Polizeiinspektion München-13, Schwabing. Ruhig ist es hier noch nie zugegangen. Aber seit ein paar Wochen wird es immer schlimmer. Die vielen Lokale mit ihrem internationalen Angebot machen einen großen Teil des Charmes des Stadtviertels aus. Aber jeder von einem Ausländer geführte Betrieb, von einem Betreiber mit Migrationshintergrund, wie es in der Amtssprache auszudrücken ist, ist eine Anlaufstelle für seine Landsleute. Für Legale und Illegale. Und jede Gruppierung arbeitet an ihrer Struktur, an ihrer Unauffälligkeit und an ihrem Gelderwerb. Mit legalen und mit illegalen Methoden.
Verschärft hat sich die Situation, ausgelöst durch die Auseinandersetzungen im Mittelmeerraum, durch die vielen illegal eingereisten Flüchtlinge. „Wenn sie sich wenigstens wie Gäste an die Spielregeln halten würden“, hatte der Inspektionsleiter in der vorletzten Dienstbesprechung kritisiert, „Registrierung, Verfahren, Entscheidung. Wir wissen, dass diejenigen, die schwarz über die Grenze gekommen sind, keine Spielregeln einhalten. Sie wollen nicht 'teilhaben' an unserem Leben, wie man es lange genannt hat. Sonst müssten sie ja auch teilhaben an den sechzehn Prozent unserer Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt. Sie müssten teilhaben an der Arbeitslosigkeit, unter der sieben Prozent der Arbeitsfähigen leben. Nein, sie wollen nicht teilhaben. Sie wollen haben! Sie sehen den Wohlstand und wollen auch genug davon, sofort, sie wollen nicht warten.“
Das war keine neue Erkenntnis, auf die sie gehofft hatten, aber der Chef wusste wenigstens, wie der Alltag auf der Straße aussieht, und das machte sie duldsamer.
Die 'Aufnahme', wie sie den Raum nennen, der erste Raum hinter dem großen Eingang, war voller Menschen, 'Kunden', wie sie in behördlichem Neudeutsch heißen, und entsprechend laut. Es war an einem Dienstagmorgen Ende September. Noch waren die Nächte mild und das nächtliche Treiben auf den Straßen lebhaft, als wolle man alle Restaurants, alle Kneipen aufsuchen, die man auf der Liste hat, bevor der Herbst mit Kälte, Regen und Wind das Bummeln ungemütlich macht. Entsprechend bunt war die Schar der 'Kunden', von der Nacht Ausgespuckte und vom neuen Tag noch nicht willkommen Geheißene. Da war fast das gesamte Strafgesetzbuch versammelt.
Die 'Kunden' stellen sich bei der 'Annahme' an, einem Schalter wie bei der Post, an der linken Seitenwand und den Fenstern gegenüber gelegen, mit mehr oder weniger Geduld, bis sie an der Reihe sind. Sie nennen dem Beamten den Grund für ihren Besuch, was oft schon zu einer Geduldprobe wird. Dann erhalten sie eine Nummer, eine 'Fall-Nummer', mit der sie im Wartebereich Platz nehmen, bis ein Ordnungshüter Zeit für ihr Anliegen hat.
In der Warteschlange vor der 'Annahme' stand ein Mann. Er fühlte sich offensichtlich unwohl an diesem Platz, sah gelegentlich verstohlen um sich, als fürchte er, von einem Bekannten gesehen und erkannt zu werden. Er war nicht sehr groß, hatte die Hände in den Hosentaschen, wirkte, als versuche er, sich in seinen Mantel, den er offen trug, zurückzuziehen. Seine Kleidung war geordnet und gepflegt: Wildlederschuhe, Bügelfalte in den Hosenbeinen, dezent gestreiftes Hemd, Krawatte mit Streifenmuster, business-like.
„Ich möchte eine Vermisstenmeldung aufgeben“, sagte er mit verhaltener Stimme dem Beamten, als er an die Reihe kam. „Aber bitte: ganz diskret.“ Er sah sich schnell noch einmal um. „Und kann das ganz schnell gehen? Ich möchte nicht zwischen den Leuten da warten müssen. Ich habe auch nicht viel Zeit. Mein Geschäft, Sie verstehen?“
Der Wachtmeister hatte verstanden. Sie arbeiten kundenorientiert. Geschäftsmann? Gepflegte Erscheinung? Sorgfältig gekleidet? Wenn etwas geht, dann machen sie das auch. Er gab die 'Fall-Nummer' über den Tresen und griff zum Telefon.
Schon nach wenigen Minuten kam eine uniformierte Beamtin: „Polizeihauptmeisterin Schlettner. Kommen Sie.“ Sie gingen zu einem der im Hintergrund liegenden Besprechungszimmer.
„Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Dann fangen wir doch mit Ihrem Namen an“, sagte sie und rief mit dem Computer im Datensystem einen entsprechenden Vordruck auf.
„Hornbacher! Jost Hornbacher. Internationale Delikatessen, Leopoldstraße, Ecke Freiheit.“ Hornbacher war sichtlich nervös. Er saß nur auf der Vorderkante des ihm angebotenen Stuhles. Er wusste noch nicht wohin mit den Händen, steckte sie in die Manteltaschen, empfand das wohl als ungehörig, zog sie wieder heraus und legte sie auf die Kante des Schreibtisches. Während Schlettner Namen und Straße in den Computer eingab, fuhr Hornbacher fort: „Ich habe es schon Ihrem Kollegen gesagt! Bitte ganz diskret! Ich habe ein Geschäft, exquisite Waren und noble Kundschaft. Wenn sich das rumspricht, das macht meinen guten Ruf kaputt.“
Schlettner sah auf: „Sie müssens mir scho alles sagen und brauchens net zu flüstern. Und wenn wir ermitteln sollen, deswegen sind Sie doch hier, dann kann ich die Anzeige auch nicht im Schrank einsperren. Also: Sie sind Kaufmann. Wann sans geboren?“
Er nannte sein Geburtsdatum, wurde unruhig. „Sie sollen nicht mich suchen, Frau Schlettner“, versuchte er sie zu belehren. War sie vielleicht neu hier? Hatte noch keine Erfahrung mit Vermisstensachen? Ein erfahrenerer Mann wäre ihm lieber gewesen. Und überhaupt: mit einer Frau über das alles sprechen?
„Und wohnen Sie auch da, in der Leopold?“
„Nein. Da ist mein Geschäft. Mein Büro. Ich wohne in der Schwedenstraße. Sie wissen sicher, wo das ist.“
Sie wusste es. Der noblen Geschäftsadresse angemessen. „Und jetzt sagns mir: Wen vermissen Sie.“
„Ich vermisse meine Frau. Anne Dorothea Hornbacher geborene Weißner.“ Vorsorglich nannte er auch ihr Geburtsdatum. Er griff sich an den Kragen, als würde der plötzlich zu eng, löste die Krawatte ein klein wenig, seine Hände zitterten. Jetzt, nachdem er ihren Namen genannt hatte, wurde da die Erinnerung für ihn bedrängender? Wurde ihr Fehlen schmerzhafter?
„Erzählens mir einfach mal so: Wann haben Sie sich zuletzt gesehen? Wann genau war das? Wo kann sie hingegangen sein?“
Hornbacher rutschte auf seinem Stuhl herum, stützte sich auf den Armlehnen ab: „Das war in Norwegen. Morgen sind es drei Wochen. Zuerst habe ich gedacht, ihre Reise dauere eben ein bisschen länger. Wir lassen uns viel Freiheit, wissen Sie. Sie hätte auch bei Bekannten sein können. Wir haben Freunde in Norwegen. Ich habe sie angerufen, aber da ist sie nicht. Und dann habe ich gedacht, na gut, habe ich gedacht, wir haben uns gestritten, jetzt lässt sie mich dafür büßen, aber am Wochenende kommt sie dann. Sie war noch nie länger als zwei Wochen weg. Aber sie ist nicht gekommen.“
Polizeihauptmeisterin Schlettner hatte sich in ihrem Schreibtischstuhl hinter ihrem Keyboard aufgerichtet. Der Fall schien interessant zu werden. „Nichts von ihr gehört. Was ist mit ihrem Handy?“
„Jeden Tag angerufen. Immer nur die Mailbox und kein Rückruf.“
„Sie waren also beide in Norwegen, Herr Hornbacher. Wo und warum?“
„Ich beziehe von einem Händler in Bergen meine Fischprodukte. Ökologische Aufzucht, beste Verarbeitung, spezielle Rezepturen, das kriegen Sie so sonst nirgendwo. Der Händler hatte uns eingeladen. 'Festigung der Geschäftsbeziehungen' nennt man das unter Geschäftsfreunden. Besichtigung seiner Produktionsanlagen, Verkostung neuer Produkte, Sightseeing. Eine Woche haben wir uns dafür genommen. Montag Hinflug, erster Kontaktbesuch. Dienstag Fahrt zu den Fischfarmen. Meine Frau blieb in der Stadt, Fisch stinke, meinte sie, sie gehe lieber shoppen. Abends sagte sie, sie habe bei Hurtigruten eine Fahrt nach Norden gebucht. Sie wolle die fantastische Landschaft ohne den Geruch von Fisch genießen. Wenn mein Besuch beendet sei, solle ich nach Oslo kommen, dort würden wir uns am Wochenende treffen. Ich habe sie zum Schiff gebracht.“ Hornbacher kniff die Augen zusammen, als könne er dem Schiff gegen den Seewind, einem kräftigen Nordwest, noch nachschauen. Sein Atem ging schnell, als sei er eine so lange Rede nicht gewohnt.
„Und weswegen haben Sie sich gestritten?“, wollte Schlettner wissen.
„Naja, ich habe ihr gesagt, das sei unhöflich, das könne den Geschäftspartner verärgern. Er ist ein wichtiger Lieferant für uns, der Beste im Sortiment Fisch. Er räumt uns gelegentlich Sonderkonditionen ein, mit Eilversand, mit Spezialitäten. Er hat uns beide eingeladen. Sie ist auch nach Bergen mitgekommen, will aber lieber shoppen gehen. Will am nächsten Tag sogar ihren Besuch abbrechen und eine Schiffsreise machen, anstatt den Kontakt zu fördern. Ich habe gesagt, so gehe das nicht. Sie müsse auf das Geschäft Rücksicht nehmen.“
„Aber: Es gab auch körperliche Attacken? Schläge?“, fragte Schlettner. Sie schien ihre Erfahrungen mit Ehestreitigkeiten gemacht zu haben.
„Nein!“, beteuerte Hornbacher. „Wir sind kultivierte Leute. Wenn wir streiten, dann verbal. Mit Argumenten.“
Schlettner bemühte sich, eine Zusammenfassung in den Computer einzugeben, ohne dass eine zu lange Pause entstand: „Sie sagten, Ihre Frau habe eine Fahrt bei Hurtigruten gebucht. Wohin wollte sie denn fahren?“
„Zuerst dachte ich, das sei ja ganz klar. Das ergebe sich von selbst. Wenn sie am Wochenende in Oslo sein wolle und am Mittwoch mit dem Schiff in Bergen abfuhr, dann käme sie ja nur bis Trondheim. Das sind zwei Tage. Von weiter oben gibt es keine direkte Bahnverbindung.“
„Dachten Sie zuerst, Herr Hornbacher. Was war dann?“
„Wir wohnen, wenn wir in Oslo sind, immer im Thon Hotel Vika Atrium. Als sie am Sonntag noch nicht angekommen war, habe ich angefangen, zu telefonieren. Zuerst mit dem Hotel in Bergen, hätte ja sein können, dass einer von uns sich geirrt hat und sie da auf mich wartet. Dann mit meinem Geschäftspartner, das war mir peinlich, aber er hatte nichts von ihr gehört. Ich habe mit Hurtigruten telefoniert, aber die sagten, sie könnten keine Frau Hornbacher auf den Passagierlisten finden. Auch nicht für das Schiff, zu dem ich sie am Mittwochmorgen selbst gebracht hatte. Das konnte ich nun überhauptnicht verstehen. Dann habe ich ein paar Freunde angerufen. Wäre ja denkbar, dass sie sich dort gemeldet hat. Vielleicht in einem der Wochenendhäuser wohnt. Aber da war nichts. Donnerstag bin ich dann alleine zurück nach München geflogen. Ich hatte gehofft, sie sei inzwischen zu Hause angekommen. Ich kann auch mein Geschäft nicht so lange alleine lassen. Ein paar Tage, das schaffen meine Mitarbeiter auch ohne mich. Aber mehr wird schwierig. Die Kunden sind empfindlich.“
Es wurde eine längere Sitzung. Foto und Personenbeschreibung. Besondere Kennzeichen und Merkmale. Kleidung und sonstige Ausrüstung. Adressen der Freunde in Deutschland und Norwegen. Schließlich stellte Schlettner fest: „So, Herr Hornbacher, mehr können wir beiden jetzt nicht tun. Bringens mir noch, so für alle Fälle, eine Haarbürste Ihrer Frau, aber nicht gereinigt, mit den darauf befindlichen Haaren, aber bitte in einem Plastikbeutel. Für eine DNA-Probe, ist oft hilfreich. Und machen Sie sich noch nicht zu große Sorgen. Frauen reagieren manchmal emotional und unüberlegt, müssen mal raus, andere Tapeten sehen. Wir haben September. Vielleicht hat sie den Herbst-Blues bekommen und erholt sich irgendwo an einem warmen Strand. Wenn wir was hören, melden wir uns bei Ihnen. Haben Sie irgendwelche Reisen geplant, ein paar Tage nicht in der Stadt, nicht erreichbar?“
Herbst-Blues! Er schüttelte wie in Gedanken den Kopf: „Nein, nein, ich bleibe erreichbar. Schreiben Sie sich meine Mobilnummer auf.“ Dann griff er in die Innentasche seines Jacketts und zog ein Case mit Visitenkarten hervor: „Entschuldigung. Ist da alles drauf. Und was machen Sie jetzt?“
Schlettner runzelte die Stirn: „Am liebsten würd i jetzt sagen, das geht den gewohnten Gang. Vermisstenanzeigen sind leider unser alltägliches Geschäft und unsere Spezialisten sind da sehr erfahren. Aber direkte Gespräche mit den Kollegen in Trondheim oder Oslo sind uns nicht erlaubt. Da Ihre Frau in Norwegen vermisst wird, werden wir wohl Interpol einschalten.“
Hornbacher erhob sich, wirkte unentschlossen, ratlos. „Ja, dann …“, er zögerte, „… und wenn ich einen privaten Ermittler beauftrage?“ Der Gedanke gefiel ihm. Er wurde heftiger: „Einen Aufruf in Norwegen. Rundfunk und Fernsehen. Jemand muss sie doch gesehen haben!“
„Lassens uns ein paar Tage“, sagte Schlettner. „Vielleicht ist sie dann ja wieder zurück. Sie melden sich dann sofort bei mir, versprochen?“
Er wollte schon zur Tür gehen, kam aber wieder zurück, reichte ihr die Hand: „Versprochen. Bis dann.“
Hornbacher fuhr nicht zu seinen Geschäftsräumen zurück. Mit so vielen widersprüchlichen Gedanken im Kopf konnte er sich nicht konzentrieren, keine guten Geschäfte machen. Die Gastwirte in Schwabing sind Menschenkenner. Sie würden es ihm ansehen, es riechen, in seiner Stimme hören. Sein Ruf würde leiden. Und der Gewinn.
Es war Mittag. Er konnte noch nichts essen. Er fuhr nach Hause in die Schwedenstraße. Setzte sich in seinen Garten, unter ein Sonnensegel, das zwischen die Äste einer Eiche gespannt war, ganz hinten am Ende seines Gartens, wo ein hoher Zaun auf der Grenze zum Englischen Garten steht. Er nahm eine Flasche Whiskey mit, einen 'Jefferson`s Reserve' mit einer im Zertifikat garantierten Lagerung von zwanzig Jahren in einem Sherryfass. Er trank ihn ohne Eis und ohne Wasser. Er brauchte jetzt den fruchtigen Geschmack, das volle Bukett. Und er wollte einen klaren Kopf behalten und Jefferson half ihm stets dabei.
Schlettner. Polizeihauptmeisterin Schlettner. Setzen sie die Männer immer vor weibliche Polizisten? Weil die Männer dann leichter ins Reden kommen? Er versuchte, sich an den Ablauf des Gespräches zu erinnern. An jeden Satz. Hatte er alles Notwendige gesagt? Nur das Notwendige oder hatte er zu viel gesagt? Oder waren genug Einzelheiten offen geblieben? Wie hatte er sich verhalten? Wie ein Mann, dessen Frau vermisst wird? Der Whiskey beruhigte seine Nerven, weckte seinen Hunger. Er griff zum Telefon, wählte: „Bringens mia zwoa halbe Händl, ja, in die Schwedenstroßn!“
Er sitzt auf der Veranda der Hütte, die seine Unterkunft ist. Er hat seine Füße hochgelegt, auf einen alten Blumenhocker, auf dem seit Jahren keine Blumen mehr standen. Auf dem Tisch liegt ein Hut, ein grüner Filzhut, der bessere Zeiten gesehen hat. Den benutzt er gelegentlich, um seine Augen zu beschatten. Aber nur hier auf der Veranda. Sonst trägt er eine einfache Strickmütze aus dunklem Baumwollfaden, im Winter als Schutz gegen die Kälte, im Sommer aus Gewohnheit. Seit vielen Monaten hat man ihn kaum noch gesehen, und wenn einmal, dann nicht ohne seine Mütze. Geht er im Sommer in dem nahen See baden, so geht er nackt, aber mit seiner Mütze auf dem Kopf.
Es ist im Frühjahr. Die Sonne gewinnt an Kraft, lässt die Knospen der Bäume ihre Hüllen öffnen für einen ersten Schimmer frischen Grüns.
Er hat nicht viel zu tun.
Seinen Fleiß, seinen Ehrgeiz hat das Schicksal ihm abgewöhnt. Es schmerzte ihn, selbst in kleinen Erfolgen nur noch Sinnlosigkeit zu entdecken. Wer hält so etwas lange aus? Als er begann, an seinem Verstand zu zweifeln, entschloss er sich, nichts mehr zu tun. Seitdem hat er ein Problem weniger.
So ordnet er seither auch die alltäglichen Dinge seines Lebens. Für das Blockhaus, das ihm als Unterkunft dient, rührt er keine Hand. Er bemüht sich, nichts zu beschädigen, warum soll er es also verbessern? Seine persönliche Ausstattung ist so dürftig, dass alles, was er nicht am Körper trägt, in seinen Rucksack passt. Im Sommer wäscht er seine Kleidung im See, er hängt sie im Frühling, im Herbst in den Regen, im Winter wäscht er das Nötigste in einer kleinen Plastikwanne. Im nächsten Winter will er wieder hier sein.
Er lauscht in den Wald. Nicht, dass er etwas befürchten würde. Aber er liebt keine Überraschungen. Er hat sich hierher zurückgezogen, damit man ihn vergisst. Erst war es Enttäuschung, Verbitterung, Not. Dann kam Vorsicht dazu. Notfalls würde er sich eben unsichtbar machen.
Die meiste Zeit denkt er zurück. Es ist der schmerzlichste Teil des Tages. Jeden Tages. Und jeden Tag kämpft er zunächst mit sich! Muss ich darüber nachdenken, um einen verborgenen Sinn endlich zu entdecken? Oder gehe ich zum See hinab, um der schmerzenden Erinnerung andere Eindrücke in den Weg zu stellen? Kann ich sie überlisten oder kommt sie trotzdem? Dort oder später oder in der Nacht? Dann ahnt er Vergeblichkeit. Er kann der Vergangenheit nicht ausweichen. Schon hat er ihr Bild wieder vor Augen, grübelt, mit welchem Tag die Erinnerung ihn verbindet, was dann geschah. Wunden auf seiner Seele reißen auf und überschwemmen ihn mit Schmerz.
Er ist noch nicht bereit, die Schmerzen zu erdulden, zu sezieren, zu ergründen, ihre Ursachen zu durchdenken, nach Möglichkeiten zu ihrer Milderung zu suchen. Er zwingt sich, über einen Plan nachzudenken. Vielleicht in einem Monat. Vielleicht erst in zweien. Eine erneute Reise. Es drängt ihn immer stärker, sich wieder mit einer Reise zu befassen. Es ist nicht seine Einsamkeit. Er fühlt sich nicht einsam, er hat die Umstände seines Lebens selbst gewählt. Es ist auch nicht das Ziel, das ihn treibt. So wie früher. Als er nach Agadir flog, um Tennis zu spielen. Als er nach Orlando reiste, um eine Rakete in den Erdorbit starten zu sehen. Es ist etwas anderes, wie ein böser Geist, ein Dämon, das wieder stärker wird, das ihn treibt, dass ihm sagt, die Zeit im späten Frühjahr sei günstig, das ihn noch zu überreden versucht, das ihn bald zwingen wird, einen neuen Plan zu machen und auszuführen. Es ist wie eine Krankheit, wie eine Sucht. Die ihm gut tut. Die ihn ablenkt, weil sie stärker ist als die Erinnerungen. Alles andere interessiert ihn nicht.
Aber da ist jetzt Agadir in seinen Gedanken, Orlando, eine Tür ist geöffnet für die Bilder. Er sieht sich und seinen Sohn im Park, in einem Herbst, mit einem Drachen im Wind. Er sieht seine Tochter vor ihrer Schule stehen, mit der großen Zuckertüte, Einschulung, in welchem Jahr war das? Ich will nicht!, stöhnt er durch die zusammengepressten Zähne, hält sich den Mund zu.
Früher, nachdem er gezwungen war, nur noch mit den Erinnerungen zu leben, zu überleben, konnte es geschehen, dass er vor Schmerzen schrie. Ich will nicht! Geht! Ich will euch nicht! Vor zwei Jahren war es wohl, dass ihm die kleine Mietwohnung gekündigt wurde. Das sei den Mietern der anderen Wohnungen nicht zuzumuten. Als der Gerichtsvollzieher den Räumungstermin ankündigte, packte er seinen Rucksack und setzte sich auf sein Fahrrad. Heute weiß er, dass es eine naive Dummheit war. Anzunehmen, er könne dem Unausweichlichen ausweichen. Bei seiner Rückkehr war die Wohnung an Fremde vermietet. Seine Einrichtungsgegenstände, seine persönliche Ausstattung sei verwertet worden. Zur Deckung der Räumungskosten. Vermieterpfandrecht. Nichts war ihm geblieben. Keine Fotos, keine Videos, keine der wenigen Erinnerungsstücke, die er für sich behalten hatte.
Vier Tage lang saß er auf einer Bank im Park. Mit allem, was ihm geblieben war: das Fahrrad, der Rucksack mit etwas Wäsche und Kleidung, die Erinnerungen. Ein Schreiber von der Lokalzeitung kam und machte ein Foto. Ein Obdachloser war in der Stadt noch eine Meldung wert. Eine Frau aus dem Bürgerbüro kam. Ausgerechnet eine Frau, zu ihm. Es sei jetzt einiges zu regeln: ein Obdach, die Grundsicherung. Er gab ihr seine Kontonummer. Am fünften Tag kam jemand, den er früher zu seinen Freunden gezählt hatte. Er setzte sich neben ihn auf die Bank. Nachdem sie eine halbe Stunde lang miteinander geschwiegen hatten, was hätte er ihm auch sagen sollen?, reichte er ihm einen Schlüssel. Den Schlüssel des Blockhauses.
Seitdem hält er sich hier auf. Stellt sich den Erinnerungen, wenn sie ihn wie mit glühenden Zangen erfassen. Erlebt einen Tag nach dem anderen, ohne zu fragen, wie lange und wozu. Bis ihn die wachsende Unruhe antreibt, unwiderstehlich wird, keine Bedenken zulässt, ihn zwingt, einen Plan zu machen, sich auf den schon fast zur Gewohnheit gewordenen Weg zu begeben.
Der neue Plan setzt sich in seinem Kopf fest. Verändert seine Gedanken. Verspricht Linderung. Er weiß, dass er jetzt mit seinen Vorbereitungen beginnen muss. Morgens und abends laufen, durch den Wald hinauf bis zu den Äckern, am Waldrand entlang hinab zum See und durch den steilen Hohlweg wieder zurück zur Hütte. Mittags im See schwimmen, ohne über das Wetter oder die Temperatur des Wassers nachzudenken. Er muss sich abhärten und zu Kräften kommen. Alles andere, er, das Fahrrad, der spärliche Inhalt seines Rucksackes, ist bereit.
Torge Husman wusste schon immer, was er wollte.
Während die meisten der Anderen die Zeit an der Hochschule für Journalismus genossen, mit Sex, Alkohol und anderen Vergnügungen, saß er bei seinen Studien. Er hatte keine Zeit zu verschenken. Unter der üblichen Dauer machte er seinen Master-Abschluss.
Während Andere auf ein ihnen geeignet erscheinendes Angebot warteten, Focke wollte über Wirtschaftskriminalität schreiben, egal für welches Blatt, Harm zog nach Kopenhagen und rechnete fest mit einer Anstellung bei Berlingske, wobei es ihm nicht auf eine bestimmte Redaktion ankam, griff Torge zu. Er hatte bereits mehrfach für Jyllands-Posten gearbeitet, anfangs als Hospitant, um begleitend zum Studium Erfahrungen in der Praxis zu sammeln, später als Urlaubs- und Ferienvertretung in der Lokalredaktion. In seinem Schlusssemester wies ihn der Chefredakteur, Malte Cornelsen, ein an seiner Ungeduld vorzeitig ergrauter Mittvierziger, darauf hin, dass in der Lokalredaktion ein guter Journalist gesucht werde. Axel Dunn, der den Lokalteil in zwanzig Jahren zu der Qualität gebracht habe, die ihn heute auszeichne, Axel habe angekündigt, spätestens zum Ende nächsten Jahres auszusteigen. Nun kenne und schätze man inzwischen Torges Art, zu ermitteln und zu formulieren. Seine Bilder seien kühl und sachlich, es komme auch der Chefredaktion auf objektive Bildaussagen an. Daran könne man gemeinsam arbeiten, wenn er nach seinem Studium mit der Arbeit beginne. Dass Jyllands-Posten ihm nur die Hälfte von Axels Gehalt zahlen würde, das deutete Malte Cornelsen nicht an. Torge wog nicht lange ab, sondern unterschrieb seinen Vertrag. Die Freunde versuchten zwar, ihm die Idee auszureden. Er verkaufe sich unter Wert. Für Hafenumschau und Kaffeekränzchen brauche man keinen Master. Aber Torge wusste, was er wollte. Arhus sei eine große, lebendige Stadt, in der sogar das Lokale seine Rätsel und Höhepunkte habe. Und nach den ersten zwei Jahren könne man weiter sehen.
Inzwischen waren das erste Jahr und ein heißer Sommer vorüber. Dass der Ansturm der Touristen nachließ, fiel in der zu allen Jahreszeiten betriebsamen Stadt nicht auf. Dass Lotta keine Zeit mehr für ihn fand, Lotta Bahnsen, achtundzwanzig Jahre alt, blond, schlank, bemerkte er erst, als es zu spät war. Lotta hatte Touristik-Management studiert und arbeitete bei Ryanair auf dem Flughafen. Sie hatte, so erinnerte er sich, über eine größere Wohnung gesprochen, die für sie beide ausreichen würde. Daraus schloss er, später, als sein Ärger abgeflaut war, dass Lotta auf seinen Heiratsantrag gewartet hatte. Aber er musste sich seine Unabhängigkeit bewahren, er war erst sechsundzwanzig Jahre alt und würde sich bis nächstes Jahr eine neue Aufgabe suchen wollen. Instinktiv hatte er auf die Offerte nicht reagiert. Im letzten Telefongespräch vor vier Wochen hatte Lotta ihm eröffnet, Ryanair brauche für ihr Büro in Dublin eine dänisch sprechende Fachkraft, zur besseren Koordination mit ihren Niederlassungen in Dänemark. Sie wechsle Ende September nach Dublin. Torge wusste immer, was er wollte, aber das Verlassenwerden ärgerte ihn. Und die Umstände ihrer Mitteilung. Noch nicht einmal in einem persönlichen Gespräch hatte sie es ihm zu sagen gewagt, und dabei waren sie schon lange zusammen gewesen und er kein polternder Macho. Am Telefon hatte sie ihn informiert, und danach sprachen sie nicht mehr miteinander.
Vor ein paar Tagen hatte Hanna angefragt. Hanna Morgensen. Bevor das Herbstsemester beginne, könne sie noch gut und gerne ein paar Tage arbeiten. Ob er zufällig Urlaub eingeplant habe. Hatte er zwar noch nicht. Aber der Gedanke gefiel ihm. Ohne Lotta würde der Winter lang werden. Da wäre es gut, dachte er, sich noch ein paar Tage Abwechslung zu verschaffen.
Sieben Tage hatte der Chefredakteur genehmigt. Sieben Tage! Und dabei war sein gesamter Jahresurlaub noch offen! Das war zu wenig, um in einen Club im Süden zu fliegen. Und es war zu viel, um im Bett zu bleiben. Er wollte aber auch nicht ablehnen, nicht um den Chefredakteur zu verärgern und erst recht nicht wegen Hanna. Er versuchte, das Beste aus seinem Kurzurlaub zu machen.
Was wäre das Beste? Wenn man aus der quirligen Stadt hinaus will, aber nicht weit kommen wird? Schnell hatte er sich entschieden. Skagen! Meer, Wind und Wellen, weite Landschaft. Im vorletzten Jahr an der Volksschule war er im Fach Sport zum Rettungsschwimmer ausgebildet worden, um sich irgendwo an der Küste als Strandaufsicht einsetzen zu lassen. Er hatte viele schöne Erinnerungen an diese Zeit. Er würde wandern, joggen, schwimmen, seinem Körper das Sitzen hinter einem Schreibtisch abgewöhnen. Noch vor ein paar Jahren war er viel gelaufen, Mittelstrecke. Hatte sogar eine Zeit lang für den Kopenhagenmarathon trainiert. Bis Lotta sagte, das nerve sie. Sie habe keine Lust dazu, bei jedem Wetter an irgendeinem Ziel auf ihn zu warten, den verschwitzten Kerl, wie sie sich ausdrückte, nach Hause zu fahren und seine stinkende Wäsche zu waschen. Nun ja, man kann nicht immer beides haben. Jetzt hatte er wieder Zeit zum Laufen. Er buchte ein Einzelzimmer in Broendums Hotel.
Am ersten Tag lief er den Batterivej hinauf durch die Dünen nach Norden und blieb völlig außer Atem in einer Mulde im Sand sitzen. Damit hatte er gerechnet: Seine Kondition war im Eimer. Aber deswegen war er ja hergekommen. Er würde jeden Tag laufen, jeden Tag ein Stück weiter. Er ging den flachen Strand hinab, ging bis zu den Knien ins Wasser, um sich abzukühlen. Die Sonne schien. Wenig Wind, nur flache Wellen. Schwimmen? Das Wasser lockte. Naja, seine Farbe, weniger seine Temperatur. Vielleicht morgen.
Er schlug die Richtung nach Nordosten ein. Nach Grenen. Nördlichste Landspitze Dänemarks, ging es ihm durch den Kopf. Nordsee und Ostsee vereinigen sich. Skagerrak, bis zu siebenhundert Meter tief. Er würde wandern, soweit er der Landzunge folgen könnte. Das wäre ein spannendes Gefühl: rundum das Meer mit seinen sich hier bildenden kleinen Kreuzwellen, eine immer tiefer werdende Sandbank unter den Füßen! Wäre noch viel vom Festland und seinen
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 05-03-2016
ISBN: 978-3-7396-5200-9
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