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Anflug auf London

 Es war Freitag, am Spätnachmittag, und wir saßen im Flieger nach London. Eine weitere Windböe hatte die Maschine gepackt und rüttelte sie hin und her. Ich sah meine Mutter an, die am Gang saß und die Spucktüte mit ihren Händen fest umklammert hielt. Lore war kreideweiß im Gesicht! Es war der erste Flug ihres Lebens und den hatte sie sich weitaus angenehmer vorgestellt.
„Nee, wenn ich gewusst hätte, dass Fliegen so schlimm ist“, jammerte sie, „dann wäre ich nicht mitgeflogen! Lange halte ich diese Rüttelei nicht mehr aus! Kommen wir denn auch wieder runter?“
„Sicher, runter kommen wir immer“, antwortete ich, „nur nicht immer im gleichen Zustand!“ Den Nachsatz konnte ich mir leider nicht verkneifen, obwohl dieser nicht gerade dazu beitrug, Lores Ängste zu mildern. Meine Mutter warf mir einen vernichtenden Blick zu. 

 

 Ute und ich hatten den Mittel- und den Fensterplatz der Sitzreihe beschlagnahmt und wir trugen das Unwetter mit Fassung. Wir waren bereits einmal zusammen nach Korsika in Urlaub geflogen und somit ein wenig mit dem Flugbetrieb vertraut. London hatten wir beide schon einmal während eines Schüleraustausches besucht und freuten uns jetzt sehr auf den zweiten Besuch der Metropole. Nach einigen Minuten beruhigten sich die Wetterturbulenzen. Die Bordlämpchen leuchteten auf und wir durften die Sicherheitsgurte wieder lösen. Das Flugzeug verringerte die Flughöhe und schon befanden wir uns im Anflug auf die englische Hauptstadt. Ute und ich hatten vor dem Abflug gelost, wer am Fenster sitzen durfte, und ich hatte gewonnen. Nun genoss ich den Anblick, der sich mir bot. Wie die tausend Lampen und Lichter der Themsemetropole funkelten! Von oben aus der Luft sahen sie aus wie glitzernde Diamanten und der Anblick war fantastisch! Mittlerweile flogen wir ziemlich tief und ich konnte sogar klar und deutlich die Sehenswürdigkeiten erkennen, die vom hellen Licht der Scheinwerfer angestrahlt wurden.

 

 „Sieh nur Ute, da unten, das ist doch die Tower Bridge!“, sagte ich, ganz aufgeregt. „Und diese Kirche da vorne, das müsste doch St. Paul’s Cathedral sein, nicht?“
Ute beugte sich halb über mich und versuchte, ebenfalls einen Blick auf die bekannten Bauwerke zu erhaschen.

 

Um 18:30 Ortszeit setzte unser Flieger auf der Rollbahn des Flughafens Heathrow auf und wir stellten unsere Armbanduhren eine Stunde zurück. Lore war heilfroh, wieder festen Boden unter ihren Füßen zu verspüren! Voller Tatendrang durchschritten wir Zoll und Passkontrolle und machten uns auf die Suche nach einem Taxi. Obwohl wir auch bequem mit der Bahn in die Innenstadt hätten fahren können – wir hatten ja nur wenig Gepäck dabei – hatte sich Lore bereit erklärt, eine Taxifahrt zu spendieren. Vor dem Ausgang stand wartend eine lange Reihe schwarzer Wagen, die sogenannten „Black Cabs“. Diese altmodisch aussehenden und doch so stilvollen Beförderungsmittel gehörten immer noch zum Stadtbild Londons, und eine Fahrt in solch einem Oldtimer würde doch ein stimmiger Einstieg in unser Londoner Abenteuer sein. Wir stiegen ein und hocherfreut über die Platz- und Beinfreiheit, die wir in dem geräumigen Gefährt vorfanden, lehnten wir uns entspannt zurück.

 

Wir genossen die Fahrt durch die abendliche Stadt und schließlich hielt das Taxi vor einem einladend wirkenden roten Backsteingebäude, in dem sich das Sloane Hall Hotel befand. Vorsichtig stieg meine Mutter an ihrer Seite aus und wollte sehen, ob die Straße frei war. Leider schaute sie in die falsche Richtung. Ein Auto stoppte abrupt und laut quietschten Bremsen auf! Lore hatte nicht mehr an den Linksverkehr gedacht und dass die Fahrzeuge von der anderen Seite angefahren kommen. Außer dem großen Schrecken, den sie bekommen hatte, war ihr zum Glück nichts passiert! Der Taxifahrer half uns, unser Gepäck aus dem Kofferraum zu holen und stellte es vor der Treppe ab, die zum Hoteleingang führte.

 

Wir stiegen zur Rezeption im ersten Stock hinauf. Gleich, nachdem ich uns angemeldet hatte, fragte ich die Rezeptionistin, ob eine Reservierung von einem gewissen Steven Lawson vorläge. Er hätte zwei Nächte gebucht und zwar in der kommenden Woche von Montag bis Mittwochmorgen, gab sie mir freundlich Auskunft. Da musste sicherlich ein Buchungsfehler vorliegen, dachte ich sogleich, denn Steven hatte mir doch versprochen, die ganze Woche über in London zu bleiben! Ich bat die Rezeptionistin noch einmal nachzuschauen, vielleicht hatte sie sich verguckt. Die junge Dame tat mir den Gefallen, aber es blieb dabei: Steven hatte nur zwei Übernachtungen gebucht! Das stimmte nun leider wirklich nicht mit dem überein, was ich mit Steven abgesprochen hatte. Es hatte jedoch keinen Zweck, mir über die Gründe den Kopf zu zerbrechen und so nahm ich mir vor, Steven am Abend danach zu fragen. Wir hatten nämlich ausgemacht, nach unserer Ankunft miteinander zu telefonieren.

 

Lore, Ute und ich gingen in den zweiten Stock hinauf, in dem sich unsere Zimmer befanden und sahen uns unterwegs das Interieur an. Es sah ein wenig altmodisch, aber doch sehr gemütlich aus: Auf der Treppe und den Fußböden lag dicker, roter Teppich, der unsere Schritte zwar dämpfte, das Knarzen einiger Dielenbretter jedoch nicht kaschieren konnte. Die Wände zierten stilvolle Rosenmustertapeten und die Türen waren weiß gestrichen und mit schönen, handgearbeiteten Türschlössern und Klinken aus Messing versehen. Ich steckte den Schlüssel zu Utes und meinem Zimmer ins Türschloss, öffnete und das Erste, was ich sah, war ein großer in Cellophan gewickelter Blumenstrauß, der auf einem der Betten lag.

„Nanü“, rief ich aus, „ist das vielleicht der Begrüßungsstrauß der Hotelleitung? So hohe Tiere sind wir doch gar nicht, dass der uns zustehen würde! Oder ob die uns mit jemandem verwechselt haben?“
Ute nahm den Strauß hoch, schob die große weiße Schleife beiseite, mit der er gebunden war, und sagte: „Guckt‘ mal, hier liegt eine Karte bei. Da schreibt doch tatsächlich jemand ‚Love from Steven, see you soon!‘ Die kann ja nur für dich sein, Tina!“
Überrascht nahm ich ihr die Blumen ab.

 

Der Strauß sah zwar schon leicht angewelkt aus – wahrscheinlich lag er bereits seit mehreren Stunden dort – aber dies konnte meine Freude darüber keineswegs trüben. Steven, dieser unglaublich nette Kerl, dachte wirklich immer daran, mir eine Freude zu bereiten! Während ich mich im Zimmer umschaute und die ersten Sachen auspackte, wollte Ute an der Rezeption nach einer Vase fragen.

„Jetzt muss ich erst mal ein Bild von dir mit den Blumen im Arm machen!“, sagte sie, als sie zurückkam. „Ich hab‘ übrigens eine Idee! Wir erzählen zuhause ganz einfach, dass wir ein supertolles Hotel hatten und dass dies der offizielle Begrüßungsstrauß der Hotelleitung war! Setz dich doch bitte mit den Blümchen vor den Kamin in Positur.“
Ich kam gleich ihrer Aufforderung nach und Ute drücke auf den Auslöser.

 

In Utes und meinem Zimmer standen ein Doppelbett und zwei Einzelbetten und eigentlich hätte Lore auch bei uns schlafen können. Meine Mutter hatte jedoch schon bei der Buchung auf ihrem Einzelzimmer bestanden, und darüber war ich sehr froh, denn Lore schnarchte bekanntlich ganz außerordentlich. Ihr Zimmer befand sich praktischerweise gleich neben unserem, hatte jedoch kein eigenes Bad. Lore musste das Etagenbad und die Toilette auf dem Gang benutzen, das machte ihr jedoch nichts aus. Wir inspizierten unsere Zimmereinrichtung und stellten fest, dass der Kamin wohl nur zur Dekoration diente. Es gab keine Zentralheizung und stattdessen stand in jedem Raum ein kleines Elektroöfchen. Wir hofften nur, dass es am Abend nicht sehr kalt wurde, denn wir glaubten nicht, dass diese Öfchen ausreichen würden, um die Zimmer richtig zu beheizen. Immerhin gehörten ein Tauchsieder, Teekanne und Geschirr zur eigenen Teezubereitung zum Mobiliar, und so konnten wir uns wenigstens von innen mit heißen Getränken wärmen, wenn wir zu sehr frieren sollten.

 

Nachdem wir unsere Sachen ausgepackt hatten, machten wir einen kleinen Erkundungsgang in der näheren Umgebung und entschieden uns, in einem Pizza-Hut-Restaurant zu Abend zu essen. Schließlich waren wir aufgeschlossene Touristen, die gerne etwas Neues kennenlernten. So probierten wir zum ersten Male Pizzen aus der Pfanne, die mit einem wesentlich dickeren Teig als die italienischen Pizzen zubereitet werden. Wir waren überrascht, wie gut sie schmeckten! Und einige Zeit später sollte sogar das erste Pizza-Hut-Restaurant dieser Franchise-Kette in Düsseldorf eröffnet werden.

 

Als wir ins Hotel zurückkamen, rief ich Steven vom Münzfernsprecher an, der praktischerweise gleich auf dem Gang in der Nähe unserer Zimmer angebracht war. Judy hatte Spätdienst, und so war Steven sofort am Apparat und wir konnten einige Minuten ungestört miteinander sprechen. Ich erzählte ihm, dass wir gut gelandet waren und dass ich mich sehr auf ihn freute. Die Freude läge ganz auf seiner Seite, versicherte mir Steven eifrig. Als ich ihn fragte, warum er nur zwei Übernachtungen gebucht hatte, wich er mir aus und meinte, dass wir nach seiner Ankunft darüber sprechen könnten. Er versicherte mir jedoch, dass Tom und er am frühen Montagmorgen aus Whitchurch losfahren wollten und voraussichtlich zwischen 13:00 und 14:00 in unserem Hotel eintreffen würden. Wir möchten doch bitte für einen gebührenden Empfang sorgen und den roten Teppich ausrollen. Das versprach ich ihm gerne.

 

Mittlerweile war es auf dem zugigen Flur doch sehr kühl geworden und ich war froh, in mein Zimmer zurückkehren zu können. Leider war es dort auch nicht viel wärmer, obwohl Ute das Heizöfchen schon angeworfen hatte. Frierend kroch ich in mein Bett und breitete über meine Zudecke noch meinen Bademantel aus. Dennoch dauerte es ziemlich lange, bis ich mich warm gekuschelt hatte und ich einschlafen konnte. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich am Montag zu Steven ins Bett kriechen konnte und er mich sicherlich wärmen würde. Daran hatte ich gar keine Zweifel!



* * *

 

Am nächsten Morgen blieben Ute und ich noch eine Weile im Bett liegen und warteten hoffnungsfroh darauf, dass wir einen „morning tea“ aufs Zimmer serviert bekamen. Unser Hotel schien jedoch nicht zu der Kategorie zu gehören, in der ein solcher Service im Preis inbegriffen war. Und so standen wir schließlich um viertel vor neun auf, zogen uns an und gingen in den Aufenthaltsraum. Die sogenannte Lounge lag im ersten Stock und dort sollte das Frühstücksbuffet aufgebaut sein. Lore saß bereits an einem der Tische und winkte uns frisch und ausgeruht zu. Sie hatte auf Ute und mich gewartet und für uns Sitzplätze freigehalten. Wir probierten den frisch gepressten Orangen- und Tomatensaft, häuften reichlich knusprige Cornflakes und Rice Crispies auf unsere Teller, nahmen nur zu gerne von den ofenwarmen Croissants und dem gerösteten Toast, dazu Jam und Honig. Ute trank Tee und für Lore und mich gab es selbstverständlich auch Kaffee. Der einzige Wermutstropfen an diesem reichhaltigen Frühstücksangebot war die salzige Butter, an deren Geschmack ich mich wohl nie gewöhnen würde.

 

Gut gestärkt und unternehmungslustig brachen wir eine Stunde später auf, nicht ohne vorher noch einem prüfenden Blick gen Himmel zu richten und unsere Taschenschirme einzustecken. Nach wenigen Schritten bummelten wir schon auf Chelseas berühmtester Einkaufsstraße, der King’s Road, und konnten einen Blick auf das englische Warensortiment werfen. Unser nächstes Ziel, das wir ebenfalls fußläufig erreichten, war Victoria Station, die bekannte und stark frequentierte Bahnstation. Dort kauften wir uns sogenannte „Go-as-you-please-Tickets“, mit denen wir eine Woche lang das gesamte öffentliche Verkehrsnetz Londons nutzen konnten. Zunächst wollten wir jedoch noch weiter spazieren gehen und gingen die Victoria Street hinunter bis zur Westminster Abbey und anschließend zum Big Ben. Der berühmte Glockenturm war leider wegen Renovierungsarbeiten mit Abdeckplanen verkleidet und wir konnten nicht viel von ihm erkennen.

 

Ein leichter Regen setzte ein, wir spannten unsere Schirme auf und machten einen Abstecher zur Downing Street No. 10, dem Amtssitz der englischen Regierung. Vor dem Haus standen zahlreiche Polizisten und Fotografen und wir vermuteten, dass „Maggie“, also die Premierministerin Margret Thatcher, gerade hohen Besuch hatte und sicherlich Tee und Biskuits servierte. Wir blieben eine Weile abwartend vor dem Haus stehen. Als „Maggie“ sich weder am Fenster noch an der Tür zeigte, gingen wir zur Themse zurück, die im herbstlichen Nieselregen grau vor sich hinfloss.

 

Mittlerweile waren wir des Laufens müde und wollten nun endlich mit der U-Bahn fahren. Wir befanden uns jetzt an der Haltestelle „Westminster“ und wollten nach „Piccadilly Circus“. So studierten wir den Plan der U-Bahn-Linien, der groß an einer Tunnelwand angeschlagen war. Wir fanden heraus, dass wir zunächst mit der „Circle Line“ eine Station Richtung Osten, also „Eastbound“, fahren mussten, dann an der Haltestelle „Embankment“ aussteigen und zwei Stationen mit der „Bakerloo Line“ fahren sollten, dann allerdings Richtung Norden, also „Northbound“. In den weitverzweigten U-Bahn-Gängen orientierten wir uns an den farbigen Pfeilen der jeweiligen Bahnlinien und wir fanden auch tatsächlich die Bahn, in die wir einsteigen mussten. Es fiel uns gar nicht schwer, uns zurechtzufinden und wir erreichten unser Ziel, ohne uns verfahren oder verlaufen zu haben.

 

Als wir tief unter der Erde in „Piccadilly Circus“ ankamen und uns dort umschauten, waren wir tief beeindruckt. Diese Station gehört nämlich zu den tiefgelegensten und ältesten Bahnhöfen des Londoner U-Bahn-Netzes. Endlos lange Rolltreppen mit hölzernen Stufen, die noch aus dem Jahre 1925 stammten, führten uns und die vielen anderen Fahrgäste aus ca. 30 Metern Tiefe wieder in die Höhe. Es herrschte ein unglaublicher Betrieb und wir wurden von den Menschenmassen ganz einfach mitgeschoben. In den Gängen und auf den Bahnsteigen sahen wir auffallend viele Punks. Wir fanden ihre Aufmachung scheußlich und fragten uns, wie man nur so herumlaufen konnte! Denn was Hässlichkeit und Kreativität ihrer Frisuren, Schminke und Kleidung anging, übertrafen diese Jugendlichen bei weitem die deutschen Punks, die wir in der Heimat gesehen hatten.

 

Schließlich gelangten wir wieder ins Freie. Wir schlenderten über den Piccadilly Circus, die bekannten Einkaufsstraßen Regent- und Old Bond Street und machten einen Abstecher zur legendären Carnaby Street. Diese Straße hatte zur Zeit der Flower-Power-Bewegung mit ihren vielen Boutiquen, Läden und ihrem ausgefallenen Angebot an Klamotten reißende Umsätze gemacht. Jetzt erschien sie uns jedoch grau und trist. Vielleicht lag es daran, dass die Geschäftsleute wegen des Regens keine Waren und Kleider nach draußen gestellt oder gehängt hatten. Die Blütezeit der Carnaby Street, einst Vorzeigeecke von Swinging London, war jedoch sicherlich längst vorbei.

 

Abends wollten wir in einem kleinen Lokal in der Nähe des Piccadilly Circus dinieren. Wie von Deutschland her nicht anders gewohnt, steuerten wir geradewegs auf einen der soeben freigewordenen Tische zu. Sofort wurden wir von einem Kellner höflich gebeten, doch bitte zu warten, bis uns ein Tisch zugewiesen wurde. Also standen wir wieder von dem gerade eroberten Tisch auf und reihten uns in die lange Schlange der wartenden Gäste ein, die wir vorher geflissentlich übersehen hatten. Nun ja, im Schlangestehen waren die Einheimischen halt disziplinierter als wir! Nun mussten wir uns in Geduld fassen, bis wir uns endlich wieder setzen durften. Unsere Ausdauer wurde belohnt, denn das Essen war diesmal richtig lecker. Das Fleisch war gut durchgebraten, also „well done“ – blutig war nämlich nicht so unsere Geschmacksrichtung – und der große Salatteller, der uns als Beilage serviert wurde, war knackig und mit einem würzigen Dressing angemacht.

 

Nach dem Dinner wagten wir uns noch einmal unter die Menschenmassen, die an diesem Samstagabend im Londoner Vergnügungsviertel Soho unterwegs waren. Es herrschte ein unglaublicher Auftrieb! Uns schien es, als wenn sämtliche Nationalitäten und alle Hautfarben, die es auf der Welt gibt, vertreten waren. Als wir an einer roten Telefonzelle vorbeikamen, die hier genauso wie in Porthallow nur etwas gepflegter aussah, rief ich spontan Steven an und berichtete ihm, dass wir uns unters Volk gemischt hatten. Er lachte, wünschte uns viel Spaß und berichtete mir, dass sein Köfferchen für Montag schon gepackt sei und Judy bis jetzt noch keinen Verdacht geschöpft hätte. Es würde sicherlich alles gutgehen!

 

Schließlich landete unser Trio am Leicester Square. An diesem großen viereckigen Platz reihte sich ein Kino ans andere. Interessiert sahen wir uns die riesengroßen Reklametafeln der aktuellen Filme an, die hier gerade gezeigt wurden. Wir kramten unsere Börsen hervor und machten Kassensturz. Vom Wechselgeld, das uns nach dem Abendessen übrig geblieben war, konnten wir uns gerade noch einen Kinobesuch erlauben. Wir stellten uns in die Schlange, die vor dem „Empire“ wartete. Und so ergatterten wir Karten für John Travoltas neuesten Filmknüller „Staying Alive“. Da die Handlung hauptsächlich aus Johnnys Tanzeinlagen und Hüftschwüngen bestand, mussten wir für Lore, die ja kein Englisch sprach, nicht allzu viel übersetzen.

 

Als wir gegen Mitternacht mit der U-Bahn zum Sloane Square zurückfuhren, war immer noch halb London auf den Beinen. Wir amüsierten uns köstlich über die buntgewürfelte Zusammenstellung der Fahrgäste, die wir diskret beobachteten: Dort saßen schräge Punks neben brav gestylten Sekretärinnen und biederen Hausfrauen aus der Vorstadt, mit Kameras behängte Touristen aus aller Welt neben mit Aktenköfferchen bestückten Geschäftsleuten und Kleinkinder, die fast auf ihren Sitzen einschliefen oder am Daumen nuckelten.

 

Im Sloane Hall Hotel angekommen, bibberte ich wieder vor Kälte. Es schien mir, dass es im Vergleich zu letzter Nacht noch frischer geworden war, aber dies war eigentlich kein Wunder, schließlich hatten wir schon Mitte Oktober. Ich kroch in mein Bett und breitete wieder, „same procedure as yesterday“, genau wie am Vorabend, alles Wärmende über mich aus, das ich finden konnte. Nur noch eine Nacht frieren, dachte ich, dann habe ich eine große Wärmflasche!



* * *

 

 

Am Sonntagmorgen lachte die Sonne wieder! Wir brachen zu einem Spaziergang durch den herbstlich gefärbten Hyde Park auf und gingen anschließend über eine wunderschöne breite Allee, Constitution Hall genannt, durch den Green Park zum Buckingham Palace. Genau wie letzte Nacht am Piccadilly trafen wir auch hier Menschenmassen und Touristen aus aller Welt, die wohl alle einen Blick auf die Queen erhaschen wollten. Die weltberühmte Wachablösung, die jeden Tag gegen Mittag vor dem Palast stattfindet, hatten wir leider um wenige Minuten verpasst und „Lisbett“ zeigte sich weder am Fenster noch in ihrer Kutsche. Der Union Jack, die englische Nationalflagge, wehte jedoch auf dem Dach des Palastes und so konnten wir erkennen, dass die Hausherrin daheim weilte.

 

Am frühen Nachmittag machten wir uns auf den Weg zur Tate Gallery, der bekannten Gemäldesammlung. Sie liegt in Westminster, in der Nähe der Themse und dorthin konnten wir endlich in einem der roten legendären Doppeldeckerbussen fahren. Wir kletterten aufs Oberdeck und hatten von dort aus einen fantastischen Blick auf die Londoner Straßen und Sehenswürdigkeiten, die am Weg lagen. Im Museum machten wir einen ausgiebigen Bummel durch die Säle. Besonders gut gefielen uns die Bilder der englischen Landschaftsmaler Constable und Turner. Wir versuchten, ihre Werke mit denen der französischen Impressionisten, die wir schon im Jeu-de-Paume-Museum in Paris bewundert hatten, zu vergleichen und herauszufinden, ob diese englischen Maler wirklich die Vorläufer und Inspiratoren für diese Stilrichtung gewesen waren. Auf jeden Fall gefielen uns die Bilder sehr gut und wir kauften zur Erinnerung mehrere Ansichtskarten.

 

Abends konnten wir kaum noch gehen, weil uns vom vielen Laufen die Füße weh taten. Nachdem wir eine Kleinigkeit zu Abend gegessen hatten, machten wir es uns auf unseren Zimmern bequem und brühten Tee auf. Steven rief mich kurz an und versicherte mir, dass er genauso aufgeregt wäre wie ich und dass er morgen käme, wie ausgemacht.

 

Als ich im Bett lag und ich mich warm zitterte, überlegte ich, ob Steven wohl meine neue Frisur gefallen würde. Ich hatte nämlich meinen Fransenhaarschnitt, den ich in Cornwall trug, auf Kinnlänge wachsen und mir mittels Dauerwelle einen Lockenkopf zaubern lassen, den ich an der Luft trocknen lassen konnte. Ach, er wird meine neue Frisur schon mögen! dachte ich. Und bevor ich einschlief, malte ich mir unser Wiedersehen in den schönsten Farben aus.



* * *

Der Werwolf

 Als ich am Montagmorgen aufwachte, war mein erster Gedanke: Heute kommt Steven! Beim Frühstück bekam ich kaum einen Bissen herunter und von Minute zu Minute wurde ich unruhiger und aufgeregter. Ute, die Steven bis jetzt nur auf Fotos gesehen hatte, steckte ich mit meinem Lampenfieber an.

„Ich bin auch sehr gespannt auf die beiden“, meinte sie. „Hoffentlich ist sein Freund auch nett und umgänglich! Es wäre doch schön, wenn wir alle gemeinsam etwas unternehmen könnten und wir uns verstehen würden!“
Bevor wir mit Lore zu dritt loszogen, um die Zeit bis zum Eintreffen der beiden Engländer totzuschlagen, platzierte ich meinen treuen Begleiter Froggy in der Nähe der Rezeption. Der Frosch sollte „seinem Vater“ sofort ins Auge fallen, wenn er die Treppe hochkam. Anbei legte ich einen Zettel, auf den ich geschrieben hatte, dass wir am frühen Nachmittag zurück sein würden.

 

Zunächst bummelte unser Frauentrio durch die Geschäfte und Kaufhäuser, die um den Sloane Square und der King’s Road lagen. Gegen Mittag, als wir Hunger verspürten, machten wir bei „Burger King“ Halt und aßen dort eine Kleinigkeit. Gegen halb drei kamen wir zum Hotel zurück. Meine Knie waren butterweich, denn ich war mir sicher, dass Steven und Tom schon angekommen waren, in der Lounge saßen und auf uns warteten. Froggy saß jedoch noch genauso unberührt an der Rezeption, wie ich ihn hingesetzt hatte und meine Nachricht an Steven war ebenfalls noch nicht angefasst worden.

„Schade“, sagte ich zu Lore und Ute, „sie sind noch nicht da!“

 

Wir gingen die Treppe zum zweiten Stock hinauf und stießen dort fast mit Steven zusammen, der ziemlich eilig die Stufen heruntersprang.

„Du bist ja doch schon da!“, rief ich und fiel ihm gleich um den Hals. Steven schien sich über diesen Überfall zu freuen, denn er strahlte übers ganze Gesicht und drückte mich fest an sich.

„Seit wann seid ihr denn hier?“, fragte

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Images: eigene Fotos (alle Rechte bei der Autorin) Coverfoto: Die Bucht von Porthallow/Cornwall
Editing: Rebekka Weber
Publication Date: 11-27-2012
ISBN: 978-3-95500-942-7

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Dedication:
*** For an Englishman who cares ***

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