Cover

ANFANG VOM ENDE

Es war dunkel, es war kalt, und es war Montag. Schlechter konnte die Woche kaum beginnen, dachte ich noch, als ich auf dem Weg ins Büro den Rücklichtern meines Busses durch dichten Schneeregen hinterherlief. »Zwei Minuten zu früh!«, schrie ich dem Fahrer noch hinterher. Doch der grinste mich aus seinem Rückspiegel heraus nur an. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit all denen, die ebenfalls rechtzeitig zu spät gekommen waren, unter das schmale Vordach der Bushaltstelle zu drängen. Dort wurde heftig über die neue Form der Unpünktlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs diskutiert. Ich aber war zu müde dafür, weshalb ich zu einem der Zeitungsständer ging und gelangweilt die Überschriften der Tagespresse zu lesen begann. Die Kälte kroch mir vom Boden her die Beine hoch, doch zum Glück spürte ich meine Füße schon nicht mehr.

STAATSBANKROTT! TRIFFT ES NUN DIE SPARER?

prangte mir von einer der Boulevardzeitungen in weißer Schrift auf rotem Grund entgegen. Den journalistischen Vierzeiler unterhalb der PleitegeierKarikatur konnte ich nur noch überfliegen als abermals der nächste Bus zu früh kam. Doch diesmal war nicht ich es, der dem Bus vergeblich hinterherlief. Staatsbankrott! Das klang unerfreulich, wenn ich an mein über Jahre mühsam zusammengekratztes Notpolster dachte. Als 38jähriger, kleiner Angestellter beim städtischen Bauamt rechnete ich schon in guten Zeiten nicht mit nennenswerten Zuwächsen. Eine Notzeit käme mir also denkbar ungelegen. Doch viel Zeit, über meine drohende Privatinsolvenz nachzugrübeln, blieb mir nicht, denn der Verspätung wegen musste ich mich beeilen, ins Büro zu kommen. Aber die Schlagzeile ließ mich nicht mehr los. Langsam fraßen sich die wenigen Worte einen Weg in mein Bewusstsein und überschatteten die Dolce Vita meines Angestelltendaseins. Eigentlich hätte ich mir bei meiner überschaubaren Rücklage keine Sorgen machen müssen, denn wer nichts hat, kann auch nichts verlieren. Doch die Erfahrung lehrt, dass der Staat selbst einem nackten Mann noch in die Tasche greift, wenn die Beamtenversorgung in Gefahr ist. Nervös ließ ich den Morgenkaffee ausfallen und begann im Internet nach dem Kontostand der Republik zu fahnden. Die Seite mit der Schuldenuhr kann ich nur wirklich hartgesottenen Newsjunkies empfehlen. Ich habe mittlerweile statistisch mehr Schulden, als ich in den letzten zehn Jahren ansparen konnte. Doch als ob das noch nicht genug wäre, schiebt meine Hausbank marode Kredite vor sich her, die dem Bruttoinlandsprodukt osteuropäischer Beitrittsländer entsprechen. Damit dürften sich meine von Staatswegen auflaufenden Schulden in Kürze verdoppeln. Das Zahlenkarussell drehte sich und immer mehr Mitfahrer stiegen zu.

Junkbonds, Hedgefonds, Leerverkäufe. Griechenland pleite. Der Euro im freien Fall, Hyperinflation und Bargeld wird strafbar. Investieren Sie in die Bad Bank Ihres Vertrauens

Mir brummte der Kopf. Zahllose Blogs schienen meine plötzlichen Existenzängste ernst zunehmen und fütterten meinen verwundeten Geist mit Nahrung, die nicht satt, sondern paranoid machte. Nur die namhafte Presse schwieg. Die Wirtschaftsweisen fuhren sich nachdenklich durch ihre weißen Bärte und sinnierten über die Folgen ausufernder Sozialleistungen für Bezieher niedriger Einkommen, was mich daran erinnerte, Wohngeld zu beantragen. Seit meine Freundin Tessa bei mir eingezogen war und wir nun täglich heizten, jeden Freitag die Waschmaschine benutzten und sie darauf bestand, mehr als eine abgelaufene Milch und Toastbrot im Kühlschrank zu haben, war ich finanziell knapp bei Kasse. Doch als ich nun las, wie viele Milliarden der Staat zur Rettung deutscher Banken aufwenden musste, erschien mir meine Freundin in einem ganz anderen Licht. Von dem Geld hätte man die alten Banken schließen und neue eröffnen können. Ich aber hatte ihr unlängst empfohlen, sich statt die Heizung anzuwerfen doch einen Pullover überzuziehen, dann würden 15 Grad zum Überleben reichen. Sollte ihr dann immer noch kalt sein, fuhr ich fort, gäbe es noch andere Wege, sie zu wärmen. Daraufhin schlief ich allein und meine Freundin sprach zwei Tage nicht mehr mit mir. Ihre Laune taute erst bei finanziell unverantwortlichen 22 Grad im Wohnzimmer und einem dicken Strauß Rosen wieder auf. Ich hingegen sann über einen Nebenjob nach. Doch vor einem wirtschaftlichen Weltuntergang würde auch der mich nicht retten. Beunruhigt nutzte ich daher unsere zweite Frühstückspause, um meine Kollegen um Rat zu fragen. »Wer arbeitet ist doch immer der Dumme«, brummt Strasser, der vor vier Jahren 65 wurde. Nachdem ihm aber die Personalabteilung weiterhin monatlich sein Gehalt überwies, kam Strasser jeden Morgen, setzte sich über seine Zeitung und schloss diese kurz bevor er ging. Unterbrochen wurde dieses Ritual nur durch besagte Frühstückspause und einen Mittagsspaziergang durch den begrünten Innenhof der Behörde. Zuhause wartete niemand auf ihn. »Noch dümmer ist aber, wenn unser Geld trotz Arbeit immer weniger wert wird«, versuchte ich es mit Fakten, erntete jedoch nur ein bemühtes Lächeln eines Kollegen, der überzeugt war, ein Staat könne nicht pleite gehen. Im Übrigen würde Panini auch zur bevorstehenden Fußball-EM wieder Sammelbildchen anbieten. Das interessierte die anderen und erste Tauschgemeinschaften verabredeten sich. Ich aber stand vergessen mit meinem Internetausdruck der Neuen Züricher Zeitung, in dem ein düsteres Bild von der Finanzkraft der Eurozone gezeichnet wurde, und ahnte, dass die Welt ohne meine Kollegen untergehen müsse. Doch auch wenn Griechenland ehemaliger Fußball-Europameister war, für die EM gab ich keine Drachme auf dieses Land. Den restlichen Nachmittag klickte ich mich im Internet durch diverse Wirtschaftsforen, während sich das Hamsterrad im Büro ohne mich drehte. Das war stressiger als der übliche Bürotrott, doch was tut man nicht alles für das Gefühl, die Hand gerade noch an der Notbremse zu haben. Allerdings war ich zum Feierabend von der ungewohnten Bildschirmnutzung so ausgelaugt, dass ich die Ausdrucke meiner Recherchen ungelesen dem Reinigungspersonal mitgab. Vermutlich hatten meine Kollegen Recht. Es stand die Fußballeuropameisterschaft bevor, da lässt man keinen Staat kollabieren. Völlig erschöpft schleppte ich mich an diesem Abend in die heimischen, überheizten vier Wände, wo meine Freundin munter im letzten noch gedruckten Versandkatalog blätterte und mich mit strahlenden Augen empfing. »Schatz, wir könnten echt Geld sparen.« »Sparen? Hast du auch von dem Staatsbankrott gehört?« Meine Freundin sah mich irritiert an, doch dann verstand sie. »Ja, genau Bankrott. Die Kaufhauskette hier ist pleite und verschleudert ihre Restbestände. Schau dir mal den Katalog an, alles bis zu 70% billiger.« »Und was hat das jetzt mit Sparen zu tun?« Sie verdrehte die Augen. »Mann Ben, stehst du auf der Leitung? Guck mal in meinen Schrank, wie leergefegt, und nun bekäme ich neue Klamotten fast geschenkt.« »Ähm, und wenn du erst gar nichts kaufst, sparen wir dann nicht noch ein bisschen mehr?« »Du willst also, dass ich weiter wie der letzte Penner rumlaufe?« »Nein, natürlich nicht.« »Ach, ich laufe also zurzeit wie der letzte Penner rum?« Tessa schien ehrlich sauer zu werden. »Wieso das jetzt? Du schaust wie immer bezaubernd aus«, versuchte ich das verminte Terrain zu umschiffen, doch meine Freundin gab sich unversöhnlich. »Was heißt hier wie immer? Dir fällt also gar nicht auf, wenn ich was Neues trage? Was zum Beispiel hatte ich gestern an?« Ich schaute verzweifelt im Zimmer umher. Genauso gut hätte sie mich fragen können, was ich ihr zu unserem ersten Jahrestag geschenkt hatte. Doch bei meinem Glück käme diese Frage als nächstes. »Tess, ich bitte dich, natürlich fällt mir auf, wenn du etwas Neues trägst. Ich meine ja nur, dass du einen ausgezeichneten Geschmack hast und wenn du sagst, du findest etwas Schönes in diesem Katalog, dann sollten wir nicht länger darüber reden, sondern endlich bestellen.« Irgendetwas musste ich richtig gemacht haben, denn plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und aufgeregt blätterte sie sich vor meinen müden Augen durch ein gefühltes Dutzend an Seiten und zeigte auf eine unüberschaubare Anzahl von Blusen, Hosen, Schals und Schuhen, bis ich ergeben nickte. »Alles ganz wunderbar und so billig.« »Sag ich doch«, nickte Tessa fröhlich und griff zum Stift, um das Bestellformular auszufüllen. Kopfschüttelnd verließ ich das Zimmer, um mir ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Auf dem Küchentisch fand ich einen Brief der Strategie-Finanzberatung. Irritiert entnahm ich dem Kuvert eine Einladung für eine kostenfreie und unverbindliche Anlageberatung. Aufhänger war zu meiner Überraschung die drohende Zahlungsunfähigkeit des Staates und die Notwendigkeit privater Vorsorge und Absicherung. Da waren sie wieder meine Kopfschmerzen und das dumpfe Gefühl im Brustkorb, morgen nichts mehr zu essen zu haben. Ich wählte also die Nummer der Beratungsstelle und vereinbarte einen Termin für die kommenden Tage. Ich wollte vorbereitet sein und hielt mich für weitsichtig. Der erste Anflug von Panik legte sich wieder. Tessa hatte mittlerweile ihre Kaufrauschorgie beendet und fragte, was ich am Abend noch essen wolle. Mir jedoch war die Talfahrt des Euro auf den Magen geschlagen. »Ach, nur weil irgendwelche griechischen Olivenbauern über ihre Verhältnisse leben, willst du nichts mehr essen?«, zeigte sie wenig Verständnis für meine Sorgen. »Und weil ich nicht weiß, ob wir uns morgen überhaupt noch Brot leisten können.« »Dann essen wir halt Kuchen. Was ist denn plötzlich mit dir los, dass du so schwarz siehst?« Da erzählte ich Tessa von meiner morgendlichen Begegnung mit dem Gespenst der Weltwirtschaftskrise und der Angst, dass in Kürze Toilettenpapier so teuer ist, dass wir uns den Hintern mit Euroscheinen abwischen müssen. »Na dann sind die wenigstens für irgendwas gut«, schmunzelte sie und öffnete den Kühlschrank. »Wurst oder Käse?«. Ich schüttelte den Kopf. »Euro oder DM müsste es heißen, doch an das heiße Eisen will ja keiner ran.« Tessa sah mich genervt an. »Jetzt, wo ich langsam aufhöre, im Kopf noch umzurechnen, ohne rot anzulaufen, willst du die olle DM zurück.« »Ich wollte nie den Euro, wenn du das meinst.« »Niemand wollte den. Doch das ist Schnee von Gestern. Jetzt iss und hör auf, über Sachen nachzudenken, die du eh nicht ändern kannst.« Mühsam schluckte ich eine Erwiderung hinunter und griff unwillig zum dargereichten Brotkorb. Eigentlich hatte Tessa ja Recht. Was zerbrach ich mir den Kopf über notleidende Kredite, Bailouts und Heuschrecken. Ich hatte kaum Geld auf der Bank, geschweige denn Aktien oder andere Anlagen, um die ich mich sorgen müsste. Doch so pleite war ich nicht immer. In den Jahren üppiger Verdienste als Student wagte ich mich wie viele meiner Kommilitonen aufs schlüpfrige Börsenparkett und rutschte prompt auf der zerplatzten Blase des Neuen Marktes aus. Millionär mit 30 war das erklärte Ziel. Schulden auch ohne BAföG das Ergebnis meiner Hoffnungen, die ich damals in die absehbaren Folgen der Demografie steckte. Wo man hinhörte, wurde über die Vergreisung der Gesellschaft geklagt. Die Pflegekosten sollten in den Himmel schießen und der Bedarf an medizinischer Versorgung wäre kaum noch finanzierbar. Was also sprach Ende der 90er Jahre gegen die Beteiligung an einer Pflegeheimkette. Nichts, außer der Tatsache, dass diese Firma pleite ging, die Aktien zu Spielgeld wurden und sich meine Altersvorsorge in Rauch auflöste. Zum Glück hatte ich meine Telekom-Aktien gerade noch zum Ausgabepreis wieder los bekommen. Hier scheiterten andere. Tessa plauderte währenddessen von ihrem Tag und dem allmählich gestörten Verhältnis zu moderner Kunst. Sie hatte Kulturmanagement studiert und arbeitete für eine internationale Galerie, bei der sie die Wechselausstellungen betreute. Zurzeit galt es Ron Mueck klar zu machen, dass sein fünf Meter langes Riesenbaby keinen Saal von 100 Quadratmetern allein befüllen könne, so effektvoll das Ergebnis auch aussähe. »Wenn wir so planen würden, könnte die Galerie gleich wieder schließen. Aber Künstler haben keine Ahnung von wirtschaftlichen Dingen«, stöhnte sie. »Ach, wer wird denn gleich so schwarz sehen?«, schmunzelte ich. Doch Tessa antwortete nicht, sondern blätterte in der Zeitung, während ich den Tisch abräumte. »Hier zumindest steht noch nichts von einem Weltuntergang. Apropos Untergang, die alte Schmidt von schräg über uns lag angeblich zwei Wochen tot in ihrer Wohnung. Die Hausmeisterin hat’s mir vorhin in der Waschküche erzählt. Muss ganz großes Kino gewesen sein, Krankenwagen, Polizei, Feuerwehr und zum Schluss Zinksarg und ab in die Pathologie.« »Feuerwehr?«, wunderte ich mich. »Ja, die mussten die Wohnung desinfizieren. Kein Wunder bei dem Gestank die letzten Tage im Treppenhaus. Jedenfalls war’s nicht der Hund von den Albrechts.« »Meinetwegen, aber wer hat die Schmidt gefunden?« »Ihre Zugehfrau. Die hatte Urlaub und konnte deshalb nicht früher kommen. Muss ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein. Kannst dir ja vorstellen, zwei Wochen tot in einer völlig überheizten Wohnung. Keine Ahnung, ob die jemals wieder bezogen werden kann.« »Naja, die Schmidt war ja nicht mehr die Jüngste. Dennoch kein schönes Ende.« »Nee, die ist nicht sanft entschlafen. Die soll erstickt sein. Angeblich ragte ihr ein halber Muffin aus dem Mund. Apropos, noch Nachtisch?« Dankend lehnte ich ab. Mir war der Appetit zum zweiten Mal heute Abend vergangen. »Ich denke, da hat einer nachgeholfen«, flüsterte Tessa und blickte sich verstohlen zur Küchentür um, als ob dort jemand lauschen könnte. »Ach hör auf. Für das bisschen Rente vergreift sich doch keiner an dieser alten, dicken Frau. Das erklärt höchstens, wieso man nicht in Pflegeheime investieren sollte, wenn die Rentner lieber daheim sterben.« »Jetzt sei nicht geschmacklos. Zumindest lag sie wegen der geplanten Modernisierung mit unserem Vermieter im Clinch. Er wollte ihr kündigen, doch sie hatte sich bis zuletzt dagegen gewehrt.« »Und deshalb, meinst du, stopft ihr unser Hausherr einen Muffin in den Mund und wartet zwei Wochen bis sich die Maden ins Sofa gefressen haben und die Wohnung unbewohnbar ist?« »Natürlich nicht. Aber der konnte ja nicht wissen, dass die Zugehfrau zwei Wochen Urlaub hatte.« »Ich denke, heute Abend bist eindeutig du die Schwarzseherin. Unser Vermieter ist sicher kein Samariter. Aber ein Mörder? Hör auf.« »Ich sag’s ja nur. Vielleicht sollten wir uns doch langsam mal nach Eigentum umsehen, damit wir nicht zum Schluss ersoffen in der Badewanne liegen.« Ich grinste Tessa an. »Ach, daher weht der Wind. Das Häuschen am Stadtrand, kleiner Garten und Kindersocken auf der Wäscheleine im Wind. Ist es das?« Tessa lächelte zurück. »Vielleicht?« Mich fröstelte. In dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, immer den Wecker im Blick, dessen Uhrzeit zu stehen schien. Dennoch ahnte ich mit jeder quälend langsam verronnenen Minute, wie erschlagen ich mich am nächsten Tag im Büro fühlen würde. Doch das Kopfkino fand kein Ende. Düster zogen Wolken am deutschen Wirtschaftshimmel auf und ließen Szenarien regnen, in denen ich mich mit einer Plastiktüte von Müllkorb zu Müllkorb auf der Suche nach leeren Pfandflaschen schleppte. Vielleicht sollte ich ein Instrument erlernen? Einen Hut hätte ich schon, aber wer würde dann noch in den Fußgängerzonen flanieren, wenn in Europa die Lichter ausgingen? Alptraumhaft dachte ich an Tessas Kinderwunsch und spürte den Druck der Verantwortung wie ein Kissen, das man mir auf den Mund presste. Panisch schnappte ich nach Luft, suchte in der Dunkelheit nach der Wasserflasche, die immer auf Tessas Nachttisch stand, und verfluchte den Busfahrer, der mich gezwungen hatte, im Schneeregen vom drohenden Untergang der Republik zu lesen. Künftig würde ich fünf Minuten früher an der Haltestelle stehen und tagelang keine Nachrichten mehr lesen. Wieder und wieder suchte ich nach einem persönlichen Ausweg, einer Chance, mein Geld zu retten. Doch was, wenn sich der Staat kein Bauamt mehr leisten konnte und ich arbeitslos würde? Mich schauderte, hörte ich mich doch schon eine flammende Rede vor meinem Abteilungsleiter halten, wieso ich, unverheiratet und ohne Kinder, als jüngster Angestellter im Büro gegen all die anderen Großfamilienbesitzer mit Beamtenstatus beschäftigt bleiben müsse. Leider gingen mir nach gefühlten zwei Sekunden die Argumente aus und mein Chef schüttelte in meinen Gedanken nur mitleidig den Kopf, wies mir freundlich aber bestimmt die Tür und empfahl mir, Zeitungen zu sammeln, die wärmen, wenn man im Park überwintern muss. Irgendwann schien ich trotz aller Sorgen in einen unruhigen Schlaf gefallen zu sein, denn als der Radiowecker mit einem ohrenbetäubenden Schlagzeugsolo anging, durchzuckten letzte Sequenzen eines wirren Traumes mein Hirn. Ich hatte zusammen mit einer Vielzahl zerlumpter Leute in einer Schlange angestanden, einem Raum, nicht unähnlich einer Bank, und auf ein Gespräch mit dem Mann hinter dem Schalter gewartet. Doch kaum, dass ich an der Reihe war, zog dieser ein Rollo an der perforierten Sichtscheibe herunter, auf dem

GELD IST AUS

stand. Im daraufhin ausbrechenden Tumult rettete ich mich unter einen Beratertisch, hinter dessen gigantischem PC Monitor eine Frau saß, die ich nicht deutlich erkennen konnte. Plötzlich war der Monitor verschwunden und meine verstorbene Nachbarin grinste mich zahnlos und leeren Blickes an, streckte ihre wurstig bleichen Finger nach mir aus und fragte mit hohler Stimme, ob ich ihr Muffins mitgebracht hätte. Plötzlich verwandelte sie sich in meinen Vermieter, der mir eine Schale voller Schokoladentörtchen entgegenhielt und leise flüsterte: »Du bist der Nächste.« Das Schlagzeugsolo im Radio rettete mich, doch ich hätte schwören können, für einen Sekundenbruchteil noch den Geruch von frisch Gebackenem in der Nase gehabt zu haben. Tessa war schon aufgestanden. Allerdings konnte ich noch ihre Wärme auf dem Laken spüren und hörte nun auch ihre elektrische Zahnbürste aus dem Bad herüber summen. Stöhnend ließ mich in mein Kissen zurückfallen, schloss die Augen und hätte bis in den Abend weiterschlafen können, wenn sich nicht launige Werbejingles unerbittlich in mein übernächtigtes Gehirn gebohrt hätten. Manische Radiomoderatoren überboten sich bei dem vergeblichen Versuch, komisch zu sein und auf den weltbesten Wetterbericht folgte der unkomische Hinweis, dass grünweißen Fotografen auf den Ring und Einfallstraßen Münchens Passbilder schössen. Es war unerträglich. Ich hasste Frühstücksradio und die aufgesetzte Heiterkeit von mindestens drei Wahnsinnigen, die seit fünf Uhr morgens gegen den Tiefschlaf der Nation anmoderierten. Alle erschießen. So quälte ich mich schließlich aus dem Bett, haderte mit meinem Schicksal und suchte nach meinen Hausschuhen. Im Bad hörte ich Tessa duschen und erschrak mich jeden Morgen aufs Neue, wenn ich sie mit zum Turban aufgetürmtem Handtuch vor dem Badspiegel antraf. »Morgen Schatz«, brummte ich verschlafen, griff nach meiner Zahnbürste und verzog mich auf die Gästetoilette. Keine fünf Sekunden später steckte Tessa ihren Kopf zu mir ins Klo und fragte, ob ich wüsste, wo ihre Pflegecreme sei. Dabei ignorierte sie meinen genervten Gesichtsausdruck, während ich zähneputzend versuchte, die Toilettenschüssel zu treffen. Stumm zuckte ich mit den Schultern und wies auf die Bürste in meinem Mund. Keine Ahnung, wo sie ihre Creme hatte, ich zumindest hasste es, mich direkt nach dem Aufstehen zu unterhalten. Nicht so Tessa. Amüsiert sah sie mir beim Pinkeln zu und plauderte über Belanglosigkeiten, wie die Frage, was sie bei diesem schrecklichen Aprilwetter anziehen solle. »Schau mal raus, es schneit schon wieder und am Mittag hat’s dann 20 Grad. Rock oder Hose? Was meinst du?« Ich hatte keine Meinung und sagte ihr das auch, doch das war für sie kein Argument. »Ja, ihr Männer redet euch leicht. Hose, Hemd, vielleicht mal eine Krawatte und das war’s. Aber ich?« »Schatz, zieh dir ne Hose an und nimm den Rock mit.« Was kam ich mir schlau vor, bis ich in Tessas Gesicht sah. »Super Idee«, verdrehte die die Augen. »Und was zieh ich dann oben rum an? Nee, entweder oder.« Resigniert drückte ich die Spülung.

MEHR MONAT ALS GELD

Die nächsten Tage trugen nicht gerade zur Beruhigung meiner übermüdeten Nerven bei. Unvorsichtigerweise hatte ich auf Amazon nach Büchern zur drohenden Wirtschaftskrise gesucht und war zu meinem Bestürzen fündig geworden. Dutzende Untergangspropheten sagten wenig subtil das Ende der Welt voraus und boten nun ihre Überlebensstrategien zu Preisen an, die mich an eine Hyperinflation glauben ließen. Der Strohhalm, an den ich mich bei meiner Buchbestellung klammerte, kostete mich das Monatseinkommen eines ostanatolischen Dorfes und füllte mein Büroregal oberhalb der Schreibtischablage. Doch die Zukunft meiner ungeborenen Kinder war es mir wert. Rückblickend kann ich niemandem empfehlen, sich mit den Mechanismen globalisierter Finanzströme und den Folgen so genannter billiger Geldpolitik zu beschäftigen. Das verursacht neben Kopfschmerzen auch Schlafstörungen und unruhigen Stuhlgang. Das größte Übel unserer Zeit scheint dabei der Zins zu sein, die Idee, Geld gebirt Geld, auch wenn keiner dafür arbeitet. Dieser Unsinn gliche, schrieben Berufenere als ich, einem Pyramidenspiel, bei dem solange oben Geld verdient wird, solange unten ein Dummer aufsteht und brav seinen Lohn zur Bank trägt. Der ist es am Ende aber auch, der vor verschlossener Banktür steht und sich wundert, wieso das Schild mit den Öffnungszeiten verschwunden ist. Ich hingegen wunderte mich, wieso meine Kollegen angesichts der beunruhigenden Vorzeichen nicht schreiend durch den Tag liefen. Stattdessen saßen sie unberührt an ihren Schreibtischen. Emotionslose Gesichter, die nur vom flackernden Schein der Bildschirme erhellt wurden. Sie taten mir leid, wie sie ahnungslos an ihrem eigenen Ast sägten, sich in ihrer Reihenhaussiedlung mit Hund, Frau und Kleinwagen sicher wähnten und deren größte Sorge es war, den günstigen Damenradsattel mit Gelpolster bei Tchibo zu verpassen. Doch bevor auch ich zu Tchibo ging, um Tessa einen neuen Fahrradsattel zu kaufen, erstellte ich ein Positionspapier, das meine Kollegen wachrütteln und über die einzelnen Stufen des von langer Hand geplanten Systemcrashs aufklären sollte. Wir befanden uns gegenwärtig auf Stufe vier der acht Endzeitszenarien, nämlich unmittelbar vor dem Zusammenbruch der auf Stufe drei künstlich erzeugten Einheitswährung, dem Euro. Danke Theo Waigel, Blumen für Helmut Kohl, einen Sarg für Deutschland. Letzterer prangte als Eyecatcher unterhalb meines Achtpunkteprogramms und sollte mein Anliegen unterstreichen. Doch als ich aus der Mittagspause zurückkehrte und kleine Dankgeschenke für meine Weitsicht erwartete, rief mich Holthausen, mein Chef, in dessen Büro und hielt mir meine Kampfschrift wider den Zins entgegen. »Ist das auf Ihrem Mist gewachsen, Kuhn?«, waren seine ersten Worte und ich nickte hoffnungsfroh. »Dann haben Sie damit nicht nur den Kopierer verstopft, sondern auch die Postfächer Ihrer Kollegen?« Das Nicken fiel mir schon schwerer. »Der Aushang am schwarzen Brett und die Rundmail stammen dann wohl ebenfalls von Ihnen?« Irgendetwas in seiner Stimme ließ mich auf ein weiteres Nicken verzichten und Ausschau nach einem Stuhl halten. Es drohte ein längeres Gespräch zu werden, doch ich irrte. »Mensch Kuhn, sind Sie noch ganz bei Trost? Machen hier die Pferde scheu mit Ihrem Verschwörungsgedöns und halten die Leute von der Arbeit ab? Von der Materialverschwendung mal ganz abgesehen. Haben Sie gerade geistigen Leerlauf oder sind Sie unterbeschäftigt? Ich hätte da noch eine vakante Stelle im Archiv, wenn Sie mit der Hälfte Ihres Gehaltes auskämen. Scheint ja eh nicht mehr lange was wert zu sein.« Ohne meine Erwiderung abzuwarten wies mich der Imperator mit einem stummen Wink seiner rechten Hand aus seinem Büro und knüllte meinen vergeblichen Versuch, Deutschland vorm Untergang zu retten, zusammen. Ich warf ihm noch einen letzten aufrüttelnden Blick zu und flüsterte beim Verlassen des Raumes, dass es noch nicht zu spät sei, ahnte aber, auch hier zu irren. Auf dem Weg zurück an meinen Schreibtisch fühlte ich die Ohnmacht derer, die in der Geschichte der Menschheit die Mauer der Unwissenheit niederreißen wollten und dahinter den Felsen der Ignoranz vorfanden. Doch anders als Galileo würde ich nicht widerrufen. Mein Chef hatte gut lachen. Zwei Häuser, mehrere Wohnungen und eine vorzügliche Pensionsregelung, da kann man ein paar Jahre Geldentwertung leicht wegstecken. Doch meine Kollegen sahen das sicher ganz anders und würden meine Warnungen zu schätzen wissen. Noch heute sehe ich die grinsenden Gesichter dieser Judasbande vor mir, als ich unser Großraumbüro betrat. Papierflieger meiner Ausdrucke drehten sanfte Runden unterhalb der Deckenlampe, der Rest füllte die Papierkörbe oder stapelte sich mit wenig schmeichelhaften Aufschriften auf meinem Tisch. Keiner kam, um mir zu danken oder gemeinsam zu überlegen, wie wir uns vor dem Untergang des Abendlandes schützen konnten. Wieder war ich auf mich allein gestellt und wusste, dass ich bessere Argumente brauchte als mein Achtthesenpapier. »Hast du eigentlich eine Ahnung, was damals 1929 hier in Deutschland los war? Inflation ist kein Spaß, das war Krieg, nur dass jeder gegen jeden kämpfte«, beschwor ich Kollegen Rubenbauer, der mir gegenüber saß. Der jedoch lachte nur. »Jetzt mach mal halblang. Schau in die Zeitung. Wir haben die geringste Teuerung seit Jahren und du redest von Inflation.« »Ja, wenn ich Herrenhüte und Damenstrümpfe mit Billigcomputern aus Fernost vergleiche. Aber geh doch mal essen. Da zahlst du locker Preise in Euro, die du früher in Mark niemals ausgegeben hättest.« »Mann, keiner zwingt dich, essen zu gehen. Die haben halt auch ihre Ausgaben, Lohnkosten und so weiter, und Fleisch ist nun mal teuer.« »Fleisch? Ich rede von Pizza für neun Euro? Hey, das waren mal 18 Mark. Kein Mensch hätte das damals bezahlt und heute tun alle so, als hätte sich auch ihr Gehalt verdoppelt.« »Deins nicht?«, grinste Rubenbauer und begann wieder in seine Tastatur zu hacken. »Nee, dafür meine Miete, Heizöl, Strom, Kino, Pfisterbrot und tausend andere Dinge, die wir täglich brauchen.« »Also ich kaufe meine Semmeln im Supermarkt. Dort die sind nur halb so teuer und schmecken genauso. Da kannst du sagen, was du willst, wer teuer kauft, ist selber schuld.« Mir fehlten die Worte, wohl auch, weil mein Telefon schrillte und mein Lieblingskunde wissen wollte, wann ich ihm nun endlich den scheiß Garagenneubau bewilligen würde. Originalton und genau das, was ich im Augenblick brauchte. »Stecken Sie sich doch Ihre beschissene Garage an den Hut. In ein paar Wochen können Sie sich das Benzin für den Wagen darin eh nicht mehr leisten.« Danach legte ich auf. Rubenbauer sah mich überrascht an und drehte mit seinem rechten Zeigefinger einen Kreis an seiner Schläfe. »Hey Kollege, nimm dir mal frei. Sonst geht dir tatsächlich bald das Geld aus, wenn sich der beim Vorstand beschwert.« Missmutig folgte ich seinem Rat, nahm meine Tasche und hielt wenige Minuten später meine Karte an das Zeiterfassungsterminal. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen, Schirmträger huschten an mir vorüber, eine Katze duckte sich unter das Dach der Firmeneinfahrt und in zwei Wochen war Frühlingsanfang. Ich fror. So mies hatte ich mich zuletzt vor knapp zwanzig Stunden gefühlt, als ich dem Strategie Finanzberater gegenüber saß und wir meine Einkünfte mit den Ausgaben verglichen. Es galt, eine krisensichere Anlage zu finden, die mich nachts wieder ruhig schlafen ließ. Gefunden hatten wir eine Deckungslücke, in der ganze Hollywoodproduktionen von Alpträumen Platz gefunden hätten. Ich schien chronisch unterversorgt und bat meinen Berater, mir das schriftlich für die nächste Gehaltsverhandlung zu geben. Es war ein Wunder, dass ich mir bei meinem Gehalt überhaupt ein Leben in München leisten konnte, ohne am Monatsende bei der städtischen Tafel zu landen. Mir fehlten monatlich gut 300 Euro, um meine laufenden Kosten zu bedienen. Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich mir das Haushaltsgeld mit meiner Freundin teilte? Doch seinen mitleidigen Blick ersparte ich mir. Glücklicherweise hatte mein kaum volljähriger Berater wohl seine Ansprüche zu Grunde gelegt, als er monatlich 750 Euro für persönliche Lebensführung veranschlagte. Geschmeichelt, für einen Yuppie gehalten zu werden, widersprach ich ihm nicht. Auch die angesetzten 200 Euro für Handy und Telefonanschluss ließ ich unkommentiert, dachte ich doch an Tessas Gesprächsbedarf, auch wenn die ihr eigenes Mobiltelefon hatte. Mich rief niemand an, mit wem also hätte ich telefonieren sollen? Dass ich kein Auto fuhr und die entsprechenden Aufwendungen von meinen gerade ermittelten Schulden abziehen konnte, behielt ich als stille Reserve im Hinterkopf. Dennoch blieb mir mehr Monat als Geld übrig und meine Hoffnung schwand, eine krisensichere Anlage empfohlen zu bekommen. Doch das jugendliche Finanzgenie überraschte mich. Er traute mir eine Gehaltsentwicklung in den nächsten Jahren zu, die Balsam für meine geschundene Seele war, wenngleich unrealistisch. Doch mit diesen Zahlen ließen sich komfortablere Anlageszenarien spinnen, die eine kurzfristige Inflation ebenso überstehen würden, wie einen weiteren Finanzcrash, vorausgesetzt der deutsche Steuerzahler würde wieder Milliarden in das weltweite Bankenmonopoly pumpen. Doch davon war auszugehen. Munter schoben wir die Euros von einem Steuersparmodell in ein anderes, kauften probeweise Schifffonds und Rohstoffderivate und legten die Dividenden auf karibischen Inseln an. Es wurde ein lustiger Nachmittag bis mir Unterlagen vom Umfang des Schwabinger Telefonbuches zur Unterschrift vorgelegt wurden. Da fiel mir meine gegenwärtige Finanzlücke wieder ein und ich gab vor, mir die Unterlagen nochmals zuhause durchlesen zu wollen. Wir vereinbarten einen zweiten Termin, den ich beim Verlassen der Finanzagentur schon wieder vergessen hatte. Also, dieser Weg schien vorerst verschlossen, denn trotz deutlich sparsamerer Lebensführung würde ich das zu Grunde gelegte Gehalt in zehn Jahren nicht verdienen. Zumindest nicht, solange ich unverbeamtet beim Staat arbeitete. Doch wenn die Vorhersagen meiner Internetrecherchen eintrafen, wäre Deutschland spätestens in fünf Jahren am Ende, kurz nachdem neben Griechenland auch Portugal, Irland und der ganze Ostblock Konkurs beim IWF angemeldet hatten. Dann wäre auch die städtische Bauverwaltung überflüssig, mit ihr mein Arbeitsplatz und der Traum von einem höheren Gehalt. Ich musste also einen anderen Weg finden, die kommenden Jahre zu überleben. Was hatte der Finanzkasper noch mal gesagt? Schulden braucht man bei Inflation und Immobilien in Krisenzeiten. Wieso nicht beides? Immerhin träumte Tessa von einer eigenen Wohnung, das hieße Schulden und Immobilie in einem. München war voller Häuser, da musste doch irgendwo etwas frei sein, das sich sogar ein kleiner städtischer Angestellter leisten konnte. Immerhin gab es von meiner Sorte nicht gerade wenige in der Stadt, auch wenn immer mehr aus sozialen Nischen wie Augsburg, Rosenheim oder Landshut kamen. Tessa war noch in der Galerie und mochte es nicht, wenn ich sie dort besuchte. Die Künstler seien sensibel und wünschten keine Gäste vor dem offiziellen Ausstellungsstart. So zumindest ihre stereotype Antwort, wenn ich anbot, sie von der Arbeit abzuholen. Also fuhr ich mit der Tram zum Max-Weber-Platz und setzte mich in eine der Fensternischen im Wiener Cafe. Dort füllte ich den Tisch vor mir mit der Süddeutschen Zeitung und schlug den Immobilienteil auf. Die Bedienung schien mich zu ignorieren, ich fühlte mich zuhause und sagte mir, dass mich jeder gesparte Euro ein paar Quadratzentimeter näher zu der gewünschten Traumimmobilie brächte. Bei den Münchener Cappuccino Preisen stand ich damit schon fast vor der Haustür. Jetzt galt es nur noch, ein Gespür für die drei wichtigsten Kriterien beim Wohnungskauf zu entwickeln. Das waren Lage, Lage und Lage. Wo also lag meine zukünftige Altersvorsorge? Schwabing, Haidhausen und das Glockenbachviertel schieden rasch aus, ebenso Solln, Isarvorstadt und Nymphenburg. Aber auch Neuhausen, Gern und das Maxviertel schienen unerschwinglich. Es war frustrierend. Tessa hatte während ihres Studiums im Westend gewohnt, eine damals üble Gegend. An solchen Erinnerungen merkt man, dass man älter wird. Fanden sich doch in dieser Ausgabe der Süddeutschen im ganzen Westend nichts unter 100 Quadratmeter Loft oder Penthäuser zu Preisen, von denen man außerhalb Münchens Häuser abzahlen konnte. Die Gegend schien beliebt zu sein und aus einst üblen Ecken wurden Anlageobjekte. Nur nicht für mich. Und so ahnte ich, aus Giesing nicht raus zu kommen. Eine Gegend mit Potential hatte unser Vermieter die damalige Mieterhöhung anlässlich unseres Einzuges begründet. Das war vermutlich auch der Grund, weshalb seit dem Freiwerden der Schmidt’schen Wohnung das ganze Haus eine einzige Baustelle war. Vollwärmeschutz hieß das Zauberwort, das mir die nächsten Monate den letzten Nerv rauben sollte und uns am Frühstückstisch nicht selten das zweifelhafte Vergnügen eines winkenden Bauarbeiters auf dem Gerüst vor unserem Küchenfenster bescherte. Das war meist der gleiche Bauarbeiter, der Tessa bereits beim Umziehen im Schlafzimmer begrüßt hatte. Zum ersten Mal war ich froh, dass unser Bad kein Fenster besaß. Kein Geld für hohe Mieten zu haben, hat manchmal auch Vorteile, man muss sie nur erkennen. Jetzt aber galt es eine bezahlbare Bleibe zu finden, bei der sich Zins und Tilgung in akzeptablen Grenzen hielten und dennoch ausreichend Schulden anfielen, um die kommenden Jahre der Geldentwertung zu überstehen. An Schulden sollte es in München nicht mangeln, musste ich nach nochmaligem Studium der Wohnungsanzeigen feststellen. Insgesamt brächten Tessa und ich als Eigenanteil kaum zwanzig Prozent der ortsüblichen Wohnungspreise auf, vorausgesetzt, ihre Eltern würden einiges beisteuern. Über Renovierung, Hausgeld und Einrichtung dachte ich damals zum Glück noch gar nicht nach. »Wollen Sie was, oder kann ich Feierabend machen?«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und war verliebt. Nicht in den typischen Münchener Dienstleistungston, den ich bereits aus meiner Behörde kannte. Nein, in das sicher schon sechzehnjährige Mädchen in Top, Minirock und Springerstiefeln, das hier anscheinend bediente. Ein gestammeltes »nen Kaffee bitte« später suchte ich krampfhaft nach einem unverbindlichen Thema, sie anzusprechen. Als sie mir aber den Kaffee mit einem barschen »drei Euro« hinknallte, fiel mir nichts Besseres ein, als sie nach dem Unterschied zwischen Käse und Quarkkuchen zu fragen. »Quark ist aus«, antwortete sie mit einem Gesichtsausdruck, der mich ahnen ließ, dass andere Männer schon mit originelleren Sprüchen gescheitert waren. Von dem mit zittrigen Händen hingehaltenen Fünfeuroschein sah ich nichts mehr, ebenso wenig von dieser Traumfrau, egal wie viel Zeit ich die nächsten Wochen im Wiener Café verbrachte. Tessa glaubte mich derweil beim Kiesertraining, fand aber angesichts meiner gleichbleibend undefinierten Oberarme, dass das rausgeschmissenes Geld wäre. So richtig rausschmeißen konnte man sein Geld aber auch für Dachterrassen, hohe Decken, sanierten Altbau oder fünf Quadratmeter Rasenfläche zur freien Gartennutzung, wenn man schon im Souterrain wohnen wollte. Tessa wollte nicht, sie wollte ganz ins Grüne, am besten mit SBahnanschluss und in Seenähe. Ja, das waren auch meine Bilder, wenn ich an all das dachte, was wir uns nicht leisten konnten. So schlug ich eine 65 Quadratmeter Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug vor. »Die hat ja gar keinen Balkon«, waren Tessas erste Worte beim Besichtigungstermin. »Davon stand ja auch nichts in der Anzeige«, versuchte ich diplomatisch zu sein, erntete aber ein genervtes Augenrollen und die Frage, wozu wir dann überhaupt hier wären. Diese Frage hörte ich die nächsten Wochen mehrfach, schien ich doch von den elementarsten Ausstattungsmerkmalen einer Wohnung nicht die leiseste Ahnung zu haben. Mal war die Küche zu klein, dann wieder der Flur zu groß, das Bad ohne Wanne oder ungünstig geschnitten. Der Balkon ging nach Norden, das Schlafzimmer zur Straße raus, der Keller war zu schmal und die Waschküche zu weit weg. Kein Parkett ging ebenso wenig, wie eine Wohnung im Erdgeschoss. Aber eine Innentreppe zum nächsten Stock fand Tessa todschick, auch wenn Dank der Schrägen im Obergeschoss kein einziger Schrank Platz gefunden hätte. »Wozu brauchen wir da oben Schränke«, fragte sie mit verzücktem Blick beim Durchschreiten der ersten Maisonettenwohnung, die wir uns ansahen. »Wenn du da oben das Bett aufstellen magst, wären Kleiderschränke nicht gerade unpraktisch.« »Ach was, da können wir die Sachen in den offenen Flur hängen und hätten dann gleich einen begehbaren Kleiderschrank.« »Du meinst, auf dem Weg von der Treppe zum Bett hängen wir unsere Sachen an die Wand?« »Hab mal ein wenig Fantasie. Das kann doch originell aussehen. Natürlich müsste ich mir erstmal neue Klamotten kaufen, wenn die dann jeder sehen kann.« »Gute Idee. Wenn wir deine Schuhe vom Flur bis zum Wohnzimmer stellen, weil wir im Gang ebenso wenig Platz für einen Schuhschrank haben, könntest du dir auch gleich neue Schuhe kaufen.« »Na siehst du Schatz, endlich verstehst du mich und ja, das ist eine fabelhafte Idee.« Ich blieb ihr kopfschüttelnd eine Antwort schuldig. Letztlich kam aber auch diese Wohnung nicht in Frage, als Tessa unterhalb des Küchenfensters einen Kinderspielplatz entdeckte und ahnte, dass es dann mit unserer Ruhe vorbei wäre. »Ich dachte, du magst Kinder«, freute ich mich über ihre Entscheidung, doch Tessa winkte ab. »Nur, solange es die eigenen sind.« Schweigend fuhren wir mit dem Bus zu unserer Mietbaustelle zurück und hingen unseren Gedanken nach. Woran Tessa dachte, wusste ich nicht. Mir jedoch gingen die immer deutlicheren Anzeichen für den Niedergang meiner gesicherten Existenz durch den Kopf. Heute Morgen noch hörte ich von den Plänen der EU, die nationale Bankenkontrolle der Europäischen Zentralbank zu übertragen und die Länderfinanzaufsichten abzuschaffen. Was nach Entbürokratisierung klang, waren genau die Schritte auf dem Weg zur Finanzdiktatur, vor der in meinen neuen Ratgeberbüchern gewarnt wurde. Das nächste wäre eine europäische Transfergemeinschaft, bei der Zahlerstaaten, wie wir, die Bankrotteure der EU auffangen müssten. Anders könne Deutschland nicht pleite gehen, was aber die Voraussetzung für eine politische Entmachtung der Nationalstaaten wäre. Brüssel als die neue Hauptstadt Europas ohne lästige Widerstände nationaler Regierungen, Banken oder einzelner Völker. Ein Eldorado der Bürokratie und der ideale Weg, eigene Versorgungslücken zu schließen, sofern man Mitglied der Europabehörden wäre. »Schatz, was hältst du von einem Häuschen im Grünen?«, unterbrach Tessa plötzlich den Mahlstrom meiner Gedanken. »Eine Menge. Wieso? Hast du geerbt?« »Red nicht. Natürlich meine ich keinen Neubau oder irgend so ein Seegrundstück. Aber so was Kleines, Schnuckliges mit einem Spitzdach, nem Garten und gleich ums Eck einem Wald, wo wir unseren Hund laufen lassen können.« »Unseren Hund?« »Naja, irgendwer muss ja unser Haus bewachen, wenn wir in der Arbeit sind.« »Das würde dann unser Hund übernehmen?« »Klar, und wenn ich wegen Philipp und Marie zuhause bleibe, kann er mir zusätzlich Gesellschaft leisten.« »Wer sind Philipp und Marie?«, fragte ich so laut, dass das uns gegenüber sitzende ältere Ehepaar verwundert aufsah. »Na, unsere Kinder, du Held, wenn wir da mal zu Potte kommen.« Haus, Hund und Kinder, drei weitere Sargnägel meiner Lebensplanung und sicher das Letzte, was ich mir im Augenblick wünschte. »Habe ich das jetzt richtig verstanden? Wir kaufen uns demnächst ein Haus am Wald und gehen dort solange mit unserem Hund Gassi bis wir zwei Kinder haben, die wir Philipp und Marie nennen? Und wie heißt der Hund?« »Versuchst du komisch zu sein?«, schaute mich Tessa fragend an und wies, ohne eine Antwort zu erwarten, auf eine Werbeanzeige oberhalb unseres Sitzes:

Immobilienbüro Donnersberg

Wir machen ihr Traumhaus wahr.

»Das ist doch die Idee, andere für uns suchen zu lassen.« »Und ein paar Tausend Euro Provision abzudrücken«, zeigte ich mich wenig begeistert von Tessas Vorschlag. »Wer es warm haben will, muss heizen, hat mein Vater immer gesagt«, entschied Tessa für mich mit und notierte sich die Telefonnummer des Immobilienbüros. »Vielleicht aber steht unsere eigene Wohnung bald zum Verkauf«, erinnerte ich mich an ein vorgestern belauschtes Gespräch zwischen Herrn Riebmann aus Parterre und dem Hausmeister. »Die olle Bude? Wer will die denn?« »Naja, wenigstens könnten wir uns die eventuell leisten.« »Du wolltest doch Schulden machen, je mehr desto besser. Was also spricht gegen ein Häuschen?« »Vielleicht, dass wir uns nicht einmal eine Wohnung leisten können, egal, wie viele Schulden wir machen?« »Was bist du nur für ein Pessimist, Ben. Ich denke, da draußen auf dem Land ist die Welt für Familien mit Kindern noch in Ordnung?« »Mag sein, auch wenn wir das mit den Kindern in Zeiten wie diesen nicht überstürzen sollten.« »In Zeiten wie diesen? Als meine Mutter kurz nach dem Krieg geboren wurde, musste meine Oma mit ihr und ihrem Bruder vor den Russen fliehen. Das waren beschissene Zeiten.« »Ja, klar, aber heute sind die Zeit nicht viel besser. Der Russe hockt mittlerweile hinter jeder dritten Wohnungstür, wenn nicht die halbe arabische Unterwelt das Haus besetzt hat.« »Nur weil du ausländerfeindlich bist, soll ich auf Kinder verzichten?« »Ich bin nicht ausländerfeindlich, nur inländerfreundlich. Denn auf unsere Kinder warten nicht nur unabzahlbare Staatsschulden, sondern auch die ganze gescheiterte Integrationsfantasterei der Alt68er mit ihrem MultiKultiWahn.« Der Herr mir gegenüber nickte leicht. »Fängst du schon wieder an? Langsam kann ich deine Panikmache nicht mehr hören. Wer erzählt eigentlich den Schwachsinn, dass wir demnächst pleite sind?« »Das ist kein Schwachsinn, sondern bittere Realität, vor der ich unsere Kinder gern bewahren würde.« »Indem sie gar nicht erst geboren werden, tolle Logik.« Erschöpft sah ich Tessa in die wütenden Augen und suchte nach einem Funken von Verständnis. Natürlich hatte ich nichts gegen Kinder. Aber konnte ich mir diese Verantwortung aufladen? Jetzt, wo Europa zerbrach und kein Wirtschaftswunder wie in den 50er Jahren bevorstand? Ohne ein weiteres Wort gingen wir an diesem Abend früh zu Bett, auch wenn ich lange keinen Schlaf fand.

DER NOTFALLPLAN

Meine persönliche Krise kündigte sich mit einem gebrochenen Zeh und einer Krankschreibung an. Doch begonnen hatte all das mit der Idee, Gold zu kaufen. Darauf brachte mich ein Werbespot im Frühstücksfernsehen, in dem ein Typ mit dem Charme eines GEZ-Gebühreneintreibers die Nation aufrief, ihm gegen Bargeld altes Gold, Schmuck oder goldenen Zahnersatz in einem Kuvert zuzuschicken. Das ließ meine Alarmglocken schrillen, waren sich doch alle Wirtschaftsweisen einig, dass die einzig sichere Anlageform in Krisenzeiten Gold wäre. So schlecht, wie dieser Spot produziert war, musste es der Auftraggeber sehr eilig gehabt haben, die letzten Goldreste aus verstaubten Schubladen einzusammeln. Das klang nach kurz vor Zwölf und plötzlich hatte auch ich es eilig, schnappte mir mein letztes sauberes Hemd, wand mir noch im Gehen eine Krawatte um und betrat wenige Minuten später meine Hausbank. Das Büro musste heute auf mich warten. In der Bank herrschte kurz nach Neun ein eher gemächliches Treiben. In den Kassenhäuschen zählten müde dreinblickende Damen das Wechselgeld und der Sicherheitstyp im Eingangsbereich gähnte mürrisch, als ich den Schaltervorraum betrat. Nach einigem Suchen wandte ich mich an einen der Anzugträger, der so aussah, als ob er direkt von der Grundschule in die Bank gewechselt wäre. Fast hätte ich ihn geduzt und gefragt, ob denn heute keine Schule sei, als mir der Grund meines Besuchs wieder einfiel. »Sie wollen Gold kaufen?«, schaute er mich gelangweilt an und machte selbst auf mein eifriges Nicken hin keine Anstalten, in den Kellertresor zu eilen und die erwünschten Barren herauf zu holen. »Ich weiß gar nicht, ob Sie das hier können.« Erwartungsfroh hoffte ich, die Frage von ihm beantwortet zu bekommen, doch weit gefehlt. Erst nach einigen Minuten peinlichen Schweigens bequemte sich mein Finanzdienstazubi und zeigte ins Innere der Bank. »Wenden Sie sich mal an den Herrn dort drüben mit der roten Krawatte, der müsste sich auskennen.« Unsicher, welcher der drei Herren mit einheitlich roter Krawatte auf hellblauem Hemd gemeint war, wollte ich meinem Banker des Vertrauens danken, doch der hatte sich bereits zu seiner Kollegin umgedreht und erzählte von seinem gestrigen Partyabsturz. Da wollte ich nicht stören und begab mich in den Kundenbereich der Bank, tastete mich von Servicepoint zu Servicepoint, hinter denen vereinzelt Bankangestellte saßen und so intensiv auf ihre Bildschirme starrten, dass ich mich nicht traute, sie dabei zu stören. Schließlich machte einer der roten Krawattenträger den Fehler, den Blick zu heben und mich just in dem Augenblick anzusehen, in dem ich vor seinem Schreibtisch stand. Man konnte ihm die Enttäuschung förmlich ansehen, als er mich fragte, wobei er mir helfen könne. Ich nahm erst einmal Platz, was seine Miene um eine weitere Nuance verfinsterte. »Ich würde gern mein Sparguthaben in Gold umtauschen.« Schweigen. »Na ja, zumindest wollte ich mich mal über eine alternative Anlage in Gold oder so erkundigen.« Noch lauteres Schweigen. »Immerhin hört man ja hier und da, dass die Wirtschaftskrise noch nicht vorüber wäre und bevor wir eine Inflation bekommen, wäre Gold doch sicher keine schlechte Idee.« Das Schweigen hallte in meinen Ohren wider. Doch irgendwann schienen meine Worte bei meinem Gegenüber angekommen zu sein, zumindest wandte er seinen fragenden Blick von mir ab und starrte erneut in seinen Monitor, nicht ohne zuvor mit seinem rechten Zeigefinger suchend einzelne Tasten seiner Tastatur betätigt zu haben. »Also wir verkaufen Gold nur als Barren. An welchen Betrag hatten Sie denn gedacht?« »Naja, ungefähr das, was mein Girokonto hergibt.« »Der Kurs steht aber nicht besonders günstig.« »Da hatten andere wohl die gleiche Idee.« »Kann schon sein, vielleicht aber treibt die Nachfrage aus Fernost auch die Preise hoch. Kein Chip aus Taiwan, der nicht Gold enthält.« »Glauben Sie nicht daran, dass die Leute sich vor einer Inflation schützen wollen?« »Welcher Inflation?« »Die, mit der wir angesichts der Staatsverschuldung rechnen müssen.« »Also unsere Bank hat kein Geld von der Regierung bekommen, wenn Sie darauf anspielen.« »Kommt schon noch, aber nein, ich meine die Verschuldung ganz allgemein. Allein in diesem Jahr 80 Milliarden. Das spielen die da oben doch nur ein, wenn sie den Euro abwerten, oder was meinen Sie?« »Keine Ahnung. Ich verkaufe hier Bausparverträge. Was gehen mich die Staatsschulden an?« Vernünftige Einstellung für einen Banker, dachte ich noch, bevor mich der Vertreter der noch existierenden Mittelschicht nach meiner Kontonummer fragte. »Und das wollen Sie in Gold anlegen?« »Ja, den ganzen Betrag.« »Davon ging ich aus, abzüglich der Bearbeitungsgebühr.« »Bleibt dann noch was übrig?«, scherzte ich beim Unterzeichnen des Auftrages, doch der nachdenkliche Gesichtsausdruck meines Beraters beendete mein Schmunzeln. »Ich weiß nicht, ob wir Barren in dieser Größe vorrätig haben. Haben Sie noch andere Konten bei uns?« Ich verneinte, und mein Gesprächspartner erhob sich stöhnend mit dem Hinweis, er käme gleich wieder. Auf dem – wie ich annahm – Weg zum Tresor, blieb er kurz bei einem seiner Kollegen stehen und wies flüsternd mit dem Kopf in meine Richtung. Grinsend gingen die beiden Männer auseinander. Minuten später kam mein Berater zurück, doch statt eines, von mir erwarteten Mahagonikästchens hatte er ein Kuvert in der Hand. Aus diesem schüttelte er ein schmales Goldplättchen auf die Schreibtischunterlage und wies mit der Hand darauf. »So, das wäre Ihr Barren.« »Barren?« Ich hielt sekundenlang die Luft an, aus Angst, das Plättchen versehentlich einzuatmen. »Naja, ich sagte Ihnen ja, der Goldpreis steht gerade nicht besonders günstig. Aber mehr gab Ihr Girokonto nicht her. Wollen Sie es gleich mitnehmen oder soll ich ein Schließfach für Sie eröffnen?« »Ich glaube, das lohnt den Aufwand nicht. Vielleicht sollte ich mir das mit dem Umtausch doch noch mal überlegen.« »Wie Sie wollen, Sie zahlen die Gebühren. Soll ich den Barren wieder Ihrem Konto gutschreiben?« Zwei Unterschriften später und zu einem deutlich schlechteren Ankaufspreis ging ich lediglich um Erfahrungen reicher zurück ins Büro. Dort ignorierte ich meinen seit Tagen auflaufenden Poststapel und recherchierte nach alternativen Goldquellen im Netz. Dabei stieß ich auf eine Internetseite, auf der ein findiger Ex-Banker Auswege aus der unvermeidlichen Finanzkrise versprach und vom Zehn-Punkte-Plan bis zum solarbetriebenen Atombunker allerlei Überlebenswichtiges anbot. Eine clevere Geschäftsidee mit der Angst, aber auch die einzige Quelle für Antworten auf meine vielen Fragen zu dieser plötzlichen Schieflage der westlichen Welt. Alles klang nach einem lang angelegten Projekt, an dessen Ende eine Weltregierung unter dem Vorsitz der National Bank of America, kurz der FED, stehen sollte, die mittels Diktatur in den einzelnen, früheren Nationalstaaten die Geschicke der Erde bestimmt. Ein beruhigendes Szenarium, hatte ich doch bisher die Angst, die Chinesen könnten zeitgleich in die Höhe springen und die Weltmacht durch den dadurch verursachten Tsunami übernehmen. Nun aber war die Gelbe Gefahr gebannt und alles blieb dort, wo ich die Weltregierung seit langem vermutete, in Amerika, und die gehörten seit den Rosinen-Bombern 1945 über Berlin zu den Guten. Doch auch der Verfasser dieser investigativen Rette-Dich-Selbst-Seite riet angesichts einer unvermeidlichen Geldentwertung zur Anlage in Edelmetalle, allem voran in Gold, womit ich wieder beim Anfang des Tages landete. Als nächstes aber empfahl die Internetseite: drohende Versorgungsengpässe zu überbrücken, solange es die entsprechenden Überlebensgüter noch zu kaufen gäbe. Vorratswirtschaft also. Das kannte ich aus den Erzählungen älterer Kollegen, die bis heute nicht wegwerfen können. Eine dem Artikel angehängte Frageliste unterstrich die Brisanz dieses Ratschlages für den Tag X, an dem es Nacht in Deutschland werden würde:

Was tun Sie, wenn

– der Strom ausfällt?

– das Handy nicht mehr funktioniert?

– es Probleme mit der Trinkwasserversorgung gibt?

– es zu einer Panik kommt?

– Geschäfte schließen oder die Regale leer sind?

Besorgen Sie sich jetzt verschiedene Ausrüstungsgegenstände, um externe Versorgungsrisiken abfangen zu können.

Und genau das hatte ich vor, als ich mir den restlichen Tag frei nahm, meinen Zimmerkollegen irgendetwas vom 60. Geburtstag einer Nachbarin erzählte und mir von unserer Teamassistentin zwei große IKEA-Taschen lieh, die sie in ihrem Kleiderschrank bunkerte. Heute endlich sollten die ihren Zweck erfüllen. Mein Ziel hieß Metro-Großmarkt und der Widerstand hatte begonnen. Mich würde diese Weltregierung nicht bekommen, eher ginge ich in den Untergrund und wenn es das Letzte wäre, das ich in diesem Leben noch tat. Der Geschäftsstellenleiter des Großmarktes betrachtete skeptisch das Passbild auf meiner Einkaufskarte, ohne die Nichtgewerbetreibende keinen Zutritt zu dem Konsumtempel unserer zivilisierten Welt hatten. Es galt Großpackungen zu erwerben, rechnete ich doch mit mindestens zwei Jahren Ausnahmezustand und Hungersnot. Den zur Einkaufsberechtigung notwendigen Gewerbeschein hatte ich mir noch im Büro aus dem Internet herunter geladen und zusammen mit einem eingescannten Passbild meines Kantinenausweises ausgedruckt. Sah täuschend echt aus und überzeugte schließlich sogar die Oberaufsicht über die bunte Warenwelt der Familiepackungen. Zum Glück bekommt man in der Metro Einkaufswagen, in denen ich wohnen könnte oder bald müsste, wenn ich nicht rechtzeitig meine vier Wände zu einer Festung umrüsten würde. Die Verpflegung für eine längere Belagerung sollte ich hier in ausreichender Menge finden. Aber wie viel Reis braucht der Mensch täglich? Wie viele Nudeln, Trockenobst und eingelegtes Gemüse? Kann man Brot zwei Jahre einfrieren oder sollte man lieber die Backzutaten bunkern? Was aber, wenn es keinen Strom für Herd und Kühlschrank mehr gäbe? Dann bräuchte ich noch Brennholz, doch das gab es hier nicht. Stattdessen füllte ich meinen Wagen mit zwei 15 Kilosäcken Reis, ähnlich vielen Nudeln, 50 Konserven Gulasch, Fisch, Ravioli, Gemüse und Pilzen. Honig und Magermilchpulver, als ob es kein Morgen gäbe und Toilettenpapier für die nächsten zwei Jahre. Zusätzlich packte ich noch eine Getreidemühle in den Korb, sackweise Gerste, Roggen, Dinkel und Hafer und jede Menge Brotaufstriche, Knäckebrot, Nüsse, Gewürze, Öl, Essig, Fertigsuppen und Süßigkeiten. Den Schluss bildeten Kaffee, Tee, diverse Hygieneartikel und eine ganze Wasseraufbereitungsanlage für knapp 500 Euro. Das hierfür nötige Wasserstoffperoxid hatte ich ebenso wie mehrere Flaschen Chlorreiniger, Zitronensäure und gefrorenes Saftkonzentrat im Internet bestellt, da mir der Transport dieser Stoffe zu gefährlich schien. An der Kasse war ich froh, meinen Goldbarren wieder zurückgetauscht zu haben. Denn so wie der Kassierer meinen bis zum Rand gefüllten Einkaufswagen musterte, bezweifelte ich, dass die hier auf Gold herausgegeben hätten. »Türkische Hochzeit oder wandern Sie aus?«, fragte er mich ohne den Anflug eines Lächelns. »Weder noch, ich sorge nur vor.« »Natürlich, man kann ja nie vorsichtig genug sein. Zum Schluss ist plötzlich Sonntag und man hat nichts zu essen daheim.« Seine Kollegin an der Nachbarkasse kicherte, doch mein Kassierer verzog noch immer keine Miene. »Ich möchte Sie ja nicht verunsichern, aber in Notzeiten hat man besser ein paar Reserven zuhause«, versuchte ich mich zu rechtfertigen. »Verstehe, aber wenn das mit den Notzeiten noch auf sich warten lässt, empfehle ich Ihnen die Eröffnung eines Lokals, genug Vorräte hätten Sie ja jetzt.« Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Doch damit befand sich der muntere Bursche mit der schicken, blauen Metro-Weste in guter Gesellschaft, wenn ich an meine Kollegen und nicht zuletzt Tessa dachte, die mir gestern erst empfohlen hatte, mal Urlaub zu machen, am besten allein und in Griechenland, um meinen Beitrag zur Rettung der griechischen Wirtschaft zu leisten. »Nehmen Sie auch Goldbarren?«, versuchte ich zu scherzen, doch auch hier erwies sich mein Gegenüber als humorresistent. »Da muss ich den Geschäftsführer fragen.« Noch bevor er zum Mikrofon greifen konnte, zog ich meine EC Karte und reichte sie ihm. »Nur keine Umstände.« Gefühlte 30 Minuten später stand ich mit meinem Einkaufswagen von der Größe eines Kleinwagens und zwei IKEA-Tüten voller Toilettenpapier vor dem Einkaufszentrum und wusste nicht weiter. Einer der wenigen Momente in München, in dem ich bedauerte, kein Auto zu haben. Das Taxi, das mich und meine Einkäufe schließlich nach Hause brachte, rundete meine bisherigen Ausgaben auf den nächsten Hunderterbetrag auf. So langsam gestaltete sich die Rettung meiner Geldreserven teurer als ich gedacht hätte. Noch ein paar Monate ohne Finanzkrise und ich wäre pleite. Zuhause packte ich erst einmal sämtliche Lebensmittel, den ganzen Hygienekram und die Wasseraufbereitungsanlage in den Keller. Allerdings kam man jetzt weder an die Räder noch den Staubsauger heran. Doch das eigentliche Chaos herrschte im Hausflur, wo unser Vermieter diverse Baumaterialien gelagert hatte und mir völlig unbekannte Menschen die Möbel der verstorbenen Schmidt in einen vorm Haus stehenden Container schleppten. Tessa war noch nicht daheim, als ich mich in unserer Wohnung umsah und überlegte, wo ich Platz für die gerade gekauften Notreserven schaffen könnte. Alles war bis auf den kleinsten Winkel mit Dingen verstopft, die uns in der Not kaum behilflich sein würden. Im Gegenteil, Tessas gesammelte Stofftiere und Kinderbücher, kistenweise Schulhefte, in die sie nie wieder schauen würde, sowie den Dekorationskram für Weihnachten, Ostern und Halloween würden wir in schlechten Zeiten kaum vermissen. So nutzte ich die Gunst der Stunde und entsorgte all das lediglich sentimentalen Erinnerungen geschuldete Zeug in den Speermüllcontainer vorm Haus. Tessa würde Augen machen. Endlich Platz für all die Dinge, die unser Überleben sichern halfen. Und Tessa machte Augen und ein riesen Fass auf. Man musste sie bis ins Dachgeschoss gehört haben. Zum Glück aber hämmerten und bohrten die Bauarbeiter auf dem Außengerüst bis spät in die Nacht, so dass lediglich mir die Ohren glühten. Doch nicht der von mir entsorgte Kram hatte sie explodieren lassen, sondern eine von mir versehentlich zerstörte Vase. Ein überaus hässliches Exemplar, das seit Tessas Einzug auf unserer Flurkommode stand und deren Scherben nun im Müll lagen. Mit ihnen ein Haufen Dreck, bei dem es sich, wie ich jetzt erfahren musste, um die sterblichen Überreste ihrer eingeäscherten Tante handelte. In dieser Nacht schlief ich abermals auf der Gästecouch, von deren Existenz ich angesichts unserer Zweiraumwohnung bis vor wenigen Tagen noch gar nichts wusste. Nun war also unser durchgesessenes Sofa unsere Gästecouch. Machte das das Wohn zum Gästezimmer? Tessa aber schien das weder logisch noch komisch zu finden, als sie mir statt einer Antwort die Schlafzimmertür vor der Nase zuschlug. Da stand ich nun im Schlafanzug, allein mit meinem Bettzeug im Arm und wusste nicht, ob ich nochmals klopfen sollte, als sie unvermittelt die Tür ein weiteres Mal aufriss, mir mein Schlafkissen vor die Füße schleuderte und die Tür erneut ins Schloss warf. Damit war wohl alles gesagt. Doch, wie wir Männer nun einmal sind, musste ich Gewissheit haben, weshalb ich leise klopfte. »Hey Tess, mach mal halblang. Du glaubst, unser Vermieter hat die olle Schmidt um die Ecke gebracht und tust nichts. Aber wenn ich mal Ordnung mache, fliege ich fast raus. Klingt irgendwie unfair, meinst du nicht?« Ob fair oder nicht, mir froren im ungeheizten Flur die Füße ab, während ich barfuss auf ihre Antwort wartete. Doch die kam nicht. Auch nicht am nächsten Morgen, als ich mich mit stechenden Rückenschmerzen vom Sofa mühte. Tessa hatte sich im Bad eingeschlossen, mir blieben nur die Gästetoilette und der Friedensversuch in Form frisch gebrühten Kaffees, den Tessa unbeachtet in der Küche stehen ließ. Als sie schließlich grußlos die Wohnungstür hinter sich zuzog, ahnte ich, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Zum Glück hatte ich ihr nichts von der anstehenden Kleidersammlung erzählt. Die dafür mit unseren Klamotten gefüllten Müllsäcke standen auf dem Balkon. Einem Ort, den Tessa bei Temperaturen knapp über Null kaum betreten würde. Außerdem hatte ich mich auf die Sachen beschränkt, von denen Tessa immer behauptete, sie nie wieder anziehen zu wollen. Manchmal musste man Prioritäten setzen und ich war mir sicher, Tessa würde es verstehen, wenn wir erst einmal auf uns gestellt wären und Horden marodierender Plünderer von Haus zu Haus zögen, um alles mitzunehmen, was nicht niet und nagelfest wäre. Dann würde auch sie nicht mehr vor die Tür wollen. Deshalb galt es am Vorabend drohender Unruhen Reserven anzulegen und vorzusorgen. Tessa konnte sich auf mich verlassen. Ich hatte die Überlebensstrategien meiner neu angeschafften Krisenratgeber verinnerlicht und wusste, was als nächstes zu tun war. In einer Krise würde es zuerst in den Migrantenhochburgen der Großstädte krachen. Die dort entstandenen Parallelgesellschaften hingen weitgehend von der sozialen Stabilität unseres Landes ab. Fehlt diese, zerbräche auch das fragile Geflecht zwischen staatlicher Fürsorge und dem gewachsenen Anspruch auf Versorgung. Ein Pulverfass, das unsere Kultur hinwegsprengen könnte. Autoren, die das schrieben, dachten dabei wohl die türkische Jugendgang, die immer vor dem jugoslawischen Lokal in unserer Straße herumlungerte. Tessa kassierte hier regelmäßig Pfiffe und anzügliche Bemerkungen. Etwas, was ich seit kurzem auch von unserem morgendlichen Bauarbeiter kenne, dem wir nun schon seinen Kaffee aufs Gerüst stellen, sobald er uns beim Frühstück begrüßt. Falls der auch Türke ist, hat er sich zumindest mit seinem ausgeprägt schwäbischen Dialekt hervorragend assimiliert. Mochte die Krise nur kommen. Während andere in Kürze mit Händen voll Geld vor verschlossenen Supermärkten stehen würden, hatten wir auf Monate genug Essen im Keller und ausreichend Bücher im Schrank, um uns eine Zeit lang zu beschäftigen. Doch im Keller waren die Vorräte nicht sicher. Also rief ich im Büro an, erfand eine plötzliche Magen-Darm-Grippe und begann, weiter in der Wohnung Platz für die noch nicht verräumten Einkäufe zu schaffen. Als erstes entsorgte ich die Kleidersäcke vom Balkon, denn dort plante ich, die Wasseraufbereitungsanlage aufzustellen. Danach machte ich mich daran, die Küche auszumisten. Es schien irgendein Naturgesetz zu geben, wonach man zwar nie ein vollständiges Service, aber stets zu viele Tassen in allen erdenklichen Formen, Aufdrucken und Farben hatte, von denen aber selten zwei zusammenpassen. Ähnlich verhielt es sich mit Gläsern, wobei in den meisten Saftgläsern früher einmal Senf war. Nach der Anzahl unserer Saftgläser im Schrank zu urteilen, mussten wir seit Tessas Einzug nichts anderes als Senf gegessen haben. Da dem aber nicht so war, würde auch niemand diese Gläser vermissen. Die Abfallbeutel füllten sich und mit ihnen die Sperrmülltonne vorm Haus. Heute war es auffällig ruhig auf der Baustelle. Da ich keinem der Bauarbeiter im Hausflur begegnete, wagte ich einen Blick hinter die nur angelehnte Wohnungstür der verstorbenen Frau Schmidt. Zu meiner Überraschung war die gesamte Einrichtung verschwunden. Mit ihr einige Wände, so dass nur ein einziger großer Raum voller Bauschutt und aus der Wand hängender Kabel übrig geblieben war. Dafür türmten sich Zementsäcke, Isoliermaterial und Kupferdrahtrollen vor den von der Tapete befreiten Wänden. Unsicher, was der Vermieter mit der Totalentkernung dieser Wohnung beabsichtigte, ging ich zurück ins Haus und weiter mit zwei vollen Mülltüten zu den Sperrmüllcontainern. In den Tüten waren unsere Grünpflanzen, denn künftig würden wir Wasser für Wichtigeres als zwei Zimmerpalmen und einen Benjamini benötigen. Tessa würde das verstehen. Vermutlich auch, dass ich zwei Koffer voller Bücher neben die Papiertonnen stellte, denn selbst, wenn wir zwei Jahre kaum noch vor die Tür gingen, würde Tessa ihre alten Jugend und Studienbücher sicher nicht mehr lesen. So arbeitete ich mich langsam durch unsere Zimmer und sammelte all das ein, was uns zum Überleben in Zeiten der Not Platz stahl. Natürlich würde in der Krise auch kein Strom mehr fließen, weshalb Tessa auf ihren alten Videorekorder und die unzähligen, nie mehr angeschauten Kassetten sicher gern verzichtete. Von einem Verkauf bei Ebay sah ich ab, denn Geld wäre das Letzte, was wir nach einem Finanzcrash brauchen würden. Auch verwarf ich die Idee, mich mit einer Tauschbörse im Internet selbständig zu machen. Bis die anlief, würde das world wide web Geschichte sein. Ja, manchmal kommen einem die besten Ideen einige Jahre zu spät. Doch jetzt galt es, sich aufs Überleben zu konzentrieren. Als ich letzte Nacht auf dem viel zu weichen Sofa keinen Schlaf fand und stattdessen in meinen neu gekauften Büchern über die Vorzeichen der Krise las, war ich noch voller Sorgen. Doch wie ich mich in unserer Wohnung nun umsah, legte sich die Anspannung allmählich wieder. Zahlreiche Schränke, Schubladen und die Fächer unserer Abstellkammer waren mit den Einkäufen aus der Metro gefüllt. Der Rest blieb erstmal im Keller. Und dennoch fehlte einiges, um monatelang hinter verschlossener Tür auszuharren. Als nächstes brauchte ich Medikamente, Schutzgitter für die Fenster und Waffen, um, wie mein Internatratgeber eindringlich schrieb, Plünderer abzuwehren. Die Apothekerin kannte mich noch von dem Versuch, für meine Freundin eine Pilzsalbe zu besorgen. Sie hatte mich damals vor der gesamten Kundschaft laut gefragt, wo sich der Pilz genau befände. Das letzte Mal, als mir etwas so peinlich war, kaufte ich eine Großpackung Tampons für Tessa, aber die Extrasaugfähigen. Frauen können sich da nicht hineinversetzen, aber ich spreche höchst ungern über den Intimbereich meiner Freundin in Gegenwart zahlreicher fremder Menschen und einer bildhübschen Azubine. Heute musste ich diese Sorgen nicht haben, denn Tessas Monatshygieneartikel hatte ich bereits gestern im Großmarkt gekauft und war mir sicher, dass 30 Packungen Antibiotika kein vergleichbares Problem wie eine Vaginalsalbe darstellten. Und doch taten sie es. »Junger Mann, ohne Rezept kann ich Ihnen die unmöglich geben. Auch 25 Packungen Schmerzmittel sind eine höchst ungewöhnliche Menge. Muss man sich Sorgen machen?« Und ob, wollte ich spontan erwidern, antwortete aber, noch immer über die Anrede Junger Mann erbost, dass ich wohl kaum 30 Packungen Antibiotika von einem Arzt verschrieben bekommen würde. »Genau deswegen kann ich Ihnen die ja auch nicht geben«, sah mich die Apothekerin ratlos an. »Gibt es keine Ausnahmeregelung für Notzeiten?«, versuchte ich es auf der sachlichen Ebene und scheiterte. »Solche Regelungen sind mir nicht bekannt. Außerdem, welche Notzeiten? Aber immerhin ein origineller Versuch.« Letzteres richtete sich an eine wartende Kundin, die ungeduldig auf ihre Uhr sah und nun über die Bemerkung der Apothekerin schnippisch kicherte. Doch das forderte mich nur noch mehr heraus. »Keine zwei Monate mehr und wir versinken in Chaos und Anarchie. Dann kommt keiner mehr, um Ihre Medikamente zu bezahlen, dann rückt der Mob an und plündert. Also wollen Sie mir jetzt die paar Schachteln verkaufen oder nicht?« »Nein, will ich nicht«, schüttelte der ondulierte Weißkittel von meiner Rede unbeeindruckt seinen Kopf und wandte sich der immer noch kichernden Kundin hinter mir zu. Ich war Luft und musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Der erste Rückschlag. Doch der zweite folgte, als ich versuchte, bei meinem Hausarzt einen Termin zu bekommen. Mit hektisch aufgesprochener Stimme ließ mich dessen Sprechstundenhilfe vom Anrufbeantworter aus wissen, dass Herr Dr. Eberl bis auf Weiteres verreist sei und der Praxisbetrieb spätestens im Mai wieder aufgenommen würde. Heute war der erste April, dennoch entpuppte sich diese Ansage bei meinem Versuch, persönlich vorbei zu gehen, leider nicht als Aprilscherz. Doch bis Mai konnte ich unmöglich warten, hatte ich doch heute Morgen im Radio von erneuten Angriffsplänen der USA auf den Iran gehört und wusste, der Krieg ums Öl ging in die nächste Runde. Doch anders als einst der Irak würde der Irre von Persien nicht tatenlos zusehen, wie der große Weltenrichter sich die Rohstoffe unter den Nagel riss. Es würde Krieg geben im Nahen Osten, in den sich auf der Seite Israels auch die europäischen Staaten einschalten müssten. Die Folge wäre ein Djihad der arabischen Welt und damit auch der in Europa netzwerkartig verbreiteten Araber. Ich sah es ganz deutlich vor mir und wusste nun, was der türkische Ministerpräsident Erdogan damit meinte, als er seine Moscheen als Kasernen und deren Minarette als seine Bajonette bezeichnete. Der Feind saß im eigenen Land und würde nicht zögern, gegen seinen Gastgeber ins Feld zu ziehen. Wie oft hatte ich mich hierüber schon mit Kollegen, Tessa und dem armenischen Pärchen in der Wohnung über uns gestritten, die mich für einen rechtspopulären Spinner hielten. Dabei habe ich noch nie etwas anderes als die CSU gewählt. Auf dem Rückweg von Dr. Eberls Praxis nach Hause kam ich an einem allevitischen Kulturzentrum vorbei und stolperte über eine Werbetafel, auf der ein neu eröffnetes Kampfsportstudio um Neuanmeldungen warb. Wie hatte noch mal der Autor meines Internetratgebers geschrieben? Halten Sie sich fit und bereiten Sie sich auf körperliche Auseinandersetzungen vor, wenn Ihnen die Polizei wegen Überlastung nicht mehr helfen können wird. Es war ein Wink des Schicksals, dem ich zu einer Treppe in den Keller unterhalb eines Matratzengeschäftes folgte. Der dort mit Neonröhren erhellte Raum war mit Matten ausgelegt, während Spiegel an den Wänden über dessen mickrige Ausmaße hinweg täuschten. In der Mitte des Studios standen sich zwei in weiße Kutten gehüllte Gestalten gegenüber und verbeugten sich. Einem kurzen Schrei, der mein Herz aussetzen ließ, folgte eine Fußbewegung des einen, die der andere mit seiner rechten Hand abwehrte. Dann verharrten die beiden wieder. Eine kurze Verbeugung, ein Schrei, und das Schauspiel begann von vorn. Ich war fasziniert, wie einfach Kampfsport schien. Die Anmeldung war reine Formsache. Einzig, sich für eine Verteidigungsart zu entscheiden, dauerte eine Weile. Schließlich wählte ich Mixed Martial Arts, eine Kombination aus verschiedenen Stilelementen asiatischer Kampfkunst. Da ist für jeden was dabei, meinte einer der Umstehenden und grinste seinen Vereinsfreunden zu. Kaum hatte ich meine Trainingssachen von zuhause geholt und die Einführung meines neuen türkischen Trainers an mir vorüberziehen lassen, war ich bereit für meine erste Lektion. Die jedoch bestand zu meiner Enttäuschung in Gymnastikübungen zu Musik. Den Gesichtsausdruck des neben mir turnenden Demir werde ich nicht so schnell vergessen, als ich ihn flüsternd fragte, ob sie jedes Mal mit solchen schwulen Übungen anfangen würden. Diesen Gesichtsausdruck hatte mein Kampfsportkollege auch noch, als ich ihm schließlich für eine erste Sparringrunde gegenüber stand. Da ich neu wäre und lieber erst Schrittfolgen und Bewegungsabläufe lernen sollte, hatte sich mein Trainer anfänglich gegen eine solche Übungseinheit ausgesprochen. Doch ich gab dem lebenden Sixpack mir gegenüber Recht, als der verkündete, dass man nur im Wasser schwimmen lernt. Im Wasser hätte ich mir allerdings kaum den großen Zeh gebrochen, als mich Demir aufforderte, ihn anzugreifen. Meiner mutigen Handbewegung in Richtung seines Kopfes folgte eine feige Drehung meines Gegenübers, bei der er seinen Fuß hob und mir frontal auf den Brustkorb trat. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einem Kreis grinsender Jugendlicher, die sich gemeinsam mit meinem Trainer über mich beugten und in einer mir unverständlichen Sprache diskutierten. Den Schmerz im Fuß bemerkte ich erst, als sich allmählich das dumpfe Brennen unterhalb meines Brustbeins legte. Mein Sparringpartner hatte mir vorsorglich vor seinem Tritt den anderen Fuß auf meinen großen Zeh gestellt, damit ich nicht aus dem Ring flöge, wie er mir später erklärte. Die Folge seiner Rücksichtnahme war allerdings, dass mein Zeh hinter meinem sich fortbewegenden Körper zurückblieb und der Knochen nachgab. So kam ich an diesem Tag doch noch zu einem Arzt, wenngleich sich der als Orthopäde weigerte, mir 30 Packungen Antibiotika für meinen Fuß zu verschreiben.

 

 

 

...Ende von Kapitel 3, dem noch 17 Kapitel folgen, in denen Ben nicht nur über die schönen Beine seiner Freundin stolpert, sondern seiner eigenen Krise näher kommt, als im lieb ist. Ingesamt 300 Seiten (entspr. bei bookrix ca. 750 Seiten). Für Interessierte gibt es das Buch ab ca. dem 10.8.11 auch als Taschenbuch für 8 Euro (portofrei). Anfragen unter ralf.during@gmail.com oder hier auf BX (PM genügt) viel Spaß!!!

Imprint

Publication Date: 07-27-2010

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /