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Es kommt of anders, als man denkt.

„Autsch! Das hat verdammt weh getan!“ Ungläubig starrte ich mein rechtes Handgelenk an, das sich bereits blau verfärbt hatte. Vorsichtig versuchte ich, es zu bewegen. Es hatte jedoch keine Spannung mehr, sondern schlackerte nur noch. Mir schwante Böses. „Hoffentlich ist es nicht gebrochen!“

 

Es geschah in den Schulferien, am 8. Juli 2008. Ich hatte Urlaub und mein Sohn weilte bei seinem Vater, meinem Ex-Mann. So beschloss ich, die freie Zeit zu nutzen und meine kleine Küche zu streichen. Da ich keine Trittleiter besaß, stieg ich auf einen kleinen Hocker und dann auf die Arbeitsplatte über den Küchengeräten. Nachdem ich die freie Fläche über den Hängeschränken schön gelb gestrichen hatte, wollte ich rückwärts wieder hinunterklettern.

 

Da passiert es! Ich trat nicht richtig auf, der Hocker kippte um und ich dachte nur noch: „Hoffentlich knalle ich nicht mit dem Kopf an die Heizung!“ Soeben  schaffte ich es noch, mich mit der rechten Hand auf dem Fußboden abzustützen und landete ziemlich unsanft auf meinem Hinterteil. Durch das Abstützen war mein Sturz gemildert worden und meine Wirbelsäule und mein Kopf erlitten keinen Schaden, aber das Handgelenk war lädiert.

 

Ich machte mir einen notdürftigen Verband und begab mich zu meinem Hausarzt, einem Orthopäden, der in der Nähe wohnte. Die Sprechstundenhilfe hielt es nicht für nötig, einen Blick auf mein Handgelenk zu werfen und ließ mich zunächst eine Stunde im Wartezimmer sitzen. Zum Glück hatte diese Praxis ein Röntgengerät und so teilte mir mein Arzt schließlich mit, dass ich eine Radius-Fraktur hätte. Nein, die könnte er nicht mit einem Gips richten, ich müsste sofort ins Krankenhaus. Warum ich denn nicht gleich einen Krankenwagen gerufen hätte?

 

So verständigte ich Sohn und Ex-Mann, die mit mir ins Krankenhaus fuhren. Mittlerweile war es jedoch 17:00. Nein, jetzt am Spätnachmittag würden keine Patienten mehr aufgenommen, ich sollte doch am nächsten Morgen wieder kommen. Na, das lief ja großartig! Immerhin bekam ich Tabletten gegen die Schmerzen, die nun  immer heftiger in Handgelenk und Arm pochten. Sohn und Ex-Mann brachten mich wieder nach Hause und ließen mich allein zurück. Mein damaliger Freund, der mittlerweile vom Dienst zurück war und den ich ebenfalls telefonisch verständigt hatte, versprach, mich am nächsten Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr, wieder in die Uniklinik zu bringen.

 

Ich verbrachte aufrecht im Bett sitzend eine schlaflose Nacht! Wegen der Schmerzen – die Tabletten brachten  kaum Linderung – machte ich kein Auge zu.

 

Nach erfolgreicher stationärer Aufnahme und erneuter Untersuchung im Klinikum teilte man mir mit, dass ich mir keinen glatten Bruch, sondern einen äußerst komplizierten „Trümmerbruch“ in der rechten Speiche zugezogen hätte. Und dieser wurde gleich zur Chefsache erklärt! Am nächsten Morgen wurde ich auch operiert, aber dabei wurde der Bruch nicht „geflickt“, sondern vier Fixateure eingesetzt. So sollte der gestauchte Knochen zunächst wieder gedehnt und gerade gerichtet werden. Die Enden der Haken ragten dann aus Hand und Unterarm heraus und  wurden scherzhaft „Handtaschenhalter“ genannt. Natürlich konnte man nichts dran hängen, das wäre zu schmerzhaft gewesen. Mit diesen Haken versehen, musste ich nun die nächsten Tage aushalten und durfte in der Klinik spazierengehen.

 

Mein damaliger Freund, mein Sohn und ich hatten geplant, zwei Wochen in einer gemieteten Ferienwohnung im Schwarzwald zu verbringen. Diese Urlaubsreise fiel für mich nun leider ins Wasser. Und als ich den behandelnden Arzt fragte, ob ich denn nicht mit einem Gipsarm nachreisen könnte, lächelte er nur mitleidig. Und er sollte recht behalten.

 

Nach zehn Tagen wurde ich das zweite Mal operiert. Diesmal war es eine richtige Flickschusterei, denn die Knochenbruchteile und Splitter mussten wie ein Puzzle zusammengesetzt und abschließend mit einer Titanplatte stabilisiert werden. Dabei wurde sogar ein kleines Stück aus meinem rechten Hüftknochen entnommen und zusätzlich im Bruch eingesetzt. Die Operation, die mehrere Stunden dauerte, war sogar ein Präzedenzfall und deshalb durften auch Medizinstudenten zugucken. Gut, dass ich narkotisiert war …

 

Glücklicherweise traten nach dem zweiten Eingriff keine Komplikationen auf und die Narben verheilten zufriedenstellend. Nach zwei Wochen durfte ich das Krankenhaus mit einem Gipsarm verlassen. Diesen habe ich dann fast zwei Monate getragen und täglich Schmerzmittel eingenommen.

 

Im Februar war ich von meinem letzten Arbeitgeber, einer kleinen japanischen Firma mit nur fünf Angestellten, entlassen worden, denn meine Teilzeitstelle, die ich nach der Geburt meines Sohnes angenommen hatte, war aus innerbetrieblichen Gründen gestrichen worden. Anschließend hatte ich mich arbeitslos gemeldet und mich gleichzeitig auf Arbeitssuche begeben. Leider war es damals – und sicher heutzutage weiterhin – sehr schwierig, mit Anfang 50 in der freien Wirtschaft eine Teilzeitstelle zu finden. Das Arbeitsamt hatte mir jedoch einen dreimonatigen Auffrischungskurs in Word, Excel und Power Point spendiert. So hoffte ich trotz der herrschenden Weltwirtschaftkrise, bald wieder eine neue Anstellung zu finden. Mein Unfall hatte diese Bemühungen jedoch zunächst auf Eis gelegt.

 

Im Krankenhaus hatte ich es schon geschafft, linkshändig und mit einer sehr krakeligen Schrift, die sich jedoch stetig verbesserte, weiterhin Tagebuch zu schreiben. Und als der Gips endlich ab war, bewegte ich auch wieder vorsichtig meine rechte Hand, wozu mir der behandelnde Arzt auch dringend riet: „Sie müssen die Hand und das Gelenk wieder viel bewegen, sonst bleibt es steif.“

 

Ich wagte mich auch wieder an meinen PC und versuchte, wieder mit allen zehn Fingern zu schreiben, wie ich es auch vor dem Unfall getan hatte. Da ich nicht nur einfach irgendetwas schreiben oder nur im Internet surfen wollte, hatte ich die Idee, doch meine „Sri-Lanka-Memoiren“ niederzuschreiben. So holte ich die Tagebücher mit meinen ersten Reisen in dieses schöne Land aus dem Keller und begann, Kapitel für Kapitel in ein Worddokument zu tippen. Das ging natürlich nur sehr langsam, aber ich hatte immerhin eine sinnvolle Beschäftigung.

 

Ein Dreivierteljahr war ich krankgeschrieben, danach bezog ich wieder Arbeitslosengeld. Selbstverständlich bemühte ich mich auch weiterhin – wie vor dem Unfall – wieder eine Festanstellung bei einer Firma zu finden. Während dieser Zeit nahm mein erstes Buch „Curries, Kokosplamen und Orchideen“ Gestalt an. Und ich hatte tatsächlich das Glück, einen neuen, jungen Verlag zu finden, der mein Buch druckte und verlegte. Die Zusammenarbeit verlief anfangs für beide Seiten sehr zufriedenstellend, denn ich habe sogar den Roman eines anderen Autors lektoriert und dafür ein kleines Honorar erhalten.

 

Nun machte ich mich als „Büroservice“ selbständig und beantragte einen Gewerbeschein. Nach vier Monaten merkte ich jedoch, dass keine Aufträge von potentiellen Kunden hereinkamen und die Zusammenarbeit mit dem Verlag wurde mangels neuer Lektoratsaufträge leider nicht fortgesetzt. Ich brauchte jedoch eine neue berufliche Perspektive.

 

Ich habe Kinder immer geliebt und kann mich gut mit ihnen beschäftigen. Kinder sind für mich keine "Nervensägen", sondern Geschenke Gottes, die achtsam und lieb behandelt werden müssen. Ich fühle mich wohl in ihrer Gesellschaft und versuche stets, ihnen auch viel zurückzugeben. 

 

So hatte ich nach der Schule zunächst Kindergärtnerin werden wollen, hatte dann aber Sprachen studiert und – wie das Leben so spielt – jahrelang als Sales Assistant bei japanischen Firmen gearbeitet. Ich hätte auch gerne zwei oder drei eigene Kinder gehabt. Nach dem Debakel mit meiner ersten Ehe hatte ich jedoch erst mit Ende dreißig erneut geheiratet und mit vierzig mein erstes und einziges Kind bekommen. Aber ich mochte ja Kinder und diese Liebe sollte mir den Weg in meine neue berufliche Zukunft weisen. Denn für einen Neuanfang ist es bekanntlich nie zu spät.

 

Nach Arbeitslosigkeit, „Krankfeiern“ und kurzer Selbständigkeit sah ich eines Tages in der Rheinischen Post eine Stellenanzeige, die eine ganz neue Welt für mich öffnen sollte: Eine Familie mit zwei kleinen Kindern suchte eine Nachmittagsbetreuung. Wenn es mit der Jobsuche in der freien Wirtschaft nicht klappte, weshalb sollte ich dann nicht versuchen, etwas ganz Neues in Angriff zu nehmen?

 

Diese Anzeige war von einer „Agentur“, einer sogenannten Fachberatungstelle, geschaltet worden. Zunächst bewarb ich mich dort mit meinen Unterlagen und wurde anschließend von der Familie, die die Betreuungsperson suchte, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich bekam diese erste Stelle als „Kinderfrau“, musste aber nach Antritt auch einen dreimonatigen Qualifizierungs- und selbstverständlich auch einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren.

 

Diese Agentur betreut mich heute noch, nicht exklusiv, aber sie erinnert mich stets daran, wenn wieder Auffrischungs- oder Weiterbildungsstunden erforderlich sind. Mein Gehalt oder meine Vergütungen bekomme ich jedoch immer direkt von den Familien, in deren Diensten ich stehe.

 

Die Kinderbetreuung ist in den letzten zehn Jahren in Düsseldorf immens ausgebaut worden. Selbst Familien, die sich eigentlich keine Betreuung leisten können, haben die Möglichkeit, über das Jugendamt Geldleistungen zu beziehen, mit denen registrierte Kinderfrauen und Tagesmütter entlohnt werden. Als mein Sohn noch klein war – mittlerweile ist er 24 – hätte ich gerne auch eine Kinderfrau gehabt, aber damals, in den 90ger Jahren, gab es diese Regelung noch nicht. Und vertrauenswürdige Babysitter waren schwer zu finden.

 

Seit nunmehr zehn Jahren arbeite ich in Privathaushalten und Familien. Dort sind meist beide Elternteile berufstätig und deshalb meine Dienste sehr gefragt. Zunächst hatte ich sechs Jahre lang nachmittags zwei Mädchen betreut. Die beiden hatte ich übernommen, als sie drei und fünf Jahre alt waren. Ich holte Fiona und Jennifer anfangs von der KiTa und später von der Schule ab, ging mit ihnen zum Spielplatz, zur Klavier- oder Hockeystunde und blieb bei ihnen, bis abends ein Elternteil nach Hause kam. Diese Betreuung endete, als die Mädchen aufs Gymnasium kamen. Wir haben jedoch immer noch Kontakt und jedes Jahr zu Weihnachten besucht mich der Vater zusammen mit den Mädels und bringt mir einen dicken Weihnachts- blumenstrauß.

 

Ein Jahr lang hatte ich vormittags zusätzlich einen kleinen Jungen betreut. Diese Stelle endete leider, als die Familie in eine andere Stadt zog.

 

Danach kam ich zu einer Familie mit drei kleinen Mädchen, zu der ich vormittags fuhr. Dort frühstückte ich mit den Kids, brachte sie in die Kita oder machte die Größere schulfertig. Dort war ich fünf Jahre im Dienst.

 

Aktuell bin ich bei zwei Familien im Einsatz, bei einer vormittags, bei der anderen nachmittags. Die Eltern sind Rechtsanwälte und Ärzte. Während des Corona-Lockdowns konnten sie kein home-office machen und waren froh, dass ich mich trotzdem um ihre Kids kümmern konnte.

 

In der einen Familie ist die Mutter Italienerin und die beiden Töchter wachsen nun mehrsprachig auf. So kann ich auch wieder ein paar Brocken Italienisch aufschnappen. Und Karlotta, die ich nachmittags betreue, habe ich mit einem Jahr übernommen, als sie gerade zu laufen anfing. Mittlerweile ist sie fünf, sehr agil und aufgeweckt. Wir sind richtig gute Freundinnen geworden und manchmal darf sie auch am Wochenende bei mir übernachten.

 

Meine Tätigkeit als Kinderfrau macht mir viel Spaß und ich freue mich, wenn sehe, wie sich meine „Kinder“ prächtig entwickeln. Und wenn man so in Familien arbeitet, hat man doch viel mehr Freiheiten, als wenn man mit Kollegen und Chefs zusammen im Büro einer Firma sitzt.

 

Das Schreiben verfolge ich natürlich weiterhin, so nebenbei. Und wer weiß? Vielleicht veröffentliche ich eines Tages ein Buch mit dem Titel „Aus dem Tagebuch einer Kinderfrau“.

 

Ich hätte viel zu erzählen ...

 

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Imprint

Text: Rebekka Weber
Images: pixabay, freie Nutzung
Editing: Rebekka Weber
Publication Date: 11-01-2020

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