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Courage

Es gibt Menschen, die stets alles im Griff haben, die selbstbewusst und stark durchs Leben gehen und sich allem mutig stellen. Die keine Angst vor der Liebe haben und ihr Objekt der Begierde mit einem lockeren Anmachspruch auf sich aufmerksam machen. Die sich nicht von schönen Menschen in den Schatten stellen lassen, weil sie denken, nicht gut genug zu sein.

Und es gibt mich: die schüchterne, kleine, eher graue Maus: Studentin, 27 Jahre alt und mittelmäßig hübsch.

Wie sagt meine beste Freundin immer: „Dafür hast du wunderschöne, grasgrüne Augen mit unverschämt langen Wimpern, Rabea.“

Ein schwacher Trost, aber sie meint sie es ja nur gut. Dennoch täuschen meine zugegebenermaßen wirklich schönen Augen nicht über die Kilos hinweg, die mir seit einer überstandenen Krebserkrankung fehlen. O-Ton Tanja, meine beste Freundin: „Dafür brauchst du im Sommer keinen BH tragen, das ist doch super!“

Tatsächlich verzichte ich seitdem auf die Dinger, da sie einfach keinen Sinn mehr machen. Außer das Verstecken meiner Nippel, da diese ohne BH nun deutlicher sichtbar sind. Diese Tatsache bringt mir ab und zu merkwürdige Blicke ein. Von Männern als auch von Frauen. Manchmal mitleidige, zeitweise auch lüsterne und ab und zu auch abschätzende Blicke. Die ganze Palette. Seltsamerweise stört mich das nicht, ich nehme es nur wahr. Und bei aller Schüchternheit trage ich auch im Sommer bauchfreie Tops. Wenn ich schon so zart bin, wie es Tanja immer nennt, dann trage ich nun auch die Kleidung, die ich mir vorher aufgrund einiger Kilos zu viel verboten habe. Man muss immer auch das positive sehen, zumindest versuche ich das jeden Tag.

Heute ist Freitag, der 13. und ich bin auf dem Weg zur Uni, wie fast jeden Morgen. Eigentlich bin ich nicht abergläubisch, aber angesichts der Missgeschicke, die mich allein schon vor dem Frühstück ereilt haben, ändere ich vielleicht doch noch meine Meinung. Als da wären: Zeh am Türrahmen gestoßen, beim Kaffee kochen mit heißem Wasser verbrüht, Klamotten falsch herum angezogen und während des Frühstücks noch wichtige Unterlagen mit Kaffee besudelt. So fängt ein super Tag an! Glückwunsch Rabea!

 Nun hocke ich mit Stöpseln in den Ohren in der U-Bahn und schreibe die versauten Unterlagen für die Uni noch mal neu. Doch bald wird meine Aufmerksamkeit von dem Geschreibsel weggelockt. Eine junge Frau mit einer lustigen Mütze auf dem Kopf schaut mich immer wieder an, ich kann ihre Blicke förmlich spüren. Es ist recht warm heute und ich frage mich, warum sie wohl eine Mütze trägt. Und warum sie mich so mustert. Ihre himmelblauen Augen fallen mir sofort auf. Sie strahlen etwas positives, aber auch trauriges aus. Seltsam anmutig wirkt sie auf mich. Fast wie eine Porzellanpuppe: Blasse, makellose Haut und rot geschminkte, volle Lippen. Eine hübsche Frau Ende Zwanzig würde ich schätzen. Jetzt lächelt sie mich an und unterbricht dadurch meinen Gedankenfluss. Schüchtern erwidere ich es und nicke verlegen zu einem Morgengruß. Das geht noch einige Male so und gerade, als sie sich offenbar erheben und zu mir rüber kommen will, gesellen sich zwei junge Männer zu ihr und quatschen sie an. Unwohlsein legt sich auf ihr Gesicht. Ich kann es ihr mehr als deutlich ansehen, dass sie lieber auf diese Gesellschaft verzichten würde. Als die frechen Kerle zudringlich werden und anfangen, sie anzufassen, nehme ich meine Stöpsel aus den Ohren. Es sind heute nicht viele Menschen in der Bahn und die meisten schauen einfach woanders hin. Auch ich kämpfe mit meiner Angst, meiner Schüchternheit und will am liebsten weg aus dieser Situation. Die Männer bohren immer wieder ihre Finger in den Bauch und die Oberschenkel der jungen Frau. Und lachen dabei, als hätten sie einen Witz gehört. Sie wehrt sich und fordert die frechen Kerle auf, sie in Ruhe zu lassen. Doch die beiden lachen sie nur aus.

„Habt ihr nicht gehört, was sie gesagt hat? Lasst sie endlich in Ruhe!“ höre ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen und bin ganz und gar nicht erfreut darüber. Zu allem Überfluss stehe ich auch noch auf und gehe hinüber zum Geschehen. Abschätzend sehen die beiden Kerle an mir herauf und wieder hinunter.

„Gott, bist du ne hässliche Braut!“ verkündet einer von ihnen angewidert und der andere stimmt lachend zu. Jetzt gehen offenbar die Pferde mit mir durch: „Besser hässlich als strunzdämlich!“ kontere ich und halte mir danach erschreckt die Hand vor den Mund. Ich kann kaum glauben, was hier gerade vor sich geht. Die junge Frau sieht mich erstaunt an, rührt sich aber nicht. Doch als einer der beiden mir bedrohlich nahe kommt, stellt sie sich plötzlich schützend vor mich.

„Sind die beiden nicht niedlich?“ fragt der dickere von beiden sarkastisch und beißt herzhaft in den Riesen-Donut in seiner Hand.

„Du solltest mal etwas weniger essen, dann klappt es vielleicht auch mit den Mädels!“

Hat diese zarte Porzellanpuppe das gerade wirklich gesagt? Mir fällt ihre weiche Stimme auf.

„Und ihr Zwei solltet mal mehr essen, damit euch auch endlich Arsch und Titten wachsen!“

Die Typen kringeln sich vor Lachen und halten sich die Bäuche. Ihre Worte verfehlen ihr Ziel leider nicht, mich zu verletzen. Im Gegenteil treffen sie mich mitten ins Herz und meine Augen füllen sich mit Tränen. Selbst das amüsiert die beiden. Aus weiter Ferne höre ich eine Stimme: „So, das reicht ihr beiden! Für euch ist hier Endstation!“ sagen. Instinktiv weiß ich, dass der Besitzer ein starker und selbstbewusster Mann sein muss, denn der Ton seiner Stimme lässt keinen Widerspruch zu. Neugierig drehe ich mich zu ihm und stelle fest, dass er zudem noch sehr attraktiv ist.

„Aber ich nehme noch ein Andenken mit!“ ruft einer der beiden unmöglichen Kerle und reißt blitzschnell das bunte Mützchen vom Kopf der jungen Frau. Und dann erstarren wir alle gleichzeitig. Es wird plötzlich glasklar, warum sie im Sommer eine Mütze trägt. Sie versteckt damit ihre Glatze. Als der Dicke nach der Schockstarre anfängt zu lachen, kann ich mich nicht mehr beherrschen und meine Hand landet fast automatisch und gegen meine Überzeugung in seinem speckigen, vom Donut verschmierten Gesicht. Wieder bin ich erschrocken über mein eigenes Handeln. Mit zornigem Blick reibt er seine gerötete Wange. Dann sehe ich wieder zu Miriam. Ich finde sie wunderschön, die Glatze entstellt sie nicht. Im Gegenteil, irgendwie macht sie sie zu etwas Besonderem. Einen  langen Moment sehen wir uns einfach nur in die Augen und sagen nichts. Vergessen alles um uns herum. Doch dann kommt der Typ auf mich zu. Jedoch greift der attraktive Unbekannte die beiden rechtzeitig am Kragen und schleift sie aus der Bahn heraus. Draußen nimmt er augenscheinlich ihre Personalien auf, während der Zug sich unbekümmert in Bewegung setzt. Ich sehe ihm nach, bis er aus meinem Blickfeld verschwindet. Ein lauter Seufzer entweicht mir, weil ich diesen gut aussehenden Retter in der Not wohl nie wieder sehen werde. Ich lasse mich auf den Sitz gegenüber des Puppengesichts nieder. Verlegen bedeckt die junge Frau ihren kahlen Schädel und stellt sich mir dann als Miriam vor. Ich habe plötzlich das Verlangen, sie zu trösten und zu streicheln.

„Danke, dass du so beherzt eingegriffen hast, das werde ich dir nie vergessen!“ sagt sie mit ihrer angenehm weichen Stimme und tätschelt meine Hand. Diese Berührung durchzuckt mich wie ein Stromschlag. Sofort ziehe ich meine Hand zurück, fühle mich ertappt wie ein Teenager. Die Schüchternheit ist mit voller Wucht zurückgekehrt. War ja klar! Wäre auch zu schön gewesen, wenn ich sie nach diesem Vorfall hätte einfach ablegen können wie einen alten Mantel. Trotzdem bin ich eine halbe Stunde später im Besitz ihrer Handynummer. Wir haben tatsächlich unsere Nummern ausgetauscht! Stolz wie Oskar sitze ich in der Vorlesung meines Professors und strahle über das ganze Gesicht. Ich kann es kaum erwarten, heim zu kommen um mit Miriam zu texten oder sogar zu telefonieren. Dieser Freitag, der 13. könnte doch noch ein guter Tag werden. 

Seit ich von der Uni zuhause bin, starre ich auf mein Handy. Mein Finger schwebt über dem Display, aber ich kann mich nicht überwinden. Das Teil fällt mir fast aus der Hand, als es plötzlich klingelt. Miriam! Sie ruft mich an! Was soll ich tun? Mein Herz beginnt zu rasen, meine Hände zu schwitzen und ich bekomme Schnappatmung. Ich schaff's nicht...

 Glücklicherweise ruft Miriam noch ein zweites Mal an und ich kann mich endlich überwinden, das Gespräch anzunehmen.

„Hallo Rabea“, begrüßt sie mich freudig. Ihre Stimme lässt mich erschauern. Ich bekomme nur ein gequetschtes „Hi“ heraus und bete inständig, dass sie meine Aufregung nicht bemerkt. Das Telefonat verläuft stockend. Arme Miriam, sie muss ja denken, dass ich total plem plem bin. Wir verabreden uns auf einen Kaffee in einem kleinen Bistro nähe der Uni, auf die ich gehe. Ich hege die große Hoffnung, dass ich mich dabei nicht vollends zum Idioten machen werde. Doch als wir dann später dort zusammensitzen, fühle ich mich recht wohl. Miriam übernimmt die Führung und das Gespräch. Und ich werde zunehmend lockerer. Sie erzählt auch von ihrer Erkrankung, die ihr das Haar geraubt hat. Sofort stelle ich mir vor, wie sie mit ihren blonden Locken wohl ausgesehen hat. 

„Du warst bestimmt der Schwarm der Schule und alle Jungs waren hinter dir her“, vermute ich. 

Verlegen winkt sie ab. „Du hast nicht ganz Unrecht, ich war mal ziemlich beliebt. Was man so „beliebt“ nennt“, erzählt sie und ihre Stimme bekommt einen leicht sarkastischen Unterton. Die Unterhaltung mit ihr fällt mir zunehmend leichter, was ich erfreut zur Kenntnis nehme. Sie wohl auch. Aber dann werden ihre schönen, blauen Augen größer und ich folge ihrem Blick. Er gilt einem Mann, der gerade das Bistro betritt. Der Typ aus der U-Bahn! Mit einer Zeitung unter dem Arm schlendert er lässig zu einem Tisch in unserer Nähe. Ich fühle, wie mein Gesicht sich rot färbt und schaue verlegen zu Boden. Leider bemerkt auch Miriam dies und es scheint ihr nicht sonderlich zu gefallen. Ihr Blick wird traurig.

„Geht es euch wieder gut?“ fragt eine männliche Stimme, „das war ja ein ganz schöner Schock vorgestern in der Bahn.“

„ER“ steht plötzlich an unserem Tisch und lächelt uns an. Er ist schon sehr attraktiv und genau das schüchtert mich ein. Statt etwas zu erwidern, starre ich ihn einfach nur an. Gott, ist das peinlich! Miriam rettet die Situation. „Ja, es geht uns gut. Danke nochmal für deine Hilfe. Willst du dich vielleicht zu uns setzen?“ 

Prompt folgt Mark, wie er sich uns vorstellt, der Einladung und setzt sich mit einem Latte an unseren Tisch. Die beiden beginnen eine Unterhaltung und ich bin raus, bin nur ein Zuschauer in diesem Szenario. Ich bin kein Meister in diesen Dingen, aber die beiden flirten eindeutig miteinander, was mich unerwartet hart trifft. Da ich aber nicht weiß, was mich genau verletzt und ich total durcheinander bin, möchte ich nur noch weg.

„Ich lasse euch Turteltauben mal alleine,“ sage ich mit trauriger Stimme und erhebe mich schwerfällig. Mark grinst nur schief und Miriam schaut mich entgeistert an. Ich lege Geld für den Kaffee auf den Tisch und flüchte förmlich auf die Straße. Ich brauche dringend frische Luft! Ich laufe ziellos durch die Straßen und erst zuhause bemerke ich, dass Miriam mich ungefähr zehnmal angerufen hat. Aber ich habe irgendwie keine Lust mit ihr zu reden. Ich bin wütend, enttäuscht und sauer auf mich selbst.

Ein heißes Bad wird mir gut tun und ich lasse mir eines ein, eine Oase der Düfte. Gerade als ich es mir bequem gemacht habe, klingelt es an meiner Wohnungstür. Das kann doch nicht wahr sein! Mißmutig schlüpfe ich in meinen flauschigen Bademantel, der immer neben der Wanne hängt und auf seinen Einsatz wartet. Als ich kurz später die Tür öffne, blicke ich in das traurige Gesicht von Miriam. Für einen Moment bereue ich, dass ich ihr gesagt habe, wo ich wohne. Aber irgendwie tut sie mir auch leid, obwohl ich sauer auf sie bin. Warum musste sie so unverschämt mit Mark flirten? Ich weiß gar nicht, warum genau ich sauer bin. Weil sie mit ihm geflirtet hat und nicht mit mir? Weil sie das kann, wozu ich nicht fähig bin? Weil Mark mich nicht zurückgehalten hat? Keine Ahnung, das einzige, das ich weiß, ist, dass ich nichts weiß. Resigniert bitte ich sie herein. Ich bin verwirrt und ihr Blick wegen meines Aufzugs und der nassen Haare, die in meinem Gesicht kleben, macht es nicht besser. Sie lächelt mich süffisant an und ich fühle mich noch unwohler. 

„Ich war im Begriff, ein schönes Bad zu nehmen“, entschuldige ich meinen Aufzug und schnalle den Gürtel um meinen Bademantel fester. Als würde er mir Schutz bieten können gegen Miriams Blicke, die mich auf eine Art ängstigen und auf eine auch erregen. Gott, wann war ich zum letzten mal erregt? Muss Jahrhunderte her sein! 

„Tu dir keinen Zwang an, Rabea", grinst Miriam mich an und kommt auf mich zu. "Ich könnte dir behilflich sein und dir den Rücken waschen“, schlägt sie mit verführerischer Stimme vor. Ein Schauer überzieht meinen gesamten Körper und ich erröte.

„Zier dich nicht länger, ich weiß doch längst, dass du es auch willst“, flüstert sie und schiebt mich in mein Badezimmer.

„Läuft da etwas zwischen dir und Mark?“ frage ich stattdessen und Miriam lacht.

„Würde dich das stören?“ hakt sie nach, während sie mir den Bademantel abstreift, „denn wenn dem so ist, dann wäre mein Plan aufgegangen.“

Meine Nacktheit ist mir extrem unangenehm und ich flüchte mich zurück ins Schaumbad. Was hat sie gesagt? Plan?

„Welcher Plan?“ Die Neugier ist größer als die Scham.

„Mir ist klar, dass es ein wenig unfair war, aber ich wollte dich aus der Reserve locken oder im besten Falle eifersüchtig machen“, klärt sie mich auf, während sie tatsächlich damit beginnt, mir den Rücken einzuseifen. Es fällt mir wahnsinnig schwer, mich überhaupt auf ihre Worte zu konzentrieren. Es ist wunderbar, ihre Hände auf meiner Haut zu spüren. Aber mein Kopf fährt eine gedankliche Achterbahn: Bin ich wirklich eifersüchtig? Ich muss zugeben, dass es mir schon einen Stich versetzt hat, dass Mark und Miriam geflirtet haben. Aber warum genau? Weil Mark mit ihr statt mit mir oder weil Miriam mit ihm, statt mit mir geflirtet hat? Herrgott nochmal, war das kompliziert! 

„Hör auf zu denken und genieße doch endlich den Moment“, sagt Miriam verführerisch und legt mir einen Finger auf die Lippen. Wieder einmal mehr verfluche ich meine Verklemmtheit. Ich möchte ja! Ich möchte ihre Nähe und die Gefühle, die sie in mir auslöst, einfach genießen.

„Ich finde es total süß, dass du so schüchtern bist...“ flüstert sie, während ihr Mund meinem verdächtig nahekommt. Mein Herz zerspringt fast in meiner Brust, als unsere Lippen sich treffen. In dem Moment weiß ich, dass ich ich nicht Mark will, auch wenn er sehr attraktiv ist, sondern nur meine Porzellanpuppe. Behutsam nehme ich die Mütze von ihrem hübschen Kopf. Meine Finger streicheln zärtlich über ihre Glatze. In ihren Augen liegt so viel Gefühl für mich und überhaupt keine Scham oder Scheu mehr wegen ihres kahlen Köpfchens. Das ist der Moment, in dem auch ich meine Scheu verliere und sie energisch in die Wanne ziehe.

 

ENDE

 

 

 

Imprint

Text: Alle Rechte bei der Autorin
Cover: google.de
Publication Date: 04-05-2021

All Rights Reserved

Dedication:
ErotikWettbewerb April 2021

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