches sich beinahe nach Donnern anhört und ein kalter Lufthauch dringt in meine Kleidung, bis ich zittere. Milo hatte recht – ich habe mich falsch angezogen, aber er hätte mich auch vorwarnen können, dieser Idiot. Zum Glück wärmt sein Körper mich auch ein wenig.
Die Kurven sind am Schlimmsten, da habe ich das Gefühl, dass nicht viel fehlt und wir kippen gänzlich zur Seite, weswegen ich mich dabei immer unwillkürlich in die entgegengesetzte Richtung neige. Doch wenn Milo mal geradeaus fährt und die Straße eben ist, traue ich mich wieder zu entspannen und die Augen zu öffnen und erst da kapiere ich, dass das gar nicht so schlimm ist. Milo drückt kurz meinen Oberschenkel und da entkrampfe ich auch die anderen Muskeln und setze mich bequemer hin, den Kopf seitlich an seinen Rücken gelegt und ihn locker umarmend. Es fühlt sich schön an, ihn so vorbehaltlos zu halten und meine Lieder klappen automatisch nach unten. Wenn ich nicht noch ständig bangen müsste, dass meine Füße in die Räder gezogen und zerfetzt werden, falls ich sie lockere, wäre es perfekt.
Die restliche Fahrt scheint höchsten eine Minute zu dauern und ich bemerke aufeinmal, dass wir nicht mehr fahren und der kalte Wind und das Rauschen weg sind. Blinzelnd schaue ich mich um und nachdem Milo mit der flachen Hand auf mein Helm klopft, setze ich ihn ab und lege den Kopf in den Nacken, um das Haus ganz betrachten zu können. Es ist allem Anschein nach ein Bürogebäude – hoch, gläsern und modern, mit einem großen Eingang.
»Und, hat dir die Spritzfahrt gefallen?«, fragt Milo mich plötzlich und ich bejahe es, allerdings hat mir das An-ihn-Pressen besser gefallen als alles andere daran und er durchschaut das auch.
»Du wirst schon noch auf den Geschmack kommen«
Mir wird warm und mein Herz macht einen unwillkürlichen Sprung bei diesem einfachen und gleichzeitig bedeutsamen Satz – ich könnte viel hinein fantasieren, doch eins stimmt hundertprozentig: Es bedeutet, er will mich nochmal mitnehmen.
Indessen ich mir ausmale, wohin wir alles fahren könnten, hat Milo sein Motorrad bereits auf einem Parkplatz zwischen mehreren teuren Autos abgestellt, der sogar durch ein Schildchen mit seinem Namen ausgestattet ist.
»Komm«
Er fasst mich an der Schulter und wir marschieren zum Eingang, über dem kurzzeitig die großen Lettern meine Aufmerksamkeit erwecken: „Pawel Titow Immobilien“.
»Das ist das Geschäftshaus meines Großvaters, er ist Makler«, meint da auch schon Milo hilfreich und ich nicke stumm.
Die Eingangstüren öffnen sich automatisch und sogleich erblicken wir einen kahlen Mann hinter einer Empfangstheke.
»Hallo! Milo, freut mich dich wieder zu begrüßen. Wo hast du so lange gesteckt?«
»Hey, Thomas, hatte viel zu tun. Kannst du Deda bitte noch nicht Bescheid geben, dass ich hier bin? Ich möchte ihm«, er deutet auf mich. »hier zuerst was zeigen «
»In Ordnung«
Milo gibt ihm anschließend sein Motorradschlüssel und nimmt mir den Helm ab, um ihn auch in die Hände des Mannes zu geben, dessen Sicht teilweise auf mich konzentriert ist, als würde er versuchen herauszufinden, wie so einer wie ich es geschafft hat sich mit Milo anzufreunden. Oder vielleicht bilde ich mir das ein und er guckt mich einfach neugierig an, weil er mich eben nicht kennt. Ich bin wohl paranoid.
»Und was zeigst du mir?«, frage ich, sobald wir außer Hörweite sind und in einen Fahrstuhl steigen, wo Milo die unterste Zahl drückt.
Er lehnt sich weit zu mir vor, unsere Nasen berühren sich. »Ein bisschen Geduld, Bunny«, grinst er und pustet mir ins Gesicht, ich muss die Augen zukneifen.
Im Fahrstuhl ertönt ein gedämpftes „Ding“ und die Türen gleiten geschmeidig nach links und rechts. Milo schiebt mich hinaus und wir gelangen geradewegs in einen mittelgroßen Umkleideraum, mit ein paar Bänken, mehreren Metallschränkchen und im Nebenraum erspähe ich eine Dusche, wie wir sie auch in der Schule haben.
Mir bricht der Schweiß aus. »Umkleideraum?«
Wir machen hoffentlich nicht das, was ich befürchte. Ich werde mich auf keinen Fall vor seinen Augen zum Narren machen!
Glucksend tritt Milo zu einem der Schränkchen, holt ein blaues Knäuel heraus und wirft es mir zu. Zu meiner eigenen Überraschung und seiner wahrscheinlich auch, schaffe ich es alles aufzufangen und verziehe dann das Gesicht, als ich es mir genauer ansehe.
»Ist das eine Basketball Uniform?«
Und diese wirkt nagelneu, als hätte er sie extra für mich gekauft, die Größe scheint ebenfalls zu stimmen.
»Wenn ich dir gesagt hätte, dass du Sportsachen anziehen sollst, hättest du sicher gekniffen, so wie ich dich kenne«
Ich muss zugeben, dass er in diesem Punkt recht hat, ich hätte abgesagt, oder irgendeine Ausrede erfunden, um bloß kein Sport ausgerechnet mit diesem Sportfanatiker zu machen. Und Basketball kann ich am wenigsten von allen Sportarten.
Milo schenkt mir noch ein hinreißendes Grinsen und zieht den Reißverschluss seiner Lederjacke nach unten – darunter wird das selbe Basketballoberteil sichtbar, wie ich es in den Händen halte, selbst die Zahl ist die gleiche. Er will mich verarschen!
»Partnerlook«, ist sein einziges Kommentar zu meinem entsetzten Gesichtsausdruck.
»Nur noch ein Mal, Bunny, und du darfst aufhören, versprochen. Los, los!«, schreit er, in die Hände klatschend und lacht auf, als der Ball erneut aus meinen Fingern flutscht. Ich glaube langsam, dass der Ball mich mindestens genauso hasst wie ich ihn.
»Halt die Klappe! Dein Gebrüll macht es nicht leichter!«, brülle ich Milo gereizt an und renne dem davonrollenden Ball hinterher, der Schweiß läuft mir in Bächen meinen Körper herunter und mein Schädel fühlt sich wie eine Glühbirne an.
Das ist echt demütigend. Wieso mache ich das eigentlich noch? Nach meinem letzten Erlebnis mit dem Muskelkater, hatte ich beschlossen eine kleine Pause in Sachen Muskelaufbau einzulegen, doch so doll, wie Milo mich jetzt seit mindestens zwei Stunden quält, werde ich höchstwahrscheinlich tagelang flach liegen, nicht imstande, einen meiner geschundenen Gliedmaßen zu rühren. Mir fällt eine sehr passende Redewendung ein: Sport ist Mord. Wer immer das gesagt hat, ist definitiv ein Genie.
Endlich kriege ich den Ball zu fassen und schleudere ihn anstatt in den für mich runtergeschraubten Korb, geradewegs in Milo, der jedoch schnell genug ausweicht und mich dann zur Hälfte empört und zur Hälfte belustigt anblitzt. Während ich geackert habe, hat er bequem auf einer Bank gesessen und mir Anweisungen gegeben, außer beim Aufwärmen, hat er nicht viel gemacht. Ich habe den Verdacht, er hat mich hierher geschleppt, um mich hetzen zu können.
»An deiner Zielgenauigkeit müssen wir noch arbeiten«
Geschafft wische ich mir über die Stirn und stütze den anderen Arm in meine stechende Seite. »Du glaubst doch nicht, dass ich das je wieder mache? Vor allem nicht bei so einem Trainer wie dir.«
»Ich hasse Basketball«, füge ich gezielt laut hinzu.
»Ach, so übel war das doch nicht, Bunny. Das hat bestimmt mehr Spaß gemacht, als dein übertriebenes Krafttraining und die Schmerzen am nächsten Tag sind nicht allzu stark«
»Echt? Fühlt sich aber nicht so an« Ich werfe ihm einen säuerlichen Blick zu und falle auf die nächste Weichboden-Turnmatte, von denen wir am Anfang in jeder Ecke eine von der Wand geschnallt haben.
Milo joggt zu mir rüber und lässt sich mit einem Schwung neben mir nieder, wodurch ich durchgeschüttelt werde und einen bequemeren Platz suchen muss.
Eine Weile lang brauche ich, damit meine Atmung regelmäßig wird und ich nicht mehr das Gefühl habe zu krepieren.
»Also, wer ist es?«
Ich erstarre bei seiner Frage und meine Kehle schnürt sich zusammen, denn ich erkenne aus irgendeinem Grund auf Anhieb was er meint. Es spricht es locker an, doch ich höre den Ernst heraus. Trotzdem lasse ich mir nichts anmerken:
»Ich versteh nicht…?«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er sich auf die Seite legt und auf einen Ellenbogen stützt, seine Stimme klingt komisch, stockend, wie ich sie nie bei ihm erlebt habe. »Ich will wissen, wer der andere ist…mit wem du außer mir schläfst«
Zitternd atme ich aus, eine Beklommenheit überkommt mich und mein Herz rast angsterfüllt. Oh Gott, genau diese Situation habe ich all die Zeit befürchtet. »Nein…ich…das…Ich habe dir doch gesagt, dass es dich nichts angeht«, weiche ich aus, aber es ist zwecklos – Milo starrt mich weiterhin an und packt mich am Kinn, dreht den Kopf zu sich gegen meinen Willen.
»Und ob mich das was angeht«, stellt er dunkel fest.
»Nein«, wiederhole ich einsilbig, da lässt er mich schlagartig los und seine Hand wandert stattdessen unter das Basketballshirt, wo sie ihren Weg zu meinen Nippeln finden und reizbar daran zwirbelt. Ich beiße auf meine Innenwangen, um nicht aufzuschreien, weil er manchmal übertreibt und mich das fälschlicherweise noch mehr erregt.
Mein Herz donnert, sicher kann er es spüren, und ich halte den Atem an, als er weiter abwärts gleitet und den Hosenbund anhebt. Zudem senken sich seine weichen Lippen auf meinen Hals und ich strecke mich, um Milo so viel Fläche zu bieten wie möglich. Ich selbst bewege mich keinen Millimeter, sondern liege bebend da und versuche alles was er macht in mich aufzusaugen, als wäre es das erste und letzte Mal mit ihm und ich müsste mir jede Einzelheit merken. Sein gespannter Gesichtsausdruck, die Bewegungen seiner Hände, das kaum zu erspürbare Reiben seines Unterleibes, das Bein, welches quer auf meinen platziert ist und sein eigenes, leises Keuchen – in meinen Ohren klingt es wie das Schönste der Welt.
Mir wird wärmer. Stück für Stück kommt er meinem Zentrum näher, bleibt jedoch immer auf einem minimalen Abstand. Er küsst mich schließlich, anfänglich sanft und unschuldig – unsere Lippen berühren sich federleicht – und folglich heftiger, was eine noch größere Hitzewelle in mir auslöst und alle meine Gedanken versengt. Wie ausgehungert erwidere ich den Kuss und ich weiß nicht wie, aber meine linke Hand ist plötzlich in Milos Nacken und drückt ihn stärker zu mir herunter. Am liebsten würde ich nie wieder atmen, um mich nicht von ihm zu trennen. Seine Zunge erforscht gierig und er beißt in meine Unterlippe, zieht ein wenig daran.
Dann löst Milo sich erneut von mir, verwirrt blinzelt er und ich seufze unzufrieden, doch da lenken mich auch schon die Finger ab, die sich um mein halb erigiertes Glied schließen, das sich alsbald zur voller Größe aufrichtet. Ich japse und auch das übrige Blut in meinem Körper scheint in meine Lenden zu schießen und ich fühle es dort aufstauen, mir wird wieder so heiß wie beim Sport vorhin, allerdings ist es nun gewollt.
»Na los, Bunny. Hier ist keiner, der uns stören oder hören könnte«, murmelt er und leckt über meine Ohrmuschel, sodass ich erschauere. Langsam fährt er rauf und runter und ich stöhne auf, er wird schneller. Ein Stöhnen nach dem anderen entrinnt meinen Lippen und er haucht mir erneut etwas ins Ohr: »Allein dein Stöhnen macht mich hart«
Zum Beweis presst er sich fester an mich und ich spüre die Wölbung. Eine Gänsehaut rieselt meinen Körper herunter und ich kriege beinahe einen Herzinfarkt bei solchen Worten. Seine Stimme klingt so rau und nur mühsam beherrscht.
Bevor ich was erwidern kann, wird sein Griff um meinen Schaft enger und seine Zähne kratzen an der empfindlichen Haut meiner Kehle. Ich biege meinen Rücken automatisch durch und das Becken ihm entgegen, keuche, als er sein Tempo wieder verlangsamt und sein Daumen um meine Kuppe kreist – das bringt mich fast um den Verstand.
»Versuchen wir es nochmal: Wer ist es, du musst es mir verraten«, sagt Milo, kleine Küsse auf meiner Kieferlinie verteilend.
Nicht imstande mir gerade eine Lüge einfallen zu lassen, schüttele ich eindeutig den Kopf und wie aufs Stichwort hört Milo ruckartig auf. Mit aufgerissenen Augen gucke ich ihn an, aber er erwidert unerbittlich und beharrlich meinen Blick. Das kann er doch nicht tun? Das ist wirklich unter aller Würde – ihm ist es egal.
»Ist es einer aus der Schule?«
»Nein«, schnaufe ich angestrengt und kralle mich in der Matte fest.
»Kenne ich ihn?«, fährt er fort, aber die Antwort darauf ist wie die vorige.
Die Hand zwischen meinen Beinen fängt noch einmal ganz kurz an zu massieren und ich wimmere gequält. Er mustert mich und leckt sich über die Lippen, aber den Ausdruck auf seinen Zügen kann ich nicht entziffern.
»Würdest du es mir sagen, wenn es so wäre?«
»Nein«, meine ich zum dritten Mal kläglich. »Milo, wieso ist das so wichtig?«
Scheinbar unvorbereitet getroffen, zieht Milo sich wie verbrannt zurück und fährt sich durch die Haare, während er sich auf der Matte aufsetzt.
»Ich habe nie gern geteilt«, höre ich ihn sagen, als er sich zu mir beugt und mir einen kleinen Kuss auf den Mund aufdrückt. Hiernach steht er auf und dehnt sich in alle Richtungen, schaut auf seine Armbanduhr. »Ich muss langsam zu Deda nach oben, ich bestelle dir dann ein Taxi, das in fünfzehn Minuten vor dem Haupteingang auf dem Parkplatz auf dich wartet, okay?«
Er wartet nicht ab, was ich dazu sage, sondern setzt sich in Bewegung.
»Milo?«, rufe ich ihm hinterher, mich aufrichtend, und er dreht sich fragend blickend um. »Ich habe mit dem Kerl nichts mehr zu tun, ich schlaffe nicht mit ihm«
Mir ist wichtig, dass Milo es glaubt – er grinst. Ist da ein Hauch Erleichterung? »Gut«
Sobald er weg ist, ziehe ich meine Hose hoch und ignoriere das offensichtliche Problem einfach, lasse mich, Arme und Beine ausgestreckt, auf die Matte plumpsen.
»Was war das denn grad?«, murmele ich zu mir selbst.
Das war zwar der beste Handjob, den ich je hatte, man könnte meinen, er macht das jeden Tag, aber gleichzeitig war es auch erschreckend.
Ich erinnere mich daran, was Milo vorhin gesagt hat und gleite von der Matte runter. In fünfzehn Minuten muss ich bereit sein. Ohne Eile schlüpfe ich in meine eigene Kleidung und verzichte darauf zu duschen, verschiebe es auf zu Hause.
Die Kleidung nehme ich mit mir und im Aufzug gehe ich nochmal alles durch, was heute passiert ist: Milo hat mich auf seinem kostbaren Motorrad gefahren, wir haben Basketball gespielt, oder eben nur ich, und dann hat er versucht Pascals Namen mithilfe seiner begabten Hand zu erpressen. Das bedeutet, es macht ihm was aus, wenn ich mit einem anderen zusammen bin und das bedeutet, ich bin ihm nicht egal. Alles in einem gar kein so schlechter Tag, vor allem, weil ich das Gefühl habe, es hat sich was grundlegendes zwischen uns verändert – diesmal zum Guten.
Der Mann hinter dem Empfangstresen verabschiedet sich höflich und auf dem Parkplatz entdecke ich schon das Taxiauto.
Den Taxifahrer begrüßend, steige ich hinten in den Wagen, ganz so, wie meine Großeltern es mir beigebracht haben. Anscheinend hat Milo ihm bereits meine Straße genannt, denn wir fahren los, ohne das er danach fragt. So könnt es immer sein. Entspannt lehne ich mich zurück und schließe die Augen, gleich taucht Milos Gesicht vor mir auf und ich muss lächeln.
Der Wagen hält an und der Fahrer sagt mir, dass die Rechnung schon begleicht wurde. Er hat sich um alles gekümmert. Deswegen steige ich einfach aus und freue mich schon darauf, alles meiner vor Ungeduld platzenden Cousine zu erzählen. Ich stecke den Schlüssel in die Haustür und öffne sie, bereit eine aufgeregte, erwartungsvolle Sina auf mich zu rennen zu sehen, doch seltsamerweise ist sie nicht da. Vielleicht glotzt sie ja eine ihrer geliebten Soaps – doch wieso höre ich kein Fernseher? Verwirrt steige ich aus meinen Schuhen und hänge die Jacke an den Hacken.
»Ach, jetzt wird der edle Herr auch noch von einem Taxi gebracht. Woher zum Teufel hast du das verdammte Geld dazu? Deine Eltern ackern um jeden Cent und du lässt dich kutschieren«, lallt eine mir bekannte Stimme und meine Nackenhaare stehen sofort zur Berge, ich fange an zu zittern, die verschwitzten Sportsachen fallen zu Boden.
Er lacht sein unverwechselbares Lachen. »Deinen lockigen Schutzengel haben die Eltern abgeholt. Du dachtest, du bist der Schlaueste, weil du sie nach Hause gebracht hattest, aber ich werde dir zeigen, was passiert, wenn du deinen Vater so überrumpelst«
Ohne mich zu ihm umzudrehen, wende ich mich wieder zur Haustür. Zuspät – er versperrt mir den Weg und versucht mich zu packen, aber ich ramme ihm meinen Ellenbogen in seinen wabbligen Bauch und renne zu meinem Zimmer – die Tür ist verschlossen, er hat sich vorbereitet. Seit Wochen wartet er auf diesen Tag, wo keiner da ist, der ihn unterbrechen kann, das heißt die anderen Auswege sind ebenfalls gestrichen. Von Panik erfüllt laufe ich zur nächsten Tür, das Schlafzimmer meiner Eltern und ich weiß, dass meine Mutter da drin kauert. Ich donnere mit der Faust dagegen und rüttele am Knauf, mein Vater kommt stolpernd näher, doch es gibt kein anderes Versteck als dieses Zimmer. Ich fühle mich in die Ecke gedrängt, gehetzt, meine Gedanken spielen verrückt und nur deshalb beginne ich zu betteln, was ich sonst nie im Leben gemacht hätte. »Mam! Mama, lass mich rein! Nur dieses eine Mal, bitte. Er wird mir wehtun, Mam«
Sie antwortet nicht, kein Laut, keine Regung auf der anderen Seite, aber sie ist dadrin – so wie immer.
»Ma–!«, zwei grobe Hände packen mich von hinten und zerren mich von der Tür weg, ich schütze sofort meinen Kopf mit den Armen, wie ich es gelernt habe, gegen ihn nützt mir auch kein Krafttraining.
Milo
Irgendeine Melodie vor mich hinpfeifend, wirbele ich meinen Motorradschlüssel um den Zeigefinger und schlendere die Treppen aus der Tiefgarage nach oben. So gut gelaunt war ich seit Langem nicht mehr. Zwar habe ich mein gesetztes Ziel nicht erreicht – den Namen des Kerls zu erfahren, mit dem Bunny ins Bett steigt –aber immerhin hat er mir versichert, dass es Schluss ist und das hat mich einigermaßen beruhigt. Ich vertiefe den Gedanken lieber nicht daran, warum es mich überhaupt stört, dass ich nicht der einzige bin, der ihn anfassen kann und…Gott, ich muss damit aufhören. Es interessiert mich und fertig – keine Erklärungen und keine erfundenen Ausflüchte.
Auf dem Weg in mein Zimmer streife ich meine Lederjacke ab und das stinkende T-Shirt ebenfalls, doch als ich es zur Seite werfe und aufschaue, keuche ich erschrocken auf und fasse mir an die Brust.
Sergej sitzt im Sessel und grinst mich an.
»Verdammte Scheiße, was suchst du wieder in meinem Zimmer? Irgendwann werde ich dir deswegen den Arsch versohlen«, knurre ich und steige aus der Lederhose und den Sportshorts.
Ohne darauf einzugehen, streckt er übertrieben seine Nase in die Luft wie ein Hund und schnüffelt lautstark. »Ich rieche Sex« Ein noch breiteres Grinsen verzerrt sein Gesicht, nur er kriegt das so speziell hin. »Hast du wieder von verbotenen Früchten genascht, Bruder?«
„Es war nur ein Handjob“, verteidige ich mich fast, besinne mich jedoch glücklicherweise vorher. Das wärs ja noch, dass ich mich rechtfertige.
Und woher bitte weiß er es? Ich erröte etwas und verfluche mich selbst für dieses verräterische Zeichen, denn er bemerkt es natürlich und will schon etwas loswerden, als ich ihm das Wort abschneide:
»Halt bloß die Fresse, Sergej, ich warne dich! Erinnerst du dich noch an den Griff, den ich als Kind an dir ausprobiert habe? Verschwinde lieber und lass mich in Ruhe duschen, wenn ich dir meinen Fortschritt seit damals nicht zeigen soll, alles klar?«
Er kapiert anscheinend, dass ich es ernst meine und zeigt ein OK-Zeichen, erhebt sich aus meinem Lieblingssessel. »So klar wie Kloßbrühe«
Stirnrunzelnd und tief seufzend streife ich meine restliche Kleidung ab und wende mich dem Bad zu.
Seltsam beschwingt steige ich unter die heißen Strahlen der lang ersehnten Dusche, die ich nach dem Basketballtraining in der Schule wegen Bunny ausfallen lassen musste.
Bei der Erinnerung an sein Gejammer beim Sport unterdrücke ich ein Lachen, er ist wirklich nicht dafür geschaffen seine Muskeln einzusetzen und soll es vielleicht beim Einsetzen seines Köpfchens belassen.
Nachdem ich wieder sauber geworden bin, trockne ich mich ab und latsche unbekümmert und nackt wieder in mein Zimmer, welches wirklich mal aufgeräumt werden muss – aber immer wenn es die Haushälterin macht, kann ich danach nichts mehr finden und das ist nervig.
»Hab nicht gewusst, dass du unter der Dusche singst. Ich muss zugeben, es war gar nicht so schlecht«
Er verkneift sich, in dem selben Sessel sitzend wie vorhin, mit sichtlicher Mühe das Lachen und hält sich die Hand vor den Mund, als ein Grunzen herauskommt.
Im ersten Moment starre ich ihn an und möchte am besten im Erdboden versinken vor Scham, doch im Nächsten will ich ihn erwürgen. Ein Wunsch, der bisher immer unerfüllt bleiben musste.
Manchmal singe ich eben in der Dusche, bemerke es selbst jedoch selten, was ist so verkehrt daran?
»Okay, Sergej, du hast es herausgefordert«
Drohend trete ich dem Sessel näher und balle schon die Fäuste – er hat sich genug über mich lustig gemacht und wenn ich ihn verprügele, ist es mir egal, dass wir verwandt sind.
Mein Bruder springt alarmiert auf und hebt beschwichtigend die Hände, denn er ist nie einer gewesen, der sich gern prügelt oder Dinge mit Gewalt regelt. Das Blaue vom Himmel versprechen oder herunter lügen und unnötiges Zeug labern ist eher sein Element.
»Ruhig, Brauner! Kein Grund gewalttätig zu werden. Ich spiele für den Alten den Laufburschen und soll dir ausrichten, dass er dich sprechen will.« Er fügt eine dramatische Pause hinzu. »In seiner Waffenkammer« Die Art wie Sergej es ausspricht regt mich auf – da fehlt nur noch das typische „Dam-dam-daam“
Sofort spannt sich alles in mir an und ich beiße die Zähne aufeinander, um nicht frustriert aufzustöhnen. Das hat mir grade noch gefehlt – ein Gespräch mit meinem geliebten Vater unter vier Augen. Bei unserer letzten Begegnung gestern, war er von Anja abgelenkt, so ist mir das „Gespräch“, welches eher einem regelmäßigen Verhör ähnelt, erspart geblieben und ich habe sogar gehofft, er vergisst es ganz. Tja, zu früh gefreut.
»Stimmung?«, frage ich und wühle nach sauberer Kleidung im Schrank, wenigstens Kleidung waschen kann die Haushälterin prima.
Sergej zuckt die Schultern und trottet davon. »Gut, für seine Verhältnisse. Aber sprich nicht Anjas Namen aus, der flippt aus, wenn man sie erwähnt«
Ich nicke stumm – das weiß ich bereits – und fummele konzentriert an den winzigen Knöpfen des gebügeltes Hemdes. Mein Vater kann es nicht ausstehen, wenn wir unordentlich rumlaufen, dazu zählen auch tiefsitzende Hosen oder, Gott bewahre, Shirts mit Prints.
Als ich mich ein letztes Mal im Spiegel betrachte, bemerke ich, dass Sergej immer noch an meiner Tür lehnt.
»Ist was?«, will ich unfreundlich wissen und quetsche mich an ihm vorbei in den Gang.
»Ich glaube er hat irgendwas mit dir vor…«, höre ich, aber drehe mich nicht wieder zu ihm um, sondern mache mich auf den Marsch in den Hobbyraum meines Vaters. Die verfluchte Waffenkammer. Und das ungute Gefühl in meiner Magengrube wächst mit jedem Meter, weswegen ich es so lange wie möglich hinauszögere und mein Schritttempo senke, bis ich so lahm bin wie eine Schnecke.
Doch ob ich will oder nicht, irgendwann komme ich an der offenen Tür der Waffenkammer an und trete hinein, ohne mir die Zeit für lange Überlegungen zu lassen.
»Miloslav«, ertönt der Bariton meines Vaters und ich stelle mich aufrecht neben den für mich gedachten Stuhl, bis er mir mit einer Handbewegung zu verstehen gibt, dass ich mich setzen soll.
Von allen aus unserer Familie bin ich ihn am wenigsten ähnlich und Egor dagegen am meisten. Sie haben so ungefähr die gleiche Statur, sehr muskulös – meiner Meinung nach etwas zu viel – und groß, die gleichen kantigen Gesichtszüge und riesige Egos.
Er sitzt mir gegenüber auf einem alten, ledernen Stuhl hinter seinem Tisch aus roten Mahagoni, der voll von auf Glanz polierten Handwaffen ist – eine Makarow, eine Jarygin und viele mehr. Dass die Wände ebenfalls voller verschieden großer Waffen sind, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen und auch nicht, dass das auf alle, die meinen Vater besuchen, einschüchternd wirkt.
»Где ты сегодня был весь день? Я тебя искал« (»Wo warst du heute den ganzen Tag? Ich habe dich gesucht«)
Jetzt muss ich eine logische Geschichte dichten, die erklärt, warum ich heute den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen bin, ohne dass er merkt, dass ich lüge. Bei ihm fällt es mir schwerer.
»Ich habe mit einem Klassenkameraden an einem Projekt für die Schule gearbeitet«, ist das erste und simpelste was mir einfällt. Grummelnd und misstrauisch mustert er mich, als würde er abwägen, ob ich die Wahrheit sage oder nicht. Dabei streicht er über eine TT in einem Waffenständer und lehnt sich dann zurück.
»Ладно. Мы позже поговорим.. У меня есть хорошие новости« (»In Ordnung. Wir reden später…Ich habe gute Nachrichten«)
Gute Nachrichten für mich – mir graut schon davor, was das bedeutet. Unwohl rutsche ich im Stuhl hin und her und umgreife die Armlehnen stärker.
»Tы пойдешь в военную Aкадемию« (»Du gehst in die Militärakademie«)
WAS?!, schreie ich innerlich.
Mein Mund klappt sprachlos auf, indes er mich beobachtet, ein zahnfletschendes Grinsen im Gesicht, und vermutlich erwartet, dass ich erfreut aufjubele oder vor Freude im Raum umherspringe und ihm überschwänglich danke. Aber es ist genau anderes herum – ich falle beinahe vom Stuhl und ringe unauffällig um Beherrschung.
»Was ist?«, fährt er mich an, läuft um den Tisch herum und beugt sich zu mir vor, bis ich seinen Atem spüren kann. »Soll ich in deiner Sprache wiederholen? Oder bist du zu schade dafür? Wenn mein Vater mir sowas gesagt hätte in Russland damals, dann wäre ich glücklich wie ein Hund. Muss nix machen und kriegt alles umsonst«
Er hat so einen schlimmen Akzent, dass einer, der nicht dran gewöhnt ist, sicher kein einziges Wort verstehen würde, aber ich bin damit aufgewachsen. Ich schüttele den Kopf und verziehe keine Miene, sondern blicke standhaft in die zu Schlitzen verengten Augen. In meinem Schädel dagegen überschlagen sich die Gedanken, bis ich das Gefühl habe, er platzt gleich.
»Ich freue mich, Pa, aber sollte nicht Egor dahin? Er trainiert doch schon Jahre dafür«, meine ich monoton und schlucke zur Sicherheit, damit meine Stimme nicht bricht.
Mein Vater verzerrt das Gesicht und richtet sich ruckartig auf, die Hände verschränkt er hinter dem Rücken. »Er hat Theorie nicht bestanden, deswegen bist du« Eine Hand packt mich urplötzlich im Nacken und hält mich eisern fest. Ich spanne die Muskeln dort an, aber trotzdem ist es schmerzhaft, weil seine Finger sich regelrecht in meine Haut bohren – bestimmt gibt das blaue Flecken, die ich erklären muss, wenn später jemand danach fragt.
»Deswegen gehst du. In paar Wochen. Ist das nicht gut?«
Nicken kann ich im Moment nicht, also bringe ich ein knappes „Ja“ heraus.
Genauso urplötzlich lässt er mich los und setzt sich wieder gemütlich auf seinen Stuhl. »Mожеш идти« (»Kannst gehen«)
Langsam schwinge ich mich auf und schlendre unter seinen Argusaugen betont locker aus dem Raum.
Sowie er mich nicht mehr sehen kann, stürme ich bis um die Ecke und lehne mich dann dagegen, den Kopf in die Hände.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, knurre ich und trete gegen die Wand, was allerdings höllisch wehtut und meine Wut und Verzweiflung nur noch größer werden lässt.
Wie soll ich da bloß herauskommen? Gegen meinen Vater kann ich nichts tun.
59, 58, 57, 56, 55, 54, 53…zähle ich gedanklich die Sekunden, die noch zum Schulschluss übrig sind und meine Augen verfolgen wie hypnotisiert den Zeiger, der über der Klassentafel hängenden Uhr, mein Bein zuckt im selben Rythmus. Und dann, endlich, klingelt es erlösend, ich bin der erste, der aus der Tür stürmt und eilends den Schulgang entlang zum Ausgang schreitet.
»Hey, Milo,warte! Wir haben gleich Training, das ist die falsche Richtung«, ruft Reed, mein Klassenkamerad, mir hinterher, aber ich ignoriere ihn und marschiere weiter zu einem bestimmten Klassenraum im anderen Flurgang.
Die leuchtend rote Lockenmähne sehe ich schon von Weitem aus und sie bemerkt mich ebenfalls sofort – sie erscheint mir daraufhin erleichtert, was ich seltsam finde, denn sie kann mich nicht leiden.
»Wo ist Bunny?«, stelle ich ihr unverwandt die Frage, versuche es belanglos klingen zu lassen, doch es gelingt mir nicht so gut wie erhofft, stattdessen klinge ich so gehetzt wie mir zumute ist.
Sie zieht die Augenbrauen finster zusammen und stemmt die Hände in die Hüften. »Wer, bitte?«
Genervt verdrehe ich die Augen und knurre: »Roman! Wo ist Roman, er schwänzt seit zwei Tagen. Das macht er sonst nie« Zur Unterstreichung halte ich ihr zwei Finger vors Gesicht.
Ja, diese Frage stelle ich mir schon genauso lange, weil Bunny normalerweise nie den Unterricht verpasst, er kommt immer – sogar wenn er die ganze Zeit nur vor sich herhusten kann und ihm die Rotze aus der Nase läuft.
»Keine Ahnung, was du meinst…«, sagt sie abwehrend, doch ihre Stimme ist dagegen rau und unsicher.
Mir fehlt wirklich die Geduld für solche Spielchen. »Ach, komm, verarsch mich nicht!«
Ihre Haltung sackt in sich zusammen und ihre Augen füllen sich mit Tränen, was mich zugegebenerweise etwas erschreckt. »Er ist…er…ich habe…«
»Was ist nun? Ist ihm was passiert?« Ich räuspere mich. »Ich meine – er schuldet mir einen Schulaufsatz«
Sina, ich glaube so heißt die Kleine, schlägt mir ihre Faust in die Schulter, und dass doll.
»Jetzt hör auf mit diesem Mist, das macht ihn fertig, weißt du? Bloß weil du nicht zugibst, dass du ihn mehr magst, verschwindet das nicht, es macht die Sache umso komplizierter. Roman verdient was Festes in seinem Leben, er ist der beste, der netteste Mensch, den ich kenne, aber er braucht eben jemanden, auf den er sich verlassen kann und der ihn beschützt. Und ich habe ihm gesagt, er hat was besseres verdient als dich oder – noch schlimmer – diesen verheirateten Typen, der ihn eh nur ausgenutzt hat. Doch hört er auf mich? Nein, natürlich nicht, er ist so verschossen in dich und du leugnest es–«
»Kommst du irgendwann zur Sache?«, unterbreche ich ihren Monolog, der vielleicht sonst nicht geendet hätte. In der darauf folgenden Sekunde wirft sie sich mir aufjaulend um den Hals, sodass ich ziemlich heftig schwanke und ihr überrumpelt auf den Rücken klopfe, da mir sonst nix einfällt.
»Es ist alles meine Schuld! Meine Eltern haben mich unvorhergesehen abgeholt und ich konnte ihn nicht mehr beschützten! Oh, mein Gott, ich hasse ihn, wieso kann er meinen Roman nicht in Ruhe lassen? Er lässt mich nicht ins Haus und niemand geht ans Telefon. Ich darf nicht mal die Polizei dahin schicken, weil Roman nicht will, dass es jemand erfährt. Dieser Scheißkerl hat ihn sicher wieder so doll verprügelt, dass er sich deswegen nicht auf der Straße blicken lassen kann–«
»Was?«, keuche ich und schiebe sie vor mich. »Was hast du gesagt? Verprügelt?«
Sina nickt kläglich und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, was ihre Schminke toll überall verschmiert.
»Roman hat gesagt, ich darf es niemandem erzählen und jetzt habe ich es getan! Ich bin eine miese Cousine!«, heult sie weiter, aber ich lasse sie sich nicht wieder an mich drücken.
Hart schlucke ich und fahre mir durch die Haare, senke meinen Blick, mir wird ein bisschen schlecht. »Ich wusste das bereits, aber…Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist«
»Roman hat es dir verraten?«, schnieft sie das letzte Mal und guckt mich teils ungläubig, teils fasziniert an.
Deswegen hat er also nicht auf meine zwei Anrufe geantwortet. Und ich habe gedacht, es ist, weil er Schiss gekriegt hat…. Sein Vater prügelt ihm möglicherweise die Scheiße aus dem Leib und ich habe bisher nichts getan. Und das ich was tun muss, steht außer Frage.
Irgendwas dringt in mir unversehens nach oben und breitet sich wie ein Virus aus – Wut? Ja, diese Empfindung kenne ich nur zu gut, doch diesmal ist da noch was anderes dabei, weicheres. Entschlossen atme ich ein und aus. Mir ist bereits klar, was ich gleich tun werde.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Sehr überrascht nickt sie.
»Entschuldige mich bei dem Basketballtrainer, erfinde etwas. Ich darf nicht ohne Wort fehlen, mein Vater erfährt das und macht mir die Hölle heiß und das kann ich gar nicht gebrauchen«
Schon rücke ich meine Schultasche zurecht und drehe mich in die entgegengesetzte Richtung.
»Okay, aber wo willst du hin?«, ruft sie, hoffnungsvoll.
Ich lasse das unbeantwortet, denn erstens liegt das auf der Hand und zweitens bin ich zu konzentriert auf die Wut, die mich gerade vorantreibt und sich gleichzeitig auf eine Weise befreiend anfühlt, die ich nicht kenne. Als hätte ich was Wichtiges, Entlastendes, zugegeben – vielleicht ist es ja auch so.
Roman
Ich öffne die Augen, sobald das erste laute Klopfen ertönt und schrecke auf. Was war das? Kommt es von der Haustür? Hört sich so an.
Aufmerksam spitze ich die Ohren und setzte mich im Bett vorsichtig, wegen den geprellten Rippen, auf.
Es klingelt ununterbrochen und gleichzeitig ist da dieses WUM. WUM. WUM. Dreimal hintereinander und es wird stärker und wütender.
Es macht mich neugierig, wer das sein könnte. Unter Schmerzen, auf Zehenspitzen stehe ich auf und schließe meine Zimmertür leicht auf, um durch den kleinen Spalt linsen zu können. Im Flur befindet sich mein Vater und der streckt sich nach oben. Es macht Klick und sofort hört das Klingeln auf – er hat die Klingel ausgeschaltet.
»Verdammt! Ich weiß genau, dass da jemand ist! Wenn die Tür nicht sofort aufgeht, trete ich sie ein, ich schwöre es!«
Diese Stimme, sie scheint mir bekannt, bloß durch die Tür wird sie verzerrt.
»Wer ist da?«, brüllt mein Vater zornig und schnappt sich einen metallenen, langen Schuhlöffel von der Kommode.
»Jemand, der dir zeigen will, was ein richtiger Gegner ist, du dreckiger Sack!«
»Achja!?«
Oh, mein Gott! Ich weiche zurück und falle beinahe nach hinten. Mein Herz stockt wie ein alter Motor, sowie auch mein Atem, alles dreht sich vor meinen Augen, mir wird schwindelig vor Panik, weil ich die Person erkannt habe. Es ist Milo! Milo ist es und er will hier rein! Er darf mich auf keinen Fall so sehen! Niemals! Ich kann nicht zulassen, dass er hier rein gelangt.
Ich reiße die Tür ganz auf und krächze: »Mache nicht auf, Dad!«
Der dreht seinen Kopf zornig zu mir, wedelt mit dem Schuhlöffel und trifft aus Versehen den Hängespiegel an der Flurwand. Krachend zerbricht dieser, alle Scherben verteilen sich laut klirrend auf dem Boden.
»Bunny? Ich zähle bis drei und dann breche ich die Tür ein!«
Er meint es ernst. Was soll ich tun?
Mein Erzeuger guckt sich um und zeigt mit dem Löffel auf mich.
»EINS!«
»Guck dir diese Schweinerei an! Das ist deine Schuld, denkst du, ich hab das Geld, einen neuen Spiegel zu kaufen?« Danach wendet er sich wieder der Haustür zu und klopft mit dem Ding dagegen. »Hier wohnt kein Bunny!«, schreit er.
»ZWEI!«
»Ich zeige ihm gleich, mit wem er sich hier anlegt«, grummelt mein Dad und dreht den Schlüssel um.
»Nein!«, versuche ich ihn aufzuhalten und strecke hilflos die Hand aus – aber es ist zu spät, die Tür wird aufgeschleudert und ein total wütender Milo stürzt herein. Der erste, auf wen seine Sicht fällt, bin leider ich und in seinen Augen verändert sich in diesem Augenblick einiges, schwer zu sagen was es ist, weil mein Vater sich vor Milo stellt und höhnisch grölt:
»Na, komm her Freundchen, oder hast du dazu nicht die Eier?«
»Du mieses Stück Dreck!« Milo holt weit aus und knallt ihm seine Faust mit so einer gewaltigen Wut und Kraft ins Gesicht, dass das Blut auf die weiße Wand spritzt und mein Vater zur Seite kippt, direkt in die Scherben. Er bewegt sich nicht mehr.
Und ich verkrampfe mich, hyperventiliere, kann nicht begreifen was grad geschehen ist, kann mich auch nicht rühren – nur auf den Körper vor mir starren, ohne zu blinzeln. Das Geräusch von brechenden Knochen, Kieferknochen, hallt mir in den Ohren wieder und ich merke, dass ich angefangen habe zu beben. Aus welchem Grund macht Milo das alles? Warum?
»Arschloch. Jetzt tut mir die Hand weh«, faucht Milo, sich die Handknöchel reibend, spuckt auf den Boden und kickt ihm einmal in die Rippen, sodass die Scherben meinem Vater die Arme aufritzen – das erinnert mich an die vielen Male, als ich an der Stelle meines Vaters war und er an Milos. Ich habe mich genauso wenig gewehrt wie er jetzt.
Und dieses Blut zu sehen, welches aus seinen Wunden quillt, erfüllt mich mit einer Art Befriedigung, die mich anekelt, doch abwenden kann ich mich dennoch nicht.
»Ist er tot?«, fragt jemand in den Raum, obwohl die Frage Blödsinn ist, und erst als Milo mich erstaunt anschaut, wird mir bewusst, dass ich das war.
»Nein, er ist bloß k. o. Wäre er sowieso bald, er stinkt wie ne ganze Spelunke. Du hättest ihm längst eine mit ner Bratpfanne rüberziehen können«
Ja, hätte ich…würde ich…könnte ich…
Mit einem Ruck erwache ich wie aus einer Trance und lande in der Realität, richte mich aus der zusammengesunkenen Haltung auf, ausdruckslos seinen Blick erwidernd. »Und du hättest das nicht machen müssen. Keiner hat dich gebeten oder gezwungen. Ich hätte das auch ohne dich geschafft«
Ich mache einen Schritt rückwärts in mein Zimmer und knalle die Tür zu, stemme meine Arme dagegen, in Erwartung, dass Milo sich reindrängt, doch das tut er verwunderlicherweise nicht.
Am liebsten will ich losheulen wie ein Baby, doch Milo ist noch da und ich möchte nicht, dass er das mitkriegt – er hat schon genug von meiner Schwäche gesehen.
Es klopft leise an der Tür, ein komischer Kontrast zu der Art, wie er vorher geklopft hat.
»Bunny, so meinte ich das nicht. Mach mal auf«
»Nein, natürlich nicht! Alle denken ich bin schwach und muss beschützt werden, aber ich schaffe das allein! Ich brauche niemandes Hilfe! Auch nicht deine!«, behaupte ich heiser und nun laufen doch Tränen aus meinen Augenwinkeln, bleiben am Kinn hängen, bis sie von dort auf mein T-Shirt tropfen und kleine Flecken hinterlassen. Oh, Mann, nie kann ich meine Vorsätze einhalten, ich bin so ein Schwächling! Kein Wunder, dass Milo sich genötigt fühlt, mir zu helfen.
»Roman…«, sagt Milo einfach und allein mein ausgesprochener Name lässt mich scharf Luft holen. »Hör zu. Ich habe dir nicht geholfen, weil ich denke, du bist zu schwach und packst es selbst nicht, sondern weil…«
Weil du mich liebst? Bitte, bitte sag es, bettele ich innerlich. Er soll es sagen und dann würde alles besser werden.
»Weil ich nicht will, dass dich jemand verletzt, okay?«
Enttäuscht schließe ich die Augen und schluchze erstickt auf. Aber andererseits kann man es auch fast mit einer Liebeserklärung vergleichen. Oder ich bilde mir zu viel ein? Ja, das ist wohl glaubhafter.
»Jetzt schließ auf, Bunny, oder ich mache meine Drohung doch war und breche heute noch eine Tür auf«
Nochmal ein leichtes Klopfen und als ich mein Ohr an das Holz drücke, höre ich ihn atmen. Drückt er sein Ohr auch dagegen?
Meine Hände heben sich wie von selbst zur Klinke und drehen sie nach rechts, knarrend schwingt die Tür auf und wir stehen uns nun gegenüber. Eigentlich wünsche ich mir nichts mehr, als mich ihm um den Hals zu werfen und ihn nie wieder loszulassen, doch ich schaffe es, mich zu beherrschen.
Ein Anflug von Erschrecken huscht über seine Miene, als würde er zum ersten Mal mein in Mitleid gezogenes Äußeres erblicken. Trotzig wische ich mir über die nassen Augenlider und ziehe die Nase hoch.
»Meinst du nicht, wir sollten uns vom Acker machen?«, fragt er und deutet hinter sich, ein verwackeltes Grinsen auf seinem Mund.
»Wohin denn?«
Ich kann nicht umhin, mutlos zu klingen. In den letzten zwei Tagen ist einiges schief gelaufen und ich war schließlich sogar bereit aufzugeben. Nun wird mir kotzübel bei dem Gedanken, noch länger hier fest zu sitzen.
»Du kommst zu mir«
Milo spricht es so aus, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt und ich glotze ihn an. Ist das sein Erst? »Was?«
»Du hast schon richtig verstanden. Wir haben eine Menge unbenutzter Zimmer, also…« Unsicher fährt er sich durch die Haare, was ich süß finde.
»Aber–«
»Nichts aber. Du kommst zu mir und Punkt«, unterbricht er mich aufeinmal scharf, fast wütend, und ich wundere mich. Seufzend tritt Milo an mich heran und nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, dreht mein Gesicht hin und her.
»Es gab schon schlimmeres«, spiele ich es herunter und versuche mich schief lächelnd zu befreien. Ich kann es nicht haben, wenn man mich bemitleidet und das tut er seinem Ausdruck nach.
Doch Milo lässt mich nicht gehen, sondern beugt sich stückweise zu mir runter, bis unsere Lippen sich am Ende treffen und ich schließe die Augen.
Ich lege meine Hand auf seine Wange und streiche zärtlich über die kurzen Bartstoppeln. Mit den Fingern kralle ich mir ein Stück Stoff seiner Jacke und balle meine Faust darum, da ich einfach diesen Beweis brauche, dass ich es nicht träume. Der Kuss ist kurz, viel zu kurz, seine Zunge fährt nur für ein paar Sekunden über meine spröden Lippen und ich spüre nur kurz seinen warmen Atem an meinem Gesicht. Nachdem er sich von mir löst, schließt er mich in seine Arme, in denen es warm und sicher ist. Erleichtert atme ich seinen Geruch ein.
»Scheiße, wieso hast du nie erwähnt, dass es so schlimm ist? Wir hätten längst was tun können«
»Wir?«, hacke ich nach, doch er entgegnet nicht mehr.
Stattdessen umfasst Milo meinen Nacken und presst mich fester an sich – ich unterdrücke ein schmerzhaftes Keuchen, weil mein ganzer Körper im Prinzip mit Prellungen und blauen Flecken übersät ist.
»Danke«, murmele ich in seine Halsbeuge und lege so viele Empfindungen wie möglich in dieses Wort. Er soll wissen, wie dankbar ich bin, dass er mich wie in einem Märchen gerettet hat und mich mit sich nimmt.
»Das wird er nie wieder machen«
Bloß schade, dass wir nicht in einem Märchen sind.
»Schsch, mach nicht so einen Krach! Mein Vater ist zu Hause und der hat Ohren wie eine verdammte Fledermaus«, zischt Milo mir zu und steigt weiter die Treppe der Tiefgarage hoch. Nach jedem Schritt muss ich leise aufstöhnen, da es einfach zu sehr schmerzt und die Reisetasche, die um meinen Oberkörper befestigt ist, rutscht ständig herunter. Mittlerweile bereue ich es, mich geweigert zu haben, diese Milo zu übergeben.
»Ich mache doch nichts!«, flüstere ich zurück und verlagere mein Gewicht auf das andere Bein. Abschätzend schaut er an mir herunter und ehe ich es verhindern kann, geht er in die Hocke und hebt mich mühelos Huckepack.
»Spinnst du?«, empöre ich mich und zappele unwillig, worauf er meine Beine fester um seine Mitte schlingt. »Nicht so doll drücken, Milo!«
»Halt deinen hübschen, weichen Mund«, japst Milo. »Und übrigens erwürgst du mich gleich«
»Oh…entschuldige«, murmele ich, lockere meinen Griff um seinen Hals und beiße die Zähne zusammen, weil das Stechen in meinen Rippen und meinem Rücken trotzdem so stark brennt wie flüssiges Feuer. Ich wäre ja zum Arzt gegangen und hätte die Verletzungen als Folge eines Unfall erklären können, aber mein Vater hat mich zuerst nicht gelassen und jetzt habe ich auch nicht mehr die Nerven dazu.
Er trägt mich so die Treppe hoch und die Gänge entlang, rückt mich mehrmals zurecht. Sobald wir bei seinem Zimmer ankommen, stellt er mich ab und holt einen Schlüssel aus der Hosentasche. Verwundert beobachte ich das. »Du schließt dein Schlafzimmer zu?«
»Ja, damit die Haushälterin nicht alles durcheinander bringt mit ihrer Ordnung, sie kann nicht die Finger davon lassen«
»Klar, dein Zimmer ist doch der feuchte Traum aller Haushälterinnen« Der Dritte, der sich unauffällig herangeschlichen hat – Sergej – lacht auf und Milo fällt vor Überraschung der Schlüssel aus der Hand. Mit gepressten Lippen hebt er ihn wie in Zeitlupe auf und wirft seinem Bruder einen finsteren Blick zu.
Dieser grinst nur und nickt mir zu, doch als er länger hinsieht, weiten sich plötzlich seine Augen.
»Heilige Scheiße! Bist du von Milos Motorrad überfahren worden?«
»Kümmere dich um deine eigenen Sachen«, faucht Milo ihn an, schiebt mich und sich sogleich in das mittlerweile offene Zimmer, doch bevor er hinter sich abschließen kann, verhindert es Sergej mit seinem Fuß.
»Er bleibt länger hier?« Stirnrunzelnd zeigt er auf meine Tasche, die ich gerade abgeworfen habe und zieht eine Augenbraue hoch. »Du bist wohl lebensmüde geworden. Hast du vergessen, dass unser liebreizender Vater zu Hause ist? Was ist, wenn er dir einen unerwarteten Besuch abstattet und ihr grade mitten in eurer–«
»Lass das mein Problem sein, okay? Geh Daddy Kaviar holen oder was auch immer du den ganzen Tag treibst!«
Milo stößt ihn durch den Spalt zurück und schlägt schlussendlich die Tür zu.
Ich krame derweil das geschenkte Handy aus der Tasche, das die letzten Tage ausgeschaltet war, da Sina mich sonst totgeklingelt hätte, und wähle ihre Nummer.
Während ich also all meine Überredungskunst aufbieten muss, um meine Cousine davon abzuhalten, auf der Stelle hierher zu stürmen, bemerke ich nebenbei, dass Milo seinen Plasmafernseher einschaltet und irgendeine DVD in die Öffnung an der Seite reinsteckt. Auf dem Bildschirm erscheint der Titel eines Filmes: „The Raid“
»Sina, bitte weine nicht mehr, lass uns morgen treffen und wir reden über alles, gut?…Nein, ich gebe dir mein Wort, dass ich in Ordnung bin.…Hm…Ich werde da nicht so bald wieder hingehen…Danke, du bist die einzige, die sich daran erinnert hat.…Ja, klar – mit Milo…Ich liebe dich auch. Bis morgen«
Ich schalte seufzend das Handy aus.
Nun werden mir erneut meine Prellungen bewusst – es ist schlimmer als zehn Muskelkater gleichzeitig. Ich kann von Glück reden, dass mein Vater mir keine Knochen gebrochen hat und ich danach die Chance hatte, sofort alles zu kühlen, während er seinen Rausch auf der Wohnzimmercouch ausschlief und meine Mutter sich nach wie vor in ihrem Raum verbarrikadierte.
Diese düsteren Gedanken schnell abschüttelnd, stelle ich verblüfft fest, dass Milo sich bereits auf seinem Bett gemütlich gemacht hat und mich mustert. »Woran denkst du?«
»An meinen Vater. Er hat meinen Geldvorrat entdeckt und ist ausgeflippt, weil ich alles für mich behalten habe, obwohl wir knapp bei Kasse sind«
Keinen Schimmer weswegen ich ihm das erzähle – ich spüre den Drang dazu ihm meine verkorkste Familiensituation wenigstens ein bisschen verständlicher zu machen.
Er nickt, auch wenn er theoretisch gar nicht verstehen kann, wie es ist, nicht genug Geld zu haben und ständig darum bangen zu müssen, dass das letzte davon versoffen wird. Egal.
»Alle Väter sind Scheiße, dagegen kann man nicht viel tun – höchstens abhauen. Oder wie gesagt: Du ziehst ihm eine mit der Bratpfanne über«, und damit ist alles geklärt, ich fühle mich besser, erleichtert, dass er nicht mehr fragt, muss überdies lächeln. Wie kann es sein, dass ich ihn früher gehasst habe? Diesen perfekten Mund, die eisblauen Augen, die gar nicht so eisig sind, wenn sie auf mich gerichtet sind und seine gesamte Art. Wie ist es möglich, dass allein seine Stimme mich schon aufheitert und mir bei seinem intensiven Blick der Atem stockt? Das ist doch nicht normal.
»Oh, es fängt an! Schwing deinen Arsch hierher, Bunny, der Film ist der Hammer!«
Nur zu gerne folge ich seiner Aufforderung, werfe meine Schuhe ab und lege mich dicht neben ihn aufs Bett. Wir liegen eine Weile so nebeneinander, ruhig. Milo ist völlig auf den jungen Mann im Film fokussiert, bei dessen Kampftechniken er sich manchmal einen bewundernden Ton nicht verkneifen kann und registriert gar nicht, dass ich nicht aufhören kann, ihn zu betrachten.
»Was ist? Bin ich interessanter als der Film?«, grinst er jedoch wie aus heiterem Himmel und ich zucke mit den Schultern, gucke hastig auf den Bildschirm.
»Ich bin kein großer Fan von Martial-Arts-Filmen«, gebe ich ehrlich zu und grinse ebenfalls. »Wie wäre es mit „Requiem for a Dream“?«
»Ist es dieser Film mit Jared Leto? Einer der Lieblingsfilme von Sergej. Vergiss es«, schnaubt Milo und zeigt mir den Vogel, wobei er seine Augen nicht vom Film abwendet.
Ich bin einige Minuten stumm und denke nach. Soll ich es ihm verraten?
»Heute ist mein Geburtstag«, lasse ich in den Raum fallen und muss fast auflachen, als Milo sich ruckartig aufsetzt und mich anglotzt. »Ohne Witz?«
»Ja. Jetzt bin ich offiziell volljährig«
Bloß ist mein Geburtstag nicht so verlaufen, wie ich es mir seit Jahren vorgestellt habe – an diesem Tag wollte ich meinen Geldvorrat schnappen und von zu Hause abhauen und nie wieder zurückblicken. Und nun bin ich hier. Aber unbedingt schlechter ist es ja nicht.
»Ehm…Dann hole ich den Film aus Sergejs Zimmer, er wird sicher nichts dagegen haben«
»Nein«, halte ich seinen Arm fest. »Bleib einfach hier«
»Okay«, entgegnet Milo, das Wort extra lang ziehend, und legt sich dahin, wo er vorher war.
Es schleicht sich eine Stille ein, die aber angenehm ist, und bloß das Keuchen und Schreien der kämpfenden Männer ist zu hören. Wie kann man so einen Mist mögen? Da ist überwiegend Gewalt, ohne großartige Story – Milo ist begeistert und als er mal wieder auflacht bei einem besonders gewalttätigen Hieb, schiebt er zugleich mir nichts, dir nichts seinen rechten Arm unter mich. Zuerst bin ich zu erstaunt, um mich zu bewegen, doch dann platziere ich meinen Kopf auf seine Brust und er rückt mich näher zu sich. Heimlich bildet sich auf meinem Mund ein Lächeln – sein Herz schlägt zu unkontrolliert dafür, dass wir nichts anderes tun, als dazuliegen.
Ich stoße leise die unwillkürlich angehaltene Luft aus und meine flach ausgebreitete Hand rutscht zögernd auf seinen Bauch, wo seine Linke schon ruht. Unsere Finger verschränken sich fest und bleiben so.
Gott, wie kann sich das so aufregend anfühlen? Etwas warmes und angenehmes füllt mich aus und ich vergesse meinen pochenden Brustkorb.
»Alles Gute, schätze ich«, räuspert sich Milo und küsst mich auf die Haare, ich kann sein Grinsen praktisch vor mir sehen.
»Geht's noch? Was–? Bunny! Bunny, wach auf!«
Jemand packt mich an beiden Handgelenken und drückt mich von oben auf die Matratze. Das nehme ich wahr, und dass mein Herz aus irgendeinem Grund unglaublich rast. Verwirrt blinzelnd öffne ich die verschlafenen Augen und über mir ist Milo – ein wütender, zerzauster Milo. Die Reste des Albtraums flimmern noch vor mir und ich verscheuche sie.
»Was ist los?«
»Was los ist? Du hast mich im Schlaf geschlagen und beschimpft« Mit ungläubiger Miene stiert er auf mich herunter und das durch die Schlitze der Jalousie einfallende Sonnenlicht offenbart mir, dass er nackt ist.
»Tut mir Leid, das war nicht absichtlich«, nuschle ich beschämt, er lässt mich frei und glättet seine wirren Haare, als er sich mit dem Rücken zur Wand setzt und ich tue das gleiche. Ich überlege, ihm zu erzählen wovon oder von wem mein Traum gehandelt hat, doch ich traue mich nicht und es ist mir so peinlich, dass ich nicht mal Sina davon erzählt hätte, wäre sie hier an seiner Stelle gewesen. Es ist so jämmerlich, es tut beinahe weh.
»Wieso schläfst du immer nackt?«, spreche ich hohl das Erste aus, was mir in den Sinn kommt, um ihn davon abzuhalten, die Fragen zu stellen, die ihm sicher auf der Zunge liegen.
»Wieso nicht? Ich habe nichts zu verbergen, oder?« Demonstrativ schlägt er die sich in unseren Füßen verhedderte Decke zurück und ich sehe schnell aufwärts in sein amüsiertes Gesicht. Wie kann man nur so schamlos sein?
»Nein, aber–« Ich weiß nicht, was ich sagen kann, ohne wie ein verklemmter Idiot zu klingen, also breche ich den Satz ganz ab und schweige.
»Ist es dir unangenehm? Soll ich mir etwa ein Pyjama anziehen?«, grinst Milo und ich lasse einen Stoßseufzer aus.
»Ach, schlafe doch wie es dir passt, ist mir egal«
Ich habe auch nichts dagegen, dass du dich im Schlaf nackt an mich presst, hätte ich dazufügen können.
Apropos Schlafen: »Wie ist es dazu gekommen, dass ich meine Hose nicht mehr anhabe und es schon Morgen ist?«
Ich habe allen Ernstes erst jetzt gemerkt, dass ich bloß in Shirt und meinen Boxershorts bin – normalerweise habe ich doch einen leichten Schlaf und hätte sofort mitgekriegt, wenn mich jemand ausziehen würde.
Er wird auf einmal ernst und zuckt die Schultern. »Du warst so fertig, dass du beim Film eingeschlafen bist und ich dich gar nicht mehr wach kriegen konnte« Milo macht eine Pause und räuspert sich. »Es geht mich zwar nichts an, aber…diese blauen Flecken, die du am ganzen Körper hast – das muss höllisch wehtun…macht er das öfter?«
Unangenehm berührt zerre ich die Bettdecke zu mir und schlinge sie um mich, somit kann er wenigstens die riesigen Verfärbungen an meinen Beinen nicht weiter anglotzen.
»Nein, so arg nicht. Und nie ins Gesicht…er war diesmal einfach wütend, wegen des Geldes«
Oh, Gott es ist ja beinahe so, als würde ich versuchen, ihn zu verteidigen! Das darf ich nie wieder machen.
Noch nachdenklicher als vorher kaut Milo auf der Innenwange und die Finger seiner rechten Hand trommeln auf der Matratze.
Bilde ich mir das ein, oder ist mit ihm etwas nicht in Ordnung? Definitiv nicht. Ihm liegt etwas auf dem Herzen, schon seit gestern Abend. Sobald ich diesen Gedanken formuliert habe, setzt er leise an: »Ich muss dir was erzählen«
»Okay«, dehne ich es aus und spiele meine Nervosität herunter, weil mir sein Ton wirklich nicht gefällt. Wird er womöglich sagen, dass ich verschwinden muss und doch nicht bei ihm bleiben darf?
Eine Weile starrt er mir direkt in die Augen und öffnet mehrmals den Mund ohne zu reden. Dann schnauft er und ich ziehe die Decke instinktiv enger um mich, als ob mich das vor seinen Worten schützen würde.
»Vielleicht ist es dir auch egal, keine Ahnung, jedenfalls hat mich mein Vater letztens zu sich gerufen und er hat mir gesagt, dass…mein Vater hat–«
»Morgen, mein Sonnenschein–…Hallo? Milo, Schatz, wieso hast du die Tür abgeschlossen? In diesem Haus wird nicht abgeschlossen! Geht es dir gut?«, wird Milo unsanft unterbrochen und wir beide schrecken zusammen und wenden unsere Köpfe zur Tür, dessen Klinke sich ab und auf bewegt.
»Oh, Shit!«, zischt er, springt flink auf und nimmt meinen Arm. »Los, los! Du musst dich irgendwo verstecken!«
Er schiebt mich in Richtung seines Schranks, aber ich protestiere: »Meine Sachen liegen noch überall herum!«
»Miloslav? Ist da jemand bei dir? Ein Mädchen?«, tönt wieder die Frauenstimme und die Klinke hüpft stärker. »Lass mich mal rein, Schatz, ich will nur Hallo sagen! Das ist aufregend, du hast noch nie ein Mädchen hergebracht«
Milo schließt für eine Sekunde die Augen und wechselt dann abrupt seinen Kurs, um stattdessen meine Hose aufzuheben und sie mir entgegen zu werfen. Hastig sich selber ankleidend gestikuliert er zum Badezimmer.
»Geh ins Bad und mach die Dusche an, los!«
Verdattert folge ich seiner Anweisung und stolpere schleunigst ins Bad, die Tür schließe ich, schalte das Wasser an und gehe folglich in die Knie. Durch das kleine Schlüsselloch kann ich beobachten, wie Milo im Zimmer aufschließt und eine aufgetakelte Frau reinstolpert, in einem zum Schreien gelben Hosenanzug.
Das Wasser im Hintergrund erschwert es zwar, jedoch kann ich alles hören.
Er macht der Frau widerwillig Platz und ich kann sie nicht mehr ausmachen, da sie außerhalb meines möglichen Blickfelds ist.
»Wehe es ist wieder, weil du mir deinen Schmuck zeigen willst, den Dad dir geschenkt hat«
»Nein, ich bin nicht deswegen hier. Wo ist denn dein Mädchen?«
Milo stöhnt genervt. »Verdammt, ich habe hier kein Mädchen, nur…«, er zögert kurz und linst unauffällig zur Badezimmertür. »ein Kumpel hat hier übernachtet, weil es gestern mit dem Lernen spät geworden ist. Eine Kennernlernrunde kannst du dir abschminken«
Seine Mutter tritt dem Bad entgegen und schürzt die Lippen. »Ein Spielverderber bist du. Ich hoffe, es ist nicht dieser dürre Junge, mit all den Ketten um den Hals? Er war letztes Mal ganz schön unverschämt, hat meinen lieben Maxi angebrüllt, als wäre er irgendein lästiger Straßenköter«
»Nein, es ist Einer aus meiner Klasse, den kennst du nicht, alles klar?«, antwortet er und verbirgt gar nicht erst, dass seine Mutter ihm zutiefst auf die Nerven geht. Und obwohl ich weiß, dass es dumm von mir ist, fühle ich eine bekannte Enttäuschung aufsteigen, weil er ihr nicht mal meinen Namen verrät.
»Ich kenne jeden deiner Klassenkameraden, Schatz, ich bin schließlich im Elternbeirat!«
Überdeutlich schnappt Milo sich die Tür und hält diese für sie weit auf. »Ma«
Sie seufzt und zupft an ihrer Hochsteckfrisur, die schwarzen Haare sind streng nach hinten gekämmt. »Also schön! Ich bin wegen zwei Gründen hier. Erstens: Ich habe eine freudige Nachricht! Dein Vater bleibt eine Woche länger und er hat einem Abendessen mit Anja zugestimmt. Ist das nicht wunderbar?« Lächelnd klatscht sie in die Hände und wartet offenbar darauf, dass ihr Sohn ihre Freude teilt. Doch Milos Miene bleibt ausdruckslos, bloß ein Zucken seines Kiefers verrät, dass er nicht so erfreut ist wie sie. »Wars das? Weil im Gegensatz zu anderen Leuten hier, habe ich an einem Morgen etwas zu tun, außer mich aussehen zu lassen als wäre es Fasching«
Nun legt seine Mutter unerwartet sanft ihre knallpink manikürten Hände auf Milos Wangen. »Hast du jemals gute Laune, Schatz? Du bist wie ein Grummelbär. Aber«, sie drückt ihm einen Kuss auf seine Stirn auf und hinterlässt dort einen Lippenstiftfleck. »ich liebe dich trotzdem«
Milo befreit sich und sein Blick fällt nochmals zur Badezimmertür, errötend.
»Ich wollte dich eigentlich auch zum Frühstücken rufen, vor der Schule können wir doch alle gemeinsam essen! Regina hat russische Eier gemacht und es gibt frische Croissants, die magst du doch so sehr, nicht wahr? Lade deinen Freund ein.«
»Er mag keine Croissants«, brummt Milo abweisend.
Genau in diesem Augenblick fliegt mir die Kontaktlinse aus dem Auge und ich gebe ein unbeabsichtigtes Geräusch von mir. Halb Winseln, halb Keuchen.
»Was macht er denn da? Ist ihm übel?«, fragt Milos Mutter auch schon.
»Ja, er–«
»Alles okay!«, rutscht es mir raus und bereue es danach zutiefst.
Ich höre ihre klakenden Schritte und taste wie besessen, auf den Knien, den Boden vor mir ab, um das blöde und leider auch sehr teure Ding wiederzufinden. Es ist nicht hilfreich, dass dabei jetzt ein Auge alles verschwommen sieht.
»Geht es dir gut da drin?« Sie muss wohl direkt hinter der Tür sein, denn ich höre ihre Stimme klar und deutlich.
»Ja, ja! Ich habe bloß…eine Kontaktlinse verloren«, sage ich ihr die Wahrheit – es macht sowieso keinen Sinn mehr so zu tun, als würde ich immer noch duschen.
»Willst du nicht aufmachen? Ich kann dir doch helfen«
Das möchte Milo bestimmt nicht. »Oh, nein…nein…machen Sie sich keine Mühe, ich schaffe das schon allein«
Von wegen, ich werde die Kontaktlinse garantiert niemals wiederfinden und eine Neue kann ich mir nicht leisten.
»Ja, Ma, hast du gehört? Er schafft es allein!« Milo ist ebenfalls näher gekommen und es hört sich an, als würde er sie wegschieben, denn ihre Schuhe klacken unbeholfen über den Boden.
»Geh doch ohne uns runter, Ma, wir kommen vielleicht später«, sagt er lieblich.
»Versprochen?«
»Mal gucken« Und dann knallt die Tür zu und demzufolge wird die des Badezimmers aufgerissen. Ein Blitze sprühender Milo baut sich vor mir auf. Ich gebe es auf zu suchen und erhebe mich, schuldig blickend. Das Duschwasser läuft ununterbrochen im Hintergrund.
»Ich kann Lauscher nicht leiden«, knurrt er.
»Da gab es nicht viel zu lauschen«, gebe ich trotzig zurück und klopfe meine Knie ab, als wäre sie dreckig.
»Du hast es versaut! Keiner hätte gemerkt, dass du hier bist, wenn du nicht so viel gelabert hättest, als sie rein wollte!«
So grob ich kann stoße ich ihn zur Seite und schlüpfe in meine Hose, was ich vorher einfach vergessen habe. »Tut mir ja Leid, dass ich dir solche Probleme mache! Ich verschwinde ja schon!«
Er hebt eine Augenbraue und folgt mir. »Sie weiß jetzt, dass du da bist und wird es jedem in diesem Haus auftischen. Wir müssen eine simple Erklärung finden, warum du hier länger übernachtest«
»Länger?«, keuche ich überrascht. »Heißt das, du schmeißt mich nicht raus?«
Milo grinst kopfschüttelnd, seine Hand fährt mir durch die Haare und stoppt im Nacken, er zieht mich näher.
»Ich lass mir deine nächtlichen Prügelattacken doch nicht entgehen«
Wir hören im gleichen Zeitpunkt die unverwechselbaren Schritte und Milo springt so schnell und so weit es ihm möglich ist von mir weg.
Seine Mutter erscheint im Türrahmen und lächelt überlegen. »Schatz, ich habe gedacht, ich warte lieber auf euch, weil du sonst verschwindest…Oh, du bist der kleine Tirell, nicht wahr? Ich wusste nicht, dass ihr befreundet seid« Auffordernd schaut sie zwischen uns hin und her und wedelt mit den Händen. »Also los, beeilt euch, wir gehen Frühstücken! Und ich bewege mich hier nicht weg, bis ihr mitkommt! Los, los! Ich möchte nicht, dass Milos Vater warten muss«
Milo und ich wechseln einen Blick und seiner wirkt so, als würde sein Albtraum wahr werden.
»Sag nichts, sitz einfach da und falls sie dich was fragen, antworte ich für dich, kapiert?«, hatte Milo mir vorher warnend ins Ohr gezischt und ich hatte bis jetzt keine Probleme damit. Doch diese Blicke, die ausnahmslos alle immer wieder auf mir kleben, spüre ich förmlich körperlich. Ich rutsche in meinem Stuhl ungemütlich hin und her, traue mich auch nicht, die Augen zu heben.
Am Tisch sitzt Milos ganze Familie, außer seiner Schwester, und ich bin hier der Fremdkörper, der überhaupt nicht her gehört. Ich bin wirklich froh, dass ich meine alte Brille anhabe – denn wie komisch es klingt – sie gibt mir eine Art Schutz, mit ihr auf der Nase habe ich etwas, wohinter ich mich verstecken kann.
Zu meiner Verwunderung ist es jedoch nicht totenstill oder allzu verkrampft. Sie reden normal miteinander, die Mutter plappert unbekümmert mit mir über ihren Hund, der Maxi heißt, fragt mich, ob mir auch alles gut schmeckt und ob mir ihre Besteckwahl gefällt. Sergej, der neben mir hockt, wirkt, ebenfalls wie seine Mutter, locker und gut drauf. Der große Schwarzhaarige, Egor, wie ich erfahren habe, unterhält sich ernst mit einem älteren Mann, Milos Vater augenscheinlich. Dieser hat grau meliertes Haar und eine verkniffene, unterschwellig irgendwie aggressive Ausstrahlung – die Narbe, die horizontal über seine Kehle verläuft, verstärkt den Eindruck noch um mindestens das Doppelte. Außerdem sind seine Augen am präsentesten von allen – jedes Mal, wenn sie auf mir liegen, durchbohren sie mich wie stumpfe Dolche und jetzt verstehe ich auch, was Milos Schwester damit meinte, als sie sagte, dass sich viele vor ihm fürchten. Ich gehöre nun dazu.
Was mich an dieser ganzen Geschichte erstaunt, ist, dass kein einziger mich auf meine offensichtlichen Verletzungen anspricht oder gar erkennen lässt, dass er es bemerkt.
Ist es Höflichkeit oder Gleichgültigkeit?
Irgendwann in der Zeit, in der ich das außerordentlich leckere Frühstück in mich schaufele und Milos Mutter ausführlich über Milos und mein imaginäres Referat zum Thema Armut in Industrieländern berichte, spüre ich das bestimmte Kribbeln. Dieses Kribbeln sagt mir, dass mich jemand anstarrt und sobald ich vorsichtig aufblicke, finde ich auch heraus, wer. Erneut der Oberhaupt dieser Familie.
Nebenan stößt Sergej mir seinen Ellenbogen in die Rippen und murmelt aus dem Mundwinkel: »Antworte auf seine Fragen und bloß nicht lügen, man könnte meinen, er kann es riechen«
Ich habe keine Ahnung was genau er damit meint – es klingt geradezu nach einer Warnung. Doch ich habe keine Zeit länger darüber nachzudenken, weil ich angesprochen werde – zumindest nehme ich das an.
»Also, wer bist du genau, сосунок?«
Wie auf Knopfdruck sind alle still und aller Aufmerksamkeit ist auf mir, außer Milos. Und obwohl ich das letzte Wort keiner Sprache zuordnen kann, nehme ich mal an, das es Russisch ist und freundlich klingt es gar nicht. Das bestätigt auch Milos Reaktion – er hockt mir gegenüber und sein Messer kratzt daraufhin scharf über den Porzellanteller, seine Anspannung erkenne ich sofort. »Dad«, beginnt er, doch eine Handbewegung seines Vaters stoppt ihn. »Ich rede nicht mit dir«
Ich schlucke den restlichen Brocken Essen herunter und räuspere mich. »Ehm…ich heiße Roman–«
Der Mann hat sich den Mund mit einer Stoffserviette sauber gewischt und seine Augen weichen keine Sekunde von meinen, als er mich seelenruhig unterbricht. »Und was machst du in mein Haus, an meinem Tisch? Ich kenne dich nicht«
Ich verstehe nicht, was dieser Mann mir sagt, sein Akzent ist viel zu hart. Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und werfe einen fragenden Blick zu Milo, dessen Universum sich aber anscheinend auf sein Teller begrenzt hat.
Nochmal setze ich an, diesmal schon eingeschüchterter: »Ich–«
»Ich mag keine Fremden, die sich eindrängen in mein Haus, ohne meine Erlaubnis«
Die Wörter „Fremder“ und „ohne meine Erlaubnis“ kann ich noch rausfiltern und meine anschließende Vermutung worum es hier geht, ist verständlicherweise nicht positiv. Er will nicht, dass ich hier bin.
Ich sollte ihm vielleicht etwas Nettes sagen. »Herr Titow–«
Als würden seine Ohren meine mittlerweile dünne Stimme überhaupt nicht empfangen, fährt er fort: »Hat dir mein Essen geschmeckt? Hat es dir gefallen in meinem Haus zu schlafen?«
»Ja…«, antworte ich hohl.
»Schön für dich, und raus«
Das scharfe "Raus" ist mehr als deutlich. Ungläubig sehe ich wieder zu Milo rüber – er soll mich endlich angucken!
Meinen Blick umherschweifend, versuche ich herauszufinden, ob ich dem Befehl folgen muss oder ob das ein makaberer Witz ist, den ich nicht kapiere.
Egor lehnt sich zurück und grinst schadenfroh und Sergej presst entschuldigend die Lippen zusammen und zuckt die Schultern. Also doch kein Witz.
Mir steigt das Blut zu Kopf, ich fühle, wie ich knallrot werde vor Verlegenheit, und ich weiß nicht, wohin mit mir, bin wie an den Stuhl festgewachsen.
Da schaltet sich zu meiner Erleichterung Frau Titow ein und ich atme auf.
»Ach, Schatz, sei doch nicht so! Sie haben doch nur für die Schule geübt«
Die Tonlage des Mannes ändert sich völlig, als er sich demzufolge seiner Frau zuwendet. »Sie können üben, wie viel sie wollen, Дорогая, aber heißt nicht, dass Fremde in meinem Haus schlafen, wann es passt«
»Nächstes Mal sagt ihr vorher Bescheid, okay, Jungs?«, lächelt sie mich an und legt ihrem Mann beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm. Als nächstes wird sein Akzent wie durch ein Wunder weniger und er deutlicher:
»Trotzdem raus. Ich will nicht, dass Fremde in meinem Haus schnüffeln, wie Schnüffler«, knurrt er mich an und seine Schlagader am Hals tritt gefährlich hervor. Seine Frau seufzt schwer und schneidet sich inzwischen durch ihren Gurkensalat. Milos Vater hat mich wirklich Schnüffler genannt?
Es ist auf eine neue Art beschämend und auch demütigend, doch für mich ist es wegen Milo am Schlimmsten. Er sitzt unbeteiligt da und tut einen Dreck. Ein letztes Mal starre ich zu ihm, hilfesuchend, bitte ihn innerlich, dass er etwas dazu sagt oder mit mir verschwindet. Die Frustration darüber, dass er das nicht macht, zieht mich wie ein Steinbrocken unter Wasser herunter. Der alte Roman wäre jetzt wahrscheinlich mit wackeligen Beinen aufgestanden und heulend weg gerannt, doch ich tue es nicht. »Gut, ich schätze es ist spät und ich muss nach Hause« Das kaum vernehmbare Zittern lässt sich trotz meiner Anstrengung nicht unterdrücken.
Der Stuhl scharrt über den Boden, als ich mit hochgerecktem Kinn aufstehe und allen am Tisch den Rücken kehre. Für alle wirkt das, als würde mir das alles nicht viel ausmachen, doch in meinem Inneren sieht es anders aus.
Die paar Meter bis um die Ecke überwinde ich aufrecht und ruhig, doch sobald ich dahinter bin, laufe ich so schnell mein Zustand es mir ermöglicht los, die Schmerzen in meiner Brust, die nicht nur von den Prellungen herrühren, ignoriere ich. Nach ein paar Schritten, fange ich allerdings an zu humpeln und mir steigen Tränen hoch, ich muss fast über mich selbst lachen.
Ein Zorn auf Milo kocht in mir und ich stampfe auf. Er ist ein Arsch! Er ist so ein Arsch! Zuerst sagt er, er regelt das selbst und antwortet für mich und dann ist er plötzlich so stumm wie ein Fisch und es ist ihm egal, wie man mit mir umspringt. Ich komme mir so dämlich vor! Ich habe mich kein bisschen geändert, dazu habe ich nicht das Zeug, bin nicht stark genug, das ernsthaft durchzuziehen – nicht, wenn Milo seine Finger im Spiel hat. Mit Pascal bin ich halbwegs tapfer fertig geworden, doch bei Milo versage ich jedes einzelne Mal und werde wieder so wie früher!
Sina hat so recht gehabt, ich hätte ihren Rat befolgen und es lassen sollen.
»Roman!«
Ausgerechnet die Stimme, die ich in den letzten Minuten verzweifelt hören wollte, erklingt in meinem Rücken. Es kostet mich Überwindung, mich nicht gleich umzudrehen und ihm eine reinzuhauen.
»Zu spät, Milo, lass mich– Hey!«
Milo stellt sich prompt vor mich, packt meine Oberschenkel und hebt mich an die nächste Wand pressend hoch.
»Ich warne dich, Milo…«
Den Rest meines Satzes verschlingt Milo mit seinem Mund. Meine Beine und Arme schlingen sich bloß um ihn, weil ich nicht herunterfallen will! Den Kuss erwidere ich nur aus dem Grund, weil…es Milo ist und das Ziehen in meinem ganzen Körper ertrage ich auch nur deshalb. Dafür ist aber die angenehme Hitze da, als er seine Hüften gegen mich bewegt und ich stöhne leise. Wenn mein Mund nicht zu beschäftigt wäre, hätte ich daraufhin frustriert aufgeseufzt. Es kann nicht anders sein mit ihm, ich kann nicht anders und ehrlicherweise, will ich es auch nicht.
Ich neige den Kopf zur Seite, damit unsere Nasen sich nicht so aneinander quetschen und meine Brille nicht stört, kreuze die Beine hinter seinem Rücken fester. Er beißt leise meinen Namen murmelnd in meine Unterlippe und lässt seine Zunge in meine Mundhöhle gleiten, während seine rechte Hand mich am Hintern stützt und der Daumen der anderen Hand, zärtlich über meine Wange streicht. Der Kuss ist durchtränkt mit seinen Gefühlen, ich spüre es kribbelnd überall und in jeder seiner Bewegungen – Milo hat etwas für mich übrig, daran besteht kein Zweifel mehr für mich.
Wir hören erst auf, als uns der Atem ganz ausgeht, doch trennen uns nicht.
»Tut mir Leid, es tut mir so Leid! Ich werde das wieder hinbiegen, mein Vater wird es sich anders überlegen«
Milo wirkt so in die Ecke gedrängt und geradezu verzweifelt, dass es mir selbst Leid tut, dann vergräbt er sein Gesicht in meiner Halsbeuge und inhaliert tief.
Und in diesem Augenblick fällt es mir wie Schuppen von den Augen und eine eisige Kälte ergreift mich, die Wut auf ihn verpufft, ohne etwas zu hinterlassen.
Sein Vater! Wie konnte ich vergessen, was er über ihn im Heim gesagt hat! Milo hat mir doch erzählt, dass dieser ihn manchmal schlägt – das heißt, sein Dad hat eine gewisse Kontrolle über ihn, die ich nur zu gut kenne. Während ich meinem Erzeuger entkommen bin, muss Milo weiterhin mit seinem zusammen wohnen, also kann ich ihm nicht vorwerfen, für mich nicht eingestanden zu sein. Ich war so beschäftigt mit meinen eigenen Problemen, dass ich völlig verdrängt habe, dass Milo auch welche hat, obwohl er ja immer behauptet, dass das nichts schlimmes wäre. Milo hat auch Angst vor ihm, die er verbergen muss.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, flüstere ich rau und küsse ihn auf die Schläfe.
Milo lässt mich los, tritt nach hinten und fährt sich durch die Haare, durch seine Wimpern zu mir aufschauend. »Doch. Ich bin ein verdammter Feigling, ich hätte was machen sollen…«
Die alles überwältigende Zärtlichkeit, die ich momentan zu ihm empfinde, ist so stark, dass man das locker mit etwas anderem verwechseln kann…
Grinsend beugt er sich vor und legt seine Stirn an meine, seine Augen leuchten irgendwie. »Aber ich weiß, wie ich das wieder gut machen kann, heute Nacht, in meinem Bett«
Ich lächele und lege meine Hände an seine Brust. »Milo, ich kann nicht hier bleiben«, nach Entschlossenheit klingt es nicht, aber ich bemühe mich auch nicht sonderlich.
»Du kannst und du wirst. Ich habe eine Idee, komm mit.«
Er wendet sich um und winkt mich hinter sich her, doch ich bewege mich nicht vom Fleck.
»Jetzt komm, Bunny, er beißt dich nicht – nicht, wenn ich es verhindern kann«
Der sanft ausgesprochene Kosename, den ich früher gehasst und inzwischen gelernt habe zu lieben, bringt mich dazu, ihn erneut in die Höhle des Löwen zu begleiten.
Alle am Tisch heben wie synchronisiert erstaunt die Augenbrauen, als sie mich sichten. Sergej nickt anerkennend, ob zu mir, oder zu Milo, ist mir unklar.
»Что это такое? Machst du dich lustig über deinen Vater, Miloslav?«
Milo schüttelt den Kopf und strammt sich. »Dad, willst du Roman Tirell aus dem Haus werfen?«
Stirnrunzelnd frage ich mich, was Milo mit der Betonung auf meinen Nachnamen bezwecken will, doch es zeigt Wirkung.
Seine Vaters Züge wechseln von düster und grimmig, zu nett und freundlich in höchstens einer Millisekunde. »Verwandt mit Ruben Tirell, Chef von Aktienunternehmen?«
Völlig baff glotze ich die beiden an. Woher kennen sie meinen Onkel?
Milo nickt bedeutend und sein Vater erhebt sich von seinem Stuhl, geht um den Tisch und streckt mir seine Pranke entgegen, von der ich zuerst aus Versehen zurückweiche. Doch als Milo mich unauffällig mit dem Fuß anstupst, nehme ich sie und meine Hand wird regelrecht verschluckt.
»Ich entschuldige mich, für die grobe Sprache. Wie sind Sie mit Ruben verwandt?«
Gier umschreibt nicht annähernd den Ausdruck in seinen Augen. Und er siezt mich!
»Bun– Roman ist sein Neffe und sie sehen sich fast jeden Tag«
Das stimmt gar nicht! Ich mache den Mund auf und klappe ihn wieder zu. Ach, jetzt verstehe ich! Mein Onkel, der Vater von Sina, mit dem ich nebenbei gesagt, fast nichts zu tun habe, hat ein erfolgreiches Aktienunternehmen und Herr Titow kann da anscheinend nicht widerstehen.
Bedächtig lässt er meine Hand los und deutet auf den Stuhl, auf dem ich vorher gesessen habe. »Das ist gut. Setzen Sie sich nochmal«
Egor schnauft und Sergej gluckst amüsiert vor sich hin.
»Wir müssen zur Schule, Dad«, sagt Milo und sein Vater lacht und klatscht einmal laut seine Handflächen auf den Tisch. »Wissen Sie was, ich lade sie Freitag zu Abendessen ein«
»Aber Schatz, da kommt doch Anja, ihr Mann und Lena zu Besuch, um dich kennenzulernen!«, wendet Frau Titow ein. »Wir können alle zusammen essen«, argumentiert ihr Mann, während mir mein Essen hochsteigt und ich fast umfalle. PASCAL UND MILO IN EINEM RAUM UND ICH MITTEN DRIN! Da habe ich gedacht, das Frühstück ist schlecht verlaufen, wie wird das Abendessen dann wohl sein?!
»Herr Titow, da kann ich nicht«, kommt es von mir.
Aus dieser Sache muss ich raus, oder es wird garantiert übel enden – ganz, ganz übel!
Nochmal klatscht seine Hand auf die Tischfläche und er durchdringt mich mit seinem Blick. »Kein Nein! Sie kommen und dann erzählen Sie uns über Ihren Onkel, er ist großer Mann«
»Es–«
»Er wird da sein, Dad«, überdeckt Milo meine Antwort und sein Vater nickt zufrieden, sich die Hände reibend.
»Ich kann aber nicht!«, zische ich zu Milo, verzweifelt.
»Keine Angst, er wird dich nicht mehr beleidigen oder sowas. Du bist jetzt sein Mittel zum Zweck, alles klar?«, meint Milo und ich kann nichts erwidern. Seufzend nimmt er mich am Oberarm. »Komm, wir sind spät dran«
Ich sitze in der Scheiße!
Milo
»Hey«, zische ich laut, schnappe mir Bunnys Arm und ziehe ihn zu mir hinter die Ecke, wo ich auf ihn gelauert habe.
Überrumpelt aufjapsend stolpert er über seine eigenen Beine und ich muss ihn festhalten, damit er nicht vornüber fällt.
»Milo! Erschrecke mich doch nicht so!«, atmet er aus und legt seine Hand auf die Brust.
Ich höre gar nicht hin, sondern beuge mich, setze meine Lippen an seinen Hals an und beginne kleine Kreise mit meiner Zunge zu ziehen, indessen ich mich an ihn dränge – so doll, dass ich seine Beckenknochen spüren kann.
Bunny stöhnt leise auf und krallt seine rechte Hand in meine Haare.
Grinsend schaue ich auf und drücke seine Handgelenke an beiden Seiten gegen die Wand, damit sie nicht stören. Ich will im Moment so viel mit ihm anstellen, ich kann mich gar nicht richtig entscheiden. Diese ganze Woche war eine regelrechte Tortur – er war zwar ständig in Griffweite, doch anfassen durfte ich ihn nicht. Erstens wegen seinen Verletzungen und zweitens, weil meine Mutter einen Narren an ihm gefressen hat. Ich habe es so lang ausgehalten, aber heute hat er diese bestimmte, enge Jeans an…Scheiße, wann habe ich je so oft über jemanden nachgedacht, der direkt neben mir ist? Das ist irgendwie beängstigend und ich vertiefe das lieber nicht.
»Hat die Salbe geholfen, die ich dir gekauft hab?« Ja, ich habe ihm sogar eine Salbe gekauft.
»Ja, danke. Komischerweise heilen solche Verletzungen bei mir ziemlich schnell, aber–«
»Bedeutet also, es tut dir nicht mehr weh, wenn ich das hier tue?« Ich presse meinen Körper an seinen und nehme den süßen Mund wild in Beschlag. Eine schöne Minute lang, mit klitzekleinen Unterbrechungen zum Atmen, dauert es, bis Bunny plötzlich versucht seine Arme zu befreien. Er murmelt etwas, aber ich kann es nicht entschlüsseln und breche deshalb widerstrebend den Kuss ab. »Was?« Den ungeduldigen Ton kann ich nicht vermeiden.
Bunny blinzelt verwirrt und leckt sich über die bereits ein bisschen angeschwollenen Lippen, von denen ich meine Aufmerksamkeit nicht abwenden kann.
»Wir sind mitten im Schulgang«, stellt er fest.
»Oh«, sage ich und gucke um mich, als würde ich erst jetzt erkennen, wo wir uns befinden. »Du hast recht…«
Ich schüttele über mich selbst den Kopf. Was, wenn vor einer Sekunde jemand vorbeigegangen wäre? Was dann? Ich bin so leichtsinnig geworden!
Diese Vorstellung von mir streifend bedeute ich ihm, mich zu begleiten. Meine Hand zuckt automatisch in Richtung seiner, doch ich halte mich zurück. Obwohl zu diesem Zeitpunkt jeder in der Pause, auf dem Schulhof oder in der Cafeteria sein sollte, könnte es sein, dass jemand zufällig vorbeigeht und uns sieht und das darf ich nicht zulassen, dass dabei ein falscher Eindruck entsteht – naja, in meinem Fall ein wahrheitsgemäßer Eindruck.
»Ich kenne da so einen Raum hier in der Nähe, den man auch abschließen kann. Ich war da Mal vor ein paar Jahren mit Clarisse drin.«
»Clarisse Clarisse? Die Clarisse?«, rümpft er die Nase und schaut mich von oben bis unten an, als hätte er mir das nicht zugetraut.
Nachlässig nicke ich und suche dabei nach der bestimmten, engen Tür. Als wir diese erreichen und ich sie öffne, rührt Bunny sich auf einmal nicht mehr vorwärts und sträubt sich sogar, als ich ihn reinschieben will, mit erschrecktem Gesicht.
»Was ist denn? Geh schon rein, Bunny!«
»Ich…ich habe es mir anders überlegt, ich…– nein, ich muss noch für eine Arbeit üben«
Ich runzle verständnislos die Stirn, weil ich nicht kapiere, was er jetzt für ein Problem hat. »Wir schreiben keine Arbeit diese Woche. Tja, blöd für dich, dass wir in einer Klasse sind«
»Milo, ich will hier nicht rein!«
»Wieso musst du dich vorher immer so anstellen? Komm schon…« Rückwärts mache ich einen Schritt hinein und kann beobachten, wie Bunnys Ausdruck noch ängstlicher wird und er die Hände nach mir ausstreckt. »Nein, geh da nicht rein!«
Ich höre selbstverständlich nicht auf seine Quengelei und knipse den Lichtschalter um, trete weiter hinein – und stolpere über etwas hinter mir. Auf dem Rücken liegend, erstarre ich für eine Sekunde und realisiere dann, dass es eindeutig eine Matratze unter mir ist. »Was zum…« Mit aufgerissenen Augen setze ich mich auf und erblicke die Wand hinter mir, die ein riesengroßes Poster eines Sonnenuntergangs ziert. Auf dem Boden links von mir steht ein kleines Kästchen und ich frage mich, was da drin ist. »Was ist das hier?« Blöde Frage, woher soll Bunny das wissen?
Dann richte ich meinen Blick auf ihn, der zusammengesunken in der Tür steht und sich nicht traut, mich anzusehen. Da wird mir alles klar – ich erhebe mich unsicher lächelnd und schließe um ihn herum die Tür ab, bleibe hiernach direkt vor ihm.
Wie soll ich reagieren auf sowas? Ich räuspere mich und meine: »Hast du das hier gemacht?«
»Ich–W-wie bitte?«, stottert er, wird tomatenrot, und macht einen Schritt zurück, doch da stößt er mit dem Rücken an die Wand.
Ich beiße auf meine Unterlippe und komme ihm ein Stück näher. »Ob du das alles hier gemacht hast? Ist das sowas, wie eine…eine romantische Überraschung, die ich jetzt versaut habe?«
Bunny hebt verblüfft den Kopf, für einen Augenblick ist es ganz still, und schluckt hörbar. »Ja, ehm, ja, das habe ich für uns beide gemacht – also diesen Raum. Damit wir in der Schule…naja…« Seine Stimme klingt zittrig und nervös und ich finde das ungemein anziehend. Noch ein kleines Stück vor und wir sind Nase an Nase.
»Eigentlich bin ich kein großer Fan von diesem ganzen romantischen Kram, aber bei dir kann ich ja eine Ausnahme machen. Das hier ist…nett, auch wenn das Poster einen Tick zu kitschig ist«
Ich grinse ihn breit an und nehme wahr, wie mein Herzschlag sich beschleunigt, als er ein ehrliches Lächeln zustande bringt und unter seinen Wimpern zu mir hoch lugt.
Dieses Schüchterne an ihm turnt mich so an. Früher hat mich diese Seite an ihn am meisten genervt und abgestoßen und nun ist es komplett andersherum.
Meine Gedanken sind mir fremd – so habe ich nie gedacht, aber mein Motto ist im Augenblick: Nicht nachdenken, einfach tun, so wie im Grunde fast immer.
»Verrätst du mir, was du hier mit mir gemacht hättest, bevor ich es verdorben habe?«, flüstere ich und verteile zarte Küsse entlang seines Kiefers. Bunny kneift die Augen zu und legt seine Hände auf meinen Rücken, wo sie mein Hemd zusammenknüllen.
»Alles, was du gewollt hättest«, antwortet er leise und ich lache auf.
»Gerade will ich, dass du mich ausziehst«
Ich weiche nach hinten und warte darauf, dass er es tut.
Zuerst runzelt Bunny skeptisch die Stirn, doch nachdem er sich fängt, beginnt er flink die Knöpfe meines dunkelblauen Hemdes aufzuknöpfen. Als er den letzten Knopf aufgekriegt hat und am Reißverschluss meiner Hose fummelt, halte ich ihn seufzend auf. Man könnte meinen, er hat noch nie jemandes Hosen aufgemacht.
»Du machst das falsch«
»Ich wüsste nicht, dass es Regeln gibt, wie man jemanden richtig auszieht!«, faucht Bunny bockig und schüttelt mich ab.
Ich lache und umfasse seinen Nacken.
»Ich zeig dir, wie man es richtig macht, also pass auf und lerne«
Er schnaubt und rollt übertrieben mit den Augen, wird aber deutlich roter. »Gar nichts werde ich von dir lernen–«
»Sch«, murmele ich, meinen Zeigefinger auf seinen Mund legend – er verstummt.
Langsam gleitet der Finger über sein Kinn, zur Kehle und sein Adamsapfel hüpft auf und ab, weil er wiederholt schluckt. Ich frage mich, warum er derart nervös reagiert, geradezu als wäre es sein erstes Mal.
Demnach rutscht nun meine rechte Hand zwischen seine Beine und greift zu, meine Linke dagegen rollt zentimeterweise seinen grünen Pullover hoch und offenbart einen makellosen Oberkörper mit vielen, punktartigen Muttermalen.
Schließlich hebt er zögerlich die Arme über den Kopf, damit ich den Pullover vollständig ausziehen kann – ihn bedeckt schon eine Gänsehaut und seine Nippel sind straff und aufgerichtet. Ich kann bei diesem Anblick einfach nicht widerstehen und nehme deshalb einen davon in den Mund und knabbere daran.
»Milo«, keucht er und vergräbt mal wieder die Finger in meinen Haaren; es scheint, er hat eine besondere Vorliebe für sie.
Eine Zeit lang beschäftige ich mich mit dem rosa Nippel, die meiner Meinung nach noch nie zuvor so anziehend gewirkt haben, und reibe derweil seinen Schritt, der sich unter meiner Handfläche bereits ausbeult.
Ich führe meinen Weg fort und hinterlasse überall Biss- und Saugspuren auf seiner blassen Haut, am Ende sieht es wie ein Muster aus.
Ihm in die Augen schauend gehe ich in die Knie, presse Mund und Nase gegen seine leicht definierten Bauchmuskeln und umspiele mit der Zunge den Bauchnabel. Er beobachtet mich genau und sein Griff in meinem Haar verstärkt sich, bis es ziept.
Verführerisch lächele ich und hacke beide Daumen in seine Hose und die Boxershorts, schiebe alles herunter, aber bevor ich was erhaschen kann, bedeckt Bunny sein halberigiertes Glied hektisch.
Vorerst ignoriere ich das, streichle die Oberschenkel nach innen, immer begleitet durch meine Lippen und er wimmert.
Von seinem Geschmack kriege ich nicht genug und auch hier hinterlasse ich deutlich sichtbare Spuren.
Unvermittelt wird Bunny verkrampft, einen Fuß nach dem anderen hebt er an und steigt so aus den restlichen Klamotten und den Schuhen. Ich versuche seine Hände zu entfernen, doch er verhindert es und weicht auch meinem Blick aus.
»Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon alles dort kenne, oder?«
»Ja, aber–« Bunny verlagert sein Gewicht und da kommt mir eine Idee. Grinsend erhebe ich mich und beiße blitzschnell in seinen Nippel – fest. Er jault auf und seine Hände zucken natürlich automatisch nach oben, um mich abzuwehren, doch ich halte sie auf und gucke nach unten.
»Bunny, was ist das?« Okay, da verfliegt irgendwie ein wenig die erotische Spannung und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich lachen oder weinen soll, bei dem, was ich da unten entdecke.
»Sag nichts!« Ich kann es trotzdem nicht verhindern und gluckse auf.
»Das nenne ich eine misslungene Intimrasur«
»Halt den Mund, Milo, ich warne dich!« Sein Gesichtsausdruck ist lächerlich, vor allem weil er splitternackt ist und mir steigt ein Gelächter die Kehle hoch.
Gespielt ängstlich hebe ich in defensiver Haltung die Arme. »Uh, was wirst du mir denn antun?«
Bunny versetzt mir einen Stoß gegen die Brust und als ich nicht aufhöre zu lachen, noch einmal, aber viel stärker, so dass ich zurück taumele und mich hierbei reflexartig an ihm festhalte. Zusammen landen wir mit Wucht auf der zum Glück sehr weichen Matratze und schon hockt er sich auf mich, die Hände auf meiner nackten Brust gestützt.
»Wow! Vorsicht, Bunny – nicht, dass deine Frisur ruiniert wird«
Verärgert boxt er nach mir, aber ich fange seine Faust ab und zerre ihn nach unten, bis sein Gesicht einen fingerbreit von meinem entfernt ist und wir dieselbe Luft ein und aus atmen.
»Weißt du, wie heiß du aussiehst, wenn du wütend bist?«
Ich gleite mit den Händen seinen Rücken runter zum Hintern und packe ihn, hebe mein Becken an – bei mir in der Hose zuckt es gewaltig.
Bunny schüttelt den Kopf und überwindet dann endlich den Rest des Abstands. Seine Lippen sind weich und warm und schmecken nach Orange, seine Zunge ist vorsichtig, als würde er neues Territorium erforschen und ich spüre ihn lächeln. Den Kuss vertiefend schlinge ich einen Arm um ihn, werfe ihn auf die Matratze und stütze mich mit einem Ellenbogen ab. Nun liegt er unter mir und ich nehme zwischen seinen Beinen Platz, wo ich perfekt hineinpasse, als wäre es für mich gemacht.
Mein Oberkörper berührt den seinen, sobald Bunny mir mein Hemd von den Schultern gezerrt hat und seine Hand in meine Hose schiebt, wo sich die Finger um mich schließen und aufeinmal zudrücken.
»Oh, Scheiße«
Ich unterbreche keuchend den Kuss und starre ihn an, nicht zuletzt weil die Finger so kalt sind, außerdem hätte ich grad fast abgespritzt, obwohl es gar richtig begonnen hat.
Bunny beachtet das nicht – küsst mich wieder, hart, bevor ich mich erholt habe, wickelt seine Beine klammerhaft um meine Mitte und bewegt seine Hand vor und zurück, immer schneller. Stöhnend rücke ich meine Hüften mit und versuche hinein zu stoßen, doch er verwehrt es mir, indem er sich jedes mal zurückzieht.
Er nimmt meine Härte vollständig aus der Hose und reibt sie an seiner eigenen Erektion. Das Geräusch, welches ich von mir gebe ist mir fremd, denn ich kann mein jetziges Empfinden nicht beschreiben. Diese Reibung schickt Wellen des Genusses durch mich hindurch.
Ich will ihn ausfüllen, jetzt, kann es nicht mehr aushalten, und er auch nicht.
»Da, in der Box…«
Ich strecke mich angestrengt und klappe den Deckel der besagten Box auf. Dort entdecke ich eine Tube Gleitmittel und haufenweise Kondome.
»Hast wohl an alles gedacht«, grinse ich und Bunny guckt mich nur stumm an, in seinen Augen spiegeln sich verschiedene Gefühle wider, die ich nicht alle entschlüsseln kann.
Mit den Zähnen reiße ich das Kondom rasch auf, schiebe meine Hose und Boxershorts nach unten und rolle es hastig über meine Erregung. Ein wenig von dem Gel gebe ich auf meine Fingerspitzen, trage es über meinen Schaft und wandere mit dem Rest abwärts zu seiner Spalte. Die Berührung meiner Fingerspitzen lässt ihn zucken. Erst jetzt stöhnt er und ich gebe zu, dass ich dieses Geräusch liebe, es beschert mir sogar eine Gänsehaut am ganzen Körper.
Bunny führt meinen Schaft zwischen seine Oberschenkel, an die richtige Stelle. Als ich vorzucke und mich in ihm versenke, krallt er seine Fingernägel in meinen Rücken und keucht erregt meinen Namen aus.
Alles in mir hält für kurze Zeit still und es klingt in mir nach. Die Hitze und Enge und Intimität und sein nackter Körper, mir ausgeliefert, alles nur für mich; ist noch überwältigender als ich es in Erinnerung habe. Ich möchte die Augen schließen, kann mich jedoch von seinen sich veränderten Zügen nicht losreißen und behalte sie deswegen auf.
Langsam und keuchend gleite ich hinaus und danach hinein, lasse ihm Zeit, sich an mich zu gewöhnen, muss mich aber beherrschen, nicht unkontrollierter zu werden.
»Mach schneller, Milo«, haucht er da in mein Ohr und unsere Lippen finden sich wie von selbst.
Ich leiste seiner Bitte folge, werde schneller und spüre, wie Bunny von meinen Schulterblättern aus, bis hin zu meinem Po Kratzspuren zeichnet und seine Beine enger um mich schlingt.
Ich stoße stärker vor, trenne mich von ihm, um zu atmen und wir schauen uns direkt in die Augen – seine sagen so viel aus, zu viel. Und ich weiß, er hat vor es auszusprechen, und ich könnte es nicht erwidern.
»Milo,–«
»Nicht jetzt«, presse ich aus und mein Daumen legt sich über seinen Mund und streicht zärtlich darüber, falls er sauer ist, doch er versteht es, wenn ihn das auch sichtlich traurig macht.
Ich lege meinen Kopf in seine Halsbeuge, küsse ihn dort entschuldigend und finde einen passenden Rhythmus, der meine Bewegungen bestimmt und den Zeitpunkt, wann sein oder mein Stöhnen zu hören ist. Je öfter ich den besonderen Punkt in ihm anstupse, desto lauter wird Bunny und biegt seinen Rücken durch – mein Rücken dagegen fühlt sich wund an. Sein linkes Bein packe ich und stoße so kräftig in ihn, dass er vor Lust leise aufschreit und sich aufbäumt. Ich merke, wie es näher kommt, es sammelt sich in meiner Körpermitte, staut sich auf, um gleich auszubrechen. Mir fließt Schweiß über die Stirn und ich schmecke auch Romans, als ich ihn im Nacken liebkose.
Roman. Ich habe über ihn als Roman gedacht. Wie verrückt ist das denn?
Nicht dran denken! Vor und zurück. Sein Stöhnen und meins im Einklang, aber er klingt hingebungsvoller, ich liebe sein Stöhnen.
Er umfasst sich wieder selbst und massiert sich unbändig, während ich unbändig in ihn fahre und es anfängt in meinem Unterleib zu ziehen. Ich hebe meinen Kopf und wir küssen uns atemlos, er vergräbt seine freie Hand in meinen angefeuchteten Haaren.
Hinter meinen Augen flimmert es, ich keuche ein „Roman“ heraus und kann spüren, wie Bunnys Samen sich auf unseren Bäuchen verteilt – dadurch erreiche auch ich den Höhepunkt.
Danach sacke ich sofort auf ihm zusammen, wie ein nasser Sack und er umschlungt mich. Warum zum Teufel ich das nächste japse, keinen Schimmer: »Mein Vater schickt mich in eine Militärakademie in ein anderes Land«
Roman
»Bunny, rede mit mir und hör auf zu packen, verdammt noch mal!«
Er läuft mir hinterher, als ich von einer Wand seines Zimmers zur anderen stampfe, um meine Sachen aufzuklauben und sie in die schwarze Tasche zu stecken.
Ich spreche nicht mit ihm, schaue ihn nicht an und stelle mich taub. Ein Blick zu ihm darf ich nicht riskieren – ich würde zusammenbrechen, sowie mein Herz es getan hat, als er diesen Satz ausgejapst hat. Ich würde Rotz und Wasser heulen und ihn anflehen, nicht wegzufahren, mich nicht zu verlassen. Ein unterdrückter Schluchzer entfährt mir, als ich vergeblich am Reißverschluss meiner Reisetasche zerre.
Milo legt seine Hand über meine und dreht meinen Kopf zu sich.
»Hey, es tut mir Leid, dass ich es gesagt hab. Es ist mir nur so rausgerutscht«
Ungläubig trete ich von ihm fort. »Es soll dir nicht Leid tun, dass du es mir gesagt hast, sondern, dass du es erst jetzt getan hast, du Vollidiot!«
»Ist ja okay, du musst nicht gleich schreien!«
»Warum nicht? Hast du Angst, dass dein Vater uns hört?«
Milo schüttelt den Kopf und wendet den Blick beschämt zur Seite.
Keine Ahnung was mich überkommt, als ich einen Trichter bilde und anfange zu brüllen. »Hören Sie mich, Herr Titow? IHR SOHN IST EIN VOLLIDIOT UND EIN LÜGNER!«
Milo springt herbei und legt eine Hand über meinen Mund, so doll, dass es wehtut.
»Gehts noch? Was soll das werden?«, faucht er mich an, seine Züge so grob wie sie früher stets mir gegenüber waren.
Wütend richte ich meine Augen auf ihn und will, dass er alle meine Gefühle grade in ihnen sieht. Ich bemerke leider nicht, wie mir Tränen aus den Augenwinkeln fließen, bis er mich wie verbrannt loslässt und sich übers Gesicht reibt.
»Ich bin kein Lügner, Bunny. Verschweigen ist nicht lügen«, sagt er und ich ziehe die Nase geräuschvoll hoch.
»Das ist mindestens genauso schlimm! Du wolltest in ein anderes Land abhauen ohne etwas zu sagen. Nach allem, was passiert ist, habe ich gedacht…ich war mir sicher, dass du etwas für mich empfindest.«
»Es ist ja nicht so, dass ich eine Wahl hätte!«
»Man hat immer eine Wahl!«
Er verengt die Augen zu Schlitzen. »Sagt der Richtige. Wie lange hast du dich von deinem Vater verprügeln lassen? Hast du das auch gewählt?«
Sobald er das ausgesprochen hat, bereut er es sichtlich.
Doch ich lasse es nicht an mich heran, schirme mich von seinen Worten völlig ab und bin selbst überrascht, dass es klappt.
»Ich hätte das nicht sagen sollen–«, greift er nach mir, aber ich weiche ihm aus, meine Tasche über die Schulter werfend. Ich kann mir zwar nicht ausmalen, wo ich jetzt hingehen soll, aber hierbleiben und warten, dass er mich verlässt, kann ich definitiv nicht. Oh nein, das würde ich nicht verkraften.
So leicht lässt er mich allerdings nicht gehen; das tut er bekanntlich nie. Er kriegt meinen Taschengurt zu fassen und zieht daran – das Ergebnis ist, das wir eine Art Taufziehen betreiben und wie man sich ausmalen kann, bin ich der Verlierer. Ich bin kurz davor, meine Tasche einfach loszulassen, um bloß hier weg zu können, da redet Milo und heraus kommen genau die Worte, die ich hören will:
»Ich bleibe bei dir!«
Mein Griff um die Tasche lockert sich plötzlich, so dass er einen Schritt zurück schwankt und sie danach achtlos zu Boden wirft.
»Was?«
Milo schluckt und atmet schwer aus. »Du hast mich gehört«
»Sag es nochmal«, verlange ich heiser und blinzle die restlichen Tränen weg – ich möchte sicher gehen, dass ich es mir nicht eingebildet habe.
»Ich bleibe bei dir«, wiederholt er und es klingt mehr nach einer Frage, die er sich selbst stellt. Ich presse die Lippen zusammen und beobachte ihn.
Es ist unfair und ein bisschen gemein, doch ich habe ihn fast soweit und fahre fort: »Und aus welchem Grund bleibst du bei mir? Und sage nicht, weil der Sex gut ist«
Alles in seinem Zimmer guckt er an, außer mir. »Das weißt du genau«
Zeitlupenartig wächst mir ein zitterndes Lächeln ins Gesicht und mein Herz flattert aufgeregt in meiner Brust, mein Bauch kribbelt. Seit wann ist das so? Wenn ich mich rcht erinnere, ist es schon so seit dem Heim, seit er mir erlaubt hat, hinter seine gemeine Fassade zu sehen – da hat sich ein Schalter bei mir umgelegt, der sich nicht rückgängig machen lässt. Nicht nur seinem Körper kann ich nicht wiederstehen, auch seiner gesamten Art und der besonderen Seite, die er nicht jedem zeigt – die weiche, nette und liebenswerte Seite an ihm.
Deswegen konnte ich auch nicht mit Pascal zusammen sein, deswegen konnte ich an niemand anderen denken, als an Milo. Ich will jetzt sehr dringend seine Lippen auf meinen spüren und seine Haare zwischen meinen Fingern.
»Ich weiß nur, dass du offensichtlich nicht hetero bist…«
»Ach, wirklich?«, murmelt er.
Vor ein paar Wochen haben wir uns gehasst und nun sind wir hier. Seine große Statur schüchtert mich nicht mehr ein, sondern lässt mich fühlen, als ob mir an seiner Seite nichts passieren könnte, seine Augen sind nicht mehr gehässig, sondern liebevoll. Und ich warte darauf, dass er die drei wichtigsten Worte ausspricht und ich sie endlich erwidern kann. Mir war gar nicht bewusst, dass ich es mir so sehnlichst gewünscht habe.
»Ich bleibe hier, weil man dich nicht allein lassen kann. Du kannst dich überhaupt nicht wehren«
Ich blinzle ein paar Mal und ziehe die Augenbrauen zusammen. Will er mir grad echt unter die Nase reiben, wie wehrlos ich bin? Das weiß ich doch schon selbst.
»Ich liebe dich, Milo«, mache ich trotzdem atemlos den ersten Schritt und warte darauf, dass er das gleiche zu mir sagt, mit einem „auch“ dahinter.
Milo blickt zu mir auf, so unsicher, wie ich ihn noch nie erlebt habe und das lässt mein Herz schmelzen und gleichzeitig schmerzen, weil er nichts entgegnet. Er pustet bloß einen Schwall angehaltener Luft aus seinen Lungen und scharrt mit den Füßen. Eine beklemmende Stille breitet sich aus, in der mein Herz stetig ängtlicher schlägt, weil ich befürchte er wird so tun, als hätte ich nichts bedeutendes zugegeben.
Aber entgegen meiner Berfürchtung, er würde weiterhin nichts tun, nach ungefähr einer halben Minute gegenseitiges Anstarrens, macht Milo einen großen Schritt auf mich zu und legt zögernd die Arme um mich. Erst stehe ich stocksteif da und kann mich nicht bewegen, da mich wie zuvor eine bleierne Enttäuschung lähmt und ich am liebsten weinen will. Ich hätte nicht gedacht, dass eine unerwiderte Liebeserklärung so weh tun kann.
»Ich denke…ich dich auch…denke ich«, nuschelt er und ich schwöre, dass mein Herz für eine Milisekunde aufhört zu schlagen und es sich anfühlt, als wäre ich schwerelos. Er hat es gesagt – mit etwas Verspätung, aber er hat es gesagt. Oh, mein Gott. Ich hyperventiliere gleich, Milo Titow liebt mich. Milo Titow hat gesagt, dass er mich liebt.
Dass er mich noch enger an sich presst, erfüllt mich mit Glück – so viel Glück, dass ich es nicht richtig zähmen kann und deswegen anfange, sein Gesicht mit tausend Küssen zu bedecken, während er seine Augen schließt und zufrieden grinst.
»Diesmal kannst du aber nicht behaupten, du hättest mich mit einem Mädchen verwechselt«, hauche ich ihm ein bisschen neben der Spur klingelnd ins Ohr, wobei ich mich auf die Zehenspitzen stelle, und er gluckst.
»Etwas Muskeltraining und wir kriegen das hin. Und ich…Bunny…Bunny…du…erstickst mich…gleich«
»Oh«, lächele ich und lockere die Arme um seinen Nacken, lasse meinen Blick über ihn gleiten und meine Finger folgen. Seine schönen eisblauen Augen und geraden, dunklen Augenbrauen, die aussehen als wären sie gezupft und nachgemalt. Seine Haare sind ungegelt und die längsten Strähnen fallen ihm lässig in die Stirn. MIr wird klar wie makelos er aussieht im Gegensatz zu mir und dass lässt mich nur noch mehr wundern, warum er ausgerechnet mich lieben soll. Er hätte jede oder jeden kriegen können und doch soll er mich bevorzugen? Warum?
Milo schmunzelt, als hätte er meine Gedanken gelesen und lehnt sich zu mir vor. Er küsst mich lange und langsam, unsere Zungen tippen zärtlich gegeneinander. Sobald seine Hände meinen Rücken runter gleiten und nach meinem Hintern greifen, stöhne ich zufrieden in seinen Mund und zwirbele an seinen feinen Haaren im Nacken.
»Sorry, wenn ich störe, Turteltäubchen, aber das Essen ist fertig. Ma ruft euch, weil alle schon da sind und sich gleich setzten wollen« Sergej lehnt aufeinmal in der offenen Tür und grinst, eine Augenbraue wissend gehoben.
Milo stöhnt genervt und lässt mich los, eine Hand bleibt jedoch auf meinem Rücken liegen.
»Dieses dumme Abendessen habe ich total vergessen!«
Ich höre gar nicht hin, da ich zu überwältigt davon bin, dass Milo nicht zur Seite gesprungen ist, mich weg geschubst hat oder dergleichen. Mein dämlich breites Grinsen kann ich nicht wegwischen, doch gleich darauf realisiere ich, wovon die beiden sprechen und das Grinsen bleibt mir im Hals stecken.
»Abendessen? Etwa das Abendessen mit Anja? Dieses Abendessen? Scheiße!« Ich kann nicht verhindern, dass ich bei dem Gesagten stets schriller und panischer werde, bis ich am Ende fast kreische.
Mich erstaunt von oben bis unten betrachtend, sagt Milo: »Beruhige dich, ich hab dir doch gesagt, dass mein Dad dir nichts tun wird. Du musst bloß wegen deinem Onkel ein bisschen schwindeln und er liegt dir zu Füßen«
»Das stimmt. Seine Sponsoren werden immer weniger spendabel«, wendet Sergej ein und klatscht in die Hände. »Los, kommt endlich mit, bevor Dad noch ungeduldig wird und selbst nachsehen will, wo ihr bleibt«
Ich sehe Milo flehend an und lege meine Hände auf seine Brust. »Können wir nicht irgendwo anders hin?…Ich will da nicht hin, Milo«
Er ist offenbar verwirrt, aber er scheint zu überlegen und ich fange an zu hoffen, dass ich nicht Pascal gegenübertreten muss, während seine Familie dabei ist. Sergej lacht ungläubig und schüttelt den Kopf.
»Du überlegst echt das Abendessen zu schwänzen, wegen ihm? Wow, das muss Liebe sein«
Milo blitzt ihn wütend an und nimmt meine Hände von seiner Brust, mir einen kleinen Kuss auf die Lippen gebend, sobald Sergej sich umgewandt hat. »Stell dich nicht so an, Bunny, du wirst da lebend wieder herauskommen«
Da bin ich mir nicht so sicher.
Bevor wir den Raum hinter Sergej betreten, greife ich aus dem Impuls heraus nach Milos Hand, die jedoch nicht zurück zuckt, sondern kurz meine hält und beruhigend drückt. »Du tust ja so, als würdest du gleich vor das jüngste Gericht kommen«
Da hätte ich wenigstens nicht so viel zu befürchten wie hier, denke ich insgeheim und schöpfe durch die Nase einen langen Atemzug.
Immer noch überlege ich mir fieberhaft hoffnungslose Pläne, wie ich mich doch davor drücken kann. Da wäre zum Beispiel das Wegrennen, so schnell ich kann. Sagen, dass ich keinen Hunger habe und mich in Milos Zimmer verstecken. Oder ich könnte so tun, als sei mir zum Kotzen übel und ich müsste mich gleich auf den Teppich übergeben. Die letzte Möglichkeit ist nicht mal so abwegig.
Aber es ist sowieso schon zu spät, denn wir sind bereits drin.
Milo wird sofort von einem kleinen Mädchen umgerannt, die mit Anlauf in seine Arme springt und fröhlich lacht.
»Wow, Lena, hast du Steine geschluckt, oder warum bist du plötzlich so schwer?«
»Es wurde ja auch Zeit, wir wollten uns grade zu Tisch setzen, Miloslav!«, schimpft Milos Mutter.
»Hi, Bruderherz!«, grüßt Anja ihn ebenfalls überschwänglich und gibt ihm über Lena hinweg einen Kuss auf die Wange, mich lächelt sie beruhigend an – meine Nervosität ist offensichtlich. Sie denkt sicher, dass ich wegen ihrem Vater so unsicher bin, doch sie hat keine Ahnung.
»Und, wie hat Dad euch aufgenommen?«, erkundigt Milo sich leise.
Anja zuckt mit den Schultern. »Kühl. Er hat so getan, als wären wir irgendwelche unwichtigen Fremden, die Mom zum Plausch eingeladen hat und die er wohl oder übel ertragen muss«
»Hast du etwa mehr erwartet?«
Sie guckt zu Boden. »Nein, aber…ich habe gehofft, dass er sich vielleicht ein wenig anders verhält gegenüber Lena. Sie ist immerhin seine erste Enkeltochter« Seufzend nimmt Anja Milo ihre Tochter ab und stellt sie ab. »Sie ist schon viel zu groß, als dass man sie wie ein Baby herumträgt, nicht wahr Schatz? Mir fehlt es grad noch, dass außer Pascal auch noch du anfängst, sie zu verhätscheln« Ihre Aufmerksamkeit legt sich auf mich.
»Ma hat mir übrigens erzählt, dass mein Bruder neuerdings einen Mitbewohner hat?«
Ich schmunzle, weil Milos Wangen sich rot färben und er augenverdrehend schnaubt.
»Oh, da ist Pascal, und denk dran, was ich dir über ihn gesagt habe, alles klar, Brüderchen?« Damit wendet Anja sich um und steuert mit Lena an der Hand einen Platz am Tisch an.
In dieser Sekunde entdecke auch ich Pascal und mich beschleicht ein sehr, sehr unangenehmes und beunruhigendes Gefühl. Er kommt immer näher und sein brennender, vernichtender Blick konzentriert sich die ganze Zeit über auf mich.
»Was machst du hier?«, ist seine unfreundliche Begrüßung.
Ich atme wiederholt tief ein und sehe aus dem Augenwinkel, wie Milo eine Augenbraue hebt.
»Ich wurde auch eingeladen…«
Als ob das nicht offensichtlich wäre. Aber was sollte ich sonst sagen?
Pascals Gesicht verzerrt sich wütend und er guckt Milo und mich abwechselnd an.
»Was gibt’s hier zu glotzen?«, fährt Milo ihn an und postiert sich – ob wissentlich, oder nicht – beschützerisch einen Stück vor mich und ich kann nicht umhin, von dieser Geste geschmeichelt und beleidigt zugleich zu sein.
»Nichts«, knirscht der Lockige und verengt die Augen. »Bloß hätte ich nicht gedacht, dass ihr das jetzt so öffentlich macht–«
»Jungs, kommt ihr nun endlich? Dad kommt gleich mit der Flasche Wein wieder und da sollten wir am Tisch sitzen«, ruft Anja, wobei sie sich anstrengt, Lena auf einen Stuhl zu kriegen, die sich mächtig wehrt und Wörter benutzt, die so ein kleines Mädchen definitiv nicht kennen sollte. Sergej, Egor und Frau Titow nehmen auch Platz.
Milo versichert sich, dass keiner uns wirklich beachtet, pirscht sich vor, bis ihre Gesichter auf einer Ebene sind und sticht hart seinen Zeigefinger in Pascals Brust. »Ein falsches Wort vor meiner Familie und du verbringst den Rest deines Lebens als sabberndes Stück Etwas im Bett, ich verspreche es dir«, zischt er und daraufhin bildet sich ein strahlendes Lächeln auf seinen Lippen und er legt seine Hand an meinen Rücken wie zuvor.
»Los, Bunny, setze dich da hin«
Ich blinzele und nicke knapp, husche an den Platz, auf den Milo deutet und versuche nicht zu Pascal aufzuschauen, dessen aggressive Stimmung ich beinahe körperlich spüre.
Das ist ja nochmal halbwegs gut gegangen! Erleichtert seufze ich und schiebe mich im Stuhl näher an den Tisch. Egor sitzt links von mir, Milo rechts und Pascal genau mir gegenüber – na, toll!
»Wieso nochmal bist du nicht mehr mit ihm befreundet? Soweit ich weiß, war er doch sowas wie dein Bodyguard«, fragt Milo und lässt seine Fingerknöchel knacken.
Ich versuche bei der Lüge normal zu klingen und bloß nicht zu erröten: »Äh…er wollte alles kontrollieren und das mochte ich nicht und jetzt haben wir nichts mehr miteinander zu tun – gar nichts. Wir waren auch nicht so dick befreundet, wir waren eher gute Bekannte und er hat mir bloß die paar Male geholfen, als du so…fies warst« Alles rattere ich herunter, als würde ich mir das selbst einreden wollen.
»Aha?«, runzelt er die Stirn, scheint es mir aber abzukaufen. Kann es sein, dass ich immer besser im Lügen werde?
»Jetzt ist der Bösewicht ja weich geworden und einen Bodyguard brauchst du nicht mehr.« Bevor ich etwas Schwachsinniges im Gegenzug erwidern kann, wird er erneut von Pascals Anwesenheit abgelenkt und seine Miene wird finster. »Sollte er nicht seine Klappe halten, werde ich ihn umbringen, auch wenn er der Mann meiner Schwester ist«
»Wäre es denn so schlimm, wenn jeder erfährt, dass wir zusammen sind?«, flüstere ich, damit Egor neben mir mich nicht hört.
Voller Zweifel spiele ich mit meiner Gabel an der Serviette rum und wage es nicht, den Kopf zu heben. Ich weiß nicht, warum ich das gefragt habe, aber ich will es dringend wissen. Er hat mir gesagt, dass er mich liebt und ich hoffe, das war kein sinnloses Gerede.
»Ach, nun sind wir schon zusammen?«, flüstert er zurück.
»Sind wir nicht?« Das Schlimmste befürchtend sehe ich ihm ins Gesicht und mir wird klar, dass er sich über mich lustig macht, da er dreist grinst.
»Doch…ich schätze, das sind wir«
Seine Stimme klingt sicher wie noch nie und sein nächstes Lächeln ist warm und ehrlich. Ich beiße mir auf die Lippe und wünsche mir gerade nichts mehr, als ihn hier und jetzt zu küssen, doch das geht leider nicht. Milo hat wahrscheinlich den gleichen Wunsch, denn er legt seine Hand auf mein Knie unter dem Tisch und streichelt drüber.
»Ah, da bist du ja, Liebling! Wir warten schon auf dich«, trällert Milos Mutter, als ihr Mann mit einer Flasche teuer aussehenden Weines auftaucht und sich sogleich setzt.
Sogleich kommt eine kleine, zierliche Frau, die ich bereits als das Hausmädchen kennengelernt habe, um die Ecke und balanciert mehrere Teller voller Essen in ihren Armen. Alles stellt sie auf dem rechteckigen Tisch ab, um danach noch mehr zu holen. Während sie beschäftigt hin und her rennt, ist es ruhig am Tisch und keiner spricht ein Wort.
Pascal versucht Milo mithilfe seiner Blicke zu erdolchen, ohne das großartig zu verbergen.
Jeder schaufelt sich was auf die eigenen Teller und die Stille wird nur durch das Geräusch von Kauen und anschließendem Schlucken unterbrochen.
Milos Vater lächelt mich an, wenn ich in seine Richtung blicke und Milos Mutter ebenfalls. Zwangsläufig muss ich mich fragen, wie sie mich behandeln würden, wenn sie über ihren Sohn und mich Bescheid wüssten. Mit Sicherheit wären sie nicht so begeistert, milde ausgedrückt.
Um nicht so viel Schlechtes zu denken, fokussiere ich mich voll und ganz auf das Zerschneiden meines…ich habe nicht die leiseste Idee, was genau das ist…aber ich schmecke Hackfleisch und Teig. Also bin ich gerade mitten in dieser Prozedur und von nun auf gleich kratzt mein Messer kreischend und grundlos über das weiße Porzellanteller – so muss das zumindest auf alle außer Milo und mich wirken. Denn sie sehen oder fühlen nicht die Hand unter dem Tisch, die meinen Oberschenkel umgreift und hoch und runter gleitet.
»Entschuldigung«, sage ich heißer und räuspere mich, Milo unterdrückt ein Lachen, jedoch ist sein verrutschtes Grinsen für jeden zu erkennen.
»Milo!«, fauche ich so leise ich kann und rücke im Stuhl unruhig hin und her, doch es bringst nichts, stattdessen nimmt er nun seine Fingernägel hinzu und kratzt über die Innenseite. Mein gesamtes Blut fließt in meine Körpermitte.
Wieso tut er mir das an? Er legt es ja geradezu darauf an, dass wir erwischt werden. Obwohl ich das ebenfalls möchte, will ich nicht, dass es an einem Tisch beim Abendessen passiert, Herrgott nochmal!
»Also, wie geht es dem Onkel, Roman? Ich habe gehört, er will den Geschäft auch über den Osten ausweiten, stimmt das?« Die unvorbereitete Frage von Milos Vater lässt mich aufschrecken und ich brauche eine kurze Weile, um zu kapieren, wen er meint und warum er ausgerechnet mich das fragt. Sein Akzent ist heute beinahe nicht zu hören.
»Ja…ja, ausweiten. Er spricht ständig davon«, schwindle ich abgelenkt und bei ihm tut es mir im Nachhinein nicht mal Leid, wie zum Beispiel gegenüber seinem Sohn.
Apropos sein Sohn – dessen Hand legt sich derweil auf die sich bildende Härte und reibt daran, ich zische und unterdrücke mit aller Macht ein Stöhnen.
Der Mann verschränkt seine Pranken ineinander und grinst ein breites Lächeln, welches zwei Reihen gerader Zähne zeigt – irgendwie erinnert er mich an einen Hei, der eine große Beute im Visier hat und drauf und dran ist, es sich zu schnappen.
»Ich habe auch gehört, er hat vor, eine Kapitalanlage–«
Milo öffnet meinen Hosenstahl und ein kühler Finger nach dem anderen schlüpft in meine Boxershorts und berührt mich. Meine geballte linke Faust kracht auf den Tisch und das Geschirr klappert, ich habe das Gefühl, dass mein Kopf gleich explodiert.
Alle starren mich an.
»Entschuldigung«, presse ich erneut heraus und höre im gleichen Atemzug, wie ein Stuhl mit einem Knall umkippt und jemand schreit:
»Seht ihr das nicht? Wie könnt ihr alle so blind sein? Wieso sieht es keiner außer mir, verdammt? Verdammt!«
Damit fällt alles in mir auseinander, Stück für Stück, wie ein Kartenhaus, mein Herz scheint in sich zusammen zu schrumpfen und meine Lunge gibt den Geist gänzlich auf. Eine drückende, riesige Gewissheit hat sich auf meine Seele gelegt – ich weiß, dass Pascal gleich alles in die Welt herausposaunen und Milo mir das niemals verzeihen wird. Meine Sicht wird tunnelartig, ist lediglich auf Pascal beschränkt, die anderen im Raum nehme ich nicht wahr und will es auch nicht. Sein Gesicht glüht vor Zorn und er stützt sich am Tisch vor.
»Ihr hockt alle da, als wäre nichts! Er holt ihm hier grad unter dem Tisch fast einen runter und keiner bemerkt es! Sind hier alle außer mir blind?«
Schockierte Ausrufe überall um mich herum.
Noch ein Stuhl kippt um, als Milo sich ebenso ruckartig erhebt und seine Handflächen auf die Tischplatte klatschen lässt, mit Augen, die gefährliche Funken sprühen. »Halt. Bloß. Dein. Maul.« Er betont jedes einzelne Wort scharf, das beeindruckt Pascal aber nicht im Geringsten.
»Was ist hier los? Pascal? Milo?«, versucht Anja dazwischen zu funken, doch keiner beachtet sie, mit Ausnahme von mir. Denn ihr ahnender Unterton löst sowas wie einen panischen Schub in mir aus – jäh erwacht mein Herz höllisch rasend in meiner Brust zum Leben und ich schnappe nach Sauerstoff wie ein Ertrinkender. Mit zittrigen Fingern mache ich meine Hose zu und stehe auf, zerre an Milos Arm.
»Milo, lass uns verschwinden, schnell, los!«
Ich erkenne meine Stimme selbst nicht, sie ist von Angst durchdrungen und klingt dazu gehetzt und dünn. Mir wird plötzlich klar, dass ich zu lange gebraucht habe mich zu fangen – Pascals Zeigefinger zeigt anklagend auf mich.
»Du! Wie konntest du das tun? Du hast mich gegen ihn eingetauscht! Ich war derjenige, der dich vor ihm beschützen musste und du warst mir sogar dafür dankbar. Bist du ein Masochist, Roman? Das ist nämlich meine einzige Erklärung, warum du ausgerechnet mit dem zusammen bist, der dich doch NUR AUSNUTZT!«, schreit er aus und Milos Züge verzerren sich etappenweise von wütend, in verwirrt.
»Pascal«, flüstere ich und flehe ihn innerlich an, es nicht zu tun, bettle mit meinen Augen darum. Bin ich ihm so egal? Sind ihm seine Frau und Tochter auch so egal?
Er bemerkt meine Verzweiflung, schaut jedoch weg und rauft sich die Haare. »Nein. Ich–ich kann das nicht mehr ertragen. Ich bin nicht so…ich bin kein schlechter Mensch, verstehst du? Diese ständigen Lügen, die ich meiner eigenen Familie auftischen muss! Du warst der einzige, mit dem ich so sein konnte, wie ich nun mal bin und jetzt…habe ich keinen mehr, jetzt bist du weg und hast mich gegen einen dummen Affen eingetauscht! Wie–wie kannst du nur?«
»Was laberst du da?«, will Milo hohl wissen und sein Blick wandert zu mir runter. »Was redet er da?«
Pascal stößt sich vom Tisch ab und bewegt sich drum herum, zu Milo und mir. Er wirkt völlig anders, wie auf Drogen und überhaupt nicht so, wie ich ihn kennengelernt habe. »Ich rede davon, dass ich, Pascal Risan, schwul bin! Vollkommen schwul. Und, dass ich Roman Tirell liebe, alles klar? Wir hatten Sex, wir haben uns geküsst, es war toll! Ist das deutlich genug für dich?«
Dann ertönt ein Krachen irgendwoher, ich höre Milos Familie im wilden Durcheinander rufen:
»Oh, mein Gott!«
»Oha, das nenne ich unerwartet…«
»Ist mir sowas von egal, ich will verdammt nochmal essen! Ist das zu viel verlangt?«
Dazwischen etwas Russisch, was ich nicht verstehe.
»Mama, wieso sind alles so wütend und laut und wieso ist Papa so komisch und wieso muss ich das essen, das schmeckt mir nicht!«
»Pscht!«
»Kann es sein, dass du irgendwelche psychischen Probleme hast, Pascal?«, lacht Milo platt aus und Unsicherheit schleicht sich in sein Lachen.
Pascal lächelt dagegen ruhig, wirkt zudem…befreit. »Frage Roman doch selbst, wenn du mir nicht glaubst«
Alle Augen wandern zu mir, auch eisig blaue, die ich so liebe und nicht auf diese Weise verlieren will.
»Er lügt doch?«
Eine Starre ergreift mich fest und raubt mir die Stimme, aber er begreift es auch so.
Langsam schüttelt Milo den Kopf, als würde ihm diese Information da schier nicht hineinpassen. »Du hast nicht mit dem Mann meiner Schwester geschlafen, Bunny«
Ich kann noch immer nichts erwidern, nur einen Kloß herunterschlucken, der mich zu ersticken droht und die Tränen wegblinzeln – lügen rettet hier gar nichts mehr und die Wahrheit kann ich nicht aussprechen, da bleibt das Schweigen.
»Du hast nicht mit dem Ehemann meiner Schwester geschlafen?!«, wird er lauter und kleine Spuckentröpfschen fliegen ihm aus dem Mund, landen auf meiner Stirn.
»О чем он говорил, Miloslav? Что здесь происходит? Почему он кричал в моем доме? Скажи мне немедленно, что происходит! «, bellt Herr Titow und ballt die Fäuste knackend.
(=Über was hat er gesprochen, Miloslav? Was geht hier vor? Warum hat er in meinem Haus herumgeschrien? Sag mir auf der Stelle, was hier passiert!)
»Заткни пасть!«, wendet Milo sich bebend an seinen Vater, dessen Augen sich daraufhin im puren Unglauben weiten und fast herausquellen.
»Milo! Unterstehe dich, so mit deinem Vater zu reden«, kreischt seine Mutter hysterisch und Milo nimmt einfach seinen Teller mit Essen und wirft es mit ordentlich Schwung gegen eine Wand. Er zerbricht und das ganze Essen verteilt sich schmierig auf der Tapete.
»Das sind Tapeten aus–«
»Ist mir scheiß egal, was für Tapeten das sind, Ma! Und Dad: FICK DICH! Es geht hier nicht um euch! Es geht um mich, okay? Haltet euch raus! Haltet auch alle raus!«, brüllt er, bis seine Schlagader deutlich hervorsticht und er rot anläuft. Schwer atmend sieht er einen nach dem anderen an und keiner traut sich, sich ihm zu widersetzen, jeder ist stumm wie ein Fisch und jedem ist etwas anderes ins Gesicht geschrieben.
Er gelangt am Ende bei mir an und hält inne. Auf seinem Gesicht spiegelt sich Schmerz wider, und Wut.
»Milo, bitte beruhige dich, lass uns raus und alleine reden« Ich greife nach ihm, doch er weicht angewidert zurück und das bricht mir das Herz in viele spitze Stücke, die sich von innen in mich bohren und mich bluten lassen.
»Du widerlicher kleiner Heuchler, fasse mich nicht an«, zischt er zwischen den Zähnen hervor, setzt sich blitzartig in Bewegung und als nächstes schreien wieder alle durcheinander.
»Oh, Shit, Milo!«
»Was ist das hier für ein Drama?«
»MILO!«
Erst nach mehreren Augenblicken kapiere ich, was gerade geschehen ist: Milo hatte sich an Pascal gepirscht, ihn an den Locken gepackt und seine Faust in dessen Kiefer krachen lassen, dass es knackte, um ihn anschließend anzuheben und direkt auf den Tisch zu werfen, mitten in die Töpfe und Teller voller Speisen.
Nachdem er davongehechtet ist, wird es totenstill und ich kneife die Lieder fest zusammen, in der Hoffnung, dass es ein Albtraum ist. Alles soll verschwinden. Das alles darf nicht wahr sein, das ist alles nur ein böser Traum und nichts weiter! Wenn es einen Gott gibt, dann soll er das hier ungeschehen machen!
So bewegungslos bleibe ich im Raum und erst als ich eine schallende Ohrfeige spüre und von der Wucht mein Kopf zur Seite fliegt, reiße ich die Augen auf und lege eine Hand auf die pochende Stelle.
»Anja!«, ruft Milos Mutter schockiert und bedeckt, mit Mascaraflecken auf den Wangen, ihren Mund.
Eine am ganzen Körper zitternde Anja hat sich breitbeinig vor mir postiert und noch nie habe ich soviel Hass mir gegenüber bei jemanden festgestellt, außer bei meinem Vater. Sie schnieft und reckt das Kinn vor, ihre kleine Tochter hat sich an sie geklammert. »Das ist nicht nur dafür, dass du mit meinem Ehemann geschlafen hast – das ist auch für meinen Bruder.«
Ich nicke bloß, kann nichts anderes tun gerade, nichts sagen. Ich will mich entschuldigen, doch das würde rein gar nichts wiedergutmachen. Alles ist auf meinem Mist gewachsen, alles habe ich selbst zerstört.
»Und jetzt verschwinde!«, krächzt sie und drückt ihre Tochter fest an sich. »Sofort!«
Pascal liegt immer noch auf dem Tisch und stöhnt gedämpft, Sergej murmelt etwas vor sich hin, Milos Vater sitzt da wie festgewachsen und glotzt in die Leere und Egor kaut mit gehobenen Augenbrauen auf etwas herum.
Mit hochgezogenen Schultern und mühsam beherrscht, wende ich mich um und gehe hurtig hinaus. Ich gehe und gehe und gehe und mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis ich an meinem Ziel angelange und zögernd die Tür aufmache.
Milo lehnt mit der Stirn an der Wand daneben und ich strecke die Hand nach ihm aus, fasse ihn jedoch nicht an, weil die Befürchtung zu groß ist, dass er genauso reagiert wie vorhin.
»Milo?«
»Wieso hast du das getan? Wozu das alles?«
»Ich schwöre, ich wusste am Anfang nicht, dass er verheiratet ist, ich wurde auch belogen!«, beteuere ich, mich überschlagend, aus Freude, dass er mit mir spricht.
Er dreht den Kopf zu mir und knurrt: »Und danach? Als du es herausgefunden hast, hast du dir gedacht: „Ach, was solls!“?«
»Nein, ich…ich wollte…ich wollte einmal im Leben an mich denken, weil ich sonst immer Pech habe–«
»An dich denken?!«, schreit er ungläubig und richtet sich auf. »Ist das deine Entschuldigung? Nur weil du kein Glück mit deiner Familie hattest, rechtfertigt das nicht alles«
Das ist unfair und doch hat er auch recht.
Das Bedürfnis die Augen zu schließen, um Milos zu entkommen ist so intensiv, dass ich es kaum aushalte.
»Das habe ich auch nicht gemeint!«, stoße ich aus und mache einen Schritt auf ihn zu.
»Wie lange schon? Lief das, während wir im Heim waren? Hast du zuerst mit mir gefickt und bist dann zu ihm geschlichen und hast mit ihm darüber gelästert, wie dumm doch die Geschwister Titow sind?«
»Nein! Nein! So war das ganz und gar nicht, ich…«
Wie soll ich ihm das erklären, es ihm verständlich machen? Wie?
»Milo, ich habe mit ihm Schuss gemacht, sobald ich gemerkt habe, wie stark meine Gefühle zu dir sind!«
Milo umgreift grob meine Oberarme und presst mich kräftig an die Wand, an der er vorher gelehnt hat. »Und was ist mit meiner Schwester? Ich habe mich gerade erst mit ihr vertragen und jetzt wird sie mich wieder hassen! Was ist mit meiner Nichte, die jetzt keinen Vater mehr haben wird?«, faucht er und ich fühle seinen heißen Atem.
»Glaubst du etwa, ich habe ihn so gemacht? Pascal war schon vorher schwul!«, verteidige ich mich und sein Griff wird fester, seine Finger bohren sich mir in die Haut, bis es schmerzt.
»Das macht es nicht besser! Du hast alle verarscht. Du hast mich verarscht! Ich habe dir…ich habe dir meine Gefühle gestanden, wie ein verdammter Idiot, und du hast mich hinter meinem Rücken ausgelacht! Das ist doch alles die Rache dafür, dass ich dich früher gehänselt habe! Das war alles durchdacht!«
»Du tust mir weh!«, schluchze ich aus und es schüttelt mich, denn er verdreht einfach alle Tatsachen!
Milo lässt mich ruckartig los und seine Mimik gleicht einer Maske der Emotionslosigkeit, seine eisblaue Iris ist so kalt, dass es mich fröstelt.
»Ach, weißt du, es ist mir egal. Du bist mir egal. Wen du vögelst geht mich einen Scheiß an«
Es ist wie ein Hammerschlag, der mich mitten in die Brust trifft und fast zu Boden bringt. Ich wimmere erschrocken: »Sag sowas nicht!«
Er weicht von mir weg und ich bemerke, wie er hektisch seine Tränen weg blinzelt und der daraus wachsende Hoffnungsfunken, wird sogleich ausgelöscht: »Ich meine es ernst: Tue, was du nicht lassen kannst, aber komme nicht in die Nähe meiner Familie oder mir, verstanden? Wir sind fertig miteinander«
Mit einer zitternden Unterlippe stehe ich da, mir rauscht das Blut dröhnend in den Ohren und ich kann nicht fassen, dass er das wirklich ausgesprochen hat.
»Milo…« Seinen Namen auszusprechen ist das einzige, was mich noch aufrecht hält und nicht zusammenbrechen lässt.
Er starrt mich unerbittlich an. »Du warst nur eine Fickbeziehung, Bunny. Ich habe mich da wohl in was reingesteigert und mir was eingebildet, habe überreagiert. Ich meine, guck dich mal an!«
»Nein, nein, nein! Das sagst du nur, um mich zu verjagen, hör auf damit!«, heule ich und stampfe auf wie ein Kind. Ich weiß es zwar, aber trotzdem tun seine Worte mir weh.
Milo lacht. Er lacht! »Nein, ich habe es endlich kapiert. In der Schule bist du vielleicht der beste, aber im echten Leben bist du naiv und dumm. Du tust gerne so, als wärst du das Opfer, aber eigentlich bist du derjenige, der alle hintergeht. Ich schlage vor, wir lassen das hinter uns und damit das noch besser klappt, ziehe ich in die Militärakademie ab«
Ohne nachzudenken, trete ich an ihn heran und lege meine Hand auf seine Wange, spüre seine Bartstoppeln unter meinen Fingerspitzen und kralle mich an seinem T-Shirt fest, als würde ich ihn so für immer bei mir behalten können.
»Ich liebe dich«, flüstere ich und eine einsame Träne kullert über meine Wange, bis zum Kinn. Er atmet hart aus und schlägt meine Hand beiseite. »Ist mir egal, ich dich nicht. Du widerst mich an«
Ich schluchze lauter. »Tu das nicht. Fahre da nicht hin! Milo, hörst du, ich liebe dich!«
»Mach dich nicht lächerlich« Er kehrt mir den Rücken zu und sagt, bevor er aus seinem Zimmer schlendert: »Pack deine Sachen. In zehn Minuten will ich dich nicht mehr hier sehen«
Mir tut alles weh, meine Glieder erschlaffen und werden zentnerschwer, bis ich umknicke und auf die Knie falle. Den Schmerz in den Knien ignorierend, vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und mich zerreißt ein heftiger Schluchzer fast inzwei. Diesmal sind es nicht Prellungen oder Abschürfungen, die mich quälen, sondern es ist mein Innerstes und im Vergleich dazu, waren die Schläge meines Vater ein Nichts, ein Mückenstich. Ein einziger Satz kreist in meinem Verstand herum und lässt mich immer mehr Tränen vergießen, weil ich weiß, dass es stimmt: "Ich bin selbst schuld"
Milo
»Und du willst das echt durchziehen? In diese Akademie abhauen, für ein halbes Jahr?«, fragt Sergej zweifelnd, während er im Zimmereingang herumgammelt und mir beim Packen zusieht. Es ist wie ein verdammtes Dejavu – gestern noch, habe ich Bunny ganze zwei Mal dabei zugesehen. Das erste Mal, habe ich einiges getan ihn daran zu hindern und das zweite Mal, habe ich darauf gewartet, dass er endlich fertig wird und abhaut.
»Dad hat entschieden, mich für immer wegzuschicken, nicht nur für sechs Monate«, erwidere ich und verziehe dabei keine Miene. In meiner Brust scheint einfach ein Loch entstanden zu sein, welches alles in sich aufsaugt und ich kann mich nicht dazu bringen, etwas zu fühlen, außer Gleichgültigkeit gegenüber meiner jetzigen Situation und überhaupt allem. So ist es auch besser, wenn ich es mir recht überlege.
»Das ist doch ein Witz, oder?«, keucht Sergej halb lachend aus und sobald er meinem Blick begegnet, kapiert er, dass ich nicht wirklich zum Scherzen aufgelegt bin. »Wenn du glaubst, dass es so besser ist oder wird, irrst du dich gewaltig, Milo.«
Ich werfe eine Jeans auf den schon vollen Koffer, drehe mich herum und meine ruhig: »Wenn du glaubst, dass ich mich bei dir ausheulen werde, irrst du dich gewaltig«
Er hebt die Hände und schürzt die Lippen. »Alles klar, ich hab verstanden. Aber was gedenkst du dort zu tun? Was hat Dad sich dabei gedacht? Ist da die Versuchung nicht größer?«
Entspannt gehe ich in die Knie und zerre an dem Reißverschluss des Koffers. »Ich bin nicht schwul. Ich werde die gleiche Ausbildung wie Dad machen, aber mir dort in der Nähe eine Wohnung suchen, um nicht zu pendeln, wie er es immer macht, fertig«
Mein Bruder schnaubt frustriert und schüttelt den Kopf. »Scheiße, Milo, lässt du dir dein ganzes Leben von dem Kleinen umkrempeln?«
»Ich habe sowieso keine Wahl. Du hättest sehen müssen, wie Dad mich angesehen hat – als wäre ich eine Kakerlake oder sowas«
Ich bereue sofort das ausgesprochen zu haben, denn nun kommen die Gedanken daran zurück, mein Magen zieht sich zusammen und meine Finger gleiten wie von selbst zu dem Bluterguss an meinem Wangenknochen. Diesmal hat er das so gestaltet, dass es offensichtlich ist – nicht wie sonst also – und ich muss jetzt damit herumlaufen. Es ist demütigend und dass meine Mutter es gesehen hat, was bisher noch nie vorgekommen ist, macht es nicht erträglicher. Wie eine Verrückte hat sie auf Dad eingeschlagen und eingeschrien, ihm mit der Scheidung gedroht, aber am Ende konnte er sie doch besänftigen, mit dem Versprechen, dass das nicht erneut passiert. Sie ist so gutgläubig und hat ihm geglaubt und ich konnte ihr nicht sagen, dass es nicht das erste Mal war und bestimmt nicht das Letzte.
Meine Erinnerungen werden durch einen Klingelton unterbrochen, doch ich mache keine Anstalten, nach dem schwarzen Handy zu greifen, das auf meinem Bett liegt. An dieses Geräusch habe ich mich mittlerweile gewöhnt und es macht mir nix mehr aus, ich kann es ignorieren.
Sergej seufzt und gestikuliert in die Richtung. »Hast du nicht vor, dran zu gehen?«
»Nope«, sage ich knapp, erhebe mich mit dem Koffer und rolle ihn zu meinem Zimmerausgang, wo er unverändert lehnt und mich von oben bis unten betrachtet.
»Weißt du, du hast mir die letzten Tage mehr gefallen. Du hast zwar nur im Bett gelegen und stumm vor dich hin geflennt, um anschließend sinnlos an die Decke zu starren. Aber da hast du wenigstens nicht so getan, als wäre dir alles gleichgültig, das kann nämlich nicht sein! Wenn man alles herunterschluckt, wird es später–«
Entnervt knurre ich auf und verdrehe die Augen. Immer muss er sich überall einmischen und in den Gemütern anderer Leute herumstochern. »Quäle jemand anderen mit deinen Weisheiten. Und nur zur Info: Ich tue nicht so, es ist so! Ich werde in die Akademie gehen, meine Ausbildung machen, eine Wohnung und eine Arbeit und eine perfekte Freundin finden und nicht mehr an…ihn denken, okay? Und jetzt lass mich vorbei, sonst mache ich es selbst«
»Du willst also Anja auch allein lassen? Hast du ihr erzählt, dass du weg fährst?«, erkundigt er sich und ich stocke mitten in der Bewegung.
Anja. Sie habe ich zur meiner Scham ganz vergessen.
Ich senke die Augen und schlucke. »Du wirst ihr helfen und Ma auch, ich werde sie anrufen«
Traurig blickend macht er mir Platz. »Na schön, du wirst es dir anscheinend nicht anders überlegen, aber ich sage dir: Später wirst du es bereuen und verstehen, dass jeder Fehler macht und nach allem, was ich über diesen Bunny gehört habe, hat er eine zweite Chance verdient«
Ohne darauf zu antworten, strebe ich den Flur hoch und kann die wieder an die Oberfläche schwimmenden Gefühle nur schwer unterdrücken. Verdammter Sergej!
Roman
Mühsam schleppe ich mich die Treppen hinauf, jeder Schritt ist schwerer als der andere, und stoße die Tür auf, an der ich zum Schluss ankomme.
Diese Nachhilfestunden bringen mich noch um! Ich frage mich ernsthaft, wie dumm ein Mensch eigentlich sein kann! Jedes Mal liegen meine Nerven nach einer dieser Stunden blank und ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das weiterhin antun sollte. Doch dann höre ich das Bare in meiner Hosentasche knistern und beruhige mich wieder. Jeden Tag der gleiche Kreislauf. Das Gute daran ist, dass mich das einigermaßen ablenkt – von Milos Abwesenheit ablenkt.
»Hey, Süßer, hast du heute schön viel verdient?«
Sina, bei der ich seit knapp zwei Monaten wohnen darf, fällt mir um den Hals und ich bin ein bisschen verwirrt darüber, denn wir haben uns erst vor ein paar Stunden verabschiedet.
Unvermittelt weicht sie zurück und hält mich auf Armabstand, mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
»Hast du etwas von Milo gehört?«
Mein Herz krümmt sich und verstört schiebe ich sie von mir, drehe mich um, damit sie meine sofort feucht gewordenen Augen nicht bemerkt. Ich kann das nicht kontrollieren – wenn ihn jemand erwähnt, bin ich eine Sekunde später kurz vorm heulen. Noch schlimmer trifft es mich, wenn ich von ihm träume, in meinen Träumen sind wir immer zusammen, und dann aufwache und realisiere, dass das nicht echt ist und nie sein wird. Und, dass ich das verdiene, nach allem, was ich falsch gemacht habe. Das trifft mich jedes Mal von Neuem und in diesen Nächten ist Sina da, um mich zu trösten und ich bin ihr dankbar dafür, für vieles bin ich ihr sehr dankbar.
Sie kennt meine Reaktion und deswegen verstehe ich jetzt nicht, warum sie ihn erwähnt.
Tief und laut atmet sie ein und aus, als müsse sie sich zähmen und fängt langsam an zu strahlen. »Ich habe etwas für dich«
Unsicher kaue ich auf meiner Unterlippe und frage mich, was sie meint. Eine leise Ahnung wächst in mir, doch ich würge sie herunter. »Was ist es?«
»Das!«, ruft sie und zaubert einen weißen Umschlag aus ihrer hinteren Hosentasche hervor.
Mein Atem setzt aus, als ich die Adresse des Absenders lese.
Ganz oben irgendein Kauderwelsch aus Abkürzungen und ein paar Zahlen, aber danach…danach steht da ein bekannter Name: "Miloslav Titow"
Diese Buchstaben entfachen ein Feuer in mir, versengen mein ganzes Inneres, lassen mein Herz vielfach höher schlagen und vor Aufregung mein Essen fast auskotzen. Jeder weiterer Atemzug kostet mich Kraft.
Ich entreiße ihr den Brief wie ein Wilder und starre es an.
Als Empfänger steht bloß Sinas Adresse und weiter unten „Bunny“, meine Hände fangen unbändig zu zittern an.
»Ich frage mich, woher er weiß, dass du bei mir wohnst«, murmelt Sina und kratzt durch ihre Locken, doch ich konzentriere mich mit Leib und Seele darauf, den Umschlag in Zeitlupe aufzureißen. Etwas fällt auf den Boden sobald es offen ist und ich bücke mich zögerlich
»Was ist es, was ist es?«, hüpft meine Cusine auf und ab und klatscht in die Hände, während ich unten hocken bleibe und fühle, wie mir ein Schluchzer hochsteigt.
Sie hört mit dem Hüpfen auf und mustert mich besorgt. »Alles okay, Roman?«
»…«
»Was hast du gesagt?«
»Ein Ticket. Reiseticket«, kriege ich hin auszusprechen, auch wenn mir die Stimme am Ende bricht.
Und nicht nur das, auf dem Ticket sind zwei kleine Wörter am Rand geschrieben, ich glotze sie an, bis meine Augen mit zu viel Wasser gefüllt sind, als dass ich etwas erkennen könnte.
„Bis bald“
»Das ist also der Roman?«, fragt mich unverwandt Finn von hinten und ich schrecke so hoch, dass ich mir triftig den Kopf an der Bettstange anschlage. Fluchend und mir über den rasierten Hinterkopf reibend, stecke ich das Handy zurück in meine Socke und unter die Matratze meines Betts, werfe ihm einen angesäuerten Blick zu.
»Geht dich wohl gar nichts an«
Finn rollt mit seinen katzenartigen, grünen Augen, was immer leicht faszinierend ist, und grinst dreckig, wie er es sehr oft pflegt zu tun. »Von mir aus, sag es mir halt nicht, Brummbär! Jedenfalls sieht er lecker aus! Rotschopf. Ich hab mich immer gefragt, ob sich ihre Haare im unteren Bereich anders anfühlen–«
Ich puste die Luft zwischen den Zähnen aus und hebe schnell die Hand, um ihn am Weitersprechen zu hindern. »Finn, du redest wieder schwules Zeug. Deine Familie hat dich hierher geschickt, damit du hetero wirst. Ich glaube es wird mal Zeit, dass du damit anfängst«
»Und? Fühlen sie sich anders an, als bei anderen Kerlen?«, will er wissen und hat sich offenbar entschlossen, mein Gesagtes völlig zu überhören.
»Woher soll ich das wissen? Ich bin nicht so rumgekommen wie du!«, maule ich genervt und setzte mich in Bewegung, doch Finn folgt mir natürlich, nicht im geringsten beleidigt durch meine Worte und so neugierig wie eh und je.
»Ja, aber du weißt wie deine sich anfühlen und wie seine sich anfühlen. Gibt es da einen Unterschied?«
»Wie kommt es, dass wir uns über männliche Schamhaare unterhalten?« Ich schüttele ungläubig den Kopf. Und als er mich weiterhin erwartungsvoll anstarrt, seufze ich abgrundtief ein „Nein“. Meine Augen werden für einen Moment glasig, sobald ich zwangsläufig an ihn denken muss. An den Anblick, als er völlig nackt vor mir lag und ich einfach alles berühren durfte, jede Stelle seiner bleichen, mit Muttermalen bedeckten Haut küssen durfte. »Erinnert einfach an Feuer« , murmele ich ohne zu überlegen und zupfe an meinem schwarzen T-Shirt.
»Hast du ihm das mal gesagt?«
Ruckartig wache ich aus dem Tagtraum auf und blicke ihn entfremdet an, räuspere mich. »Wir kommen zu spät zum Lauf«
Damit schiebe ich Finn – der anscheinend noch nie etwas von Privatsphäre gehört hat – von mir weg und gehe an ihm vorbei, die Lippen schürzend holt er auf und meint leise: »Also wohl nicht«
Bevor ich was erwidern kann, durchbricht das Gebrüll des Aufsehers die Stille im Vorhof, wo alle schon in einer geraden, perfekten Reihe stehen.
»Titow, Gerd, in die Reihe! Ihr seid wieder zu spät! Das gibt fünf extra Runden für alle!«
Es gibt ein kollektives Aufstöhnen und alle werfen Finn und mir böse Blicke zu, die wir beide so gut es geht ignorieren – das kriegen wir mittlerweile gut hin, da es weiß Gott nicht das erste Mal ist. Dafür kann ich eigentlich nur Finn verantwortlich machen, er ist derjenige, der mich manchmal zu Sachen überredet, auf die ich sonst nie gekommen wäre. Zum Beispiel das eine Mal, als er mich irgendwie dazu gebracht hat, Wache zu schieben, während er die Ehrenbilder, die in der Cafeteria hängen, mit männlichen Genitalien geschmückt oder ganz gegen Pornodarsteller aus seinem speziellen Heftchen ausgetauscht hat. Ich fand es damals lustig, im Rückblick aber bereue ich es zutiefst.
Der nächste Tag war der Horror, nicht nur weil wir herausfinden mussten, dass es in der Cafeteria tatsächlich Kameras gab, sondern auch, dass unsere gesamte Gruppe dafür geradestehen musste. Seit dem Tag sind unsere Kameraden gegen uns und ich kann es ihnen nicht wirklich verübeln.
Ich weiß nicht mal genau, wie es dazu gekommen ist, dass Finn und ich sowas wie Freunde geworden sind in dieser Zeit. Wir sind völlig verschieden und haben nichts gemeinsam außer dem Anlass, warum wir hierher geschickt wurden…und natürlich unserem Beuteschema.
»Und jetzt los, ihr Waschlappen, ich will hier kein Gestöhne mehr hören!«, brüllt der Aufseher und scheucht uns wie eine Horde Schafe auf die Laufbann.
Finn und ich haben ungefähr die gleiche Kondition – obwohl er weniger muskulös ist, ist er flink und hat Ausdauer, also machen wir die meisten Übungen zusammen.
Auch diesmal laufen wir in einem regelmäßigen Rhythmus nebeneinander her und reden nicht, doch ich merke, dass ihm etwas auf der Seele liegt, da er mich ständig aus den Augenwinkeln mustert. Bei der dritten Runde gebe ich schließlich nach.
»Was?«, es klingt barscher, als vorhergesehen, aber er wird es schon verkraften.
»Ich– Ich wollte es dir schon vorher sagen, aber ich wusste nicht wie…Also, ich haue heute ab«
Ich stolpere beinahe über meine Füße und starre ihn dann mit einem offenem Mund an, laufe jedoch weiter.
»Was soll das heißen?«, frage ich, auch wenn ich mir denken kann, was es heißt – wir haben oft darüber gesprochen, doch ich hätte nie gedacht, dass er das ernsthaft durchziehen würde.
Finn kaut unsicher auf seiner Lippe, was ganz ungewöhnlich für ihn ist, da er sonst das Gegenteil von unsicher ist. »Ich habe genug Zeit hier verschwendet, heute haue ich hier endgültig ab. Heute Nacht genauer gesagt. Mein Freund wird auf mich warten, ich habe alles vorausgeplant. Die Aufseher haben ihren freien Abend und werden saufen, also wird nur ein Vertreter da sein und das ist der, der ständig im Stehen einpennt, also ist es kein Problem an ihm vorbeizuschleichen«
Nickend wende ich meinen Blick von ihm ab, es ist ein guter Plan, und erhöhe mein Tempo unwillkürlich. Ich würde es nicht zugeben, aber ich fühle mich leicht verraten, weil er es mir erst jetzt offenbart.
»Und was geht mich das an?«, erkundige ich mich aufgesetzt gleichgültig.
»Vielleicht möchtest du mitkommen, Milo?«
Da stoppe ich schlagartig im Lauf und sehe ihn fast wütend an.
»Bist du bescheuert? Mein Dad wird mir kein Cent mehr geben, wenn ich hier abhaue und ich habe die Schule nicht mal beendet, wo und wie soll ich deiner Meinung nach leben?«
Mein Kumpel gestikuliert wild, während unsere Kameraden an uns vorbeilaufen und der Aufseher vom anderen Ende uns etwas zuschreit, doch wir blenden ihn aus.
»Hey, du bist achtzehn und kannst tun und lassen, was immer du willst! Ich habe so viel Geld gesammelt, dass es für uns beide eine Weile lang reicht und in der Zwischenzeit suchen wir uns Jobs. Wir können uns in eine Abendschule einschreiben, wenn wir möchten, und so unseren Abschluss machen. Wir können endlich frei von unseren Alten sein, kapierst du? Du kannst Roman zu dir holen–«
Da unterbreche ich ihn schneidend.: »Wow! Wer hat von Roman geredet? Wer sagt, dass ich ihn zu mir holen will?«
Finn schnaubt und verdreht in seiner Manier die Augen, als hätte er mich schon längst durchschaut.
»Du selbst. Nicht nur, dass du ständig auf das Foto in deinem Handy starrst, wie ein liebeskranker Teenager, du sprichst auch im Schlaf ganz schön viel und kannst froh sein, dass alle außer mir schlafen wie Tote. Ansonsten würde jeder in der Truppe wissen, wie doll du es vermisst, dich hart und heiß in einem „Bunny“ zu versenken – den Spitznamen könnte man übrigens in diesem Zusammenhang ziemlich falsch verstehen.«
Vermisst. An diesem Wort bleibe ich hängen. Eigentlich ist es nicht mal das richtige Wort, um das zu beschreiben, wie es sich anfühlt – mein Körper sehnt sich mit jeder Faser nach ihm, mit jedem vergangenen Tag wird es stärker und stärker und ich kann nichts dagegen tun. Es ist wie ein Ziehen und Saugen, das nicht verschwindet. Ich vermisse seine Augen, seine leuchtenden Haare unter meinen Fingern und seinen Duft. Und ich hätte nie gedacht, dass man Muttermale vermissen kann, aber ich tu es. Ich musste sogar die Simkarte wegwerfen, weil ich seine Nummer nicht löschen konnte und ihn sonst angerufen hätte.
Das alles ist so peinlich und sieht einem Milo Titow nicht ähnlich. Sowas kannte ich vorher nicht – nicht in diesem Ausmaß – und ich kann es nicht ausstehen. Ich benehme mich wie ein Mädchen bei ihrem ersten Liebeskummer.
Errötend schaue ich zur Seite und renne wieder los, viel schneller jetzt. Der Lockige an meiner Seite, der es wie durch ein Wunder geschafft hat, dass man ihm die Haare nicht abrasiert wie allen anderen, bleibt an meiner Seite.
»Weißt du, einmal im Leben kannst du deinen Stolz herunterschlucken.«, keucht er zwischen hörbaren Atemgeräuschen.
»Nein, kann ich nicht«, knurre ich zurück – ich habe genug davon, dass Leute denken, sie wüssten besser, was gut für mich ist, als ich selbst.
»Schon klar…du fühlst dich hintergangen und bist verletzt, aber nach allem…was ich von dir gehört habe…hast du ihn viel öfter verletzt…und er hat dir stets verziehen. Also ich habe keine Ahnung wie du es siehst…aber er liebt dich offenbar…und hat einen Fehler gemacht…den er bereut«
Erneut halte ich abrupt an und schubse ihn prompt gegen die Brust, er schwankt ein paar Schritte zurück und es bringt uns ein paar neugierige Blicke ein.
»Hast du dich etwa mit Sergej gegen mich verschworen? Und als ob du eine Ahnung von diesen Dingen hast! Du hattest noch nie eine Beziehung, also halt die Klappe«
Diesmal sieht Finn verletzt aus, aber nur kurz. Gleich darauf wirkt er eher sauer.
»Nur weil ich keine Beziehung hatte, heißt es nicht, ich war noch nie verliebt – wenn auch unglücklich!«, schnauzt er mich an und tritt näher, seine Augen blitzen, wie ich es noch nie erlebt habe bei ihm. »Du hast das Glück jemanden gefunden zu haben, der dich liebt, obwohl du so verdammt widerspenstig manchmal bist, und du willst es einfach wegwerfen. Das finde ich eben dumm und ich dachte nicht, dass du so dumm bist, Milo«
Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, doch er fährt stattdessen fort.
»Warst du derjenige, der ihn jahrelang verbal misshandelt hat?«
»So war das nicht–«, versuche ich mich schwach zu verteidigen, aber er hört nicht hin. Jetzt kapiere ich, dass ich ihm vielleicht nicht alles hätte erzählen sollen, denn er kann es nun gegen mich wenden.
»Ja, du warst derjenige. Warst du der eine, vor dem er beschützt werden musste? Ja. Warst du derjenige, der ihn schon fast vergewaltigt und dann einfach so verwirrt sitzen gelassen hat?«
»Hey, es war ganz einvernehmlich, okay?«
Finn jedoch redet sich immer weiter in Rage und rattert alles herunter, als hätte er das alles lange Zeit in sich getragen, um es jetzt loszuwerden. Das schlimmste ist, dass er recht hat und dass mir das sehr wohl bewusst ist.
»Ja, gut, aber du hast ihn überrumpelt und völlig verwirrt und das macht man nicht. Kannst du dir vorstellen, wie er sich damals gefühlt hat? Und das war noch nicht alles: Warst du der eine, der ihn als eine “Fickbeziehung“ bezeichnet hat? Warst du der eine, der ihn ignoriert hat und sich geschämt hat, mit ihm gesehen zu werden? Ja und ja! Er hat dir alles verziehen, sogar die Tatsache, dass du derjenige warst, der ihm diesen bescheuerten Spitznamen verpasst hat–«
»Ich hab es kapiert, ist ja gut! Sei endlich still! Scheiße!«, schreie ich und balle die Fäuste. »Das ist mir alles bewusst!«
Er hebt ebenfalls seine Stimme: »Was ist dann dein Problem, wieso verzeihst du ihm nicht?!«
»Das ist ja das Problem! Ich hab ihm schon längst verziehen und das darf ich nicht!«, brülle ich letztendlich raus und dann bedecke ich meine Gesicht, bemüht, mein Herzrasen zu stoppen.
Plötzlich fühle ich eine Hand auf meiner Schulter und da bricht es aus mir hinaus: »Ich darf ihm nicht verzeihen, er hat nicht nur mit einem Mann geschlafen – er hat mit dem Mann meiner Schwester geschlafen, verstehst du? Wie soll ich ihr wieder unter die Augen treten, wenn ich ihn zu mir hole?«
»Ah, ich höre ein „Wenn“ und kein „Falls“!«, sagt Finn zufrieden und ich schaue mit zu Schlitzen verengten Augen auf.
»Milo, sie ist deine Schwester. Ich habe auch Geschwister und egal welche Scheiße ich angestellt habe in den Jahren – und glaub mir, das ist eine Menge – sie haben mir immer verziehen. So ist das in der Familie nun mal. Deswegen gibt es Geschwister – im Gegensatz zu Freunden kann man sie sich nicht aussuchen und sie können dich nicht einfach abschreiben – weil du zur Familie gehörst. Wenigstens kann deine Schwester froh sein, nicht mehr von ihrem schwulen Ehemann belogen zu werden und kann jemanden neuen finden, der sie schätzt. Sie ist doch noch jung«
»So ein weiser Klugscheißer. Du erinnerst mich wirklich an meinen Bruder Sergej. Er hat auch auf alles eine Antwort«
Er grinst darauf und klopft auf meine Schulter. »Wenn er so gut aussieht wie du, kannst du ihn mir ja gern vorstellen–«
»Niemals!«, lache ich und schlage seine Hand weg, doch Finn wird wieder ernst. »Also, was denkst du über meinen Vorschlag? Es ist schon in ein paar Stunden so weit«
Eine Weile lang lege ich meinen Kopf in den Nacken und starre in den blauen Himmel, als würde dort die richtige Antwort stehen, denke ernsthaft darüber nach, erwäge alle Möglichkeiten. »Und wo würden wir wohnen?«
»Bis wir was eigenes finden, bei meinen Freund, bei dem, der uns heute abholt«
»Ich werde aber kein Zimmer mit dir teilen, dass sage ich dir schon im Voraus«
»Also ist das ein Ja?«, fragt er, mich anstrahlend.
Leicht schmunzelnd nehme ich unser normales Tempo wieder auf, da der Aufseher sich mittlerweile die Lunge aus dem Leib bellt und sich sogar von seinem Arsch erhoben hat, stets näher auf uns zu watschelnd.
»Was glaubst du denn?«
Weit komme ich nicht, denn Finn bringt mich schon zu Boden, indem er mit seinem ganzen Gewicht auf mein Rücken springt. Er lacht irgendwie befreit als wir beide auf dem Gras neben der Laufbann landen und ich fühle das gleiche. »Ich glaube, dass wird die beste Zeit unseres Lebens, Brummbär!«
Ja, meine lieben Leser, ich weiß, ich weiß, manche von euch sind nicht zufrieden, dass ich das Ende so "offen" gelassen habe und ich entschuldige mich für eure enttäuschten Hoffnungen. Auch wenn ich persönlich nicht finde, dass man es als sooo offen bezeichnen kann, wenn jeder genau weiß, was als nächstes passieren wird.
Ich habe ziemlich deutlich gemacht, dass Milo das Ticket an Roman/Bunny geschickt hat und das bedeutet ungefähr das:
Mit dem Song "Time of my Life" im Hintergrund sehen sie sich das erste Mal nach langer Zeit wieder in die Augen. Ihrer beider Herzen bleibt stehen und dann laufen sie so schnell wie noch nie in ihrem Leben aufeinander zu, die anderen Passanten aus dem Weg schubsend, bis sie sich genau in der Mitte treffen und förmlich ineinaderkrachen wie zwei rasende Autos. Roman schlingt seine Beine um Milos Hüften und die Arme um den Nacken, während Milo seine Finger in den gewachsenen, roten Haaren versenkt. Sie halten sich so fest wie nur möglich, wissen gar nicht, wo der eine beginnt und der andere aufhört und lassen erst nach einer ganzen Ewigkeit los. Sie sehen sich nochmal tief in die Augen, grün-braun in blau, und lehnen sich gleichzeitig vor, um sich leidenschaftlich und zärtlich zugleich zu küssen. Flüsternde Liebeserklärungen, Verprechen und heißer Atem werden Lippen an Lippen und Stirn an Stirn ausgetauscht, bevor sie sich wieder küssen – diesmal viel langsamer und länger und es fühlt sich an, als würde es nie enden.
Ein langes und glückliches Leben erwartet sie, mit viel Streit und Versöhnungssex und vielleicht irgendwann Kindern mit eisblauen Augen oder einem roten Schopf… okay, ich glaube, ihr versteht, was ich sagen will.
Und ich habe mir gedacht, weil das derart voraussichtlich ist, lasse ich es lieber so wie es ist.
Text: Alles von mir
Images: verdanke ich Nadin Pohler alias ultranumb
Editing: Osterhase
Publication Date: 07-17-2013
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