Namenlos
Alles war bloß... ein Spiel.
Ein Spiel mit Ende.
Ein Spiel mit Klasse, würden wir sagen.
Ein Spiel das niemand spielen würde, würden die anderen sagen.
Dieses Spiel hat uns begeistert.
Es hat uns nicht mehr losgelassen
Bis wir ihm ganz verfallen waren.
Ein Sprung.
Ein Sprung ins Nichts, in eisige Kälte, ein Sprung ins Verlangen, ein Sprung, bei dem ich nicht alleine war.
Denn er war bei mir.
Er hielt meine Hand.
Er war immer neben mir. Nachts, wenn mich Träume plagten, dann verbannte er sie aus dem Moment.
Dem Moment den wir teilten, wie unsere Leben.
Er verbannte sie, bis sie wieder kamen, und wenn sie nachts wieder meinen Körper umkreisten, dann waren es wunderschöne Träume geworden.
So war es immer gewesen, und so sollte es nie anders sein.
Es war ein Leben, das sich leben ließ, ein Leben, das all’ die Dinge die im Leben missglückten, die einen an sich selbst zweifeln ließen, sanft machte wie die Wellen.
Die Wellen, die sich im Meer unzählig übereinander schlugen.
Wellen die beruhigen konnten. Wellen, die töten konnten.
Wellen, die uns beide in dem Moment umschlossen, wie seidene Tücher.
Er gab mir alles was ich brauchte. Das Gefühl vollkommen zu sein. Das was viele, die meisten, nicht fühlen konnten. Das ließ er mich fühlen. Er gab mir und meinem Leben einen klaren Sinn.
Nämlich den, zu Lachen, zu Denken, glücklich zu sein.
Und den Sinn sich auf Unmögliches einzulassen. Dem anderen dabei zu vertrauen. Ein Vertrauen, das stark war. Stark, wie das Schwarz der Nacht und stark wie das Licht der Sonne. Stark, wie die Liebe zwischen uns, die sich ins Unermessliche aufbaute, mit jedem Moment den wir teilten, mit jedem Moment den wir uns liebten, und mit jedem Moment an dem wir an uns dachten.
Ich konnte ihn nicht sehen, nicht durch die vielen kleinen Blasen, die wütend zitterten und an die Oberfläche zurasten, nicht durch die Kälte des Wassers und nicht durch meine geschlossenen Augenlieder.
Doch ich wusste, er war da, er würde mich nicht alleine lassen.
Ich spürte wie er näher kam, und ich ließ seinen Arm meine Taille umfassen. So zog er mich sanft und behutsam zur Wasseroberfläche und ich öffnete meine Augen.
Selbst an diesem trostlosen und wolkenverhangenen Ort war er wunderschön. Er lächelte. Nicht mit seinem Mund, doch mit seinen Augen lächelte er, und strahlte mich an.
Er lächelte selten mit seinen vollen Lippen. Ich wusste warum, deshalb machte es mir nichts aus. Schmerz ließ selten innere oder äußere Freude zu, auch wenn er schon der Vergangenheit angehörte.
Die meiste Zeit las ich seine Worte von seinen Augen.
Aus seinen tiefen, grünen Augen. Die Augen die ich mehr liebte als jeden Mensch der Welt. Fast schon kamen mir meine eigenen fremder vor. Leer, bedeutungslos.
Auch mir fiel es schwer zu lächeln, doch es fiel mir leichter, seitdem ich bei ihm war und er bei mir, und so tat ich oft. Öfter, als ich je angenommen hätte.
Er schlang vorsichtig seine großen muskulösen Arme um mich. Dann fuhr er mit seinen dünnen Fingern durch mein langes, fast schwarzes, nasses Haar.
Ich liebte seine Finger. Sie faszinierten mich. Sie waren so schmal und schienen so zerbrechlich, jedoch trotzdem auf eine sehr männliche Art.
Es gab nichts was ich lieber beobachtete als seine Finger, wie sie etwas verknoteten, wie sie meine Lippen nachgingen, wie sie sich nach meiner Hand ausstreckten um mich nicht alleine zu lassen.
Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und ließ mich von ihm tragen. Mit ihm zusammen trotzte ich den Wellen die auf uns einpreschten und versuchten, uns gegen die steile Felswand zu stoßen.
Die Felswand, die nach oben verlief, viele Meter hoch, bis sie schließlich in einem steilen Abhang endete. Die Felswand, an der wir vor ein paar Minuten noch vorbeigesaust waren, hinunter in das wilde Meer, hinunter in die Ungewissheit, der wir zusammen mühelos strotzen konnten.
Wir lösten uns ein wenig aus unserer Umarmung und folgten meinen Gedanken, unsere Blicke wanderten hinauf, studierten die Klippen, und waren zufrieden uns nicht verloren zu haben. Gefährlich war es gewesen, das wussten wir von Anfang an. Zu hoch waren die Klippen, Schilder warnten die Leute davor, doch wir konnten dem Drang uns in die Tiefe zu stürzen nicht widerstehen. Wie eine Probe, ob wir uns auch vertrauten, ob wir uns der Gesellschaft fügten. Und einfach weil es Spaß machte. Es war so schön meine Hand in seine zu legen und durch den Wind zu fliegen, durch die ungewöhnlich schwüle Luft in das eiskalte Wasser. Er ließ meine Hand dabei niemals los.
Das salzige Wasser schien nicht zu wollen, dass wir den Moment genossen. Es peitschte uns mit seinen Wellen um die Ohren und wütete, sodass wir uns letztendlich ganz aus unserer Umarmung lösten.
Er schwamm. Ich schwamm. Eher ich wusste, woher meine Beine vor mir wussten was zu tun war, saßen wir auf dem nassen Sand.
Ich legte mich hin, schloss meine Augen und sog die kalte Luft ein. Die Luft die mir so vertraut war, da ich mich nirgends heimischer fühlen konnte.
Die Luft die ich brauchte, die Luft die so salzig schmeckte, und doch so klar war.
Wie lange ich so da lag wusste ich schon nicht mehr, doch ich hätte eine Ewigkeit an diesem Ort verbringen können. Einfach, indem ich neben ihm auf dem Sand lag. Schmerz und Sorge vergessen. Auf ewig.
Ich öffnete meine Augen.
Er war über mir gebeugt, ich konnte direkt in seine Augen sehen. Ich hatte das Gefühl durch sie hindurchzublicken und alles zu sehen, seine Gedanken, seine Gefühle, alles. Ich kannte ihn so gut, und er kannte mich so gut. Wie konnte es da auch anders sein.
Er blickte mich intensiv an. Legte seinen Kopf auf meinen, unsere Nasen berührten sich, es fühlte sich an wie ein Kuss, auf den ich schon lange gewartet hatte. So fühlte es sich immer an. Und ich liebte es, so sehr. Im Gegensatz zu dem langen Moment davor, kam mir dieser viel zu kurz vor, doch es wurde dunkler, wir wollten nach Hause. Nass, eiskalt, in Badekleidung, gingen wir.
Ohne nachzudenken. Schweigend, nebeneinander.
Es war ein wundervolles Schweigen. Ein Schweigen voller Gemeinsamkeit. Voller Sehnsucht. Wir gingen, ohne die Gedanken auf den Weg gelenkt zu haben. Unsere Beine gingen für uns, dachten für uns, wussten für uns, wohin der Weg nach Hause verlief.
So waren unsere Köpfe frei, wie so oft, und es fühlte sich immer wieder neu und frisch an.
Frei waren sie, bis auf den Namen des anderen, der in keiner Sekunde unseres Lebens aus unseren Köpfen floh.
Die Dunkelheit umhüllte uns sanft und mit einer Zärtlichkeit die nur selten zu finden war. Unbegreiflich, wieso manche die Nacht fürchteten. Sie ist eine der wenigen Dinge auf die wirklich Verlass ist. Sie beruhigt. Entlastet. Sanft und wunderschön fällt sie auf einen herab, langsam und unscheinbar. Man merkt es nicht, doch plötzlich taucht sie auf. Ich fürchtete sie nicht. Es lag zum Teil daran, dass ich zusammen mit ihm oft nachts hinaus in die Nacht schritt, weil der Schlaf an uns vorbeirauschte. In unruhigen Nächten zogen wir los und genossen die Stille in der Stadt, in der tagsüber Autos fuhren und Kinder kreischten. Doch schon vor der Zeit mit ihm habe ich die Nacht geliebt. Vertrauter war sie mir als das Sonnenlicht, denn niemand redete mit mir, niemand schlug mich und niemand machte mir Vorschriften. Ich lebte in der Nacht, eher als am Tag. Plötzlich musste ich an eine Art Gedicht denken. Jeder Vers hatte sich in meinem Kopf eingebrannt. Die Worte aus dem Stift, den ich nur zu gut kannte.
Leise und unscheinbar
Still und unauffällig
Kreisen über Gedanken anderer
Unauffällig und unscheinbar.
Unwillkürlich musste ich lächeln. Wir öffneten die knarrende Holztür und betraten die Hütte. Ich war zu Hause.
In nasser Badekleidung und tropfendem Haar, unsere Haut getrocknet von der salzigen Luft, schmiegten wir uns aneinander.
Wir wärmten uns, aneinandergeschmiegt. Fast war es zu perfekt, noch jedoch genau richtig.
Ich zog die Wolldecke, die unsere beide Körper umschloss, bis ans Kinn und schloss die Augen, wie so oft, um mir klarzumachen, dass dieser Moment echt war, echt, wie der Junge, der hier neben mir saß und wie die Hitze des Heizkörpers, der hinter unseren Rücken die Wärme in die Luft pullerte.
Echt, wie mein Leben, an das ich früher nie geglaubt hatte.
Aber es war echt, und wunderschön und ich durfte an es glauben, durfte es leben, es genießen.
Und so tat ich es.
Ich spürte wie er mich trug. Mich in unser Bett legte und zudeckte. Mich nicht alleine ließ. Obwohl ich schon dabei war, einzuschlafen, die Grenze von Bewusstsein hinüber zum Schlaf überschritt.
Er flüsterte mir etwas ins Ohr. Er wusste das ich noch wach war, und er wusste auch, dass ich es nicht mehr lange war. Ich hörte seine Worte klar und deutlich, und sie wärmten mich, auch wenn mir ohnehin schon warm war, sie wärmten mein Herz.
„Ich liebe dich.“
Es war kein „Ich liebe dich“ wie es sich Pärchen sagten, es war mehr freundschaftlich, etwas inniger und intimer. Wir liebten uns, wie es beste Freundinnen taten, oder vielleicht auch gute Kumpel. Eine richtige Beziehung passte nicht zu uns, es war etwas für die normale Gesellschaft, die wir mieden. Uns bedeutete es nichts, ob wir „offiziell“ ein Paar waren oder nicht. Es interessierte niemanden, denn wir kannten niemanden. Über seine Familie erzählte er mir nichts und das war mir gleichgültig. Von den schwirrenden Gedanken brummte mir der Schädel. Ich wusste nicht, ob er auf meine Antwort wartete, er kannte sie ohnehin, auch wenn ich zu schwach und müde war, um etwas zu sagen.
Ein durchsichtiger Schleier fiel über meine Augen und machte meine Gedanken trüb. Ich wollte einschlafen. Und nie wieder erwachen. Erschreckend war es, zu wissen, wie schnell jedes Glück verfliegen konnte, so schnell wie es oft auftauchte. Kein Glück blieb jemals lange. Auch meins musste irgendwann zu Ende gehen. Doch wollte ich diesen Moment niemals ertragen müssen. Zu viele Narben hafteten schon auf meiner Seele, viel konnte ich nicht mehr auf mich nehmen. War es denn zu viel verlangt, einzuschlafen, auf ewig, wann man es sich wünschte?
Meine Gedanken riefen ein paar Zeilen aus einem Buch hervor, dass ich einst in der Schule las. Es waren die einzigen Zeilen gewesen, die mich wirklich berührten, weil ich sicher sein konnte, sie waren echt. Die einzigen Zeilen, in denen ich mich selbst sah. Die einzigen Wörter, die sich von dem Buch in mein Gehirn eingebrannt hatten.
„Wie wunderbar würde es sein einzuschlafen, während sie mich in den Armen hielt. Einschlafen und nie mehr aufwachen.“
Als ich aufwachte, wusste ich, dieser Tag würde gut werden. Nicht perfekt, davon ging ich nie aus. Ich wusste wie schnell einen das Leben enttäuschen konnte, nun war ich misstrauisch.
Gut würde er allemal werden, wie sollte er nicht, wenn er doch bei mir war?
Aber da war etwas, etwas Unklares, wie ein schwarzer Fleck im Blickfeld, den man nicht ignorieren kann, etwas Undefinierbares.
Ich streckte meine Hand aus, entlang des Betttuches. Eine warme Fläche direkt neben mir brachte mich innerlich zum Lachen.
Er. Ich dachte an ihn. An seinen Namen. An seinen Geruch. An seine Haare. An seine Augen. An seine Finger. An seine Finger, die in diesem Augenblick das Frühstück machten.
Der Geruch lockte mich aus der wohligen Wärme meiner Bettdecke.
Ich betrat die Küche und seine Augen lächelten mir entgegen. Er drehte den Vorbereitungen des Frühstückes den Rücken zu und kam auf mich zu. Ich blickte ihm fest in die Augen, sie zogen mich in seinen Bann und ich wehrte mich nicht dagegen.
Dann schlang seine Arme um mich und flüsterte mir einen „Guten Morgen“ ins Ohr.
So standen wir da, bekleidet immer noch von den Badesachen des gestrigen Abends in der kleinen Küche, die durch ein einziges Geräusch ausgefüllt wurde, das Brutzeln, das aus der Pfanne zu uns herüber drang.
Nur ungern wandte er sich wieder dem Herd zu. Ich küsste ihn auf die Wange und er trat wieder ein paar Schritte zurück, jedoch nicht, ohne dabei nicht noch einmal seine Augen sprechen zu lassen.
Viele Worte sprachen sie.
Viele schöne Worte, die ich noch so oft vergeblich versuchen konnte mit meinen eigenen Augen oder meinem eigenem Mund zu formen. Und doch würden sie nie so schön klingen wie bei ihm.
Ich antwortete auf all die Fragen, die sich hinter seinem Blick verbargen gleichzeitig, indem ich zurücklächelte.
Auch er lächelte, diesmal mit seinem Mund, ich konnte die Augen nicht davon abwenden, so wie ich es nie konnte, wenn er etwas selten tat.
Als ich ihm das nächste Mal in die Augen sah, saß er mir gegenüber am Tisch, der zwischen uns kaum ein Hindernis darstellte. Meine Haare waren fast trocken, meine Haut nicht mehr rau, denn das heiße Wasser der Dusche hatte alle Spuren des gestrigen Abends davon gespült. Nun existierte er allein noch in unseren Gedanken.
Er spielte mit einer Strähne meiner Haare, während ich unsere Teller mit Rührei, und Brot belud.
„Ruben.“
Er war überrascht, seine Hand zuckte bei dem Klang seines Namens zurück.
Selten sprachen wir, wir verständigten uns grundsätzlich ohne jegliche Wörter, wir verstanden uns, wie es in den schönsten Liebesgeschichten ausgedrückt wurde, blind.
Und noch seltener nannten wir unsere Namen.
Es waren fremde Wörter geworden, die unsere Gefühle nicht ausdrücken konnten, und die in unser Leben nicht passten, weil sie zu viel unserer wertvollen Zeit beanspruchten, die wir mit nichts Nutzlosem verschwenden wollten.
Auffordernd sah er mich an. Er wusste, dass ich es spürte. Irgendetwas bedrückte ihn. Ich sprach zögernd weiter. „Der Gedanke, der seit heute Morgen in deinem Kopf rumschwirrt, den du gegenüber mir unausgesprochen lässt. Was ist das?“
Ich konnte viele Gefühle aus seinen Augen ablesen, doch die, die ich jetzt in ihnen sah, zeigten sich selten.
Zweifel. Angst. Unsicherheit.
Der schwarze Fleck in meinem Blickfeld verhöhnte mich weiter. Ich wollte, dass er verschwand. Wie ein kleines Kind fühlte ich mich, wie eine Zehnjährige, die um eine schöne Prinzessinnengeschichte bettelte. Wie lange ich schon keine mehr gehört hatte, wo am Ende alles gut war, wurde es da nicht langsam noch mal Zeit? Erwartungsvoll sah ich ihn an, und er sah mich an.
Er wartete. Wartete auf ein Zeichen. Ein Zeichen, das ihm verkündete, dass er es mir sagen durfte. Das er es mir sagen konnte.
Wann würde sich dieses Zeichen entscheiden?
Er blickte auf seinen Teller, schloss die Augen, kniff sie zusammen. Ich konnte sein Verhalten nicht deuten. Es machte mir Angst.
„Schon gut. Ist schon okay.“ Ich aß als hätte die Frage meinen Kopf niemals verlassen. Als hätte es den Fleck niemals gegeben. Doch es gab ihn. Und das wusste er auch. Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und hob meinen Kopf.
Wir sahen uns in die Augen.
„Nicht jetzt. Nicht hier. Aber bald.“
Das waren seine Worte, und der Fleck schrumpfte, fast bis ins Unmerkliche.
Ich versuchte die Gedanken zu verdrängen, aber sie quetschten sich durch die Barrieren die ich in meinem Kopf aufbaute um sie aus dem heutigen Tag auszuschließen.
Die Barrieren brachen und ich war ihnen schutzlos ausgeliefert.
Müssen wir diesen Ort verlassen?
Wird er von irgendwelchen Schlägertypen verfolgt?
Schuldet er irgendjemandem Geld?
Wir haben nie über unsere finanzielle Lage gesprochen, aber ich glaube, dass nicht alles legal vonstatten gegangen ist. Auch, wenn ich wusste, dass er versuchte es zu vermeiden.
Mir war es immer egal. Denn wir waren ja zusammen. Sorgen waren da ausgeschlossen.
Hatte er eine unheilbare Krankheit? Warum habe ich das nicht gespürt? Gemerkt? Gesehen?
Ihm ging es doch nie schlecht!
Es gab nie irgendwelche Anzeichen dafür.
Warum kann ich ihm nicht trauen? Warum warte ich nicht einfach, bis er es mir erzählt, so wie er es mir sagte? Warum bin ich so misstrauisch ihm gegenüber?
Ich fühlte mich als hätte ich ihn hintergangen, hätte ihm vorgegaukelt ihn zu lieben, um ihm dann mitten in der Nacht ein Messer in den Rücken zu rammen.
Ich versuchte die Tränen zu verbergen, die mir in quälendem Zeitlupentempo die Wangen herunterrannen.
Er sollte sie nicht sehen. Sollte nicht sehen, dass ich innerlich an dem widerlichen Fleck zerbrach, der sich wieder in meinem Blickfeld breitgemacht hatte.
Und er sah es nicht. Keine Träne, keine Träne die ich innerlich verfluchte und wegwischte, unauffällig.
Er fuhr den Wagen als säße ich nicht neben ihm, nicht mit ihm in einem Auto, als würde er meine Aufmerksamkeit nicht bemerken. Auch dies war normal, ich konnte es mir nicht anders vorstellen.
In meiner Tasche fand ich mein Notizbuch.
Natürlich fand ich es dort. Es war immer bei mir, so wie auch er immer an meiner Seite war. Nur schwer konnte ich auf es verzichten, und so ließ es mich auch nie im Stich.
Worte schrieb ich.
Die meine Gefühle ausdrückten. Worte, in die andere nicht viel Bedeutung legten. Aber ich liebte sie, und ich verewigte sie in dem Notizbuch, immer wieder, in anderen Konstruktionen, immer wieder anders verpackt, immer wieder andere Geschichten erzählend. Und er las sie.
Er ließ sich die Geschichten erzählen, er hörte den Wörtern zu, wie sie ihm ihre Existenz erklärten, ins Ohr flüsterten.
Ich schloss die Augen und studierte meine Gefühle.
Ungewissheit. Angst. Neugier. Liebe.
Bald brachen die verschiedenen Gefühle aus allen Ecken meines Kopfes auf mich herein.
Ich musste die Gefühle verschlüsseln, sodass nur Personen, die fühlten wie ich, sie entschlüsseln konnten. Ich ließ meine Hände schreiben, ließ ihnen freien Lauf, sie schrieben, ich ließ es geschehen.
Fertig.
Blicke
Die ich nicht deuten kann.
Worte
Von denen ich nicht weiß was sie bedeuten.
Ungewissheit
Die sich in meinen Augen zeigt.
Machen mich glücklich.
Das ging also in mir vor.
Ich analysierte mein eigenes Werk. Ich selbst wusste was sich dort drin verbarg, Ruben würde es auch wissen.
Für andere blieb es ein Geheimnis, zusätzlich geschützt durch das lyrische Ich, das Lyriker nicht so leichtfertig mit dem zugehörigem Autor identifizierten. Und so sollte es bleiben.
Zufrieden schaute ich geradeaus, dem Nichts entgegen, bestehend aus Bäumen, Himmel, Wiesen und der Straße auf der wir fuhren, dem Nichts entgegen, in eine Ferne in der ich nicht wusste, was mich dort erwarten würde.
Ich wachte auf. So fühlte es sich an, als der Wind aufhörte mir leicht an den Haaren zu ziehen und ich meine Augen nach einer unbestimmten, langen Zeit wieder öffnete.
Als die Sonne hinter Häuserdächern verschwand und mein Gesicht kalt wurde, kalt in dem Schatten an den sich meine Augen noch gewöhnen mussten. Als die Vibrationen des Automotors meinen Körper nicht mehr durchfuhren als hätte ich Tausende von kleinen Bienen im Bauch. Die Gedanken, in denen ich während der Fahrt versunken war, verschwanden, als wären sie nur Schatten gewesen. Schatten, in denen sich alles verbergen konnte.
Doch was verbarg sich in diesem Schatten?
Dem Schatten des Hauses, von dem ich momentan nur die Konturen erkennen konnte. Ich nahm die Sonnenbrille, die er mir reichte, dankbar an.
Meine Augen starrten. Mein Kopf war leer. Ich drehte mich abrupt zu ihm um. Ich konnte nichts sagen, doch ich zeigte auf das Haus, zeigte auf ihn und schaute verwirrt zwischen ihnen hin und her. Ich war wütend. Nicht auf ihn, sondern auf das Haus und auf die Personen die sich darin verbargen. Ich hatte nie vorgehabt jemals an diesen Ort zurückzukehren, warum also brachte er mich hierher? Er biss sich nervös auf die Unterlippe. Er wählte seine Worte sorgsam, dann sagte er: „Du musst... dich von ihnen verabschieden.“
Warum?
Das dachte ich, doch ich trat nur einen Schritt auf die große, dunkle Haustür zu.
Vertrauen. Mein Vertrauen zu ihm war so stark geworden. Es könnte sich mit Leichtigkeit zu einer meiner Schwächen entwickeln, doch so empfand ich nicht, also tat ich einen tiefen Luftzug und betrat die Fußmatte die sorgsam vor der Haustür platziert wurde.
Klingeln. Atmen. Nicht denken.
Es hätte fast leicht sein können.
Wäre dies ein anderes Haus gewesen. Würden dort drin andere Personen ihr Leben absitzen.
Als er die Tür öffnete zeigte sein Gesicht keine Reaktion als er mich erblickte.
Sein Gesicht war ohnehin eine grimmige und missbilligende Grimasse.
Sein Blick schweifte abschätzige über mich, dann über meine Schultern hinweg zu Ruben.
Er sagte kein Wort, doch ich antworte ihm auf seine verschwiegene Frage.
„Ich bin hier um mich zu verabschieden.“
„Verabschieden. Aha. Wieso?“ Er musterte mich, nicht neugierig, doch trotzdem lag etwas in seinen trägen Augen das ich nicht anders deuten konnte.
„Wir verreisen.“ Ruben war bei seinen Worten hinter mich getreten und hatte mir seine Hand auf die Schulter gelegt. Mein angespannter Körper lockerte sich bei dieser Berührung.
Eine Erinnerung löste sich in mir, flog hoch über unseren Köpfen hinfort, an einen Ort, den ich nie sehen würde, weil er zu weit oben lag.
An einen Ort, der meine Erinnerung in sich aufsog.
Ich erinnerte mich.
Publication Date: 08-31-2013
All Rights Reserved