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Prolog

[Emily Tanner]

 

Die Welt entwickelt sich immer weiter und weiter. Doch die Frage ist: Wie lange noch? Wird es irgendwann überhaupt ein Ende nehmen? Gehen wir jetzt mal davon aus, dass die Weiterentwicklung unendlich groß wäre, wie würde dann unser Leben aussehen? Ich werde nun das Glück haben, bei diesem Fortschritt dabei zu sein.      Irgendwann in der Zukunft gibt es diesen verrückten Wissenschaftler, der nachdem er seine Idee zuvor an Mäusen getestet hatte, dies nun auch an den Menschen anwenden will. Genauer gesagt an mich. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch ein winzig kleines Baby war, eigne ich mich besonders gut für diese Testreihe. Genauso wie die Babys Ashley und Addison.     

Warum man mich auswählte, ist ziemlich einleuchtend. Ich lebe in einem Heim und habe keine Eltern. Wahrscheinlich würden mich dann nicht allzu viele Leute vermissen, wenn etwas schief gehen würde. Auch Ashley und Addison wurden aus denselben Gründen von einem Heim entnommen.     

Eigentlich war Professor Conners Einfall ziemlich schlau und wurde von den Leuten weit aus unterschätzt. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht die Menschen durch neurologische Forschungen schlauer werden zu lassen. Ihm war es gelungen herauszufinden, wie schlau wir Menschen von Natur aus sind. Selbstverständlich muss jeder Mensch selber etwas für sein Wissen tun, doch trotzdem ist es im Gehirn vorherbestimmt.      Mithilfe ein paar Test, die noch nicht ganz so schwierig waren, ermittelte Professor Conner, dass mein Gehirn am leistungsstärksten ist. Doch der schwierige Teil würde erst noch folgen. Am heutigen Tag würde Professor Conner Ashleys und Addisons Gehirn an meines anpassen. Sein erhofftes Ergebnis wäre, dass wir am Ende alle drei gleich starke Gehirne haben.     

Die Leiterin des Heims, deren Namen ich leider vergessen hatte, legte uns alle drei vorsichtig auf den Forschungstisch. Der Bequemlichkeit halber, legte sie für jedes Baby eine Decke um den Bauch. Doch die Zuneigung täuschte wahrscheinlich, da sie sicherlich nicht mal unsere Namen kannte. Sie wollte diesen Tag nur hinter sich bringen und hoffte, dass uns später Eltern für eine Adoption auswählten. Denn eins stand fest: Nach diesem Versuch würde man sicher über uns in der Zeitung lesen und die Leiterin hoffte, dass berühmte Mädchen jeder haben wollte.     

Als Professor Conner die glühenden Drähte sah, wusste er sicher schon, dass doch nicht alles nach Plan gelaufen ist, denn ich konnte mich noch genau an sein entsetztes Gesicht erinnern.     

»Was haben Sie getan?«, fragte die Leiterin gedehnt. Doch Professor Conner war anscheinend nicht mehr in der Lage zu antworten. Er starrte nur noch auf die regungslosen Körper von Ashley und Addison. Meine lautstarken Schreie verdeutlichte den beiden nur noch mehr, dass bei diesem Versuch nur einer von drei Körpern überlebt hatte. Im Prinzip stimmte das ja auch, trotzdem kannte keiner die ganze Wahrheit.

Ja, Ashleys und Addisons Körper waren tot, jedoch nicht deren Seele. Professor Conners Versuch hatte etwas bewirkt, aber nicht das was er vorhatte. Er hatte versehentlich die Seele von Ashley und Addison in meinen Körper transportiert.     

Das hatte für mein folgendes Leben fatale Auswirkungen. Und nicht nur, dass ich mir meinen Körper mit zwei anderen teilen musste. Die ganze Sache hatte auch Vorteile mitgebracht. Nach dem Versuch haben sich unsere Eigenschaften verstärkt – so stark, dass man sie nun als Fähigkeiten bezeichnen konnte. Mit ungefähr zehn Jahren haben sie sich quasi aktiviert.     

Nehmen wir mal Addison. Sie war schon immer eine sportliche Person gewesen. Jetzt sind wir dank ihren Eigenschaft super schnell und können total weit springen. Schneller als jedes Auto oder Flugzeug. Ashleys Eigenschaft ist es, sich gut in andere Menschen hineinversetzen zu können. Deshalb können wir jetzt Gedanken lesen. Da mein Gehirn überdurchschnittlich schlau war, wissen wir jetzt alles besser als jede Internetseite. Wurzelziehen können wir im Schlaf.     

Alles Fähigkeiten mit denen man lernen muss umzugehen. Denn das sie geheim bleiben, hat für uns alle oberste Priorität. Früher war es für uns schwierig sich mit mehreren Menschen in einem Raum aufzuhalten. Doch irgendwann haben wir gelernt die Gedanken der Menschen einfach auszublenden. Wir können kontrollieren, uns in stressigen Situationen ruhig zu bewegen – ohne dass andere Personen skeptisch werden könnten. Trotz der ganzen coolen Vorteile wünschen wir uns oft ein normales Leben zu können. Zu dritt in einem Körper zu sein bringt viele Einschränkungen mit sich. Trotzdem versuchen wir unser Leben so normal wie möglich weiterzuleben.

Kapitel 1

[Addison Havering]

 

Inzwischen hatte ich mich langsam daran gewöhnt, dass ich nicht selber entscheiden konnte und eigentlich kein eigenes Leben hatte. Emily lebte nun mal für mich – sie traf die Entscheidungen. Ich könnte ihr eventuell meine Meinung geigen, aber ob sie auf mich hörte war dann noch eine andere Sache. Zum Glück konnten wir uns alle drei einigen, dass Emily nichts mit Jungs anfangen würde oder einmal heiraten würde. Was für ein Leben! Mir war klar, dass Emily das immer schwerer fiel – immerhin waren wir inzwischen siebzehn. Andererseits waren Ashley und ich ja wohl noch schlimmer dran.     

Hörst du die Gedanken von der Neuen?, gab ich an Emily und Ashley weiter. Nein! Die gehen mich gar nichts an. Wir wollten das doch lassen!, meinte Emily.     

Da hatte sie wohl recht, doch leider hatte ich sie mir aus Neugierde trotzdem angehört: Jeder in diesem Raum ist hässlicher als du. Das ist schon mal ein Pluspunkt. Okay, wenn ich mir das Mädchen jetzt genauer anschaute, war es vielleicht doch nicht mehr so witzig. Denn die Neue zeigte auch nach außen was sie dachte. Vor mir stand quasi die typische Vorzeigetussi: langes blondes Haar, blaue Augen, Solariumbräune, pinke Kleidung und natürlich die passende Handtasche. Mit der freunden wir uns jetzt aber nicht an, Emily, warnte ich sie. Achtung! Sie spielt auf Jane an, erklärte Ashley und damit hatte sie auch Recht. Als wir neu auf diese Schule kamen, kam ein Mädchen namens Jane Doe auf uns zu. Vielleicht passt sie total gut zu Emily – aufgeschlossen und etwas ausgeflippt. Aber ich kann mit solchen Mädchen nichts anfangen. Das einzige was ich an ihr interessant fand war die Tatsache, dass wir aus irgendeinem Grund ihre Gedanken nicht lesen können.      Vielleicht ist sie ja dann doch besonderer als sie von außen den Eindruck macht. Oder sie ist so einfach gestrickt, dass man ihre Gedanken nicht kennen braucht, weil sie alles sagt was sie meint. Ich musste innerlich lachen. Okay, Freunde für Emily sollten in Ordnung sein. Ich konnte ihr ja nicht alles verbieten.     

Aber ich hätte mich nie auf Jane eingelassen. Alleine schon wenn man sie sieht: Diese extrem helle Haut mit den hellbraunen schulterlangen Haaren und grünen Augen. Sie konnte auch keinen eigenen Klamottenstil entwickeln. Manchmal kam sie ganz in schwarz gekleidet zur Schule, am nächsten Tag war sie vollkommen bunt. Das einzige was sich bei ihr nie änderte war ihr stark geschminktes Gesicht.     

»Hey, Em. Na? Schon aufgeregt auf das Projekt in Sozialkunde?«, fragte Jane von Begeisterung nur so überströmt. Am liebsten hätte ich Es ist doch nur ein Schulprojekt erwidert, aber das war ja bekanntermaßen nicht möglich. »Klar, wenn wir drei uns zusammen für eine Gruppe eintragen lassen«, antwortete Emily zuckersüß. Genau, auf der anderen Seite der Clique gab es ja noch Isabella Ray, die schon eher zu mir passen könnte – wenn man mal die Tatsache außer Acht lässt, dass sie nicht mal von meiner Existenz weiß.     

Isabella und Emily kennen sich noch nicht so lange wie Emily und Jane. Außerdem hatte man das Gefühl, dass Jane und Isabella nur wegen Emily miteinander befreundet waren. Isabella war genauso zielstrebig wie Emily. Über ihrer Schulter hingen lange, lockige, schwarze Haare, die super zu ihrem dunklen Teint passten. Zwar konnte ich mich mit ihrem Klamottenstil gar nicht identifizieren, denn sie trug ausschließlich Kleider und Röcke. Aber sie hatte eine andere Seite, was man auch an ihren markanten Gesichtszügen merkte. Sie sah die Welt nicht als ganz so perfekt an, wie Jane und Emily es taten. Aus diesem Grund könnte ich mir vorstellen mit ihr befreundet zu sein. Aber das war ja eh nicht möglich. Außerdem wusste ich, dass sie ein Tattoo auf der linken Schulter hat, das keep on sagt. Isabella hatte Emily erzählt, dass sie sich das Tattoo nach dem Tod ihrer Eltern durch einen Verkehrsunfall machen ließ.     

Aber ich brauchte eigentlich keine Gedanken an Isabella und Jane verschwenden. Ich würde in meinem Leben eh nie mehr als zwei Freunde haben – und die hießen nun mal Ashley und Emily. Wobei ich zugeben musste, dass ich besser mit Emily klar kam. Es lag einfach an ihrer Persönlichkeit. Klar war Ashley nett und so… aber sie war mir einfach zu gutgelaunt. Emily war kämpferisch und wusste genau was sie wollte. Klar, war das manchmal nervig, aber auch ich eine Kämpfernatur und würde im Leben gut alleine zu Recht kommen – wenn ich denn mal alleine sein könnte.     

Was mich auch nervte: Ich wusste nicht mal wie ich eigentlich aussah. Zwar hatte der Körper indem ich mich befand lange rotbraune Haare, grüne Augen, war nicht besonders groß und hatte dank des Versuchs eine Narbe rechts oben am Kopf. Aber das war nicht mein Körper. Ich würde sicher niemals so piepsig sprechen wie Emily es tat. Ich würde mich auch anders ankleiden. Eher sportlicher und nicht diese modernen schlichten Klamotten, die sie krampfhaft mit Ketten versuchte aufzupeppen.     

Nach gefühlten Stunden des Wartens kam dann endlich mal unsere Soziallehrerin Mrs. Baker. Soziales Verhalten als Unterrichtsfach war meiner Meinung nach total überflüssig. Obwohl – bei manchen Primaten in dieser Klasse ist es vielleicht doch nicht ganz unwichtig.       

»Guten Morgen, wie ihr ja alle wisst, steht heute unser Projekt an, das zweidrittel eurer Gesamtnote ausmacht. Am Ende des Halbjahres erwarte ich eine Präsentation zu dem Thema, wie ihr euch in der Welt nützlich gemacht habt. Außerdem ist es Pflicht, etwas zu dem Arbeitsklima zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern zu sagen. Probleme sind sogar erwünscht. Wichtig ist nur, wie ihr damit umgegangen seid. Um euch etwas zu motivieren, könnt ihr euch einen Partner aussuchen mit dem ihr gerne zusammen arbeiten wollt. Insgesamt sollte die Gruppe aus sieben bis acht Mitgliedern bestehen.«     

Jane schoss sofort den Arm in die Luft. »Können wir uns auch zu dritt zusammen tun?« »Im Notfall geht das auch. Aber bitte insgesamt sieben oder acht Personen – das ist wichtig. Schreibt eure Wünsche jetzt bitte auf einen Zettel, denn diese werden nachher gezogen. Wenn ihr keinen Partner findet, könnt ihr auch nur euren Namen auf den Zettel schreiben.«     

Jane hatte sofort einen Zettel und Stift gezückt und schrieb die Namen Emily, Isabella und Jane darauf. Anschließend klappte sie ihn akkurat zusammen. »Na dann hoffen wir mal, dass wir nicht die Loser kriegen«, flüsterte Isabella leise, während Mrs. Baker rumging und die Zettel einsammelte. »Also Bella! Sowas sagt man nicht«, sagte Jane und räusperte sich, grinste aber trotzdem.     

Während Mrs. Baker die einzelnen Namen zog und Gruppen daraus machte, schaltete ich komplett ab. Warum auch nicht? Mrs. Baker würde es eh nicht merken. Erst als sie unseren Zettel zog, spitze ich dann doch die Ohren. »Gruppe drei bilden Emily, Bella und Jane, außerdem Avery und Ethan. Dann haben wir zum Schluss noch zwei einzelne Personen, die die Gruppe komplett machen: Chloe und Tyler.«     

Inzwischen kannte ich die Klasse dann doch so gut, dass ich zu jedem Namen ein Gesicht kannte. Doch der Name Chloe sagte mir dann doch nichts. Mir graute Schlimmes, da das dann wohl diese neue Tussi sein musste. Obwohl ich mir den Rest der Gruppe ungefähr bildlich vorstellen konnte, wusste ich nichts über deren Persönlichkeiten. Da hatten wir ja eine tolle Gruppe für unser dummes Schulprojekt erhalten…

 

Kapitel 2

[Tyler Williams]

 

Nachdem Mrs. Backer uns zu unseren Gruppen zugeteilt hatte, sollte jede Gruppe sich einen ruhigen Platz in der Bibliothek nehmen und alles für das Projekt besprechen. Die meisten meiner Gruppenmitglieder kannte ich, bis auf das pinke, blonde Mädchen, das anscheinend Chloe hieß. Ich wollte ja keine Vorurteile gegenüber anderen haben, aber sie wirkte auf mich ziemlich eingebildet.     

Die beiden anderen Jungs in meiner Gruppe waren Avery und Ethan. Avery war wahrscheinlich der beliebteste Junge an unserer Schule – kein Wunder, dass sein Freund Ethan ihm immer alles nachmachte und wie er sein wollte. Avery war groß und hatte einen ziemlich trainierten Körper, während ich eher klein und zierlich dagegen wirkte. Auch sein Kleidungsstil war immer modern und bei den Mädchen sicherlich angesehener als meine Karohemden.     

Ethan und Avery könnten vom Klamottenstil wie Zwillinge sein, auch wenn sie sonst ganz klar unterschiedlich ausschauten. Avery hatte kurze schwarze Haare, war dunkelhäutig und hatte blaugraue Augen. Ethan war eindeutig heller, denn seine Haare waren dunkelblond und er hatte klare blaue Augen. Zwar war Ethan kleiner als Avery, aber sicherlich besuchte er das Fitnessstudio genauso oft.     

Und die anderen drei Mädchen aus meiner Gruppe klebten immer zusammen wie Kletten. Ich habe sie noch nie alleine gesehen. Aber wenigstens sind sie alle, anders als bei Avery und Ethan, von Grund auf unterschiedlich.       

Ich habe das Gefühl, dass die beiden Jungs und die drei Mädchen nur mit sich beschäftigt waren, während das neue Mädchen Chloe und ich nur Löcher in die Luft starrten. Sollte das hier nicht eigentlich eine Gruppenarbeit sein? Verzweifelt versuchte ich, auf mich aufmerksam zu machen: »Hallo? Sollten wir uns nicht langsam mal ein Projekt überlegen?«     

Die beiden Gruppen hielten für einen kurzen Moment inne, dann fing Avery aber an zu lachen. »Du hast hier gar nichts zu melden, Fotoboy«, sagte er spöttisch und stieß gegen meine Kamera, die um meinen Hals baumelte. »Ich bin der Anführer unserer Gruppe.«     

»Sagt wer?«, fragte das Mädchen namens Emily. »Hallo? Ich bin immer der Anführer – in allem. Man hat mich nicht umsonst zum Kapitän unserer Basketballmannschaft gewählt. Und darum sage ich jetzt: Dieses Projekt muss echt gut werden. Es macht zweidrittel unserer Gesamtnote aus. Wenn ich eine gute Note in Sozialkunde habe, falle ich vielleicht nicht durch. Meine Noten in Englisch sind dieses Jahr echt nicht die besten… und naja, Mathe könnte auch besser sein.«     

»Na dann hör doch auf den Fotoboy und lass uns endlich mit diesem Projekt anfangen«, sagte Emily sauer. Ich ahnte schon, dass jetzt der nächste ach-so-coole Spruch kommen würde, doch dieses Mal schien er die Situation zu bewältigen, indem er einfach aufstand und wegging – ganz klasse.     

»Den brauchen wir nicht. Wir sagen Mrs. Backer einfach, dass er nicht mitgearbeitet hat und bekommt dann eine schlechte Note verpasst – Zack, durchgefallen! So einfach geht das«, meinte Jane. Ethan schien Avery jetzt etwas verunsichert hinterher zu gucken. Anscheinend wusste er nicht, ob er bleiben oder Avery nachlaufen sollte. Aber am Ende entschied er sich doch für die gute Note und blieb.     

Tief in meinem Herzen glaubte ich, dass Ethan eigentlich ein ganz netter Junge war. Er wollte nur so unbedingt beliebt sein, dass er sich beliebte Idioten wie Avery zum falschen Vorbild machte. Vielleicht waren Ethan und ich ja doch gar nicht so verschieden, wie es auf den ersten Blick aussah.     

»Na schön. Hat irgendwer eine gute Idee für unser Projekt?«, fragte Bella. »Ich habe nämlich keine Lust mich freiwillig beim Altenheim anzumelden. Das macht so gut wie jede Gruppe und ist total langweilig.« »Wir könnten Geld für ein Tierheim spenden«, schlug ich vor. »Ich weiß, dass wir dann vielleicht nicht allzu viel bei der Präsentation zu sagen hätten. Aber ich könnte Fotos machen und wir zeigen dann, wie die Tiere dort leben und was unser Geld alles bewirken könnte.«     

»Eigentlich gar keine so schlechte Idee«, meinte Jane, doch das neue Mädchen Chloe grinste nur amüsiert. »Ihr seid echt unglaublich. Von allen Sachen die wir machen könnten, es ist uns ja quasi vollkommen freigestellt, wollt ihr echt Geld spenden? Total langweilig und uncool.«´

»Ein Schulprojekt ist nun mal langweilig und uncool«, entgegnete ich.     

»Wir sollen etwas tun, was gut für die Welt ist und das kann vieles sein. Ich persönlich fände es cool, wenn wir Klamotten entwerfen und sie anschließend den Kindern aus Afrika zukommen lassen. Dann können auch die gut gekleidet sein«, sagte Chloe. Ethan sagte das, was ich dachte, schließlich laut: »Ach und das kannst du? Kleidung anfertigen? Ich jedenfalls nicht und ich finde bei einer Gruppenarbeit sollte sich jeder der Mitglieder einbringen können.«     

Ich nickte nur und spielte gelangweilt mit meiner Kamera, während ich überlegte, welches Projekt alle gut fänden würden. Plötzlich flog von hinten über meinen Kopf eine Zeitung und landete auf dem Tisch. Ich drehte mich um und sah, dass Avery zurückgekehrt war. »Ich habe eine Idee für unser Projekt. Lest einfach die Titelstory, wenn ihr sie nicht schon kennt. Man hört das ja inzwischen überall in den Nachrichten. Außer natürlich, ihr kommt von einen ganz anderen Stern. Dabei schaute er Chloe und mich besonders eindringlich an.      Zwar ahnte ich schon, worauf er hinaus wollte, las mir den Artikel aber trotzdem nochmal durch, da mir nicht klar war, wie das für unser Projekt von Bedeutung sein könnte.

Immer mehr Personen verschwinden

Schon seit letzter Woche verschwinden in Seattle immer mehr Personen von der Bildfläche, ohne dass man sie ausfindig machen konnte. Neuerdings wird jedoch bewusst, dass dies nicht nur in Seattle der Fall ist. Auf der ganzen Welt verteilt verschwinden Menschen. Eins ist klar: So kann das nicht weitergehen, denn irgendwo müssen die ganzen vermissten Menschen doch sein. Die Ermittlungen der Polizei laufen weiter – bisher jedoch ohne Erfolge.

»Was hat das jetzt mit unserem Projekt zu tun?«, fragte ich verdutzt. »Du kommst also wirklich von einem anderen Stern. Das ist das Thema überhaupt! Überleg doch mal, wenn wir diesen Fall aufdecken, haben wir ja wohl etwas Wunderbares getan – vielleicht sogar die Welt gerettet. Das wird dann bestimmt eine Eins plus mit Sternchen«, sagte Avery stolz.     

Jetzt lachte ich ihn genauso aus, wie er erst mich ausgelacht hatte. Auch wenn ich nicht ganz so selbstbewusst klang wie er. »So was können doch keine siebzehnjährigen Schüler übernehmen. Das ist eine Sache für die Polizei!« »Aber die versagt ja anscheinend. Ich finde, wir sollten es wenigstens versuchen«, meinte Avery.     

Jetzt mischte sich Chloe ein. »Und wenn wir scheitern, was passieren wird, was haben wir dann zur Vorstellung? Nichts. Wir könnten höchstens noch mit unserem Arbeitsklima punkten, aber das sieht auch nicht gerade glänzend aus. Das war’s dann wohl mit deinem Traum von der Eins.«     

»Aber manchmal zählt allein der Versuch. Wir könnten immerhin unsere Ermittlungen vorstellen – auch wenn sie erfolglos waren. Wenn Fotoboy will, kann er auch bei dieser Idee seine Fotos machen«, sagte Avery. »Aber das ist vollkommen verrückt. Mit aller Wahrscheinlichkeit haben wir es mit einer Entführung von Menschen zu tun. Das bedeutet kriminelle erwachsene Männer, gegen die wir niemals eine Chance hätten«, antwortete ich bestimmt.     

Zu meiner Überraschung ergriff Emily plötzlich für dieses Projekt Partei. »Aber die Menschen verschwinden überall auf der Welt. Wenn es eine kriminelle Gruppe wäre, würde es nur in Seattle passieren. Eigentlich finde ich Averys Idee gar nicht so schlecht. Wir können uns zumindest sicher sein, dass das keine andere Gruppe als Thema hat.«     

Jetzt starrten sie alle – bis auf Avery, der nur triumphierend und selbstbezogen grinste – verdutzt an, selbst ihre beiden besten Freundinnen. »Ist das dein Ernst, Em? Da ist ja selbst die Tierheim Idee besser«, sagte Jane. »Obwohl das bestimmt das spannendste Thema ist, was wir finden können«, überlegte nun auch Bella.      Jetzt schien Jane aus allen Wolken zu fallen. »Sag mal, wer seid ihr? Avery ist doch nur auf eine Eins versteift. Klar, das Projekt kann eine Eins werden, aber genauso gut auch eine Sechs. Mit dem Tierheim wären wir auf der sichereren Seite. Das kann vielleicht keine Eins werden, aber eine nette Zwei ist doch auch schön.«      »Aber eine Zwei reicht mir nicht, um zu bestehen«, maulte Avery. »Schön, uns anderen aber schon. Deshalb verstehe ich nicht, warum Emily und Bella für diese Idee sind«, sagte Jane irritiert.     

»Uns geht es nicht um die Note, Jane. Aber das Tierthema ist nun mal wirklich ziemlich langweilig. Und gerade weil es nicht um die Note geht, könnten wir uns eine Sechs erlauben. Hauptsache wir haben endlich mal wieder Spaß an einem Schulprojekt, oder?«, erklärte Bella für Jane.     

»Wir können ja abstimmen«, schlug ich vor. »Na schön, wer das coolere Projekt mit den verschwundenen Personen machen möchte, hebt die Hand«, sagte Avery – ganz der Anführer. Er, Emily und Bella hieben die Hand, Ethan zögerte noch kurz, hob sie dann aber auch hoch. Ich hatte das Gefühl, dass er eigentlich auch das Projekt mit dem Tierheim machen wollte, doch er konnte Avery natürlich nicht enttäuschen.     

»Vier zu drei – das bessere Projekt gewinnt halt«, sagte Avery mit arroganter Stimme. In was für eine Gruppe bin ich hier nur geraten? Ich sah es schon kommen: Wenn wir bei der Präsentation jeder über das Arbeitsklima reden sollten, fällt mir nur ein wie bescheuert jeder einzelne dieser Gruppe ist. Okay, die einzige Normale war vielleicht noch Jane. Wie kann man nur diese bescheuerte Idee in Betracht ziehen? Am liebsten hätte ich all das laut ausgesprochen, doch so schüchtern wie ich war, hielt ich meinen Mund und schwieg vor mich hin.

 

Kapitel 3

[Emily Tanner]

 

Um in unserem Projekt voran zukommen, durchwühlten wir jetzt alle Zeitungen der letzten Woche. Warum hatte ich diesem Projekt zugestimmt? Vielleicht weil es nicht langweilig war, aber in erster Linie, weil ich tatsächlich glaubte, dass wir eine Chance hatten. Die Polizei kam in diesem Fall nicht weiter. Die Polizisten waren zwar erwachsene erfahrene Leute, aber sie hatten nicht wie ich unglaubliche Fähigkeiten. Natürlich mochte das nichts heißen, doch trotzdem zog mich die Chance allein schon etwas an.     

Das Wichtigste war jetzt erstmal herauszufinden, wo die letzten Personen verschwanden. Wenn wir diese Orte ausfindig machen würden, kamen wir der Sache vielleicht etwas näher.     

Avery hatte sich eine Karte von Seattle geschnappt und kreuzte nun mit einem roten Stift überall die Orte an, wo Menschen verschwanden. »Letzten Dienstag verschwand eine Frau in der Gardenstreet 21«, bemerkte ich und Avery setzte das Kreuz bei der Gardenstreet, auch wenn er sich nicht sicher war, ob es die 21 war.      »Ich glaube das reicht schon. Seht euch das mal an. Wir müssen gar nicht jeden Ort einzeln abgrasen. Alle Kreuze sind in der Nähe voneinander. Sie umkreisen den Naturepark von Seattle. Da sollten wir wohl am ehesten nachschauen«, stellte Avery fest.     

Ethan kratzte sich am Kopf. »Findet ihr das nicht merkwürdig? Überall auf der Welt verschwinden Menschen. Aber hier in Seattle verschwinden alle am gleichen Ort.« »Natürlich ist das merkwürdig. Bestimmt ist die Polizei da auch schon drauf gekommen. Deshalb können wir auch nichts bewirken«, schnauzte Chloe, immer noch sauer, dass ihre Idee nicht genommen wurde.     

»Wir haben abgestimmt. Wir werden uns jetzt alle mit diesem Projekt beschäftigen. Wir gehen alle in den Naturepark – lass es gut sein«, meinte Bella. Denkst du wirklich, dass wir etwas bewirken könnten?, fragte Ashley. Ich hoffe es doch, antwortete ich. Und so etwas bewirken können, dass die anderen nichts von unseren Fähigkeiten erfahren, ergänzte Addison.     

»Dann treffen wir uns am besten Heute nach der Schule im Naturepark – pünktlich um halb drei«, schlug ich vor. »Das geht nicht. Da habe ich Basketballtraining«, sagte Avery. »Dann musst du das eben mal streichen, wenn du in der Schule nicht durchfallen willst«, fauchte ich.

Um halb drei war der Naturepark natürlich ziemlich gut besucht. Vielleicht war das für uns ein Vorteil, möglicherweise aber auch ein Nachteil. Ich sag es ja nicht gerne, Emily, aber wir müssen vereinzelnd versuchen, die Gedanken der Personen zu lesen. Vielleicht denkt ja hier jemand etwas auffälliges, was zu den verschwundenen Personen passen könnte, meinte Ashley. Du hast Recht, doch vereinzelnd wird hier nicht reichen. Dafür sind es zu viele – das wird Jahre dauern. Auch wenn es dann Kopfschmerzen gibt, doch wir haben keine Wahl: Wir müssen alle Gedanken mit einmal auf uns zukommen lassen, stellte ich trocken fest.      Als ich das tat, wäre ich fast zusammen gebrochen. In letzter Sekunde konnte ich mich noch halten. Zum Glück, sonst würde das bei den anderen sicher nur Fragen aufwerfen. Warum hast du den Hund vergessen… Ich hätte mir heute Morgen doch meine Zähne putzen sollen… Ich habe noch kein Geschenk besorgt… Was für ein schöner sonniger Tag im Park… Ich hätte Essen mitnehmen sollen… Wo sind denn nur die Kinder?     

All diese Gedanken, doch keiner der mich interessierte. Ich wollte schon die Gedanken ausblenden, doch dann hörte ich Addisons Stimme in meinem Kopf. Da hinten links am Baum höre ich Gedanken, aber sehe niemanden. Ist das nicht merkwürdig?     

Okay, ich konzentriere mich jetzt nur auf die Gedanken am Baum, gab ich an Addison und Ashley weiter. Es ist ziemlich witzig. Wir können machen was wir wollen und die Polizei hat keinen blassen Schimmer – kein Mensch hat das. Wie denn auch? Ihre menschlichen Augen können uns nicht wahrnehmen und auch unsere Stimme ist auf eine Ebene, die das menschliche Ohr nicht wahrnehmen kann. Wir können die Menschen verschleppen, ohne dass selbst die verschleppten Menschen nicht wissen, was mit ihnen passiert. Bald wird die Welt nur noch uns gehören. Ich schätze,…       

Und dann verschwanden die Gedanken schlagartig. Sie wurden nicht mal leiser, sondern verschwanden sofort. Denkt ihr das gleiche wie ich?, fragte ich Addison und Ashley. Dass Außerirdische unsere Erde besetzten wollen?, entgegnete Addison. Und sie keiner wahrnehmen oder aufhalten kann, weil die Menschen das nicht können? Außer uns, weil wir die Gedanken von diesen Kreaturen hören können, bemerkte Ashley.     

Ach du liebe Güte! Damit hatte ich echt nicht gerechnet. Auch wenn ich damit Recht hatte, dass wir mithilfe der Fähigkeiten vielleicht etwas dagegen unternehmen könnten. Aber das war immer noch ein Schulprojekt. Wir könnten es nicht bewältigen, wenn ich den anderen nicht von meinen Fähigkeiten erzählen würde.     

Nein, wir dürfen den anderen nicht von unseren Fähigkeiten erzählen, warnte mich Addison, als wüsste sie was ich dachte. Was ist wichtiger? Die Bewahrung unseres Geheimnisses oder die Rettung der Welt?, fragte ich, ohne dass ich eine Antwort verlangte. Emily hat Recht, Addison. Wir haben dich überstimmt. Wir werden es den anderen sagen, sagte Ashley unterstützend.     

Bei Jane und Bella hatte ich eher weniger Angst es zu sagen, denn die beiden kannte ich ja auch. Aber Blondie und die Jungs waren Fremde für mich, denen ich gleich das größte Geheimnis meines Lebens anvertrauen musste. Langsam bereute ich es, dass ich mich nicht für das Tierheim gemeldet habe. Ach quatsch, was denk ich da! Die Menschheit liegt in meinen Händen. Nur wir konnten sie retten.     

»Lasst uns alle mal nach mir nach Hause gehen. Da haben wir es ruhiger und meine Adoptivmutter ist gerade nicht Zuhause«, sagte ich. »Was? Aber wir haben doch noch gar nichts herausgefunden«, sagte Bella entgeistert. »Doch, das habe ich und das würde ich euch gerne erzählen. Aber dafür brauchen wir einen ruhigen Ort.«

Kapitel 4

[Isabella Ray]

 

Zwar bin ich schon tausende Male in Emilys Zimmer gewesen, aber irgendwie fühlte es sich doch komisch an, als wir mit all diesen Leuten hier rumlungerten. Während wir alle gespannt auf Emilys herausgefundene Ergebnis warteten, machte Tyler andauernd Fotos, was echt nervte. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass Em in dieser kurzen Zeit etwas Sinnvolles herausgefunden hatte. Aber sie war meine beste Freundin und ich hörte trotzdem aufmerksam hin.     

Emily schaute zunächst nur mich und Jane an. »Es tut mir echt leid, dass ich euch all die Jahre nie die Wahrheit gesagt habe, aber ich dachte es wäre besser so.« Verdutzt schauten wir Emily an, wobei ich mir immer noch nicht ganz schlüssig war, was das mit unserem Schulprojekt zutun haben sollte.     

Nervös fuhr Emily fort: »Als Baby wohnte ich in einem Heim, bevor mich meine Mutter adoptieren wollte. Babys, die in einem Heim leben, werden oft für wissenschaftliche Versuche verwendet. Das ist zwar hart, aber es ist so. Ich und zwei andere Babys wurden für diesen Versuch verwendet. Der Professor wollte die Gehirne der beiden anderen Mädchen auf meinen Stand anpassen.« Aufgeregt unterbrach Tyler Emily: »Das habe ich in der Zeitung gelesen. Unglaublich! Du bist also dieses Baby gewesen.«     

»Ja, aber dieser Versuch ist anders verlaufen als man dachte. In der Zeitung stand ja, dass die beiden anderen Babys dies nicht überlebt hatten. Das ist eigentlich nicht ganz richtig.« Wir starrten sie alle an, als würde sie versuchen uns zu erklären, dass es den Weihnachtsmann doch gibt.     

»Wie gesagt: Der Versuch ging deutlich schief. Aber anders als es alle denken. Ashley Summers und Addison Havering sind nicht einfach tot. Sie wurden bei diesem Versuch in meinem Körper reingeschleust.« Avery und Ethan fingen zu lachen an und auch Chloe schloss sich an. »Und wer von euch dreien redet jetzt gerade mit mir?«, fragte Avery belustigt.     

»Das ist nicht witzig! Ashley und Addison sind quasi in meinem Körper gefangen. Ich kann sie hören, aber sie können nicht eigenständig handeln.« Ich wusste zwar immer noch nicht, was ich davon halten sollte, aber ich versuchte auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. »Und was hat das jetzt mit den verschwundenen Menschen zu tun?«     

»Wir sind nicht nur alle in einem Körper gefangen. Dieser Versuch hat auch unsere Eigenschaften verstärkt. Wir sind jetzt schlauer, schneller und naja… das letzte wollt ihr wahrscheinlich nicht wissen.« »Doch! Ich finde, das bist du uns jetzt schuldig«, fauchte Jane beleidigt. »Naja, Jane. Für dich trifft das sowieso nicht zu. Bei dir geht es nicht, aber von den meisten anderen Leuten kann ich die Gedanken lesen.«     

»Was? Warum kannst du meine denn nicht lesen? Was ist mit den anderen hier?«, fragte Jane hektisch. »Ich weiß nicht, warum ich deine nicht lesen kann – aber freu dich einfach. Die Gedanken der anderen kann ich lesen. Bis jetzt bin ich nur dir begegnet, deren Gedanken ich nicht lesen kann.«     

Ethan zog die Luft an. »Oh mein Gott! Jetzt muss ich ja aufpassen was ich denke.« »Keine Angst, ich versuche die Gedanken um mich herum möglichst auszublenden«, murmelte Emily. »Puh, da bin ich aber erleichtert«, sagte Ethan. Avery rammte Ethan den Ellenbogen in die Seite. »Ach, komm hör auf. Du glaubst ihr das doch nicht etwa.«     

Emily warf Avery einen finsteren Blick zu. »Warum sollte ich lügen? Außerdem kann ich es beweisen.« Bevor irgendjemand reagieren konnte, war Emily auch schon verschwunden und tauchte am Ende des Raums wieder auf. »Deinen Gedanken zufolge, scheinst du mir jetzt zu glauben oder wie interpretiere ich Bor krass? Sorry, das mache ich eigentlich nicht, aber du hast mir keine Wahl gelassen.«     

»Heilige Scheiße!«, rief Chloe. »Das kannst du laut sagen. Aus diesem Grund wollte ich es eigentlich auch Niemanden, nicht mal meinen besten Freundinnen, erzählen. Doch jetzt muss ich es wohl oder übel, damit wir in unserem Projekt vorankommen. Im Naturepark habe ich die Gedanken von Jemandem gehört, den ich nicht sehen konnte. Ihre Gedanken erklärten mir warum. Das sind Außerirdische, die Menschen verschwinden lassen, um unsere Erde einzunehmen. Ich weiß, dass ihr mich jetzt für verrückt haltet. Aber die Polizei hat aus einem ganz einfachen Grund nichts herausgefunden: Weil Menschen diese Außerirdischen nicht mit ihren Augen wahrnehmen können und wir können sie auch nicht hören. Ich auch nicht. Ich konnte sie nur aufgrund ihrer Gedanken verstehen.« Ich wusste immer noch nicht, was ich von Emilys Gerede halten sollte. Klar, es hörte sich unglaublich verrückt an. Aber wenn das wirklich wahr war, war die gesamte Menschheit in großen Schwierigkeiten.     

Da die anderen nichts weiter taten, als Löcher in die Luft zu starren, ergriff ich das Wort: »Da ich deine unglaublichen Fähigkeiten ja selber miterlebt habe, werde ich dir mal in allem glauben. Ich meine, hey. Wir müssen unser Projekt beenden, eine gute Note einkassieren und die Menschheit retten.«     

Zu meiner Überraschung war Tyler der erste, der zustimmend nickte. Doch Emily schüttelte den Kopf. »Ich wollte euch damit nur klar machen, mit was wir es zu tun haben. Jetzt wo ihr es wisst, werden wir uns ein anderes Thema für unser Projekt suchen. Dieses hier ist einfach zu Wahnsinn.«     

Ich schaute sie entgeistert an. »Hast du sie noch alle? Jetzt ist es doch wohl erst recht klar, dass wir dieses Projekt durchziehen werden. Ich meine, die gesamte Menschheit könnte aussterben.« »Ich sage ja nicht, dass ich das an den Nagel hängen werde. Es ist nur etwas, was ich alleine bewältigen muss. Ich meine, ihr könnt doch sowieso nichts ausrichten.«     

Avery war aus seiner Trance erwacht und richtete sich nun auf. »Kommt nicht in Frage. Auch wenn wir vielleicht nicht viel tun können, etwas Unterstützung kann nie schaden. Außerdem finden wir keine bessere Idee für unser Projekt.« »Es könnte aber gefährlich werden«, versuchte Emily uns zu warnen.     

Nun schien auch Chloe die Sache ernst zu nehmen. »Na und? Scheiß drauf. Manchmal muss man in seinem Leben Risiken eingehen, wenn es lebenswert und spannend sein soll.« Mit diesem Satz stand sie auf und kramte einen Zettel mit Stift hervor. »Was ist der Plan, Emily? Jetzt, wo wir wissen, dass du so schlau bist, wirst du doch sicher einen haben, oder?«     

»In der Tat, ich habe natürlich einen Plan. Die meisten dieser Außerirdischen befinden sich noch auf ihrem Heimatplaneten, denn sie haben noch etwas Zeit, bis dieser nicht mehr ist. Als ich diesen Außerirdischen begegnet bin, wurde mir sofort klar, mit wem ich es zu tun habe. Sie nennen sich Vodmus und kommen vom Planeten Denatri. Wir müssen zu diesem Planeten fliegen und ihn zerstören.«     

Alle in diesem Raum fingen zu lachen an. Jane hatte sich als erste wieder gefangen. »Schätzchen, ich weiß, dass der technische Fortschritt inzwischen enorm ist. Ich bin mir auch sicher, dass du eine Rakete bauen kannst und zu Denatri fliegen wirst – alles möglich. Obwohl Menschen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert darüber gelacht hätten. Aber die Technologie scheint nun mal ungebremst. Aber trotzdem – du kannst doch keinen ganzen Planeten zerstören.« »Das klingt echt unmöglich, aber das ist es nicht. Auf Denatri gibt es ein anderes Gas, keine Luft. Und dieses Gas reagiert hoch explosiv auf ein komisches Kraut, das es auf dem Planeten Krenzu gibt«, sagte Emily leichtweg, als wäre es so logisch wie das kleine Einmaleins.     

»Also du fällst in der Schule wohl nicht durch«, sagte Avery, vielleicht etwas eifersüchtig. »Und lernen brauchst du wahrscheinlich auch nie.« Emily grinste breit und wollte gerade zu Wort ansetzten, doch Ethan kam ihr zuvor. »Leihen wir uns eine Rakete? Ne oder? Die sind ja erst ab achtzehn erlaubt.«     

»Ich kann uns eine bauen, die sogar noch besser und schneller ist. Ihr könnt auf meine Anweisungen hin sogar helfen«, sagte Emily. Doch Tyler bemerkte, wie ich, den Fehler. »Aber das können wir doch später nicht vorstellen. Das ist illegal, weil wir erst in einem Jahr achtzehn werden.«     

»Mach dir nicht ins Hemd, Fotoboy. Dann fällt der Teil eben raus. Du kannst schon noch genug andere Fotos machen. Lass einfach die Rakete aus dem Bild«, sagte Avery. Jane bemerkte, dass unser Plan noch Lücken hatte. »Aber wenn der Planet verstört ist, gibt es immer noch ein paar die hier sind.«     

Emily atmete langsam aus. »Ich weiß. Ich habe noch nicht für alles einen Plan. Die müssen wir dann auf der Erde einzeln bekämpfen. Außerdem müssen wir noch herausfinden, wo sie die ganzen Menschen verstecken. Dann haben wir noch den Punkt Eltern. Wir können ihnen ja sagen, dass wir wegen einem Schulprojekt zum Mond fliegen – nur eben nicht, dass es ohne Erwachsene stattfindet und illegal.«     

»Leider habe ich größere Probleme als ihr anderen. Ich muss noch in die Nachprüfungen und wie habe ich dann Zeit zum Lernen, wenn ich die Welt retten muss?«, warf Avery wütend ein. »Das kriegen wir schon hin. Ich kann dich unterrichten. Ich meine, ich bin ja sogar schlauer als die Lehrer an unserer Schule«, sagte Emily.      Verwirrt beobachtete ich, wie Chloe die ganze Zeit etwas auf das Blatt Papier niederkritzelte. »Was schreibst du da, Chloe«, wollte ich wissen. »Ich erstelle einen Plan für den morgigen Plan.« »Hey! Du kannst das nicht einfach ohne unsere Zustimmung entscheiden«, fauchte Jane Chloe an.     

»Doch, weil ich die besten Pläne mache. Also folgendes: Emily arbeitet mit Ethan an der Rakete. Avery und ich werden die Raumanzüge designen. Jane und Isabella machen den Einkauf, das heißt Proviant, aber auch lebenswichtiges – wie eine Sauerstoffflasche. Was Ethan macht ist ja wohl klar, oder? Ich sage nur Fotos.«      »Das kommt nicht in Frage. Ich mache doch nicht den ganzen Tag nur Fotos von euch, wenn ich nicht mal die Rakete fotografieren darf«, schnauzte Tyler. »Und ich werde sicher nicht mit dir Raumanzüge entwerfen. Ich arbeite mit Ethan, der ist der einzige normale hier«, fuhr Avery Chloe an.     

Emily hob die Hand. »Stopp! Ethan und ich müssen auch erstmal einkaufen, bevor wir mit bauen anfangen können. Tyler wird nicht die ganze Zeit nur Fotos machen. Wenn er damit fertig ist, hilft er Ethan und mir. Der Rest des Planes ist gar nicht mal so schlecht. Avery, du musst auch mal mit anderen Leuten arbeiten. Das wird uns sicher eine bessere Endnote einbringen.«     

Avery bedachte sie mit einem finsteren Blick, wollte etwas sagen, entschied sich jedoch dazu es nicht zu tun. Ich ahnte schon, was er hätte sagen wollen. Jane und ich dürfen zusammen arbeiten. Wahrscheinlich wusste er nicht, dass Jane und ich zwar Freunde waren, aber eigentlich nur, weil Emily unsere Freundin war. Ich hatte schon so oft alleine Zeit mit Emily verbracht, doch noch nie war ich mit Jane alleine gewesen. Vielleicht war Chloes Plan ja doch nicht so schlecht durchdacht. Jane und ich mussten uns mal untereinander besser kennenlernen. So wie die anderen auch, die sich noch nicht so gut kannten. Obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass Chloe die Gruppen nur so eingeteilt hatte, weil sie mit Avery zusammen arbeiten wollte. Er war nun mal ein Frauenschwarm, genau richtig für Leute wie Chloe, die nur Wert auf das Aussehen legten. Meiner Meinung nach war er viel zu eingebildet und oberflächig.     

»War’s das denn für heute?«, fragte ich, weil meine Schwester mit dicker Erkältung zu Hause saß und sie sicher etwas Gesellschaft gebrauchen könnte. Emily nickte, so wie auch Avery und Chloe, die immer noch verzweifelt versuchten, eine Führungsperson in dieser Gruppe darzustellen. Aber uns anderen war schon lange klar geworden, dass dieser Job an Emily ging, aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten.

Kapitel 5

 [Ethan Bradley]

 

Die Schulpause zog sich in die Länge, denn ich hatte momentan wichtigere Gedanken als Schule – zum Beispiel die Welt zu retten. Zum Glück waren bald Ferien, die Zeit, wo wir hauptsächlich an unserem Projekt arbeiten mussten. Dann würden wir auch der Erde Lebewohl sagen und zum Planeten Denatri fliegen.      »Was Emily wohl machen würde, wenn ich ihr Geheimnis herumerzählen würde?«, dachte Avery laut. Ich boxte ihn in die Seite. »Hör auf. Das darfst du nicht.« »Das weiß ich doch. Aber sie glaubt, dass sie der Boss wäre, nur weil sie besondere Kräfte hat. Vielleicht würde ihr eine kleine Erpressung mal gut tun.«     

Normalerweise wiedersprach ich Avery nur selten, doch hierbei musste ich es einfach. »Sie hat zwei andere Menschen in ihrem Kopf, Avery. Sie wird nie allein sein in ihrem Leben und keine Privatsphäre haben. Du solltest etwas mehr Mitleid haben.«     

Darauf erwiderte er nichts und kaute nur weiter an seinem Brötchen herum. Inzwischen kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass das bedeutete, dass er seinen Fehler einsah. Klar, Avery hatte einen Haufen Freunde. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihn Niemand so gut wie ich kannte. Ich musste zugeben, dass ich anfangs nur mit ihm befreundet sein wollte, um beliebter zu werden. Aber später wurde mir klar, dass er nur selbstbezogen wirkte, um den Druck stand zu halten.     

Sein Vater ist ein echter Tyrann, der Avery zum Basketballchampion machen will, damit er ein Stipendium bekommt. Er weiß nur zu gut, dass Avery mit schulischen Leistungen weniger glänzt, deshalb soll er das durch den Basketball wieder gerade biegen. Ich vermutete, dass er seinem Vater immer noch nicht erzählt hatte, dass er das Training hinschmeißen würde.

Im Raketenstore kauften normalerweise nur erwachsene Wissenschaftler oder ähnliche Leute ein. Deshalb wurden Emily und ich dort ganz schön groß angeguckt, weil wir dort einkauften. Aber das war ja nicht illegal. Nur das Fahren der Rakete wäre illegal, aber das musste das ja nicht zwangsläufig bedeuten.     

»Wie sind sie eigentlich so?«, wollte ich von Emily wissen, doch diese hatte keine Ahnung was ich meinte. »Ashley und Addison – in deinem Kopf.« Emily musste lachen. »Wow, du bist offiziell der erste, der mich das fragt. Sie sind echt nett, aber auch ziemlich verschieden.«     

Verlegen starrte ich nach unten, doch Emily hatte das wohl anders gemeint als ich vermutete. »Das ist doch gut, dass du mich das fragst. Du erkundigst dich nach dem Empfinden anderer. Es ist nur so witzig, weil ich das von dir nicht erwartet hätte. Avery und du wirkt nun mal nach außen ziemlich selbstbezogen.« Eine kurze Pause entstand, bevor sie weiter sprach. »Warum versucht du denn krampfhaft so wie Avery zu sein? Nur um beliebter zu werden? Beliebt sein wird doch überbewertet. Ich finde man sollte lieber unbeliebt sein, dafür aber zu sich selbst stehen.«     

»Du kennst mich nicht gut genug, um zu urteilen wie ich wirklich bin«, fuhr ich sie an. »Stimmt. Ich weiß nicht, wie du bist. Aber eins konnte ich in dieser kurzen Zeit merken: Du bist ganz sicher nicht der zweite Avery«, stellte Emily klar.    

»Mag sein, aber er ist trotzdem mein bester Freund. Hast du es schon mal so gesehen, dass du vielleicht gar nicht besser bist als er? Du beurteilst die Leute danach, wie sie nach außen wirken. Nehmen wir doch mal Bella als Beispiel. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ihr früher überhaupt nicht miteinander gesprochen habt. Bestimmt erst als du ihr Tattoo auf der Schulter bemerkt hast. Da dachtest du: Oh, vielleicht ist das Mädchen ja doch interessanter als ich dachte. Wäret ihr befreundet, wenn dieses Tattoo da nicht wäre?«     

Jetzt schien Emily wütend zu werden. »Natürlich wären wir das. Ich habe vorher bloß nicht mit ihr geredet, weil ich sie nicht kannte. Irgendwann hätten wir sicherlich miteinander ein Gespräch aufgebaut und ich hätte auch ohne das Tattoo bemerkt, dass sie eine wunderbare Person ist. Mit dir und Avery habe ich, anders als bei Bella damals, aber schon geredet. Und durch dieses Gespräch habe ich schon einiges über euch erfahren. Außerdem solltest du nicht vergessen, dass ich Gedanken lesen kann.« »Aber du liest unsere Gedanken nicht rund um die Uhr. Man muss länger zusammen sein, um eine Person richtig kennenzulernen«, behauptete ich. »Das habe ich ja auch nicht bezweifelt. Deshalb verbringen ja heute auch wir beide Zeit zusammen und nicht Avery und du. Und durch diese Zeit konnte ich auch feststellen, dass du anders bist, als du dich nach außen zeigst. Was ist also dein Problem? Ich bin eigentlich genau das Gegenteil von dem, was du mir vorgeworfen hast.«     

Und das war der Moment, wo mir klar wurde, dass ich es einfach auf sich beruhen lassen sollte. Deshalb ging ich auch nicht weiter auf dieses Thema ein und sagte stattdessen: »Lass uns bezahlen.«

Anfangen zu bauen, taten wir in einem verlassen Wald ganz in der Nähe von Emilys Zuhause. Es würde zwar noch eine ganze Weile dauern, bis man eine Rakete erkennen konnte, aber wir wollten auf Nummer sicher gehen.     

Schon bald kam Tyler mit seiner Kamera dazu. Mich wunderte es, dass er uns durch die Linse überhaupt erkennen konnte, da ihm seine braunen Haare ständig im Gesicht hingen. Ob er sich den Haarschnitt beim Frisör nicht leisten konnte oder fand er es einfach besser, wenn man seine Augen nicht erkennen konnte?     

Tyler beteiligte sich meistens nur in ein Gespräch, wenn es auch wirklich um das Projekt ging. Mit Smalltalk konnte er anscheinend nicht viel anfangen. Vielleicht war das auch gar nicht so schlecht, denn dank Tyler kamen wir richtig voran, da er, so wie es aussah, eine Arbeiterbiene zu sein schien. Er legte nur selten Pausen ein.     

Als der Tag sich dem Ende neigte, konnte unsere Gruppe dann schließlich mit Stolz sagen, dass sie an diesem Tag wirklich etwas geschafft haben. Avery und Chloe waren auch schneller als ich erwartet hatte, jedoch sicherlich nicht so schnell wie wir. Janes und Isabellas Einkauf war auch erledigt. Sie hatten echt viel besorgt und mussten sicherlich mehr als einmal los, da sie das alles niemals alles auf einmal transportiert bekommen hätten.     

Wenn die restlichen Tage bis zu den Ferien genauso ablaufen würden, könnten wir sicherlich schon gleich zu Beginn der Ferien ins Weltall fliegen.

Kapitel 6

 [Avery Neverson]

 

Die letzten Tage bis zu den Ferien konnten gar nicht schnell genug vergehen. Nicht nur, weil ich endlich diese dumme Nachprüfung hinter mir haben wollte. In den Ferien würden wir dann endlich ins Weltall fliegen – und mal ehrlich, wer freut sich darüber bitte nicht? Die Klausur in Geschichte hatte ich heute endlich hinter mir gelassen. Eigentlich war mein Gefühl gar nicht so schlecht gewesen, aber das dachte ich in der vorherigen Prüfung auch. Trotzdem bekam ich den Zettel mit einem dicken fetten F wieder in die Hand gedrückt. Ob die Lehrer mich einfach nicht leiden konnten? Mein Vater ist ja der festen Überzeugung, dass ich einfach zu dumm für die Schule bin.     

Aber die schlimmste Prüfung stand ja erst für Dienstag auf dem Plan: Mathematik. Wie sollte ich bitte irgendwelche Kurven diskutieren können, wenn ich unzählige Lücken in den Grundrechenarten hatte? Emily war ja der festen Überzeugung, dass ich die nicht brauchte, um die Klausur zu bestehen. Dabei sollte es doch so einfach sein, wenn wir sogar einen Taschenrechner benutzen durften. Aber wenn ich nicht mal wusste, was die von mir verlangten, wie sollte ich dann den Taschenrechner bedienen können? Emily schien schon am Verzweifeln zu sein. »Man kann noch so schlau sein. Wahrscheinlich sollte man unterrichten können. Das ist nun mal nicht meine Stärke. Vielleicht solltest du dir doch einen richtigen Nachhilfelehrer suchen, auch wenn das bedeutet, dass du dann nicht weiter am Projekt weiterarbeiten kannst. Schule geht da nun mal vor.«     

Ich schaute sie verwirrt an. »Aber das Projekt ist doch auch für die Schule.« »Aber doch nur für Sozialkunde. Ein Fach, welches du nicht mal zwingend belegen musst. Mathe ist da wirklich wichtiger«, meinte Emily.     

Hecktisch schüttelte ich mit dem Kopf. »Aber du kannst doch wirklich gut unterrichten. Ich bin nur ein schlechter Schüler. Bei den anderen Lehrern habe ich noch weniger verstanden. Dank dir weiß ich jetzt zumindest, dass der Strich neben dem f kein Tintenfleck ist, sondern da wirklich hingehört, um die Ableitungsfunktion darstellen zu können.«     

»Aber Avery, das solltest du alles schon längst wissen. Das sind alles Grundlagen! Wie willst du Integralrechnung bestehen, wenn du nicht mal ableiten kannst«, sagte Emily und schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Inte… was?«, fragte ich verwirrt. »Nicht dein Ernst. Integralrechnung! Das ist doch dein Schwerpunkt in der Prüfung. Das Hauptthema!« Und damit schlug sie genervt das Mathebuch zu. »Wenn du mir nicht mal das Thema nennen kannst, wird mir klar, dass du nicht mal versucht hast es zu verstehen.«     

Ich versuchte nicht zu lachen, da sie dann wahrscheinlich noch wütender wurde, aber ich konnte nicht anders. »Wundert dich das etwa? Was soll ich Kurven diskutieren? Wie schön die geschwungen sind, oder was? Man diskutiert über seine Mitspieler im Basketball, wenn die es einfach nicht geschissen bekommen, aber doch nicht über Kurven. Mein Vater hatte Recht: Ich muss mich auf das konzentrieren was ich kann – Basketball. Wenn ich gut genug bin, wollen sie mich vielleicht trotzdem für ein Stipendium. Aber… da ich das Team verlassen habe, werde ich wohl auf der Straße landen.«     

Emily stand auf und lief den Raum auf und ab. »Das ist doch totaler Blödsinn. Dein Vater hat dir eingeredet, dass du Basketball spielen kannst. Deshalb findest du es auch interessant. Du solltest dich von ihm lösen und daran glauben, dass du auch andere Schulfächer kannst – dass auch das interessant ist, sowie Basketball spielen.«     

Genervt schlug ich das Mathebuch wieder auf, das Emily geschlossen hatte. »Die Prüfung ist am Dienstag. Selbst wenn ich mich jetzt für Mathe begeistern könnte…« Schnell durchblätterte ich das 300-Seitenbuch. »… Ich muss jede Seite nochmal lesen. Das werde ich nie schaffen.«     

»Es wird nicht einfach werden. Aber es ist nicht unmöglich. Wenn du etwas für unmöglich erklären willst, dann unser soziales Projekt. Wir können die Welt doch nicht alleine vor unsichtbare Außerirdische retten.« Ich lachte. »Doch, weil du Superkräfte hast. Ich aber nicht.«     

Jetzt kam Emily endlich wieder an den Tisch, anstatt weiter durch den Raum zu marschieren. »Tja, dann werden wir dir jetzt mal Superkräfte machen. Und zwar ist das jetzt keine Kurvendiskussion mehr. Diese Linie, die du da siehst, ist der Weg, den dein Ball beim Basketball zurücklegt.« Zum ersten Mal schaute ich mir diese Linie genauer an. »So hätte ich den Ball aber nie im Leben geworfen. So würde er nicht weit genug fliegen.«      »Du vielleicht nicht, aber wir diskutieren hier über deine doofen Mitspieler. Berechnen wir jetzt den gesamten Weg des Balls, damit wir kontrollieren können, ob deine Mitspieler den Ball beim nächsten Mal weiter geworfen haben.« Ich wusste nicht wie Emily es anstellte, aber das war das erste Mal, dass ich wirklich gespannt war, was wohl das Ergebnis der Aufgabe sein würde. Zwar wusste ich noch nicht wie ich vorgehen sollte, aber dieses Mal wollte ich unbedingt, dass Emily mir zeigte, wie ich es schaffen könnte.     

Eigentlich wollte Emily mir nur zwei Stunden Nachhilfe geben, doch es dauerte irgendwie den ganzen Tag. Als ich dann endlich glaubte verstanden zu haben, wie ich diese eine Aufgabe lösen könnte, machte ich mich mit Begeisterung an die Arbeit. Als am Ende tatsächlich ein Ergebnis auf meinem Papier stand, rief ich mit Begeisterung: »Das Integral beträgt 231, nicht wahr?« Man liebsten hätte ich Freudensprünge gemacht, als ich Emilys begeisterte Miene sah. Meine erste richtige Lösung! Doch dann passten ihre Worte einfach nicht zu ihrem strahlenden Gesicht. »Nein, das ist leider nicht ganz richtig. Bei der Bildung des Integrals hast du einen Fehler gemacht.«     

Ich schaute sie wütend an. »Und warum lachst du dann? Lachst du mich aus?« »Quatsch. Ich freue mich, weil du eine Aufgabe endlich mal fertig gerechnet hast. Außerdem war dein Ansatz richtig und das ist erstmal das Wichtigste.« Überrascht stellte ich fest, dass mir das aber überhaupt nicht genügte. Ich wollte diese Aufgabe heute noch lösen – bis auf dem Zettel das richtige Ergebnis stand. Vielleicht brauchte ich das einfach, um es meinem Vater zu zeigen. Aber ein Stück weit, wollte ich es für mich selbst.     

Ich machte mich ein zweites Mal an die Aufgabe und rechnete sie durch. Als ich dann am späten Abend, nach gefühlten hundert Versuchen, endlich von Emily das langersehnte Wort richtig hörte, ließ ich erleichtert den Stift fallen und rief: »Endlich!«     

Glücklich und auch total erschöpft umarmte ich Emily und brüllte begeistert: »Danke, danke! Du hast mich vor meinem Untergang bewahrt.« Emily grinste. »Da darfst jetzt aber nicht nachlassen, denn für die Prüfung bist du noch lange nicht fit. Das ist eine ganz einfache Kurve gewesen, die normalerweise in Klausuren nie verwendet wird. Die werden noch viel komplizierter.«     

Ich konnte nicht leugnen, dass mir ihre Worte Angst machten, aber wenn ich an mich glaubte, würde ich das schon irgendwie hinbekommen. Schlimm war nur, dass wir unsere Ergebnisse erst zum Ende des Schuljahres gesagt bekamen. Bis dahin blieb ich ständig im Ungewissen.

Kapitel 7

 [Ashley Summers]

 

Der zweite Ferientag war nicht nur der Tag, an dem wir mit unserer Rakete in den Weltraum starten wollten. Es war auch der Geburtstag von Emily. Während es noch am Morgen ein ausgiebiges Frühstück mit Emilys Adoptiveltern gab, trafen wir uns schon am Nachmittag, um die Rakete startklar zu machen.     

Nach uns war Jane die erste, die unsere kleine abgelegene Stelle im Wald erreichte. Heute trug sie ein neonfarbiges Top mit schwarzem Minirock, was sich aber andauernd änderte. Gestern noch war sie eine graue Maus gewesen. Mit der rechten Hand zog sie einen roten Koffer, indem sie die wichtigsten Gegenstände verstaut hatte, die sie brauchte.     

Als sie uns erreicht hatte, stellte sie den Koffer ab und umarmte Emily. »Alles liebe zum Geburtstag, Em.« »Dankeschön, Jane«, entgegnete Emily.     

Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass nur Jane und Bella an ihren Geburtstag denken würden. Aber ich hatte mich in den anderen geirrt. Tatsächlich gratulierte ihr jeder, was anscheinend ein Zeichen dafür war, dass sie den sozialen Part dieses Projektes doch ernster nahmen. Zwar hatte ich mich eigentlich damit abgefunden, dass ich nicht eigenständig handeln konnte, zumindest mehr als Addison, aber mir hatten in meinem gesamten Leben nur zwei Leute zum Geburtstag gratuliert. Aus diesem Grund kann ich Addisons deprimierenden Zustand ziemlich gut nachvollziehen. Das ist sicherlich ganz normal, aber ich bin eben einfach anders. Ich verdränge die Probleme um mich herum und versuche in allem immer nur Positives zu sehen. Viele denken sicherlich, das sei eine beeindruckende Eigenschaft, aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich denke einfach manchmal, dass ich mich meinen Problemen stellen sollte.     

Irgendwann ist es dann schließlich soweit und wir betreten alle nacheinander die Rakete. Bei der Abstimmung, wer die Rakete steuern sollte, stellte ich überraschend fest, dass alle für Emily waren – selbst Avery und Chloe. Aber das war ja eigentlich auch selbstverständlich, da Emily die einzige war, die wusste wie man nach Krenzu gelangte. Zwar lebten diese außerirdischen Vodmus auf Denatri, aber um den Planeten verstören zu können, brauchten wir ja das Gas von Krenzu.     

Die Fahrt würde sich sicherlich elendig lang hinziehen. Vielleicht wäre es nicht ganz so langweilig, wenn ich mich mit jemandem hier unterhalten könnte. Aber das ist ja nun mal nicht möglich. Doch dann kam mir plötzlich die Idee. Emily hatte ja schließlich allen hier erzählt, dass Addison und ich noch lebten. Emily? Kannst du mir einen Gefallen tun?     

Welchen denn?, fragte sie verdutzt. Mir ist langweilig und ich würde mich gerne mal mit jemandem anderen als euch unterhalten. Die wissen hier doch alle über uns Bescheid. Kannst du für mich vielleicht den Übersetzter spielen? Emily brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was ich von ihr wollte.

Okay, und mit wem möchtest du dich gerne unterhalten?     

Das war eine gute Frage. Bella und Jane kannte ich inzwischen ja schon ziemlich gut, da Emily sich mit denen andauernd unterhielt. Da ich mir am ehesten vorstellen konnte, dass Tyler ein Gespräch mit jemanden in Betracht ziehen würde, den er gar nicht sehen konnte, entschied ich mich auch für ihn.     

Natürlich war er gerade dabei Fotos zu schießen, als Emily ihn auf die Schulter tippte. »Vielleicht klingt das jetzt blöd, aber würde es dir etwas ausmachen, dich mit Ashley zu unterhalten. Sie meckert die ganze Zeit rum, dass ihr so langweilig sei.«     

Er starrte Emily verdutzt an. »Hä? Geht das denn?« »Ne, aber ich kann dir ja sagen, was sie gesagt hat.« »Ashley? War das die Pessimistin oder die Optimistin?« »Die Optimistin«, entgegnete Emily. Tyler atmete erleichtert aus. »Puh, zum Glück.« Emily musste lachen, während Addison wütend Pah, was denkt der sich von sich gab.      »Ich finde es beeindruckend, dass sie anscheinend so glücklich ist, obwohl sie ja quasi kein eigenes Leben hat.« Sag ihm, dass ich vielleicht optimistisch bin, aber alles andere als glücklich.     

Nachdem Emily übersetzt hatte, antwortete er: »Es ist aber trotzdem beeindruckend.« Frag ihn, ob er noch andere Hobbys als fotografieren hat und warum er das so toll findet. »Naja, ich angele zum Beispiel auch gerne, aber am liebsten fotografiere ich. Zu meinem zehnten Geburtstag hat mir mein Vater meine erste Kamera geschenkt. Er sagte mir, dass es wichtig sei, die schönsten Momente im Leben in Erinnerung zu behalten, weil wir Menschen nun mal alles so schnell vergessen. Ich habe nie so richtig verstanden, was er damit meinte, aber seit zwei Jahren ist es mir klar. Mein Vater wusste, dass er das Alzheimergen in sich trägt. Wenn er mal wieder nicht weiß, dass ich sein Sohn bin, zeige ich ihm einfach die Bilder, die ich gemacht habe.«     

Mit solch einem tiefgründigen Grund hatte ich nicht gerechnet. Hast du dich auch auf das Gen testen lassen? Daraufhin schüttelte er langsam den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen will. Ich habe Angst, dann alles pessimistisch zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich so stark wie du sein kann. Ich genieße lieber mein jetziges Leben und halte mit meiner Kamera so viele schöne Momente wie möglich fest.«     

Dann sind wir uns wahrscheinlich gar nicht mal so verschieden. Auch er versucht die Krisen einfach zu verdrängen. Irgendwann in ferner Zukunft solltest du dich aber testen lassen. Daraufhin nickte Tyler nur langsam und senkte den Kopf. Durch Tyler wurde mir endlich klar, warum ich alles in meinem Leben so optimistisch wie möglich sah. Ich hatte Angst vor der Wahrheit.     

Ich redete mir meine Superkräfte, die ich dank dieses Versuchs besaß, immer wieder schön. Aber brauchte man wirklich Superkräfte, wenn man kein normales Leben führen konnte? Ich konnte niemals in meinem Leben heiraten, Kinder kriegen oder einfach einmal alleine sein und vor mich hin singen – keiner von uns dreien. Dabei wollte ich so gerne einmal wissen, wie sich meine Stimme anhörte.     

Plötzlich fühlte ich nur noch diese Leere, vor der ich mich immer so gefürchtet hatte – diese unendliche Traurigkeit. Da sich das aber gar nicht gut anfühlte, verdrängte ich es wieder, da ich das ja am besten konnte. Ich lebe noch und habe unglaubliche Fähigkeiten! Und Emily und Addison sind so tolle Menschen. Außerdem kann ich mich jetzt auch noch mit anderen Leuten unterhalten, wie zum Beispiel mit Tyler.     

Er soll das wieder vergessen. Es ist seine Entscheidung und manchmal ist es besser, wenn man nicht mit Problemen konfrontiert ist.     

Während der Reise unterhielt ich mich nicht nur mit Tyler, sondern überraschenderweise auch mit den anderen – selbst mit der Zicke, die doch gar nicht so zickig zu sein scheint, wie ich anfangs dachte. Ich hätte es zwar nicht gedacht, aber diese Reise schweißte uns alle ganz schön zusammen. Das erste Mal fühlte ich mich, als würde ich zu einer richtigen Familie dazugehören.     

Somit konnte ich es gar nicht glauben, als Chloe uns zurief: »Es wird Zeit die coolen Raumanzüge anzuziehen.« Mit einem Ruck landete unsere Rakete auf dem komischen faserigen Boden des Planeten Krenzu.

Kapitel 8

 [Chloe Bennett]

 

Als mich mein geldgeiler Vater aufgrund seines Jobs nach Seattle verschleppte, war ich alles andere als begeistert. In Washington an der Schule bin ich beliebt gewesen. Jeder mochte mich, weil ich die besten Partys gab. Der Pool im Garten des Penthauses war da immer ein Pluspunkt gewesen. Aber die Leute in Seattle würden mich nicht kennen und nicht wissen, dass ich reich bin und die besten Partys gab. Und leider wusste ich selber nur zu gut, dass meine inneren Werte nicht gerade die stärksten waren.     

Ich musste zugeben, dass ich deshalb lange sauer auf meinen Dad war. Doch als ich vor ein paar Wochen meine beste Freundin Rachel anrief, hat diese mich einfach weggedrückt. Rachel war die ganze Zeit nur wegen den Partys mit mir befreundet gewesen. Richtige Freunde sind wir nie gewesen.     

Auch wenn ich diese komischen sechs Personen in meiner Projektgruppe noch kaum kannte, fühlte ich mich mehr mit ihnen verbunden als ich es bei Rachel je hatte. Klar, die hielten mich alle für eine eingebildete Zicke, was ich im Prinzip ja auch war.     

Aber vielleicht tat es mir auch mal ganz gut, nicht mit den It-girls der Schule abzuhängen. Selbst Ashley und Addison, die ich ja nicht mal sehen konnte, waren irgendwie interessanter als meine Mädchenclique in Washington.     

Das erste Mal im Weltall würde ich sicher nicht so schnell vergessen. Auf Krenzu sah alles so anders aus als auf der Erde. Der faserige Boden klebte ständig an meinen Füßen fest. »Warum nimmst du jetzt nicht einfach dein Reagenzglas und fängst das Gas ein?«, wollte ich von Emily wissen, die daraufhin lachte.     

»Das Ganze ist etwas komplizierter – leider. Auf Krenzu gibt es mehrere Bereiche, die alle unterschiedliche Gase aufweisen. Das Gas, was wir suchen, ist etwas schwerer zu erreichen. Wir müssen dazu ein Stückchen gehen. Doch seid gewarnt: der Planet ist belebt. Und so wie auf der Erde auch, sind nicht alle Lebewesen ungefährlich.«     

Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht. Eigentlich wollte ich hier ja so schnell wie möglich wieder weg, aber irgendwie war es auch spannend einen anderen Planeten zu erkundigen.     

Bislang hatte sich ja auch noch nichts bewegt, jedenfalls nicht so, dass ich es bemerkte. Auf Krenzu war es heller als auf der Erde, jedoch nicht so hell, dass unsere Augen es nicht aushalten könnten.     

»Bedenkt bitte, dass das hier ein ganz anderer Planet ist. Hier gibt es Dinge, auf die wir nicht vorbereitet sind. Deshalb bitte ich euch eindringlich, direkt hinter mir zu bleiben und genau den Weg zu nehmen, den ich auch genommen habe«, empfiehl uns Emily. Hätte Emily nicht diese Fähigkeiten, ohne die wir alle aufgeschmissen wären, würde ich sie jetzt anschnauzen, dass sie mal einen Gang runter fahren und uns auch mal selber entscheiden sollte. Da dem aber nicht so war, hielt ich einfach meine Klappe und folgte ihr einfach.      Zwar hatten mich meine Eltern mal als kleines Kind auf die Venus mitgenommen, doch dies war nicht nur meine erste Reise ohne Erwachsene, sondern auch die erste, wo wir unser Sonnensystem verlassen hatten. Und hier war es definitiv anders, denn ich konnte nicht nur Steine wahrnehmen.     

Da war nicht nur dieses komische Zeug auf dem Boden. Rechts von mir türmte sich eine riesige ovale Säule auf, aus der rote Blasen empor stiegen. Die Säule schien zu wackeln, als wäre sie aus Gummi. Allerdings konnte ich das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.     

Langsam schien der Planet belebter, je weiter wir vorankamen. Obwohl das Leben, soweit ich das beurteilen konnte, nicht lebendig war. Sicher war ich mir allerdings nicht, da ich diese Gegenstände noch nie zuvor gesehen hatte. Manche Dinge konnte ich vielleicht mit Sachen auf der Erde vergleichen.     

Plötzlich stoppte Emily vor einem Gegenstand, den man vielleicht mit einem Zelt vergleichen könnte - allerdings um einiges größer und es hatte keine Breite. »Was ist los?«, fragte Ethan von hinten nach Emily durch. »Ich denke wir müssen hier durch«, berichtete Emily. »Du denkst wir müssen hier durch? Ich dachte, du wärest so schlau…«, sagte Avery ein bisschen nervös und das zu guter Recht. Wir hatten schließlich keinen Schimmer was mit uns passieren könnte, wenn wir da durchgehen würden.    

»Es tut mir leid. Ich meine, ich bin mir sicher wir müssen hier durch. Es könnte vielleicht etwas heiß beim Durchqueren werden, aber euch wird nichts passieren.«     

Eigentlich sollten uns diese Worte ja beruhigen, aber wie lange kannte ich Emily schon? Es war ja nicht so, dass ich ihr mit meinem Leben vertraute. Anscheinend war ich nicht die einzige, die so dachte. Lediglich ihre beiden kleinen Freunde schienen bereit dafür zu sein.     

»Ihr könnt auch hier warten«, schlug Emily vor. Diese Worte waren es, bei mir und auch bei den anderen, die die Sorgen vergessen ließen. »Quatsch. Das ist ein Schulprojekt bei dem wir alle mitwirken müssen«, meinte ich, während die anderen zustimmend nickten.     

Erst als Emily durch das dreieckige Ding trat, stellte ich fest, dass der Gegenstand eigentlich flüssig war. Und Emily verschwand einfach und war nicht mehr zu verkennen. Nach und nach gingen auch die anderen hindurch. Zum Schluss blieben nur noch Ethan und ich übrig.     

Als ich die flüssige Masse schon auf meiner Hand brennen spürte, hörte ich noch wie Ethan mir nachrief: »Viel Glück!« Doch antworten konnte ich ihm nicht mehr. Ich konnte mir nicht erklären, warum das Zeug bis auf meine Haut durchdrang, wenn ich doch einen Raumanzug trug. Eigentlich war ich mir im Nachhinein gar nicht mehr so sicher, ob es meine Haut überhaupt berührt hatte. Vielleicht brannte meine Haut nur so von dieser unerträglichen Hitze.     

Zum Glück dauerte dieser Zustand nur wenige Sekunden, bis ich die anderen auch schon wieder vor meinen Augen sah und kurz danach tauchte auch Ethan durch das Dreieck.

Der Bereich wo wir uns nun befanden, sah vollkommen anders aus – als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet. Vor uns befand sich etwas, das ich, wenn ich es nicht besser wüsste, für Kot angesehen hätte. Dahinter wiederrum war eine große Mauer, die jedoch wieder nicht ganz fest zu sein schien. Anders als bei dem Dreieck fiel es dieses Mal auch wirklich auf. Als ich genauer hinschaute, könnte es auch schon beinahe gasförmig sein.     

Emily bestätigte meine Gedanken: »Da hinten ist es! Wir haben es so gut wie geschafft.« Glücklich lief Emily auf die hellorange Mauer zu. Doch als sie ihre Füße auf diese kotähnliche Masse gesetzt hatte, stoppte sie. Wie sich herausstellte war es unbeabsichtigt. »Das habe ich ja total vergessen. Oh Gott, nein. Dieses Zeug, Leute. Berührt es ja nicht. Es wird euch verschlucken.«     

»Verschlucken? Aber was bedeutet das jetzt für dich?«, fragte Isabella entsetzt. »Sie hat doch Fähigkeiten. Du bist schnell. Kannst du nicht ganz schnell wieder von da weg?«, fragte Avery. Emily schluckte. »Nein, das geht nicht. Schnelligkeit hilft da nicht. Ich muss hier herausgezogen werden.«     

Jane hüpfte nervös von einem Bein auf das andere. »Kannst du meine Hand greifen?«, fragte sie und reichte Emily ihre Hand. Doch als diese die ergreifen wollte, war die Entfernung zu lang.     

Wenn wir es nicht schon hatten, kam spätestens jetzt bei allen die Panik. Tyler schluchzte: »Aber wir brauchen dich doch. Wie sollen wir ohne dich wieder nach Hause finden?« »Das klingt vielleicht blöd, aber ihr müsst jetzt ruhig bleiben. Angst hilft nicht wirklich weiter«, meinte Emily, die anscheinend noch ziemlich ruhig war, dafür dass sie gleich von Kot verschluckt werden würde.     

»Entschuldigung, aber wir sind nun mal nur normale Menschen, die in solchen Situationen nun mal normal reagieren«, rief Avery wütend. Auch wenn ich am liebsten so wie Avery ausgerastet wäre, versuchte ich Emilys Vorschlag zu befolgen. Hecktisch schaute ich mich hier ein wenig genauer um. Hinter uns und dem Dreieck war noch mehr.     

Ich erblickte wieder diese ovale Säule, die von langen grasartigen Schlangen umgeben war. Das könnte gehen! Ohne länger nachzudenken lief ich zu der Säule und versuchte die Schlange aus der Erde zu reißen, in der Hoffnung, dass das auch wirklich ein Gegenstand war. Es fühlte sich komisch und glibberig an meinen Händen an, aber zumindest konnte ich es von dem Boden lösen.     

»Chloe, was zum Teufel…«, fluchte Avery, doch verstummte als er sah, was ich damit vorhatte. Emily schaute mich mit großen Augen an. »Chloe warum nur…?«, fragte sie mich verzweifelt, obwohl sie erkannte, dass ich sie damit herausziehen wollte.     

»Halt dich doch einfach fest, oder was stimmt nicht?«, fragte ich sie. Emily ergriff die Liane, die anscheinend auch ziemlich stabil zu sein schien, denn der Kot löste sich von Emilys Beinen und befreite sie.     

Als sie wieder bei uns stand und alle mir erleichtert um die Arme fielen, hatte sich Emilys Gesichtsausdruck nicht verändert. »Was ist denn los?«, fragte ich sie. »Du hättest deine Aktion überdenken sollen. Das ist ein anderer Planet und du kennst die Dinge nicht, die du berührst. Du hättest sterben können.«     

Ich grinste kurz, weil sich noch nie jemand solche Sorgen um mich gemacht hatte. »Ja, aber es ist doch nichts passiert. Hätte ich nichts gemacht, wären wir bald alle tot.« »Aber du hättest noch genug Zeit gehabt, das kurz mit mir zu besprechen. Ich hätte dir sagen können, was passieren wird, und was ihr am besten hättet nehmen können.«     

Jane schaute Emily jetzt skeptisch an. »Wieso? Ist denn etwas passiert?« »Wohl kaum. Sonst hätte Emily nicht nach der Liane gegriffen«, meinte ich. »Meine Entscheidung war richtig.« »Ja, das war vielleicht unsere beste Option, doch das heißt nicht, dass nichts passiert ist. Schau dir deine Hand an, Chloe«, bat mich Emily.      Auf meiner Hand befand sich noch der grüne Schleim, den die Liane abgegeben hatte. Angewidert versuchte ich den Schleim von meiner rechten Hand zu wischen – ohne Erfolg. »Das meine ich. Das wird nie wieder abgehen«, sagte Emily. »Dieses Zeugs war zwar unsere beste Option gewesen – wie gesagt. Aber hättest du das vorher gewusst, wäre es besser gewesen, ein anderer hätte das gemacht. Ich meine… Tyler vielleicht? Jemand der eben weniger Wert auf sein Aussehen legt.«     

Ich wusste nicht, ob ich auf diese Bemerkung wütend sein sollte, denn im Prinzip hatte Emily Recht. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens mit grünem Schleim rumlaufen. So würde ich doch nie einen Freund finden. Andere in dieser Gruppe würden das auch ohne Schleim nicht. »Ich habe überstürzt gehandelt – ich weiß. Genau wie du übrigens. Du bist einfach in diesen Mist hinein gerannt und das obwohl du wusstest, was dann mit dir passieren würde. Wir haben beide Fehler gemacht und müssen jetzt beide mit den Folgen leben, immerhin hast du den Schleim jetzt auch an den Händen.«     

Eine ganze Zeit starrte sie mich einfach nur an und sagte dann irgendwann schließlich. »Ein dreifaches Dankeschön.« Ich brauchte eine Weile, bis mir klar wurde, dass ich ja nicht nur Emily, sondern auch Ashley und Addison gerettet habe. Ich hatte zwar schon mit ihnen geredet, aber es kam mir einfach komisch vor, weil ich immer das Gefühl hatte, ich würde trotzdem mit Emily reden. Wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass ich wirklich nur von außen wahrnahm. Würde Emily für mich wohl je mehr als nur eine Person werden? Ich konnte es mir kaum vorstellen, auch wenn ich es gerne wollte. Ich wollte Ashley und Addison kennenlernen. Aber ich konnte nicht, weil ich nun mal so erzogen wurde. Vor mir stand nun mal Emily – und nicht Ashley oder Addison.      »Wartet hier«, befahl uns Emily, wobei der Befehl wahrscheinlich nicht ganz erst war, immerhin war keiner von uns Lebensmüde und wollte in Kot versinken.     

Mit einem Satz sprang Emily gute fünfzig Meter weit zur orangen Mauer rüber – in eins durch selbstverständlich. Für Emily, dank ihrer Superkräfte, überhaupt kein Problem. Ich konnte sie erst wieder erkennen, als sie mit dem Reagenzglas, gefüllt mit orangem Gas, zu uns zurück gesprungen kam.

Kapitel 9

 [Emily Tanner]

 

Unseren ersten Zwischenstopp auf Krenzu hatten wir hinter uns gelassen, wenn auch nicht ganz ohne Probleme. Aber die Hauptsache war doch, dass wir endlich wieder unversehrt in unserer Rakete saßen. Vor uns lag unser Ziel Denatri, das nicht mehr ganz so weit entfernt war wie die Reise zum Planeten Krenzu.     

»Wie lange wird es dauern, bis der Planet Denatri in die Luft gesprengt wird?«, wollte Tyler wissen. »Ich meine, wir benötigen doch etwas Zeit, um selber von dort weg zu kommen.« »Ich denke, dass wir dafür genug Zeit haben. Die Reaktion erfolgt nach einigen Minuten. Wenn ihr solange in der Rakete bleibt, wird das Ganze noch schneller möglich sein und in Nullkommanichts sind wir da wieder weg«, beruhigte ich die anderen.      Ich denke nicht, dass mir die Idee gefällt, einen ganzen Planeten in die Luft zu sprengen. Macht uns das nicht eigentlich zu Massenmördern?, kam Ashley plötzlich in den Sinn. Was denkst du, werden diese Vodmus sonst mit uns machen? Glaube mir, wir sind hier die Guten, erklärte ich Ashley, obwohl ich mich dabei selbstverständlich selber nicht ganz wohl fühlte, aber uns blieb nun mal keine andere Wahl.     

Langsam konnte man den Planeten von weitem wahrnehmen. Ein Planet, der ziemlich leer und unbewohnt ausschaute. Doch wahrscheinlich wimmelte es dort nur so von Leben, was unsere menschlichen Augen jedoch nicht erkennen konnten.     

Vorsichtig brachte ich die Rakete zum Stehen. »Alles klar. Das muss jetzt schnell gehen, weil wir hier so schnell wie möglich wieder weg müssen, bevor uns die Vodmus entdecken«, sagte ich vollkommen in Eile, während ich mir schnell meinen Raumanzug überstülpte.     

Ich war gerade dabei die Tür zu öffnen, als ich plötzlich inne hielt. Es mussten Vodmus ganz in der Nähe sein, da ich plötzlich deren Gedanken wahrnehmen konnte: Wie gut, dass wir Emilys Truppe einen Schritt voraus sind. Die werden ihr blaues Wunder erleben. Und nicht nur das. Es wird sicher schockierend sein, wenn sie herausfinden, dass sie von jemand aus ihrer eigenen Reihe verraten worden sind.     

Den Rest der Gedanken konnte ich zwar noch hören, aber ich wollte es einfach nicht wahr haben. Die Sätze waren zwar richtig in meinem Kopf gebildet, aber ich verstand deren Inhalt einfach nicht – beziehungsweise wollte ihn nicht verstehen. Anstatt die Tür zu öffnen, gaben meine Beine nach und ich sackte zu Boden.      »Emily? Was ist los?«, fragte Bella besorgt. »Das ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt…« Am liebsten wollte ich für immer hier unten liegen bleiben und den Rest der Welt ausblenden. Aber das würde alles nur noch schlimmer machen. Schlussendlich biss ich meine Zähne zusammen und rappelte mich hoch. »Wenn ich jetzt diese Tür öffne versteckt ihr euch bitte alle so schnell wie nur irgend möglich.«     

Die anderen starrten mich zwar total verwirrt an, fragten aber nicht lange nach, sondern taten einfach das, worum ich sie gebeten hatte. Erleichtert öffnete ich die Tür der Rakete und rannte so schnell wie es meine Beine konnte hinaus, um das Reagenzglas zu öffnen und die Gase miteinander zu vermischen.     

Ich konnte die Geschwindigkeit der Vodmus nicht einschätzen, doch als ich die Rakete wieder erreichte, war eindeutig keiner von ihnen anwesend. Das könnte nur zwei Gründe haben: Entweder sie waren so schnell, dass sie schon wieder weg sind oder ich war so schnell, dass sie die Rakete noch gar nicht mal erreicht hatten.      »Hallo?«, rief ich den anderen zu. »Ihr könnt raus kommen.« Ethan und Avery waren die ersten, die aus ihrem Versteck kamen. Sie schienen am ganzen Körper zu zittern. »Dieses Licht…. Da war ein Licht. Es sah fast so aus, als würden diese Vodmus eine Lichtkanone verwenden«, stotterte Avery so schnell, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn überhaupt verstanden hatte.     

»Was genau ist passiert? Ich möchte, dass du ruhig sprichst.« Da Avery dazu anscheinend noch nicht in der Lage war, übernahm Ethan für ihn. »Es ging alles so schnell. Wir sind uns selber gar nicht sicher, was passiert ist. Wahrscheinlich benutzten die Vodmus eine Art Lichtkanone, was bestimmt auch ihr Werkzeug ist, um die ganzen Menschen verschwinden zu lassen.«     

Ich schaute ihn irritiert an, während nach und nach auch die anderen aus ihren Verstecken kamen. »Warum glaubst du, dass sie eine Lichtkanone verwenden, um die Menschen verschwinden zu lassen?« »Na ja, anscheinend können sie uns nichts anhaben. Aber sie können Hilfsmittel entwickeln, die wir sehen können, die uns etwas anhaben können. Und darum konnten wir diese Lichtkanone auch sehen, wie sie sich auf Bella und Tyler gerichtet hat«, murmelte Ethan ohne selber richtig zu wissen, was er da von sich gab.     

Ungläubig schaute ich mich in der Rakete um. »Du meinst Bella und Tyler sind nicht mehr bei uns?«, fragte ich Ethan in einer Tonlage, die Ethan zusammenzucken ließ. Er nickte mit gesenktem Kopf, während ihm eine Träne über die Wangen rollte.     

Für einen kleinen Moment reagierte keiner von uns, obwohl das wahrscheinlich besser gewesen wäre, da der Planet neben uns immerhin in einigen Minuten in die Luft gehen würde. Aber in diesem Moment ging es einfach nicht.     

Jane war die erste, die das Wort ergriff und mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. »Oh Gott, was machen wir denn jetzt?« Das war der Moment, an dem bei mir alles hoch kam. Die Gedanken der Vodmus, die ich zuvor verdrängt hatte. Obwohl die anderen vermutlich Angst vor mir bekommen könnten, hielt ich mich nicht zurück und schrie alles heraus, was in mir vorging: »Sei du bloß still! Das ist doch alles deine Schuld. Was fällt dir ein jetzt noch so scheinheilig zu tun? Glaubst du, ich hätte mir die Gedanken der Vodmus nicht angehört?«     

Janes Gesicht war vollkommen leer, als könnte sie endlich ihr wahres Gesicht zeigen und all ihre gespielten Gefühle plötzlich abschalten. »Um ehrlich zu sein, dachte ich, du wärest schon viel früher darauf gekommen. Immerhin bist du ja so schlau, aber anscheinend sind die Vodmus trotzdem schlauer.«     

Mit geballter Wut in mir, schupste ich Jane, zwar nicht stark, aber doch so stark, dass die anderen um mir die Luft anhielten. »Das war alles von Anfang an geplant? Von dem Augenblick als du auf mich zu kamst und dich mit mir anfreunden wolltest?«, fragte ich, obwohl ich keine Antwort benötigte, da ich diese bereits kannte.     

»Die Vodmus sind schlauer als du denkst. Sie wussten schon immer, dass wenn ihnen jemand gefährlich werden könnte, dann wärest du das. Ich sollte aus diesem Grund ein Auge auf dich haben und ihnen von deinen Vorhaben berichten.«     

Chloe, die sich inzwischen anscheinend auch wieder gefangen hatte, fragte jetzt verwirrt: »Verstehe ich das richtig? Ist Jane so etwas wie ein Spion der Vodmus? Ist ihr denn nicht bewusst, dass sie auf der falschen Seite steht? Die Vodmus wollen doch die Menschen töten – und sie ist ein Mensch. Oder verspürt sie einen innigen Todeswunsch?«     

»Nicht ganz«, erklärte ich. »Die Vodmus sind in der Lage Roboter anzufertigen. Roboter, wie sie Menschen nie hinbekommen hätten. Sie sehen so menschlich aus, dass man nie darauf kommen würde, dass sie es eigentlich nicht sind. Aus diesem Grund konnte ich auch nicht Janes Gedanken lesen. Ich kann nur die Gedanken von Lebewesen lesen und das ist sie nicht. Sie ist ein Roboter der Vodmus.«     

Da mir nur allzu gut bewusst wurde, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten, startete ich schnell die Rakete. Kurz bevor wegfahren wollte, öffnete ich die Tür schnell ein zweites Mal und zog Jane Doe dabei so schnell mit mich, dass sie gar nicht schalten konnte, was ich vorhatte. Mit aller Kraft stieß ich sie, sowohl mit Hand als auch mit Fuß, von unserer Rakete.     

Obwohl Jane nicht menschlich war, hörte ich trotz alldem einen grellen Schrei, als sie in die Tiefe stürzte. Kaum hatte ich die Tür wieder geschlossen, ertönte ein riesen Knall. Unsere ganze Rakete bebte und ich konnte nichts mehr sehen – nur helles Licht. Irgendwann wurde mir dann klar, dass ich in Ohnmacht gefallen war – oder tot war, ich konnte es nicht genau sagen.

Als ich wieder klar sehen konnte, konnte ich nicht ganz genau sagen wo ich mich befand. Vor mir befand sich ein Mann mittleren Alters, der in seiner Hand eine Schaufel hatte. Während er ein Loch in die Erde grub, murmelte er ständig die gleichen Zeilen vor sich hin:

Die Zeiten sind noch zu ändern. Wird’s je ein Ende nehmen? Doch einer wird’s beenden müssen. Eh das Ende niemals kommt.

Verschließ den Schlüssel in das Grauen, der in die Tiefe führt. Auch wenn du dich selbst gerettet hast, deine Nachfolger wird’s wieder plagen.

Drum schlage alle Warnung in den Wind. Verschließ das Grauen der Wiederholung. Und helfe dir selbst, deinen Nächsten. Vergangenheit am längsten eilt.

Er wiederholte die Worte immer wieder und wieder. So oft, dass ich mir sicher war, sie bald auswendig zu können.     

Ich entfernte mich langsam von diesem Mann, doch seine Worte verschwanden trotzdem nicht. Ich wollte mir die Ohren zu halten, doch auch das half nichts. Da ich jetzt nicht mehr nur den Mann erkennen konnte, bekam ich einen besseren Überblick über meinen Aufenthaltsort. Anscheinend befand ich mich in Berlin, da ich das Brandenburger Tor erblicken konnte. Aber obwohl ich schon mal in Berlin gewesen bin, kam mir das alles so fremd vor.     

Mit genauerem Blick wurde mir klar warum. Ich musste mich in einer anderen Zeit befinden, denn der Westen und Osten Berlins war noch von einer Mauer getrennt. Hundertprozentig sicher war ich mir aber erst, als ich eine Zeitung erblickte, die auf dem Boden lag: 15.07.1989. Es würde also nicht mehr allzu lange dauern, bis die Mauer fallen würde.     

Während ich weiter die Zeilen des grabenden Mannes hörte, spürte ich plötzlich ein Stechen in meinem Magen. Krampfhaft sank ich zu Boden und kämpfte dagegen an, mich nicht sofort auf der Stelle übergeben zu müssen. Diese nervigen Zeilen in meinem Kopf waren dabei nicht gerade eine Hilfe.     

Die Fülle in meinem Magen wurde immer stärker, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, mein Körper würde explodieren. Irgendetwas drückte von innen gegen meinen Körper und wollte heraus. Ob das eine Folge der Explosion unserer Rakete war? Würde dieses Gefühl nie weggehen? Ich stellte mir die schlimmsten Szenarien vor.     

Dann kam irgendwann der Punkt, an dem ich glaubte, dass es schlimmer nicht mehr werden könnte. Und tatsächlich: Danach klangen meine Schmerzen langsam ab. Von irgendwoher hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme: »Ich bin frei!«

Kapitel 10

 [Avery Neverson]

 

Obwohl das Beben der Rakete mich unbedingt von der Steuerung weg haben wollte, umklammerte ich das Lenkrad als ginge es um mein Leben. In gewisser Weise tat es das ja auch. Zum Glück ist mir schnell klar geworden, dass Emily nicht in der Lage war, uns schnell genug von dem Planeten wegzubringen.     

Als das Beben abklang und ich endlich wieder klar sehen konnte, ließ ich das Lenkrad los und lief zu den anderen hinüber. Auf den ersten Blick konnte ich niemanden erkennen. Schließlich erblickte ich dann aber doch Emily, die bewusstlos vor dem Ausgang lag. Schnell stürmte ich zu ihr und rüttelte an ihr. »Emily! Emily!«, doch meine Rufe schienen sie nicht zu wecken.     

Zitternd legte ich mein Ohr gegen ihre Brust, um einen Herzschlag zu hören. Da war nichts! »Oh Gott! Wir brauchen einen Arzt. Ich höre keinen Herzschlag«, rief ich, obwohl ich natürlich wusste, dass hier weit und breit keiner war. Wahrscheinlich hörte man mich noch nicht mal. Doch ich hatte mich geirrt, denn Chloe kam von hinten auf mich zugestürmt. »Geh mal weg da! Sie ist bestimmt nicht tot. Ich meine, du hast uns doch noch rechtzeitig von dem Planeten weggebracht.«     

Ich war mir da nicht so sicher. Was, wenn der Knall am Eingang besonders stark gewesen war? Plötzlich wurde mir auch bewusst, dass Ethan noch nicht bei uns war.     

Taumelnd erhob ich mich von Emilys Körper und fing an nach Ethan zu suchen. »Ethan! Ethan!«, schrie ich wieder. Als Antwort bekam ich ein Stöhnen aus dem hinteren Teil der Rakete. Schnell folgte ich dem Klang seiner Stimme.     

»Emilys Herz schlägt übrigens noch. Erste Hilfe klappt bei dir wohl noch nicht so gut«, rief mir Chloe hinterher. Erleichternd atmete ich einmal tief durch, um gleich schon wieder den nächsten Schock zu bekommen. Ein Schrank war durch das Beben umgekippt und auf Ethan gefallen.     

»Halte durch. Ich hol dich da wieder heraus.« Der Schrank war schwerer als erwartet, doch es gelang mir schließlich den Schrank wieder aufzustellen. Es dauerte noch einen Augenblick, bis Ethan sich erholt hatte und wieder aufstehen konnte. »Danke«, murmelte er.     

Während wir zu Chloe und Emily hinüber gingen, stütze ich Ethan, da er immer noch ein bisschen wackelig auf den Beinen war. Als wir die beiden erreichten, war Emily noch nicht aufgewacht. Hätten wir doch nur jemanden mitgenommen, der Medizin studiert hatte.     

Plötzlich hörte ich ein lautes Poltern in der Nähe von der Toilette. Verdutzt starrte ich die anderen beiden an. »Was war das? Ich dachte, dass Emily Chloe von Bord geworfen hat.« »Hat sie auch. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen«, meinte Chloe, während sie vorsichtig in Richtung Klo ging. »Wer ist da?«, fragte sie etwas ängstlich. Während Ethan und ich uns nicht vom Fleck bewegten, hörte ich plötzlich, wie Chloe laut aufschrie. Neugierig folgte ich Chloe jetzt zu den Toiletten.     

Kurz vor dem Eingang stand Chloe und daneben kauerten zwei Mädchen auf dem Fußboden. Das Mädchen, das rechts lag, hatte braunes langes Haar mit braunen Augen und trug einen bunt gesteiften Pullover. Das linke Mädchen war ziemlich groß und schlank. Sie hatte kurze blonde Haare und blaue Augen. »Wer zum Teufel seid ihr und wie kommt ihr hier rein? Seid ihr weitere Roboter der Vodmus?«, fragte Chloe sauer und ängstlich zugleich.     

Das braunhaarige Mädchen zuckte kurz zusammen. »Um Gottes Willen, natürlich nicht! Ich bin Ashley Summers und das ist Addison Havering. Aber was zur Hölle ist passiert? Warum könnt ihr uns plötzlich sehen?«      Ungläubig starrte ich die beiden Mädchen an, von denen ich zwar schon etwas gehört hatte, aber ich hätte nie gedacht, dass ich sie einmal vor mir sehen würde. »Wo ist Emily?«, fragte das blonde Mädchen, welche Addison sein musste. »Sie liegt noch bewusstlos in der Eingangstür. Dieser Knall… hat der etwa bewirkt, dass ihr euch getrennt habt?«, fragte Ethan, doch natürlich konnten die beiden seine Frage auch nicht beantworten.     

»Lasst uns am besten wieder zu Emily gehen, falls sie aufwacht«, schlug ich vor. »Da gibt es nur ein kleines Problem. Addison und ich sind noch nie selbstständig aufgestanden oder gegangen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es überhaupt können.« »Aber ihr seid doch geistlich immer dabei gewesen, wenn Emily es gemacht hat. Ich bin mir sicher ihr schafft das. Ihr müsst es nur versuchen«, meinte Ethan.     

Addison, die ja laut Emily die sportliche Fähigkeit besaß, war natürlich die erste, die einen Versuch wagte. Komischerweise war ihre Kleidung auch schon gleich in einem sportlichen Stil, obwohl Addison sich das Outfit nicht selber aussuchen konnte, da sie ja quasi gerade erst das Licht der Welt erblickte. Addisons Gehversuche waren perfekt – ich hätte es echt nicht besser machen können.     

Ashley war anfangs zwar noch etwas wackelig auf den Beinen, aber nach und nach hatte auch sie den Bogen raus. Als wir Emily erreichten, war auch sie wieder bei Bewusstsein. Als ich den Raum betrat, schien sie zunächst verzweifelt: »Ashley und Addison. Ich kann sie nicht erreichen. Sie sind weg.« Doch ihre Miene änderte sich, als sie die beiden Mädchen erblickte und es war fast, als hätte sie einen Geist gesehen.     

»Emily! Wir sind hier. Ich weiß auch nicht was passiert ist. Ich denke es war der Knall. Jedenfalls befanden Ashley und ich uns neben der Toilette als wir wieder erwachten.« Addisons Worte klangen so fröhlich, dass ich gar nicht glauben konnte, dass sie die Schlechtgelaunte der beiden war. Allerdings konnte ich ihre Freude natürlich auch verstehen.     

Emily lächelte auch kurz, da ihr vermutlich klar wurde, dass sie jetzt ein normales Leben führen könnte. Doch kurz danach verfinsterte sich ihr Gesicht auch wieder. »Aber was machen wir denn jetzt? Ich weiß ja nicht wie es mit euch ist, aber ich kann nicht mal mehr die Wurzel aus 3.«     

»Wow, was ein Schock. Bin ich jetzt etwa schlauer als du?«, fragte ich scherzhaft, um die Stimmung etwas aufzulockern. »Sei nicht albern. So dumm dann auch wieder nicht«, sagte sie und grinste dreist zu mir rüber, bevor sie uns wieder die Probleme nahelegen wollte. »Ohne die Fähigkeiten sind wir nur drei ganz normale 18-jährige Mädchen. Wie sollen wir so die Menschheit vor den Vodmus retten? Wir müssen noch die Restlichen finden, die die Menschen versteckt halten. Wir müssen doch noch Bella und Tyler retten.«     

Müde sank ich zu Boden, da mir schlagartig bewusst wurde, dass das nicht nur unser einziges Problem wäre. Wie sollten wir erstmal zurückfinden, wenn unser persönliches Navi neuerdings das Gehirn eines durchschnittlichen Halberwachsenen hatte? Und das erste Mal machte ich mich Gedanken darüber, wie es sich wohl anfühlen würde zu verhungern und zu verdursten. Es gibt bestimmt bessere Weisen diese Welt zu verlassen.  

Kapitel 11

 [Addison Havering]

 

Der größte Traum in meinem Leben war es immer, dass ich meinen eigenen Körper besitzen würde. An dem heutigen Tag ist der Traum wie durch ein Wunder endlich wahr geworden. Doch in dieser Situation fühlte sich das alles eher wie ein Albtraum an.     

Als unsere Rakete nun so unbeholfen durch die Galaxie fuhr, spürte man regelrecht die deprimierende Stimmung im Raum. Und obwohl ich jetzt endlich in der Lage war vernünftige Gespräche zu führen, die nicht mit Ashley oder Emily waren, saß ich doch alleine in der Ecke und starrte in die Dunkelheit, die nur von wenigen Sternen erhellt wurde.     

Eigentlich wollte ich schon immer mal ein Gespräch mit Isabella führen, wenn ich meinen eigenen Körper besitzen würde. Doch diese war verschwunden – genauso wie Tyler. Vielleicht war sie tot, vielleicht auch nicht. Aber eins stand fest: Sie befand sich irgendwo an einem Ort, den wir nicht kannten.     

Emily schien ständig auf und ab zu gehen, als würde sie angestrengt nachdenken. Doch ohne ihre Fähigkeit schien ihr das anscheinend nicht zu gelingen, denn ihr Blick sagte alles, aber nicht: Ich habe einen Plan, der uns retten könnte. Ich konnte mir immer noch nicht erklären, warum wir uns ausgerechnet jetzt hatten trennen mussten. Ob das wohl ein weiterer Rachefeldzug der Vodmus gewesen war? Eigentlich eher unwahrscheinlich. Aber unser ganzes Leben waren wir zusammen, ohne dass wir es zwingend gebraucht hätten. Jetzt wo wir es zum ersten Mal wirklich gebraucht hätten, bekam jeder seinen eigenen Körper. Das Schicksaal ist echt ein mieser Verräter.     

Vollkommen in meinen Gedanken versunken, bemerkte ich gar nicht, dass mich jemand von hinten auf die Schulter tippte. Da sie das anscheinend schon eine Weile tat und ich nicht reagiert hatte, fragte sie nun: »Hallo?« Es war die Stimme von Chloe. »Wer bist du noch gleich? Addison oder Ashley?«     

Als ich mich umgedreht hatte, umkreiste sie mich und nahm den Platz neben mir ein. »Addison«, entgegnete ich schlicht. »Puh, ein Glück. Ich weiß nicht, ob ich in dieser Situation die Alles-wird-gut-Trulle ertragen könnte.« Ich grinste kurz, obwohl das ja eigentlich eine kleine Beleidigung gegen Ashley war, doch komischer Weise verstand ich genau was sie meinte.     

Als ich nichts sagte, fuhr sie einfach fort: »Jedenfalls dachte ich, dass wir uns jetzt mal unterhalten können. Ich muss zugeben, als ihr noch in Emilys Körper wart, konnte ich mich nie mit euch unterhalten. Ich fand es einfach seltsam, wahrscheinlich weil ich die Leute zu sehr nach dem Aussehen beurteile. Ich würde sicherlich keinen Unterschied feststellen können, mit wem ich mich da unterhielt. Für mich würde es dann sicherlich nur Emily sein.« Sie legte eine kurze Pause ein, in der ich mich fragte, warum sie mir das alles erzählte. »Ich weiß, du denkst jetzt bestimmt ich bin total eingebildet.«     

Ich musste lachen. »Das stimmt, aber das ist nichts neues, denn das dachte ich vorher auch schon. Aber warum erzählst du mir das jetzt?« »Keine Ahnung. Vielleicht möchte ich hören, wie andere darüber denken. Klar, eingebildet. Aber es ist irgendwie vielmehr so, dass ich es nicht könnte, selbst wenn ich es wollte. Ich denke, ich wurde einfach so von meiner Mutter erzogen.«     

Darüber dachte ich einen Moment lang nach. »Ich glaube, dass ich kein Stück besser bin als du. Als ich dich zum ersten Mal sah, habe ich mir sofort total viele Vorurteile gebildet. Doch trotzdem hast du Emily, Ashley und mich gerettet, bevor wir in diesem Matsch versinken konnten.«     

Chloe blickte kurz Boden, bevor sie antwortete. »Aber du hattest mit deinen Vorurteilen gar nicht mal so unrecht. Ich bin genauso wie ich auch nach außen wirke.« Ich musste an den Moment zurückdenken, als ich Chloe das erste Mal gesehen hatte. »Eigentlich müsste ich dir glauben, immerhin habe ich deine Gedanken gelesen, als ich dich das erste Mal gesehen habe – ausnahmsweise. Aber das Problem ist: Du findest selber, dass du oberflächlich bist, weil man es dir als Kleinkind eingeredet hat. Sicherlich ist diese Art ein Teil von dir, aber du hast mehrere Fassetten, die du leider selber verdrängen willst.«     

Ich konnte ihr ansehen, dass sie verwirrt war. Verwirrt, aber vielleicht auch ein kleines bisschen zuversichtlich. Genau konnte ich es jedoch nicht mehr sagen, da ich inzwischen nicht mehr in der Lage war, Gedanken zu lesen.     

»Na ja… vielleicht sollte ich anfangen es zu versuchen und höchstwahrscheinlich nicht nur in lebensgefährlichen Situationen. Irgendwelche Tipps zur Unterstützung?«, fragte mich Chloe. Ich überlegte kurz und musste schließlich grinsen, als mir was in den Sinn kam. »Wir könnten unsere Klamotten tauschen.«      »Wie zur Hölle soll das helfen?«, fragte sie verdutzt.     

»Als Zeichen, dass Kleidung nicht alles im Leben ist.« Chloe verstand anscheinend nicht, dass dieser Vorschlag nicht ganz ernst gemeint war. »Hast du nicht gesagt, dass ich mich nicht komplett ändern kann? Ich soll doch nur meine andere Seite zulassen. Und eins ist mir vollkommen klar: Was meinen Kleidungsstil angeht, habe ich mich schon vor Jahren festgelegt.«     

»Ganz ruhig. Ich mach doch nur Witze. Nicht böse gemeint, aber ich würde nur ungern dieses pink schwarze Kleidchen anziehen. Da bleib ich doch lieber bei meiner schlichten Jeans und dem Adidas Shirt«, erklärte ich ihr.     

Chloe blickte nun zu Emily hinüber, die sich mit angewinkelten Beinen ans Fenster gehockt hatte. Ihr Kopf war gesenkt, aber es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie am Weinen war. »Warum sitzt ihr alle getrennt voneinander? Emily hatte immer den Eindruck gemacht, dass ihr drei dicke Freundinnen seid.«     

»Das stimmt auch, aber wir waren unser gesamtes Leben immer zusammen gewesen – ob wir es sollten oder nicht. Außerdem will Emily im Moment sicherlich ein wenig alleine für sich sein. Dafür kenne ich sie gut genug.« Chloe nickte verständnisvoll, wobei sie sich anscheinend gerade vorstellte, wie sie sich in so einer Situation fühlen würde. Doch zu meiner Überraschung wechselte sie im nächsten Moment abrupt das Thema: »Ich will nicht verhungern, Addison. Von all den Möglichkeiten zu sterben, fand ich verhungern schon immer am schlimmsten - verhungern und ertrinken. Da irgendwann auch der Vorrat an Luft ausgehen wird, haben wir ein doppeltes win in unserem worst-case-Szenario.«     

Ich bedachte sie mit einem grimmigen Blick. »Das wird nicht passieren. Wir werden alle heile Zuhause ankommen und mit hundert an Altersschwäche sterben.« Leider klang ich selbstbewusster als ich mich fühlte, denn ich hatte immer noch keinen Plan wie wir das schaffen könnten.

Kapitel 12

 [Ethan Bradley]

 

Ich konnte die trübselige Stimmung um mich herum förmlich spüren. Jeder von uns saß in sich gekehrt und schwieg vor sich hin. Verständlich, schließlich sah unsere Zukunft nicht gerade rosig aus. Trotzdem hätte ich die letzten Momente meines Lebens natürlich lieber nicht schweigend verbracht. Als Chloe erstaunlicherweise ein Gespräch mit Addison anfing, brach zum Glück auch Avery das Schweigen: »Findest du es nicht verblüffend wie Fortgeschritten unsere Welt inzwischen ist? Ich meine, zum Mond fliegen ist jetzt so leicht wie Auto fahren. Doch trotzdem bewahrt es unsere Welt nicht vor dem Untergang.«     

Eigentlich wollte ich das Gespräch mit Avery im Gange halten, doch mir fiel in dieser Situation nichts dazu ein, deshalb nickte ich nur. Ich wollte ein optimistischeres Thema anschneiden, aber mir fiel nichts ein, was nicht unpassend wäre.     

Nach einer Weile kam Emily wie aus dem Nichts auf uns zu. Endlich konnte ich etwas sagen, das auch passte. »Emily, wie kommen wir zu dem Vergnügen?« Emily nahm den Platz zwischen Avery und mir ein. »Na ja, meine beste Freundin wurde von Außerirdischen entführt und meine andere beste Freundin arbeitete für diese Außerirdischen. Bei Addison und Ashley habe ich mich mein ganzes Leben schon aufgehalten – also ja, ihr habt das Vergnügen mit mir.«     

Man konnte ihr ansehen, dass sie das alles noch nicht verarbeitet hatte, auch wenn sie sich inzwischen die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte und wieder Kontakt zu anderen Leuten suchte. Sie machte also Fortschritte.     

Allerdings startete sie das Gespräch mit dem besagten Thema: »Eigentlich hätte ich es schon zu Beginn wissen müssen, als ich sie traf. Ich meine, ich kann die Gedanken von allen Lebewesen lesen – selbst von Pflanzen empfange ich Gefühle. Warum sollte Jane eine Ausnahme sein? Wie konnte ich nur so dumm sein!«      »Aber das hat doch nichts mit Dummheit zu tun, Emily. Du bist das schlauste Mädchen das ich kenne. Keiner von uns hätte das ahnen können. Auch Superkräfte haben irgendwann Grenzen«, meinte Avery.     

Emily beachtete Avery gar nicht. »Und dann auch noch ihr Name: Jane Doe. Ich meine, einen einfacheren Namen ist denen wohl nicht eingefallen. Werden so nicht auch Leichen genannt, die nicht identifiziert werden können?« »Trotzdem würde niemand eine real wirkende Person als Roboter bezeichnen. Unsere Technik kann noch so fortgeschritten sein, darin sind die Vodmus eindeutig besser als die Menschen«, versuchte ich ihr klar zu machen.     

Endlich schien Emily uns wahrzunehmen. »Das ist lieb von euch. Allerdings fehlen uns durch meine Unwissenheit und Janes Verrat zwei Personen, die vielleicht noch verlorener sind als wir – und das mag schon was heißen.« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, immerhin hatte Emily mit diesen Worten Recht. Da keiner von uns beiden etwas zu sagen schien, fuhr Emily fort. »Mal abgesehen von Addison und Ashley hatte ich an der Schule nur zwei richtige Freunde. Fünfzigprozent davon basierte allerdings auf einer Lüge. Ich bin nicht nur dumm, sondern auch unbeliebt.«     

»Jetzt gehst du aber zu weit. Mach deine Laune nicht unnötig schlecht!«, befahl ihr Avery mit einer leichten Note Zorn in der Stimme. »Ach, das musst du gerade sagen. Du bist doch einer der beliebtesten Jungs der ganzen Schule«, entgegnete Emily. »Das mag sein, doch eigentlich geht es mir nicht anders als dir. Klar, es gibt viele, die mich bewundern. Doch trotz alldem ist Ethan eigentlich mein einziger richtiger Freund an der Schule.«      Avery machte eine kleine Pause, da er anscheinend nicht wusste, ob er die nächsten Worte noch sagen sollte, entschied sich schließlich aber dafür. »Um ehrlich zu sein hatte ich das Gefühl, dass wir uns während des Projekts angefreundet haben.« Mir war nicht genau klar, wen Avery mit wir meinte. Möglicherweise alle, obwohl es noch nicht ganz so lange her war, dass wir gemeinsam über Projektmitglieder gelästert hatten. Aber andererseits, seit dieser kurzen Zeit ist viel passiert.     

Emily schien eine Weile über seine Worte nachzudenken. »Ja, wahrscheinlich hast du Recht.« Allerdings war ich mir nicht sicher, wie ernst ihre Worte waren, denn sie war eindeutig noch neben der Spur.     

Irgendwann gesellte sich dann Ashley zu uns, die sich nun anscheinend auch nach Gesellschaft sehnte. Ihre braunen Haare hatte sie inzwischen mit einer Spange hochgesteckt. Ihre Laune hatte sich anscheinend auch etwas gebessert. Vielleicht war sie sogar die Bestgelaunteste unter uns und das obwohl ich mich daran erinnerte, dass sie sich in den letzten Tagen gut mit Tyler angefreundet hatte. Emily hatte also Recht gehabt: Sie versuchte wirklich krampfhaft das Negative aus ihrem Leben zu verdrängen.     

Sie lächelte uns zu. »Und? Über was wird hier so schönes erzählt?« »Na ja, hauptsächlich meckert Emily darüber, dass das alles ihre Schuld ist. Kannst du ihr klar machen, dass sie sich für nichts schuldig fühlen muss?«, fragte ich Ashley.     

Ashley kam nun einige Schritte auf uns zu und stand nun direkt hinter Emily. Sie atmete einmal lang und tief durch, bevor sie sagte: »Emily, das ist natürlich nicht…«, setzte sie an, während sie ihr die Hand auf die Schulter legte. Doch weiter kam Ashley nicht, denn ohne jeglichen Grund verschwand sie plötzlich vor unseren Augen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.     

Panisch schaute ich mich um, da mich die Situation an das Verschwinden von Tyler und Bella erinnerte – nur dass dieses Mal kein grelles Licht aufleuchtete. Doch dieses Mal konnte die Vodmus einfach nicht dahinter stecken. Schließlich waren wir vollkommen alleine im Weltall. »Wo ist sie hin?«, fragte ich panisch ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten, doch tatsächlich bekam ich trotzdem eine.     

»Sie ist wieder in mir!«, schrie Emily beinahe, nicht ganz schlüssig, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Avery und ich starrten sie ungläubig an. »Und Addison? Ist sie auch wieder in dir drin?«, fragte ich. »Nein, wir sind alleine«, erklärte sie und drehte sich dabei zu Chloe und Addison um, um sicher zu sein. Diese hatten anscheinend nichts mitbekommen und unterhielten sich immer noch.     

»Und was ist mit deinen Fähigkeiten? Sind die auch wieder da?«, wollte Avery wissen. Daraufhin schaute Emily beschämt auf den Boden. »Es tut mir leid. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen. Sonst hätte ich eure Gedanken natürlich nicht gelesen.«     

Da ich in diesem Moment nur panische Angst vor weiteren Vodmus gehabt hatte und ich mich für nichts zu schämen brauchte, erwiderte ich: »Aber das spielt doch keine Rolle! Hauptsache sie sind wieder da und wir können hier wieder raus«, meinte ich. Emily nickte Gedanken versunken. »Ich kann Gedanken lesen und meine übernatürliche Schlauheit scheint auch wieder da zu sein. Ich frage mich nur, ob wir ohne Addison auch noch so schnell rennen können.«     

»Na dann probiere es doch mal aus«, schlug ich vor. Nach einem kurzen Nicken tat sie das, worum ich sie gebeten hatte. Wie ich schon vermutet hatte, glich ihre Schnelligkeit, die eines durchschnittlichen jungen Erwachsenen.     

Inzwischen waren auch Chloe und Addison auf uns aufmerksam geworden. Nachdem Addison verdutzt »Wo ist Ashley?« gefragt hatte, erklärte Emily ihr was passiert war. Auch die beiden konnten es kaum fassen. »Aber wie ist das denn auf einmal passiert? Und muss Ashley da jetzt drin bleiben oder kann sie auch irgendwie wieder heraus?«, fragte Chloe, worauf natürlich keiner eine Antwort wusste. »Ashley glaubt, dass das passierte, weil sie mich gerührte«, sagte Emily, während sie angestrengt nach einer Lösung suchte. Zwar war die ganze Sache für sie eher positiv als negativ, aber ich wusste inzwischen, dass Emily nicht selbstsüchtig war. Für Ashleys Wohl wollte sie, dass sie wieder ihren eigenen Körper bekam. Außerdem wäre ihr ein bisschen Privatsphäre sicher auch Recht.     

Eine Zeit lang herrschte vollkommenes Schweigen, bis sich plötzlich Ashley vor unseren Augen manifestierte. »Wie hast du das jetzt hinbekommen?«, stieß Emily erstaunt vor.     

»Es war einfach. Vielleicht sogar wieder zu einfach, um darauf zu kommen. Ich habe versucht mich innerlich wieder von Emily zu lösen. Es war nicht ganz einfach, aber nach ein paar Ansätzen hat es dann ja schließlich geklappt.«     

Erleichtert legte Emily den Arm um Ashley, die daraufhin wieder verschwand bevor Emily sagen konnte: »Dann lasst uns endlich in Richtung Erde steuern.«

Kapitel 13

 [Isabella Ray]

 

Eine ganze Zeit lang konnte ich gar nichts sehen. Allerdings war ich nicht weggetreten – sowie in Ohnmacht fallen. Das war ja gerade das Problem, denn ich konnte alle Geräusche um mich herum wahrnehmen. Da waren Schreie und Gekeuche, aber am meisten spürte ich die Hitze auf meiner Haut. Mein ganzer Körper brennte wie Feuer und mein ausgetrockneter Mund schrie nach Wasser.     

Vorsichtig versuchte ich blind von der Stelle weg zu krabbeln, wo ich mich zurzeit befand. Allerdings kam ich nicht weit, da ich ständig irgendwo gegen stieß, jedoch nicht wusste um was es sich genau handelte. Ich konnte zwar menschliche Stimmen hören, aber diese schienen gar nicht auf mich einzugehen. Ich konnte unterschiedliche Sprachen heraushören, darunter Spanisch und Englisch, die einzigen Sprachen, die ich beherrschte. Allerdings musste ich zugeben, dass mein Spanisch grauenvoll war.     

Plötzlich bemerkte ich Tritte gegen meine Hüfte, die zum Glück nur ganz sachte waren. »Hey, du hast deine Augen jetzt aber genug geschont. Ich weiß, dass es weh tut, aber es wird Zeit aufzuwachen«, sagte eine männliche Stimme mit einem südländischen Akzent.       

Ich blinzelte, doch da war wieder dieses furchtbare Stächen in meinen Augen. »Es geht nicht«, keuchte ich. »Versuch es weiter«, entgegnete der Mann. Wie der Mann es gesagt hatte, tat es zwar höllisch weh, aber nach einigen Versuchen nahm ich dann endlich das Bild eines gebeugten Mannes war. Seine Körperhaltung und verdreckte Kleidung ließen ihn furchtbar alt wirken. Aber als ich einen genaueren Blick auf sein Gesicht warf, musste der Mann gerade mal in seinen Dreißigern sein.     

»Hi, mein Name ist Rick. Und Herzlich Willkommen in der Hölle«, begrüßte mich der Mann namens Rick und bot mir seine Hand an, um vom Boden aufzustehen. »Ich bin Bella.« Neugierig schaute ich mich um. »Wo sind wir?«     

»Sagte ich doch bereits: in der Hölle«, antwortete er. Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern, was passiert war. Doch meine Erinnerungen waren wie weggeblasen. Das letzte, woran ich mich erinnern konnte, war mein achter Geburtstag. Doch ich musste eindeutig älter als acht Jahre alt sein, als ich an mir herunter sah.      »Was ist passiert? Ich meine, ich kann mich an vieles aus meinem Leben überhaupt nicht mehr erinnern. Ich habe nur noch Erinnerungen an meine Grundschulzeit. Das kann doch nicht sein, oder?«, fragte ich den Mann. Ob ich ihn wohl persönlich kannte? Es könnte gut möglich sein.     

»Ich weiß. So ging es uns allen hier so. Wir suchen die ganze Zeit einen Weg hier raus, doch es gibt anscheinend keinen. Deine Erinnerungen werden von Zeit zu Zeit wieder kommen. Die jüngsten Ereignisse ganz zum Schluss. Doch obwohl ich inzwischen alle Erinnerungen wieder habe, kann ich dir nicht sagen wo wir sind oder wie ich hier her gekommen hin. Mach dir da also keine allzu großen Hoffnungen.«     

Ängstlich schaute ich die Leute um mich herum an, die hier drinnen anscheinend langsam verrückt wurden. Verständlich: Wir waren eingesperrt und hier drinnen ist es so warm wie in einer Sauna. »Kennen wir uns denn irgendwie?«, fragte ich Rick. Doch dieser schüttelte den Kopf. »Ne, ich kenne hier niemanden. Ich habe dich nur hier unten am Boden liegen sehen und wollte helfen. Aber wenn du mich entschuldigst, ich muss weiter arbeiten. Wir brauchen einen Ausgang, wenn wir hier alle lebend rauskommen wollen.«     

Schockiert beobachtete ich, wie die Leute hier versuchten mit ihren Händen Löcher zu graben. Das konnte doch nie funktionieren. Aber in der Not taten die Leute wohl irgendwann verrückte Dinge.     

Ängstlich und irritiert schaute ich mich um. Was sollte ich denn nun machen – ebenfalls Löcher graben? Als ich mich gerade dazu überwinden wollte, entdeckte ich jemanden, der es anscheinend auch nicht für nötig hielt Löcher zu graben. Nachdem ich ein paar Schritte auf ihn zu ging, bemerkte ich wie er etwas vor sich hin murmelte: »Oh Gott… oh Gott.«     

Er schien zwar genauso verrückt zu sein wie der Rest hier unten. Dabei war er ja noch nicht mal produktiv, doch ich sprach ihn trotzdem an. »Hi, kann ich dir irgendwie helfen?« Ich dachte kurz über meine Worte nach, woraufhin sie mir schwachsinnig vorkamen. »Ich meine, der Typ namens Rick hat mir gerade auch weiter geholfen. Ich dachte, vielleicht kann ich mich ja auch nützlich machen.«     

Er lief immer noch wie verrückt im Kreis. »Mein Papi wird bestimmt total sauer auf mich sein. Jetzt bekomme ich bestimmt Fernseherverbot.« Da wurde mir klar, dass auch er erst gerade hier her gekommen sein musste. Allerdings kam er mit der Situation noch schlechter zurecht als ich. Er hatte womöglich noch nicht mal bemerkt, dass er kein acht jähriger Junge mehr war.     

»Du musst dich beruhigen. Dann schau an dich runter. Du bist Erwachsen, weshalb dein Vater dir sicherlich kein Fernseherverbot geben wird. Ich musste gerade das Selbe durchmachen. Ich weiß es ist beängstigend, aber deine Erinnerungen wurden gelöscht. Aber laut Rick kommen sie nach und nach zurück.«     

Er starrte mich an, atmete tief durch und hörte auf Kreis zu laufen. »Du weißt bestimmt auch nicht wo wir sind, oder?«, fragte er. »Nein. Aber wenn du magst können wir uns beide gegenseitig dabei helfen, unsere Erinnerungen wieder zu bekommen. Ich werde dir erzählen, woran ich mich an meinem Leben erinnere und dann du. So lernen wir uns auch ein bisschen besser kennen. An so einem Ort will man schließlich nicht alleine sein.«     

Der Typ stellte sich als weniger verrückt raus, als er zunächst gewirkt hatte. Er nickte mir sogar freundlich zu. Und so begann ich mich an meine Lebensgeschichte zu erinnern: »Das letzte was ich weiß, ist mein achter Geburtstag. Ich habe von meiner Mum eine wunderschöne Geburtstagtorte bekommen. Das war in der Grundschule. Ich war eine ziemlich durchschnittliche Schülerin, weil ich immer nur das machte, was sein musste. Wahrscheinlich hätte ich es besser hinbekommen. Genau… ich erinnere mich wieder. Dann kam die Oberschule, wo ich dann endlich wach wurde und mich in der Schule anstrengte. Ich entwickelte mich quasi zu einer kleinen Streberin. Aber … warte Mal.«     

»Was ist?«, fragte der Junge. Seine langen braunen Haare und diese Karohemden kamen mir plötzlich bekannt vor. »Ich glaube ich kenne dich.« »Stimmt. Jetzt wo du es sagst. Sind wir nicht in der Oberschule in einer Klasse gegangen?« Ich musste lachen. »Ja, aber obwohl wir beide zu den Außenseitern gehörten, haben wir uns kaum gekannt. Was für ein Zufall, dass wir beide jetzt hier unten sind.«     

Der Junge, an dessen Namen ich mich jedoch nicht mehr erinnern konnte, schaute zu Boden. »Eigentlich glaube ich nicht an Zufälle.« Plötzlich stockte mir der Atem, als weiter Fetzen meines Lebens auf mich zu strömten. »Was ist?«, fragte der Junge besorgt.     

»Mein Leben… es hat sich komplett geändert. Wie konnte ich das nur vergessen! Meine Eltern… ich habe keine mehr. Ich lebe doch bei meiner scheußlichen Tante.« Vorsichtig schob ich den linken Ärmel meines T-Shirts hoch und erblickte mein keep on Tattoo auf meiner Schulter.     

»Oh, das tut mir leid«, murmelte er mitfühlend. Ich schüttelte den Kopf. »Ich wurde dadurch stärker. Ich … ich wünschte, dass meine Eltern mich zu diesem Zeitpunkt sehen könnten. Klar, sie waren auf meine guten Noten ziemlich stolz. Aber ich wurde nicht nur gut in der Schule … ich habe mich für wichtigere Dinge eingesetzt … Organisationen gegen Hunger. Ich wurde zu der Person, die ich sein wollte. Ich habe Freunde gefunden – Emily und Jane.«     

Der Junge lächelte, aber wirkte gleichzeitig auch ein wenig traurig. »Ich denke, dass sich mein Leben nicht so geändert hat. Ich erinnere mich nicht daran Freundschaften geschlossen zu haben.«     

Erschöpft setzte ich mich. »Ich weiß gar nicht, ob ich mich an weitere Dinge erinnern will. Ich mag mein Leben wie es jetzt ist. Da meine Eltern in der Zukunft wahrscheinlich nicht von den Toten auferstehen werden, habe ich Angst, dass es nur noch schlimmer werden wird.« Doch natürlich konnte ich nichts dagegen machen und die Erinnerungen kamen trotzdem.     

Bis sie schließlich wieder vollkommen hergestellt wurden und ich schlucken musste. Ich starrte den Jungen vor mir überrascht und erleichtert an, dessen Namen mir nun wieder in den Sinn kam. »Tyler. Oh mein Gott.« »Du erinnerst dich jetzt doch an meinen Namen?«, fragte er, da seine Gedanken anscheinend noch nicht wieder hergestellt wurden.     

»Und wie ich dich kenne! Und keine Angst – du hast Freunde. Schätze ich mal, mich zumindest. Du musst dich schnell erinnern! Denn wenn du dich erinnerst, können wir den Leuten hier vielleicht erklären, was hier vor sich geht. Die anderen wissen es nicht, aber Tyler, wir wissen es! Und wenn wir das gemacht haben, müssen wir unbedingt diese Gegend absuchen, ob wir noch mehr von uns hier finden. Und umso weniger wir finden, desto besser stehen unsere Chancen, dass wir hier alle wieder lebendig rauskommen. Anscheinend hofft jetzt die gesamte Menschheit, einschließlich uns beiden, auf ein Schulprojekt aus Sozialkunde.«

Kapitel 14

 [Emily Tanner]

 

Eine ganze Weile starrte ich in die unendliche Dunkelheit und versuchte einfach an nichts zu denken. Ich wollte einfach meinen Kopf frei bekommen, doch irgendwie schaffte ich es nicht. Aber wie konnte man es mir auch verübeln? In den letzten Wochen ist in meinem Leben einfach viel zu viel passiert.     

Als wir eine ganze Weile unsere Rakete in die richtige Richtung lenkten, nutzte ich die Gelegenheit, um die Gruppe herbei zu rufen. Wir hatten noch so viel zu besprechen.     

»Wir sollten abklären, wie es weiter geht, wenn wir gelandet sind«, stellte ich klar. »Ist das nicht klar? Wir müssen herausfinden, wo sich die ganzen vermissten Personen, einschließlich Tyler und Bella, aufhalten«, meinte Chloe.     

»Ja, aber da gibt es noch etwas, was ich euch nicht erzählt habe. Nach diesem Knall hatte ich einen Traum, dachte ich jedenfalls. Aber in diesem Traum habe ich auch gespürt, dass Addison und Ashley meinen Körper verlassen haben, was sich am Ende ja auch bewahrheitet hat. Ich denke also, dass mehr dahinter steckt. Als würde mir jemand einen anonymen Hinweis senden.« »Einen anonymen Hinweis senden mithilfe von Träumen? Das hört sich ganz schön verrückt an«, bemerkte Avery.     

»Ich weiß, aber nicht weniger als jemand mit übernatürlichen Fähigkeiten und Außerirdische, die die Erde einnehmen wollen. Es gibt immer Dinge, die für uns unmöglich scheinen, es aber eigentlich gar nicht sind«, antwortete ich, wobei ich es vermied ihn direkt in die Augen zu schauen. Ich hatte nämlich bedenken, dass er dahinter kommen würde, dass ich seine Gedanken gelesen hatte, wenn er es nicht schon wusste.     

Klar wusste er es, schließlich hatte ich es ihm und Ethan persönlich gesagt. Aber die meiste Zeit denken Menschen unbewusst und meistens wechselt man die Gedanken schneller als man einatmet. Wahrscheinlich hofft er einfach, dass ich es nicht mitbekommen habe. Doch das war ja das Problem – ich hatte es.     

Als würde ich mit der Menschheit-Rettungsaktion nicht schon genug um die Ohren haben, hatte ich nun anscheinend auch ein Privatleben. Warum musste er so was auch gerade jetzt denken? Klar, ich könnte es einfach ignorieren, aber irgendwie konnte ich es nicht.     

Gestern noch hätte ich ihn ohne Probleme kurz ansprechen können und mitteilen können, dass das leider nichts wird. Ich hatte mir bis zu dem Zeitpunkt nie wirklich Gedanken über Jungs gemacht und ob sie womöglich an mir interessiert waren. Einfach, weil es sowieso nie gehen könnte.     

Plötzlich musste ich an meinen ersten Schultag an der Oberschule denken. Addison, Ashley und ich hatten ausnahmsweise die Gedanken unserer Mitschüler gelesen, um festzustellen mit wem wir es zu tun hatten. Plötzlich wurde mir klar, dass Avery nicht der erste gewesen war, der irgendwie Interesse an mir gezeigt hatte. Ich hatte es einfach nur nicht beachtet, weil es für mich eh nie in Frage kommen würde.     

Verzweifelt versuchte ich mich daran zu erinnern, ob Avery vielleicht schon früher so empfunden haben könnte, doch es wollte mir einfach nicht mehr einfallen. »Hallo? Erde an Emily?«, sagte Ashley und riss mich aus meinen Gedanken.     

»Hm?«, fragte ich.     

»Worum es in deinem Traum ging?«, wollte sie wissen, während ich mich fragte, ob Ashley wohl auch von Averys Gefühlen für mich wusste, schließlich war auch sie in dem Moment in der Lage die Gedanken von anderen zu lesen. »Da war ein Mann, der mit einer Schaufel ein Loch gegraben hat. Es war irgendwo in Berlin, zu der Zeit wo es noch Ost und Westdeutschland gab«, berichtete ich.     

»Denkst du, dass sich die ganzen Menschen, die vermisst sind, unter der Erde befinden?«, wollte Ethan wissen. »Es wäre naheliegend.« »Und der Eingang ist irgendwo in Berlin? Aber Berlin ist zu groß. Es wäre unmöglich zu finden, außer du weißt den genauen Ort«, stellte Addison fest. »Nein, den weiß ich nicht.« Ich machte eine kurze Pause, denn das was ich nun vorschlagen würde, ist einfach Wahnsinn – selbst für meine Verhältnisse. »Auch wenn es noch verrückter kling, aber ich habe das jetzt schon eine ganze Weile durchdacht. Ich denke, unsere einzige Möglichkeit ist es, wenn wir uns an diese Person halten. Ich habe sie genau vor Augen und weiß wie sie aussieht. Wir könnten ein Foto mit dem PC erstellen, was diese Person darstellt. Jetzt das Verrückte: Wir müssen eine Zeitmaschine bauen und das Foto den Leuten von früher zeigen, um zu dieser Person und somit schließlich zum Eingang zu gelangen.«     

»Eine Zeitmaschine? Ich dachte immer, so etwas könnte man nicht entwickeln«, sagte Ashley. »Ja, weil es so unglaublich kompliziert ist, dass es schon fast unmöglich ist. Aber ich bin der Meinung, wenn ich mich konzentriere, schaffe ich das. Jetzt gerade kann ich es zwar schlecht beurteilen, aber ich habe mir bereits als Ashley in mir war, ein Bild von der Sache gemacht.«     

»Heißt das also wir werden in der Zeit reisen? Wann war Deutschland denn geteilt? Das ist doch schon ewig her. Hatten die da denn schon Fotos?«, fragte Chloe. »Was? Ich habe in Geschichte nicht so gut aufgepasst.« »1989 gab es schon Fotos. Wir dürfen es eben nicht in High Quality ausdrucken, sondern authentisch. Wir dürfen dann natürlich unter keinen Umständen auffallen und nichts verändern. Veränderungen könnten im schlimmsten Fall bewirken, dass wir in der Zukunft gar nicht mehr geboren werden«, warnte ich die anderen.      »Weißt du denn wenigstens, ob wir in den Osten oder in den Westen müssen? Zu der Zeit war es ja nicht so einfach die Seiten zu wechseln«, bedachte Addison. »Nein, ich gehe schwer davon aus, dass wir im Osten suchen müssen. Es ist naheliegend im Osten ein Loch zu graben, um in den Westen zu flüchten«, sagte ich. »Puh, das ist alles so lange her. Bist du da ganz alleine drauf gekommen? Ich weiß ja, dass du schlau bist, aber es scheint mir trotzdem etwas weit hergeholt«, meinte Chloe. »Naja, in meinem Traum hat der Mann ständig etwas vor sich hingemurmelt. Warte, ich habe die Zeilen aufgeschrieben, da er sie so oft wiederholt hat, dass ich sie inzwischen auswendig kann.« Ich kramte den Zettel aus meiner Hosentasche hervor und überreichte es den anderen. Währenddessen ging ich automatisch abermals den Text in meinem Kopf durch:

Die Zeiten sind noch zu ändern. Wird’s je ein Ende nehmen? Doch einer wird’s beenden müssen. Eh das Ende niemals kommt.

Verschließ den Schlüssel in das Grauen, der in die Tiefe führt. Auch wenn du dich selbst gerettet hast, deine Nachfolger wird’s wieder plagen.

Drum schlage alle Warnung in den Wind. Verschließ das Grauen der Wiederholung. Und helfe dir selbst, deinen Nächsten. Vergangenheit am längsten eilt.

»Das Grauen der Wiederholungen? Ist das irgendwann in der Vergangenheit denn schon Mal passiert?«, fragte sich Ethan. »Gut möglich. Deswegen müssen wir es endlich beenden. Der Planet ist zerstört – die Vodmus sollten also kein Problem mehr darstellen. Haben wir die verlorenen Menschen erst Mal gefunden, sollte die Sache erledigt sein«, sagte ich.     

»Ich weiß zwar immer noch nicht, wie du darauf gekommen bist eine Zeitmaschine bauen zu wollen, nur um diesen dummen Eingang zu finden. Aber du hast wahrscheinlich Recht – es ist unsere einzige Chance«, sagte Chloe, überlegte kurz, bevor sie fortfuhr: »Außerdem ist die Sprache des Textes ziemlich komisch geschrieben, als wäre er aus der Vergangenheit. Okay, das alles handelt von der Vergangenheit. Zeitmaschine ist vielleicht doch naheliegender als ich am Anfang dachte.«     

Wir schauten Chloe alle verdutzt an. »Äh, ich weiß ja, dass ich nicht der Hellste bin und du wahrscheinlich einen besseren IQ als ich besitzt. Aber selbst ich könnte ohne irgendwelche Superkräfte darauf kommen, eine Zeitmaschine zu bauen – wenn es denn möglich wäre. Und da es das ist verstehe ich nicht, was dein Problem ist«, sagte Avery irritiert zu Chloe, die nun verlegen grinste und flüsterte: »Mann, vergesst es einfach.«

Kapitel 15

 [Tyler Williams]

 

Auch wenn es eine Weile gedauert hatte, kamen langsam meine Erinnerungen zurück. Bella, die die ganze Zeit nervös umher lief und darauf wartete, dass endlich meine Erinnerungen zurückkamen, schien langsam Panik zu schieben. Sie fragte die Leute doch tatsächlich, ob nicht irgendwer ein Handy dabei hätte. Natürlich war das vollkommener Quatsch, denn hier unten hatte man überhaupt keinen Empfang.     

»Bella! Ich erinnere mich wieder. Du musst dich beruhigen.« »Wie soll ich mit beruhigen, wenn mir keiner zuhören möchte? Wie soll ich die Menschen hier unten warnen?«, fragte sie. Ich ging auf sie zu und hielt sie an den Schultern fest. »Ein und aus atmen, Bella. Sie hören dir nur nicht zu, weil die Idee mit dem Handy Schwachsinn ist.«     

Völlig perplex sah sie mich an. »Oh Gott, ich werde langsam verrückt. Tyler, du bist bestimmt der Nächste.« »Das denkst du doch nur, weil Rick dir das eingeredet hat. Man kann nur verrückt werden, wenn man die Angst zulässt. Wenn du dich beruhigt hast, werden wir es noch Mal versuchen. Aber dieses Mal zusammen als Team.« Sie schloss für einen kurzen Augenblick ihre Augen und nickte mir zu, nachdem sie diese wieder geöffnet hatte. Ich überlegte kurz, bis mir schließlich klar wurde: »Du hast das lautere Organ.«     

Bella verdrehte die Augen, da sie wusste, dass ich eigentlich auch anders konnte. Doch eine riesige Menschenmasse ließ meine Stimme immer total piepsig klingen. Da konnte ich machen was ich wollte. Schlussendlich gab sie aber nach und schrie in die Menge: »Könntet ihr dieses Mal vielleicht einen Moment alle zuhören? Es ist wirklich wichtig und nein – ich es geht dieses Mal nicht um Handys.« Anscheinend musste sie ein Lachen unterdrücken.     

Einige von ihnen hörten auf, verzweifelt in der Erde zu graben. Nach und nach schauten immer mehr Menschen auf. Zwar konnte Bella nicht alle Leute auf sich aufmerksam machen, aber ein paar Ausnahmen gab es schließlich immer. Somit fing Bella trotzdem an zu sprechen.     

»Mein Freund Tyler und ich erinnern uns wieder daran, was passiert ist. Man könnte sagen, dass wir quasi geheime Ermittler waren. Viele von ihnen haben vielleicht in der Zeitung gelesen, dass immer mehr Menschen verschwinden. An diesem Fall haben wir gearbeitet. Wir wollten der Sache auf den Grund gehen. Leider gehören wir nun selber zu den Opfern.«     

Ein eher schlaksiger Mann mit wildem Bartwuchs im Gesicht fragte ein wenig gereizt: »Schön für euch. Wir sind also Opfer eines Verbrechens. Hilft uns das jetzt irgendwie hier wieder raus zu kommen. Wir haben nämlich nicht mehr lange zu leben. Einige von uns haben es schon nicht geschafft.« Dabei zeigte er auf Leichen, die im hinteren Bereich herum lagen. Die hatte ich zuvor noch gar nicht wahrgenommen. Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte. Schnell wendete ich den Blick ab und schaute wieder zu den Lebenden. »Wir wollen euch doch nur Hoffnung machen. Der Rest unserer Gruppe scheint nicht hier unten zu sein. Es ist irgendwie schwer zu erklären, aber unsere Gruppe hat es einfach drauf. Wir haben Sachen über diesen Fall herausgefunden als hätten wir Superkräfte. Was ich damit sagen will: Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass sie uns finden werden. Wir haben nämlich schon weitaus Schwierigeres gemeistert.« Eigentlich klangen meine Worte nun sogar selbstbewusster als ich mich eigentlich fühlte.     

»Ich hoffe, dass ihr Recht habt«, sagte eine Frau, die schwanger zu sein schien. Ich musste schlucken. Diesen Außerirdischen musste es an einer Seele und menschlichem Mitgefühl fehlen. Dieses einer schwangeren Frau anzutun war echt das Letzte. Aber die Vodmus sahen uns bald sowieso alle hier unten. Eine unterirdische Erde, gefüllt mit Toten. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass dieser Untergrund unendlich groß sein müsste. Dass Bella und ich uns hier unten gefunden hatten, war bestimmt nur ein Wunder gewesen. Es war ganz und gar nicht auszuschließen, dass der Rest nicht auch hier unten war. Wir konnten also nur noch hoffen.

Ich konnte mich nicht daran erinnern mich in meinem gesamten Leben schon mal schlechter gefühlt zu haben als im Moment – und ich hatte schon so einiges Unschönes erlebt. Inzwischen hatte ich vergessen, wie viel Zeit ich hier unten bereits verbracht hatte. So mussten sich also die Menschen in Afrika fühlen. Die trockene Zunge, die ständig nach Wasser verlangt oder das ununterbrochene Magenknurren, das man nicht mehr abstellen konnte. Meine Körperfunktionen sanken langsam auf ein minimales Pensum runter. Anstatt wie jeder hier nach einem Ausgang zu graben, gehörte ich jetzt zu der Sorte, die nur noch auf dem Boden vor sich hin vegetierte. Dasselbe konnte man auch von Bella behaupten.     

»Sie… sie haben es … es nicht geschafft, oder?«, fragte sie mich mit Mühe, vielmehr Energie blieb ihr nicht mehr. Ich wusste genau was sie meinte, wollte es aber irgendwie nicht richtig wahr haben. Wahrscheinlich hatten sie einfach nicht genügend Zeit gehabt, um uns zu retten. Oder sie wussten einfach nicht, dass man hier unten schneller stirbt als in der Hölle. Oder genauso schnell, denn das was Rick Bella erzählt hatte stimmte: Das hier war die Hölle.     

Während ich so auf dem aufgeheizten Boden lungerte, drehte sich mein Körper noch mit letzter Mühe nach Bella um. Ich hatte das Gefühl, dass ihre sonst schon so schwarzen Haare noch schwärzer wirkten. Vielleicht lag das an ihrer blassen Haut. Jegliche Farbe und Wärme aus ihrem Gesicht war aufgebraucht.       

Wäre die Situation jetzt anders gewesen, hätte ich sie wahrscheinlich daraufhin gewiesen, dass ihr Sommerkleid hoch gerutscht war. Stattdessen presste ich mit letzter Kraft heraus: »Wir … besonders du… fehlten bestimmt, damit unsere Gruppe … komplett ist. Nur als Team sind wir stark – dieser Spruch ist … ja so verdammt … wahr.«     

Bella streckte ihre Hand nach mir aus und ich ergriff diese. Wenigstens konnten wir zusammen sterben. Nicht viele Leute hier unten konnten das von sich behaupten. Bella wollte noch irgendetwas zu mir sagen, doch leider war ihre Stimme so gedämpft, dass ich sie nicht verstehen konnte. Erst als ich spürte, wie der Druck ihrer Hand schwächer wurde, überrollte mich die Finsternis.

Kapitel 16

 [Chloe Bennett]

 

»Kann mir jetzt noch Mal bitte jemand erklären, warum Emily und Addison nicht mitgekommen sind?«, fragte ich, während wir auf dem Weg zum Theaterladen waren. »Addison möchte in Sachen Sport und Kampf ein wenig trainieren. Trotz ihrer Fähigkeit kann man einfach alles noch ein bisschen verbessern. Tja, Emily ist eben Mittel zum Zweck, um übernatürlich zu werden«, erklärte mir Mrs. Sunshine alias Ashley Summers höchstpersönlich.     

»Ach was. Das erklärt aber nicht, warum ich dieses Mal nicht mein Talent zum Klamotten schneidern einsetzen darf«, murmelte ich missmutig, da ich ihnen diese Frage jetzt bestimmt schon tausend Mal gestellt hatte und immer noch keine Antwort erhalten hatte. Wäre Addison jetzt hier, hätte sie mir bestimmt geantwortet.     

Als ich erneut zur Frage ansetzten wollte, hielt es Avery anscheinend nicht mehr aus und maulte genervt: »Weil du unsere Kleidung nicht authentisch hinbekommst. Emily will, dass wir zu der Zeit auf der Straße leben – als Penner eben. Da passt ein pinkes Prinzessinnenkleid leider nur sehr schlecht.«     

Ich schlug meine Arme über der Brust zusammen. Pah, Prinzessinnenkleid. Natürlich kann ich auch Mode für Straßenpenner entwerfen. Doch ich hielt meine Wut jetzt einfach zurück, weil hier eh alle gegen mich waren.      »Weiß jemand noch, wo Emily vorhatte die Zeitmaschine hinzustellen?«, fragte Ethan neugierig. »Wie der Ort genau hieß weiß ich auch nicht mehr. Ich weiß nur, dass es irgendwo in Seattle ist, wo keine Leute weit und breit vorbei schauen«, antwortete Ashley.     

»Wie weit seid Ethan und du eigentlich mit dem rollenden Gefäß?«, fragte Avery Ashley. »Fertig. Jetzt fehlen nur noch die Rollen und Emily, Addison und ich können euch drei damit nach Deutschland schieben.«     

»Ich weiß ja, wie unglaublich eure Kräfte sind, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie ihr so schnell sein könnt, dass wir über den Ozean fahren können«, sagte ich. »Tja, können wir aber«, sagte Ashley lachend, während sie die Tür zum Theaterladen öffnete.     

Als wir den Laden betraten, war wirklich alles chronologisch geordnet. Im rechten Gang thronte ein riesiges Schild mit der Aufschrift: historische Stücke. Und auch dieser Bereich war noch mal in die einzelnen Zeitabschnitte unterteilt. Emily hatte Recht gehabt, dieser Laden war echt gigantisch.     

»Dann lasst uns Mal anfangen mit der Suche. Komm Ethan, wir schauen mal da runter«, sagte Avery und schleifte Ethan mit sich. Ashley drehte sich zu mir um und meinte in ihrem üblichen aufheiternden Ton: »Dann haben wir beiden wohl das Vergnügen miteinander.«     

Ich konnte einfach nicht anders als meine Augen zu verdrehen. Wahrscheinlich könnte die Welt untergehen und Ashley würde immer noch strahlen. »Würde es dir was ausmachen, mal ein wenig betrübter zu sein? Ich meine Tyler und Bella sind schließlich wer weiß wo.«     

Überraschender Weise senkte sie wirklich den Blick. »Ich weiß. Ich kann einfach nicht anders. Wahrscheinlich bin ich in meinem inneren einfach zu gefroren, um irgendwelche problematischen Dinge an mich ran zu lassen.«     

»Zu gefroren? Rede doch keinen Unsinn. Das ist ganz sicher nicht der Grund – glaube mir, ich kenne mich da aus. Früher war ich mit tausenden von dieser Sorte von Mädchen befreundet. Du bist das genaue Gegenteil von denen. Du bist glücklich, weil du es nicht haben kannst, wenn es den Menschen um dich herum schlecht geht und du sie aufheitern möchtest. Sicher nicht, weil du in deinem Inneren gefroren bist.«     

»Woher weißt du das, wenn ich mir da nicht Mal selber sicher bin?«, fragte mich Ashley verwirrt. »Weil eigentlich nur die wenigsten Menschen sich selber am besten kennen.« Während Ashley über meine Worte nachdachte, wühlte sie nach den passenden Kleidungsstücken. Ich machte einige Schritte auf sie zu. »Aber hey, ich gehöre zu der Sorte, die das wirklich nicht braucht. Du kannst das also ruhig lassen.«     

Eigentlich hatte ich etwas wie ein Okay erwartet. Stattdessen bemerkte ich, wie sie ganz plötzlich zu Boden sank und die Hände in ihr Gesicht grub. Leise fing sie an zu schluchzen. Ich seufzte. »Okay, so war das jetzt nicht gemeint. Wir sind hier schließlich in einem öffentlichen Geschäft.« Ich schaute mich im Laden um, doch anscheinend hatte uns keiner bemerkt. Ich hielt ihr meine Hand entgegen und zog sie vorsichtig an meine Schulter. »Schon okay, lass alles für einen kurzen Augenblick raus.«     

Und dann schluchzte sie auch schon los: »Ich muss einfach die ganze Zeit an Emilys Worte denken. Sie meinte, dass Tyler und Bella inzwischen wahrscheinlich schon tot wären, da sie immerhin unter der Erde sind. Ich weiß, wir haben vor mit der Zeitmaschine nicht zu dem Zeitpunkt zurückzukehren, wann wir auch gestartet sind. Sondern früher, wenn Bellas und Tylers Verschwinden noch nicht so lange her ist und sie noch leben. Aber sie mussten doch trotzdem sterben! Das ist grausam.«     

Ja, daran hatte ich auch schon gedacht. Ich hatte Emily deswegen auch schon gefragt, warum wir nicht einfach noch früher zurückkommen könnten. Dann, wenn Tyler und Bella noch gar nicht von den Vodmus gefangen genommen worden wurden. Aber wie sollten wir das verhindern? Das Gruselige war ja: Uns gab es dann in doppelter Fassung. In einer Rakete konnten wir ja schlecht irgendwas verhindern. Aber kurz nach dem Verschwinden der beiden, waren unsere anderen Ichs noch auf dem Rückweg zur Erde. Eine gute Möglichkeit also, um Tyler und Bella zu retten.     

Emilys Plan war ohne Zweifel der Bestmöglichste. Natürlich, immerhin war sie superschlau. Trotzdem konnte ich Ashley verstehen. In diesem Leben mussten die beiden sterben – und das sicher nicht auf angenehme Weise. »Ich weiß«, erwiderte ich nur.     

Als wir da so rumstanden, hatte ich gar nicht bemerkt, dass uns nun doch Leute bemerkt hatten. Die Stimme, die sich neben uns räusperte, schien männlich zu sein. »Ist hier alles in Ordnung?«     

Ich wollte gerade erwidern, dass er sich keine Gedanken machen brauchte, da hob Ashley den Kopf und fragte verdutzt: »Professor Conner?« Erstaunlicherweise brauchte ich nicht lange, um darauf zu kommen, dass das der Professor sein musste, dem Ashley, Addison und Emily ihre Fähigkeiten verdankten.     

Als er sie nur verwirrt anstarrte, weil Ashley ihn erkannte, erklärte Ashley nicht ganz wahrheitsgemäß: »Sie sind doch der Professor, der an den drei Babys diesen Versuch durchgeführt hat. Ich erinnere mich an ihr Gesicht aus den Zeitungen, weil ich selber an der Wissenschaft interessiert bin. Was machen sie denn in diesem Theaterladen?«     

Dem Professor schien Ashleys Frage unangenehm zu sein, denn er brauchte ziemlich lange, bis er die passende Antwort parat hatte. »Nachdem mein Versuch schief gegangen ist… und diese beiden Babys sterben mussten… habe ich der Wissenschaft den Rücken gekehrt. Der Lohn im Theaterladen ist zwar nicht sonderlich vielversprechend, aber wenigstens töte ich durch diesen Beruf keine kleinen, unschuldigen Babys.«     

Man konnte merken, dass Ashley Professor Conner eigentlich die Wahrheit sagen wollte. Sie wollte ihm sagen, dass sie und Addison gar nicht tot waren und noch lebten. Sie wollte ihn ermutigen, der Wissenschaft treu zu bleiben. Aber würde sie ihr Geheimnis der Öffentlichkeit Preis geben, wäre das Leben der drei sicher alles andere als normal. Sie müssten bestimmt ständig an Versuchen teilnehmen. Ashley schien dem Risiko bewusst und sagte deshalb nur: »Ich habe selber auch schon schlimme Fehler in der Wissenschaft durchgeführt, aber aufgegeben habe ich trotzdem nicht.«     

»Aber warum? Was in aller Welt kann Menschenleben Wert sein? Der Spaß? Nur weil ich gerne neue Dinge erschaffen möchte?«, fragte er provokant. »Nein, das nicht. Nur eines ist die Wissenschaft Wert und das ist auch der Grund warum es sie gibt. Vielleicht haben sie das nur vergessen. Der Fortschritt, der irgendwann vielleicht so groß ist, dass er dutzende von Menschen das Leben retten kann.«     

Professor Conner dachte eine Weile darüber nach. »Aber es gibt so viele Risiken, die es bestimmt gar nicht mal Wert sind. Vielleicht werde ich gar nichts erreichen.« »Manchmal muss man aber Risiken eingehen, um sein Ziel zu erreichen«, sagte Ashley als würde sie jemanden zitieren.     

Nun kamen auch Avery und Ethan wieder auf uns zu. In ihren Händen hatten sie einen Haufen altertümlicher Kleidung, die alles andere als schön aussah. Aber wahrscheinlich genauso, wie Emily sie haben wollte. »Wir haben für jeden was gefunden«, verkündete Ethan.     

Professor Conner beäugte Avery und Ethan, die auf uns zukamen. »Ich nehme Mal an, dass diese beiden Jungs zu euch gehören. Dann kann ich euch ja zur Kasse begleiten.« Ashley unterdrückte einen Seufzer, da sie sich wahrscheinlich erhofft hatte, Professor Conner würde noch so etwas sagen wie: Du hast Recht. Ich widme mich wieder der Wissenschaft.     

Als er die Kleidung über den Sensor zog, schien er mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache zu sein. Den Preis sagte er uns nicht Mal, denn Ashley griff von alleine ins Portemonnaie und drückte ihm das Geld in die Hand.     

Während er die Kleidung in Tüten packte, sagte er schließlich: »Danke, dass du mich ermutigt hast es mit der Wissenschaft nicht aufzugeben.« »Heißt das, sie kündigen hier und eröffnen ihr Labor wieder?«, fragte Ashley hoffnungsvoll. »Das habe ich nicht gesagt. Aber ich ziehe es, dank ihnen, nun zumindest wieder in Erwägung.« Anscheinend schien Ashley diese Aussage zu genügen, denn als sie den Laden verließ, hatte sie wieder ihr typisches Mrs. Sunshine-Grinsen im Gesicht.

Kapitel 17

 [Emily Tanner]

 

Die Arbeiten an der Zeitmaschine in den Sümpfen von Seattle waren alles andere als angenehm. Wir befanden uns auf einer kleinen Insel, auf der wir nur mit Mühe alle drauf passten und das auch nur, wenn Addison und Ashley in meinem Körper waren. Um uns herum war überall Moor, indem man superschnell versinken könnte. Was tat man nicht alles, um sicher zu gehen, dass wirklich keiner diese Zeitmaschine finden würde?     

Das Schlimmste war es ja gewesen, die drei ohne Superkräfte auf diese Insel zu bekommen. Es war nicht schwierig, immerhin konnte ich super weit springen und war so stark, dass ich sie ohne Probleme tragen konnte. Aber ich fühlte mich trotzdem etwas unbehaglich ausgewachsene Menschen auf den Arm zu nehmen, als wären sie Babys. Besonders bei Avery spannte sich mein Körper ungewollt nervös an, woraufhin mich Addison gleich ansprach als sie es bemerkte. Was ist denn los?     

Frag besser nicht, antwortete Ashley für mich, wodurch mir klar wurde, dass sie seine Gedanken damals sehr wohl gehört hatte. Ist eine ziemlich private Sache. Doch als Ashley das Wort privat sagte, verstand Addison sofort. Oh, spannend. Ich will mehr Details. Die gibt es nicht, antwortete ich schlicht. Da Addison bemerkte, dass ich dieses Thema jetzt nur ungern diskutieren wollte, hielt sie einfach ihren Mund. Allerdings war mir klar, dass das für sie noch lange nicht abgeharkt war. Sie würde mich irgendwann wieder darauf ansprechen. Es war nur noch eine Frage der Zeit.     

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es heute schon los gehen soll«, sagte Ethan ganz aufgeregt. Währenddessen zwängte ich das rollende Gefäß in die Zeitmaschine. »Und ich kann nicht glauben, dass ich diese Kleidung trage«, murmelte Chloe und schaute angewidert an sich herunter.     

Die Kleidung für Addison und Ashley hatte ich in meinen Rucksack gepackt, der für das 20. Jahrhundert angemessen war. Nacheinander betraten wir jetzt schließlich alle die Zeitmaschine. Nervös tippte die das Datum und die Uhrzeit ein: 15.07.1989, 10:00. »Bereit?«, fragte ich.     

Als die drei nickten und auch Addison und Ashley mit Bereit antworteten, legte ich endlich den Schalter um. Die Moorlandschaft um uns herum löste sich in Luft auf und alles war nur noch schwarz. Wie ich schon vermutet hatte, bekamen wir Druck in den Ohren und verloren das Bewusstsein.

»Emily?« Irgendjemand schüttelte mich schließlich wach und als ich die Augen öffnete, nahm ich Chloes lange blonde Mähne wahr. »Gut, du bist wach.«     

Ethan war anscheinend immer noch weggetreten. Aber Avery oder Chloe hatte die Tür zur Zeitmaschine schon geöffnet. Diese Gegend hatte sich anscheinend über die Jahre kaum verändert. Wir standen immer noch in einer Landschaft voller Sümpfe. Jetzt erblickte auch Ethan das Tageslicht wieder.     

»Die Insel ist weg. Wir können ohne Probleme von hier verschwinden«, bemerkte ich als ich das rollende Gefäß nach draußen schob. »Dann wollen wir mal«, sagte Avery und stieg als erster in das Gefäß, gefolgt von Ethan und schließlich auch Chloe. »Das dauert doch jetzt sicher ein wenig, oder?«, fragte Chloe, die sich nicht mit den Gedanken anfreunden konnte, für längere Zeit in diesem Holzgestell zu sitzen. »Also es geht auf jeden Fall schneller als fliegen. Wie schnell genau, kann ich dir leider nicht sagen. Aber eins weiß ich: Wir sind so schnell da, dass dir ganz sicher nicht langweilig wird«, antwortete ich ihr.     

Und ich hatte Recht behalten. Während ich die drei über die Staaten von Amerika fuhr, hörte ich ununterbrochen Worte wie: Wahnsinn oder Cool. Ich erinnerte mich daran, wie ich das erste Mal so richtig gerannt bin. Die Worte waren schon irgendwie zutreffend. Zwar waren wir so schnell, dass man kaum etwas um sich herum erkennen konnte – aber das tat auch nichts zur Sache. Es war einfach ein unbeschreibliches Gefühl.     

In einem verlassenden Wäldchen von Ostberlin kam ich schließlich zum Stehen. »Wie jetzt? Wir sind schon da?«, fragte Chloe verdutzt. Ich musste lachen. »Jap. Versteckt in Wagen hinter den Bäumen. Hier kommt zwar normalerweise niemand her, aber ich will auf Nummer sicher gehen. Ich habe keine Lust erst noch einen neuen Wagen zu bauen. Wisst ihr noch die Rolle, die ich für euch geschrieben habe?«     

»Die, wo ich eine Jugendliche namens Erna bin, die von Zuhause weggelaufen ist? Kann ich gut nachvollziehen. Würde ich manchmal auch gerne«, sagte Chloe. »Genau, wir sind alle weggelaufen und sind so auf der Straße Freunde geworden. Denkt daran, ich heiße jetzt Paula.«     

Dürfen wir jetzt vielleicht wieder raus?, fragte Addison.     

Ach, klar. Worauf wartet ihr?, antwortete ich. »Ich bin die Anna«, sagte Ashley lächelnd. »Kann man sich gut merken. A und A.« »Schön für dich. Ich vergesse Frieda aber immer wieder«, maulte Addison.     

»Warum hast du dir den Namen dann ausgesucht?«, fragte ich sie. »Weil die anderen deutschen Namen noch blöder waren.« »Gerd hört sich doch cool an, oder?«, fragte Avery. »Ja, fast so cool wie Heinrich«, antwortete Ethan. »Der ist bestimmt reich.« Chloe schnaufte. »Rich? In Deutschland heißt das aber nicht reich. Außerdem bist du ein Penner, Ethan. Aber warum wir alle nicht sprechen können – außer dir, Emily –, verstehe ich immer noch nicht.«     

»Was gibt es daran nicht zu verstehen? Oder kannst du etwa so gut deutsch sprechen, dass das nicht auffällt, dass du gebürtig aus Amerika kommst?«, fragte ich sie. »Ne, aber können wir uns nicht gleich einfach als Amerikaner ausgeben? Warum die deutsche Identität?« »Weil es ziemlich auffällig wäre, wenn Amerikaner nach Ostberlin auswandern.« Chloe wollte immer noch nicht locker lassen. »Ach, und ein Haufen Leute, die nicht sprechen können, ist weniger auffällig?« »Na ja, vielleicht ist das der Grund, warum wir uns auf der Straße miteinander angefreundet haben. Weil wir alle die gleichen Probleme haben«, erklärte ich. »Aha. Und du hast dich zu einer Truppe von Stummen gesellt, weil du sie so faszinierend findest«, sagte Chloe sarkastisch.     

Ich stöhnte. »Na fein. Dann bin ich halt mit einem von euch verwandt. Du hast Recht, dann ist es weniger auffällig.« »Warum kannst du überhaupt so gut deutsch sprechen, wenn weder Addison noch Ashley in dir drin sind?«, wollte Ethan wissen.       

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht weil mich die deutsche Sprache schon immer interessiert hat und sie mir einfach im Gedächtnis geblieben ist.« Chloe brachte uns wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Ich würde sagen, dass wir Emily als Ethans Schwester ausgeben. Die beiden sehen sich irgendwie am ähnlichsten. Aber ich halte es immer noch für unwahrscheinlich, dass sich fünf stumme Leute auf der Straße anfreunden. Zwei vielleicht, aber doch nicht fünf Stück.«     

Chloes Kritik ging mir irgendwie auf die Nerven, aber ich musste mir eingestehen, dass sie Recht hatte. »Dann bilden wir eben drei Gruppen mit zwei Personen und teilen uns auf. Abends treffen wir uns dann wieder genau hier und tragen unsere Ergebnisse zusammen. Zufrieden?«     

Chloe nickte etwas verlegen. »Wenn ich mit Addison ein Team bilden darf.« Avery lachte. »Ich glaube, dass das eher bei Addison als bei Emily liegt und ob sie so lange mit dir durchhält.« Auf Addisons Gesicht bildete sich zwar ein kleines Grinsen, doch sie meinte trotzdem: »Klar, willkommen in meinem Team.«     

»Da ich ja Ethans Scheinschwester bin, sollte ich wahrscheinlich auch mit ihm gehen«, sagte ich. Avery schnaubte. »Wow, das erste Mal, dass ich als letztes ins Team gewählt werde. Dann muss ich wohl mit dem zufrieden sein, was ich bekomme.« Ashley verdrehte die Augen und murmelte: »Genau. Ich freu mich auch mit dir in einem Team zu sein.«     

Avery begann zu lachen. »Haben wir es dann endlich? Ich will nämlich endlich unter Leute und das 20. Jahrhundert kennenlernen.«     

»Gleich«, sagte ich, während ich Zettel und Stifte aus meinen Rucksack holte. »Ich habe für jedes Team Sätze angefertigt, die ihr den Leuten zeigen könnt, wenn ihr ihnen auch das Foto zeigt. Hier steht zum Beispiel auf Deutsch: Ich suche diese Person. Haben Sie die gesehen? Ich habe aber auch: Ich lebe auf der Straße und kann nicht sprechen. Ich hoffe, dass euer Deutsch so gut ist, dass ihr im Notfall selbst etwas aufschreiben könnt. Dazu bekommt ihr auch leere Zettel mit Stiften.«     

»Also ich kann ganz gut Deutsch«, sagte Chloe mit einer Stimme, die leicht eingebildet rüber kam. Aber so kannten wir sie ja. »Ich kann nur Ja und Nein. Hallo und Tschüss vielleicht noch, aber mein Wortschatz ist dann doch eher begrenzt«, sagte Avery mit gesenktem Blick.     

»Tja, aber dein notgedrungen gewähltes Teammitglied ist dafür besser«, sagte Ashley und man sah ihr an, dass sie es richtig genoss diesen Satz zu sagen.     

Nachdem ich allen ihre Unterlagen ausgehändigt hatte, machten wir uns dann endlich auf den Weg Richtung City. Gut, dass ich alles in mehrfacher Ausfertigungen mitgenommen hatte. Sachen konnten immer verloren gehen oder man entschied sich halt spontan getrennte Wege zugehen. Alles möglich.

Kapitel 18

[Chloe Bennett]

 

Insgeheim konnte ich eigentlich besser Deutsch, als wahrscheinlich der Rest der Gruppe vermutete. Ich hatte hier schon des Öfteren Urlaub gemacht. Eigentlich müsste ich mich gar nicht als stumm ausgeben, denn den deutschen Akzent hatte ich inzwischen ziemlich gut drauf. Aber wahrscheinlich würde man mir sowieso nicht glauben. Wenn ich auch stumm bin, sind wir nämlich auf der sichereren Seite. Doch obwohl ich nicht das erste Mal in Berlin war, erkannte ich gar nichts wieder. 1989 war einfach alles so anders.     

Und die Sache mit dem Foto hatte ich mir auch anders vorgestellt. Die Menschen zu dieser Zeit, zumindest in Ostberlin, waren nicht so hilfsbereit wie zu unserer Zeit. Die meisten schauten sich unser Foto nicht mal an und beachteten uns gar nicht. Wenn sie es wie durch ein Wunder dann doch taten, erkannten sie die abgebildete Person jedoch nicht.     

»Das wird doch nie was. Was ein Glück, dass wir unbegrenzte Zeit haben«, stieß ich hervor. Addison nickte nur und hielt ihren Zettel gleich dem nächsten vor die Nase. Vielleicht waren die Menschen so verschlossen, weil sie der Meinung waren, dass wir Geld von ihnen wollen. Und spenden will hier natürlich niemand. Langsam machte ich mir darüber Gedanken, ob ich den Obdachlosen in Seattle vielleicht mehr Beachtung schenken sollte. Ich hätte zwar nie gedacht, dass ich das mal denken würde: Aber ich verstand langsam wie sich die Obdachlosen fühlen mussten.     

»Ich will nicht eine halbe Ewigkeit auf der Erde schlafen«, sagte ich. »Denkst du ich? Wir dürfen einfach nicht aufgeben und müssen weiter fragen.« »Wir hätten bestimmt mehr Erfolg, wenn wir den Leuten nicht einfach Schilder hinhalten würden. Ich kann Deutsch – wie gesagt.« »Und was ist mit deinem amerikanischen Akzent?«, fragte mich Addison. »Den kann ich abstellen. Ich war schon ziemlich oft in Deutschland. Meine Tante wohnt hier. Vertrau mir einfach.«     

Addison schien hin und her gerissen zu sein. Einerseits hatten wir mit Emily etwas anderes vereinbart. Würden wir auffliegen, gäbe es von ihr richtig Ärger. Andererseits kamen wir kein Stück voran und das war vielleicht unsere einzige wirkliche Chance.     

»Na schön. Dann überlass ich jetzt dir das Kommando. Aber wenn was schief geht, geht das auf deine Kosten.« Ich grinste sie an. »Dann sehe zu und lerne. Wir müssen außerdem die richtige Altersgruppe ansprechen. Alte Knacker beachten uns doch eh nicht. Guck dir den an.« Ich zeigte auf einen Jungen mit Regenjacke. »Der ist süß und eher in unserem Alter.«     

Addison verdrehte die Augen. »Wir wollen hier niemanden aufreißen, sondern einen Typen finden, der bestimmt zehn Jahre älter ist als der da.« »Nur weil der Altersunterschied größer ist, heißt das nicht automatisch, dass er ihn nicht kennt. Außerdem frage ich mich, warum wir keine Amerikaner sein können. Berlin ist doch voll von Touristen.« »Ja, aber keiner von denen ist obdachlos.« »Dann hätten wir uns vielleicht einfach bessere Kleidung kaufen sollen«, harkte ich nach.     

»Hätte uns aber jemand abends schlafend auf der Straße entdeckt, könnten Fragen aufkommen.« Ich stöhnte. Ich hatte langsam das Gefühl, dass wir es uns schwerer machten als es eigentlich war. »Na schön, ich spreche den Typen jetzt jedenfalls an.«     

Schon etwas nervös tippte ich den Jungen auf die Schulter. Wobei die deutsche Sprache nicht das war, was mich nervös machte. »Entschuldigen Sie mich, kennen Sie zufälligerweise diesen Mann?« Ich kramte das Foto aus meiner Jackentasche und hielt es ihm vor die Nase. Er schaute mich etwas verwirrt an, da er anscheinend bemerkt hatte, dass meine Kleidung nicht zu meinem Aussehen passte. Außerdem schaute er, wie alle anderen, auf das ekelige Grüne auf meiner Hand. Aber wem konnte ich etwas vorwerfen? Es fiel nun mal auf.       

»Nein, tut mir leid. Ich habe keine Ahnung. Warum sucht ihr ihn denn?«, wollte er wissen. »Er ist der große Bruder meiner Freundin. Nachdem die Mauer errichtet wurde hat sie ihn nicht mehr gesehen. Sie ist von Zuhause abgehauen, wegen ihren Eltern – genau wie ich. Inzwischen leben wir zusammen auf der Straße.«      »Auf der Straße? Aber das ist ja furchtbar.« »Ja, und dazu kommt auch noch, dass meine Freundin nicht reden kann. Echt tragisch. Aber danke, dass du dir das Foto wenigstens angeschaut hast.«     

Ich wollte gerade wieder gehen, da packte mich der Typ am Arm. »Wartet. So zwei hübsche Mädchen wie ihr sollten doch nicht auf der Straße leben. Ich hätte noch ein Zimmer frei. Wenn ihr wollt, könnt ich dort wohnen – solange bis ihr ihren Bruder gefunden habt.«     

Addison, die von dem Gespräch anscheinend genug verstanden hatte, schrieb hektisch etwas auf das Papier: Klar, er ist süß. Aber wir brauchen kein Zuhause! Wir müssen abends zurück nach Emily. Als Antwort schrieb ich: Dann schleichen wir uns eben raus. Ich könnte ein weiches Bett echt gebrauchen. Außerdem habe ich das Kommando.     

»Warum nicht? Ein Bett kann schließlich jeder gut gebrauchen.« »Ich bin übrigens Oliver. Und ihr?« »Ich bin Erna und das ist Frieda.« Oliver musste lachen. Warum, wusste ich nicht. Hatten wir uns vielleicht komische Namen ausgesucht?

Olivers Haus war ziemlich schlicht und erinnerte eher an ein Gefängnis als an eine Wohnung. Es waren einfach andere Zeiten. Auch das Bett war viel zu kurz. Da würden wir unmöglich beide reinpassen. Ich fragte mich, wie er nur die ganze Zeit so leben konnte.     

Er klopfte sich die Füße auf einer Matte ab und wir taten es ihm nach. Als wir drinnen waren, schloss er einmal um und steckte den Schlüssel ein. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim.« »Warum schließt du denn ab?«, wollte ich wissen. Er grinste. Es war ein süßes Lächeln. »Na wegen Frieda.« Er zeigte auf Addison und setzte dabei Frieda in Anführungszeichen in die Luft.     

Ich verstand nicht ganz. »Was?« »Ich weiß genau, dass das nicht ihr wirklicher Name ist. Ja, Jennifer. Du hast richtig gehört. Dachtest du ich würde dich nicht wiedererkennen? Dieses Mal entkommst du mir nicht so einfach.«     

Addison starrte mich nur irritiert an, da sie wohl nicht ganz folgen konnte und nur mitbekommen hatte, dass Oliver auf sie gezeigt hatte. Ich wurde nervös. »Ich glaube hier liegt ein Missverständnis vor. Das ist nicht Jennifer. Sie müssen sie verwechseln.«     

Plötzlich verschwand Oliver ins Hinterzimmer und kam kurze Zeit später wieder. In seiner Hand hielt er ein Foto, das er uns zeigte. Es war schwarzweiß und zeigte Oliver wie er ein Mädchen im Arm hielt, dass Addison wirklich zum Verwechseln ähnelte. Auch ich war der festen Überzeugung, dass das Addison sein musste, wenn ich es nicht besser wusste.     

Addison, die sich nun auch auf dem Foto erkannte, stieß einen Schrei hervor. »Oh Gott!« »Ha, ich wusste es doch. Sie ist gar nicht stumm.« »Nein, aber …«, ich wollte Addison verteidigen, doch mir fiel keine Ausrede ein. Unsere Karten standen einfach nicht gut.     

»Okay, ich kann sprechen. Aber nicht Deutsch. Sondern Englisch. Ich kann das nicht sein. Ich komme aus Amerika«, versuchte sich Addison in letzter Not in perfektem Amerikanisch herauszureden.

»Du bist also nach Amerika ausgewandert nachdem wir Schluss gemacht haben?«, konfrontierte er sie unglücklicherweise. Er konnte anscheinend ziemlich gutes Englisch, weshalb unser Gespräch nun ins Englische schwankte. »Nein. Ich schwöre, ich habe dich noch nie in meinem Leben gesehen.«     

Er fing an zu lachen, allerdings war sein Lachen jetzt nicht mehr so süß, eher unheimlich. »Das würde ich auch sagen nachdem was du mir angetan hast.« Er ging langsam um den Tisch. »Ich warte auf diesen Tag schon so lange.«     

Addison versuchte es jetzt anscheinend auf eine andere Tour. »Hör zu. Ich werde schon einen Grund gehabt haben mit dir Schluss zu machen. Ich sage es noch mal: Das mit uns wird nichts.« »Als ob ich nach allem was mit uns passiert ist noch etwas mit dir anfangen wollte. Nein, ich warte auf diesen Tag schon so lange, weil ich mir Rache geschworen habe.«     

Okay, das wurde mir jetzt eindeutig zu viel. Schuldgefühle überrollten mich, weil ich Addison das Kommando entzogen hatte. »Bitte. Sie kann nie im Leben deine Exfreundin sein. Ich weiß doch auch nicht, warum sie da auf dem Foto ist«, versuchte ich es verzweifelt. »Möchte-gern-Erna, sei still. Sie hat doch gerade schon zugegeben, dass sie Jennifer ist.«     

Ich musste schlucken. »Was hast du jetzt vor?« Obwohl ich den Gedanken bizarr fand, musste ich es einfach fragen: »Sie etwa töten?« Er lachte erneut. »Töten? Nein, das wäre nicht gerecht. Ich werde sie quälen, sie wird Schmerzen erleiden – so wie sie es mit mir getan hat.« Urplötzlich packte er Addison am Arm und zerrte sie auf den Stuhl. Mit dickem Klebeband, das auf seiner Kommode lag, fesselte er sie auf den Stuhl.      Jetzt ging er auch auf mich zu, doch anders als Addison war ich darauf vorbereitet und flüchtete. Doch ich kam nicht weit, denn das gesamte Haus war kleiner als mein Zimmer. Ich musste allerdings feststellen, dass er mich nicht mehr verfolgte. Wo sollte ich denn auch hin?     

Mit Entsetzten musste ich feststellen, dass er ein Messer gezückt hatte, mit dem er Addison durchs Gesicht fuhr. Sie versuchte zu schreien, doch Oliver hielt ihr die Hand vor den Mund. »Na, na. Das ist doch erst der Anfang. Du musst dir deine Stimme noch aufheben.«     

Ich versuchte mich von hinten an ihn heranzuschleichen. In meiner Hand hielt ich eine Blumenvase, die ich auf der Fensterbank entdeckt hatte. Doch bevor ich ihm die Vase auf den Kopf schmettern konnte, hatte er mich schon bemerkt. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber du störst echt, möchte-gern-Erna.«     

Da fiel mir plötzlich mein Handy ein. Emily hatte mir zwar verboten es mitnehmen, doch natürlich hatte ich nicht auf sie gehört – zum Glück. Bevor Oliver irgendwas machen konnte, kramte ich es hervor. Mir war bewusst, dass wir auffliegen könnten, doch das war ein Notfall. Ich drehte mich von Addison und Oliver weg, weshalb Oliver auch wieder das Interesse an mir verlor.     

Das einzige was ich nun noch wahrnehmen konnte, waren Addisons entsetzlichen Schreie. Während ich über den Display fuhr, zitterten meine Hände am laufenden Band. Ja, ich hatte das erste Mal in meinem Leben richtige Angst. Klar, da war auch noch der Vorfall mit den Vodmus. Aber das ging alles so schnell, dass ich gar nicht richtig die Möglichkeit gehabt hatte, Angst zu verspüren. Als ich die richtige Applikation gefunden hatte, drehte ich mich und richtete mein Handy auf Addisons Hände und Füße. Kurz darauf löste sich das Klebeband von ihrer Haut, die Oliver in der kurzen Zeit ziemlich zugerichtet hatte. Ich konnte nicht anders als kurz aufzuschreien.     

Ich hatte ganz vergessen, dass Addison, obwohl sie nicht in Emilys Körper war, trotzdem ziemlich sportlich war. Sie realisierte schnell was passiert war und war blitzschnell auf den Beinen. Oliver war zu verwirrt und verstand nicht, was gerade passiert war. Kaum war sie hoch, tritt sie Oliver mit aller Kraft in den Magen, sodass er einige Meter nach hinten flog. Sie stürmte zu ihm und verpasste ihn noch ein paar Tritte und Schläge extra.      »Addison, stopp!«, sagte ich und packte sie am Arm. »Wir sollten verschwinden. Du bist schließlich keine Mörderin.« Man konnte merken, dass sie nur zu gern noch einmal zugeschlagen hätte. Sie schaute mich an und atmete langsam aus. »Na schön. Weg hier.«     

Sie hob einen Hammer vom Boden auf, den ich zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Um Gotteswillen, hatte er den etwa auch benutzt? Was war das bitteschön für ein Psychopath?     

Voll von Adrenalin hob Addison den Hammer und schlug auf die verschlossene Haustür ein. Als ein Loch entstanden war, das groß genug war, rief sie mir zu: »Kommst du?« »Einen Moment noch«, sagte ich und trat ihm ins Gesicht. »Gerechtigkeit muss halt sein. Er ist nicht tot, aber wenn er aufwacht, hat er mindestens genauso viel Schmerzen wie du jetzt.«     

Auf Addisons Gesicht erschien kurz ein Grinsen, bevor wir nacheinander durch den Türrahmen krabbelten. Obwohl wir Hochsommer hatten, erzitterte mein ganzer Körper als wir im Freien waren.     

»Addison, es tut mir ja so unendlich leid.«     

»Dir muss gar nichts leidtun. Du warst schließlich nicht diejenige, die mich verletzt hat. Du konntest ja nicht wissen, dass der Typ verrückt ist. So bist du nun mal: Du machst nie das was man dir sagt. Aber nur deshalb konnten wir entkommen, weil du entgegen Emilys Willen dein Handy mitgenommen hast.«     

Trotzdem wollte ich den Gedanken nicht loswerden, dass wir überhaupt nur wegen mir in diese Situation geraten waren. Während wir durch die herannahende Nacht gingen, fragte Addison plötzlich: »Glaubst du an Wiedergeburt?« Ich starrte sie verwirrt an. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«     

»Naja, eigentlich glaube ich da nicht dran. Aber dieses Mädchen auf dem Foto sah mir ziemlich ähnlich. Und da ich in diese Zeitepoche eigentlich nicht hingehöre…« Sie stockte kurz. »Ach, egal. Da sieht mir jemand wahrscheinlich nur verblüffend ähnlich.«

Kapitel 19

 [Ashley Summers]

 

Der Pub, den Avery und ich aufgesucht hatten, war eigentlich ziemlich cool. Er hatte etwas Gemütliches und Altertümliches. Lag bestimmt daran, dass wir in der Vergangenheit waren. Verrückt, ich konnte mich immer noch nicht daran gewöhnen.     

»Hey, Mona. Noch zwei Bier extra, bitte. Die beiden süßen hier können nicht reden. Außerdem haben sie jemanden geliebten verloren. Da verdienen sie wenigstens ein Bier, dass ich ihnen spendiere.« Ich war stolz auf mich, wie gut ich doch Deutsch konnte. Jahrelang in Emilys Körper gefangen zu sein, hatte doch seine Vorteile gehabt.     

Danke, schrieb ich auf den Zettel. »Kein Problem, Süße«, sagte der betrunkene, trotzdem sympathische ältere Herr zu mir. »Ihr beiden gibt ein echt süßes Pärchen ab«, sagte die Kellnerin Mona, wobei ich mich fast an meinem Bier verschluckte. Avery und ich? Das konnte sie doch wohl nicht ernst meinen. Ich musste immer noch an die Arme Emily denken. Ich würde nicht wissen, wie ich reagieren würde, wenn ich herausfinden würde, dass er mich liebte. Wahrscheinlich ging sie einfach davon aus, weil wir nur zu zweit waren, das gleiche Alter hatten und nicht vom gleichen Geschlecht waren. Ja, es waren wirklich andere Zeiten.     

Schnell kitzelte ich die Worte Er ist nur ein Freund auf den Zettel. Mona lachte. »Ach, das sind sie am Anfang doch alle.« Ich stöhnte und gab einfach auf. Ich konnte sie bestimmt eh nicht vom Gegenteil überzeugen. Avery trank einfach sein Bier und starrte Löcher in die Luft. Natürlich, schließlich konnte er kein Wort Deutsch. Als der ältere Mann Tom mich gefragt hatte, warum Gerd nie etwas schrieb, erfand ich einfach die Ausrede, dass er schüchtern wäre.     

Plötzlich setzte sich ein jüngerer Mann mit einer grauen Uniform neben uns. Ob er wohl ein Polizist war? Die Uniform sah fast so aus. Mona schien den Mann zu kennen. »Tag, Herr Offizier.« »Tag«, antwortete er und schaute Avery und mich neugierig an. »Nanu, neue Kundschaft?« Da wurde mir klar, dass dieses Lokal wohl hauptsächlich von Stammgästen aufgesucht wurde.     

»Ja, das sind Gerd und Anna. Sie können beide nicht reden. Deshalb haben sie sich auch kennengelernt. Ist das nicht süß?« Der Offizier brummte nur, was ich am liebsten auch getan hätte.     

Ich hielt ihm das Foto hin und hielt daneben das Schild: Kennen Sie diesen Mann vielleicht? Der Offizier schien nun interessierter. »Wieso? Was wollen sie von ihm?« Da er nicht nein gesagt hatte, schrieb ich mit Hoffnung die Worte: Er ist mein Vater. Ich habe ihn verloren und möchte zu ihm.     

»Wenn das so ist, dann kommt am besten Mal mit.«

Ich war den ganzen Weg mit Glück erfüllt als wir dem Mann durch Berlin folgten. Bis wir schließlich ein Gebäude erreichten, dass mir gar nicht seriös war. »Ach, ich bin übrigens von der Stasi.« Während er das sagte, legte er uns beiden Handschellen um. »Ihr seid festgenommen, weil ihr unser Volk verraten habt.«      Da ich nicht in der Lage war etwas zu schreiben, machte ich einfach nur ein lautes Hm?, da ich mir sein Vorgehen nicht erklären konnte. Schließlich erklärte er: »Dein Vater wurde wiederholt dabei erwischt, wie er nach Westberlin flüchten wollte. Du als seine Tochter bist da sicher nicht ganz unschuldig. Sei doch froh. Ihr seid dann endlich wiedervereint.«     

Ich blickte Avery angsterfüllt an. Ins Gefängnis? Das war alles andere als gut. Wir könnten echt auffliegen. Langsam schien auch Avery zu begreifen, aber auch nur, weil er die Handschellen sah und wurde unruhig. Wer formte stumm die Worte mit dem Mund, die wahrscheinlich Was? bedeuten sollten. Ich ersuchte es ebenfalls mit dem Wort: Gefängnis. Allerdings war das Wort zu lang als das man es erkennen konnte. Erstrecht nicht ein Dummerchen wie Avery.

Als die Tür zu unserer Zelle ins Schloss fiel und der Offizier verschwand, sagte Avery sofort: »Wie können die uns verhaften? Was haben wir denn getan?«    

Ich funkelte ihn wütend an, da er nicht bemerkt hatte, dass wir nicht alleine waren. Doch es war schon zu spät: »Sperrt die Stasi jetzt neuerdings auch Touristen ein?«, fragte der Mann, der eindeutig der vom Foto war, in Englisch. Dass wir Kleidung für Obdachlose trugen, war ihm wohl gar nicht aufgefallen. Doch zum Glück ging er gar nicht weiter auf dieses Thema ein: »Willkommen. Ich bin Heinz.«     

»Ashley«, antwortete ich wahrheitsgemäß, da er ja bereits von meiner amerikanischen Identität wusste. »Avery. Und zurück zum Thema, Ashley.« »Wegen meinem Vater. Er wollte in den Westen fliehen und anscheinend denken die, ich bin deshalb genauso schuldig.«     

»Dein…?«, setzte Avery an und ich wollte ihm wegen seiner Dummheit am liebsten schon eine Klatschen, doch an schwang er doch in die richtige Richtung um. »Ach, verstehe. Okay, dann haben wir jetzt wohl ein riesen Problem.« Endlich mal Worte, die wirklich sinnvoll waren.     

»Dann willkommen im Club. Ich sitze auch, weil ich fliehen wollte. Aber der Club ist inzwischen wahrscheinlich schon unendlich groß.« »Wie haben Sie denn versucht zu fliehen?«, fragte ich, da mir natürlich bewusst war, wen ich da vor mir hatte. »Ich hatte mehrere Sachen ausprobiert. Nicht zuletzt habe ich ein Loch gegraben. Und…« Er verstummte. »Ach, das wird mir eh keiner glauben. Echt gruselig.«     

Während ich überlegte, wie ich jetzt wohl am besten reagieren könnte, kam Avery mir schon zuvor: »Lass uns einen Deal machen. Wenn die uns hier rauslassen zeigen sie uns das Unglaubliche und Gruselige. Dann können wir uns selber eine Meinung bilden.«     

Seine Worte waren so einfach gewesen – zu einfach, doch sie waren anscheinend effektiv. Ich musste grinsen. »Na schön«, sagte Heinz. Dann hatten wir schließlich doch Glück im Unglück gehabt.     

»Danke, dass du es geschafft hast, dass er uns den Eingang zeigt«, flüsterte ich Avery zu. »Naja, das Eigentliche hast du ja gemacht. Ich fühlte mich dazu verpflichtet wenigstens ein bisschen beizusteuern«, antwortete er flüsternd und grinste.     

Eigentlich war er ja gar nicht so dumm. Ich erinnerte mich an unseren Flug ins All zurück. Auch da gab es ein paar Momente wo ich ziemlich beeindruckt von ihm war. Aber manchmal… wie zum Beispiel erst das Kommentar, als er mit mir eine Gruppe bilden musste – auch wenn es nur ein Scherz sein sollte.     

Trotzdem wurde mir nach und nach bewusst, dass ihm gegenüber unfair wäre, wenn Emily ihm verschweigen würde, was sie in seinen Gedanken gelesen hatte. Er hatte vielleicht nicht die tiefgründigste Persönlichkeit. Aber das machte ihn nicht automatisch zum Arschloch. Ich musste mit Emily reden. Denn irgendwie kam in mir das Bedürfnis hoch, dass Emily ihm eine liebgemeinte Abfuhr erteilte. Schließlich hatte er uns die Chance ermöglicht den Eingang zu den verschwunden Menschen zu finden. Auch wenn er immer nur kleine Beiträge zu unseren Projekt hatte. Mir wurde klar, sie waren bedeutend. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass wir ohne ihn gar nicht erst die Idee zu diesem Projekt gehabt hätten.

Kapitel 20

 [Emily Tanner]

 

Der leichte Sommerregen war aufgezogen und ließ meine rotbraunen Haare auf unschöne Weise kräuseln. Ein Regenschirm wäre jetzt echt praktisch gewesen, aber sowas konnten sich Leute von der Straße natürlich nicht leisten. »Wir sollten vielleicht ein Lokal oder ähnliches aufsuchen«, meinte Ethan.     

Doch irgendwie sah diese Gegend nicht so aus, als würde hier bald ein Geschäft erscheinen. Zwar waren wir erst im Zentrum, aber irgendwie sind wir vom Kurs abgewichen. Hier befanden sich jetzt mehr Bäume und Felder. »Gerne, wenn du etwas findest. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, das wird noch eine Weile dauern.«     

Ethan nickte, denn er wusste, dass ich Recht hatte. »Aber wir können uns doch zumindest irgendwo unterstellen. Vielleicht da hinten, ist das eine Scheune?« Ich beäugte das Gebäude, das zwar ländlich wirkte, nach meiner Meinung aber keine Scheune war. Schlussendlich spielte es ja keine Rolle, was das genau war. Das Dach hatte eine Überdachung – das war alles was zählte.     

Kaum standen wir auch schon unter dem Dach, schien das Schauer mehr zu werden. Da hatten wir ja noch mal Glück gehabt. »Also unter Sommer verstehe ich etwas anderes«, murrte Ethan. »Ja, echt ätzend. Aber wir konnten ja schon einige Leute befragen, bevor es so zu schütten angefangen hat.« »Stimmt, aber genützt hat es nicht wirklich etwas. Ich hoffe, dass die anderen mehr Glück gehabt haben. Eigentlich sollten wir uns ja langsam zurück zum Wald begeben. Die Sonne geht unter. Aber bei dem Wetter setzte ich keinen Fuß vor die Tür.«     

Ich nickte. »Ja, aber ich denke, dass wir nicht die einzigen sind, die so denken.«     

Ethan und ich standen nun schon eine ganze Weile unter dem Dachvorsprung ohne etwas zu machen. Das Wetter wollte einfach nicht besser werden. So langanhaltende Sommerschauer hatte ich schon lange nicht mehr erlebt.     

Plötzlich bemerkte ich in der Ferne eine Gestalt, die durch den Regen auf uns zu sprintete. Womöglich die Besitzerin dieses Gebäudes? Auch Ethan schien sie bemerkt zu haben und stupste mich in die Taille. Als ich die Frau dann genauer wahrnehmen konnte, stellte ich fest, dass sie schon im fortgeschrittenen Alter war, da sich ihr Haar grau färbte.     

Sie stellte sich zu uns unter das Dach. »Hallo«, begrüßte sie uns in Englisch. Eine Touristin? Dann lag ich wohl falsch und sie war nicht die Besitzerin des Hauses. Glück gehabt. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob diese es gut heißen würde, wenn Fremde auf ihrem Grundstück waren, damit sie nicht nass wurden. Aber anscheinend stellten sich mehrere Leute unter – naja, zumindest diese alte Frau hier. »Hallo«, murmelten Ethan und ich zurück. Die alte Dame lächelte uns zu. »Ätzend das Wetter, nicht wahr?« Ich nickte nur. Da fiel mir wieder das Foto ein. Wenn wir hier schon zusammen warteten, konnte ich ihr wenigstens das Foto zeigen. Alte Menschen kannten ja bekanntlich immer einen Haufen Leute.     

»Endschuldigen Sie, aber kennen Sie zufälliger Weise diesen Mann auf dem Foto?« Ich hielt es ihr hin, doch die Frau beachtete das Bild in meiner Hand gar nicht und lachte nur über beide Backen – wie unfreundlich. Doch obwohl sie dem Bild keinen Blick gewürdigt hatte, antwortete sie zu meiner Überraschung: »Tut mir leid, aber da kann ich euch nicht helfen, Emily.«     

Ich schien aus allen Wolken zu fallen. Woher kannte sie meinen Namen. Auch Ethan war vollkommen sprachlos. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, wollte ich wissen. »Vielleicht sind wir uns ja schon mal begegnet und du kannst dich nur nicht mehr daran erinnern.« Ich schüttelte hektisch den Kopf. »Aber das kann nicht sein. Sie müssen mich mit jemanden verwechseln.«     

»Dann ist dein Name nicht Emily?«, fragte sie, doch ich sah in ihrem Gesicht, dass sie die Antwort bereits kannte. »Doch, aber…« Mir fiel kein aber ein. Woher kannte mich diese Frau. »Wir können uns einfach nicht kennen. Ich komme nicht von hier.« »Wer sagt, dass ich dich von hier kenne?«     

Die Sache wurde mir langsam echt unheimlich. Ich packte Ethan am Ellenbogen und murmelte: »Wir sollten jetzt wahrscheinlich weiter. Es ist schon spät.« Die Frau stöhnte. »Wenn du jetzt gehst, wirst du nie erfahren warum ich dich kenne. Bist du denn gar nicht neugierig?«     

Trotz ihrer Worte zog ich Ethan Richtung Regen, doch der schien sich zu wehren. »Emily, warte. Also ich bin schon neugierig.« »Danke, Ethan«, sagte die Frau, die anscheinend nicht nur meinen Namen kannte.      »Wer sind Sie?«, fragte Ethan mit zitteriger Stimme.     

»Jemand aus der Zukunft«, antwortete die Frau. »Aber das ist nicht möglich… Die Menschen sind nicht in der Lage Zeitmaschinen zu bauen und werden es auch nie sein«, sagte ich. »Ach, aus welcher Zeit seid ihr denn?«, wollte sie wissen. Ich antwortete nicht. Warum auch? Ich wusste genau, dass sie die Antwort bereits kannte.     

»Okay, bitte falle jetzt nicht in Ohnmacht. Ich vertraue dir, weil ich weiß, dass dir schon weit aus verrücktere Sachen passiert sind. Aber ich bin du. Ich bin in diese Zeit zurückgereist, als ich schon weit älter bin, wie du siehst.« Ethan schluckte. »Heilige Mutter Gottes.« Ich war einfach sprachlos.       

Deshalb redete mein zukünftiges Ich einfach weiter: »Keine Angst. Ich bin nicht hier, um dir irgendwelche Geheimnisse aus deiner Zukunft preiszugeben. Außerdem musst du wissen: Die Zukunft kann sich natürlich immer ändern. Egal, ich bin wegen dem hier und jetzt gekommen.«     

Ethan hatte sich anscheinend langsam entspannt und wollte wissen: »Kennst du mein Opa-Ich?« »Ja, Ethan. Aber auch wenn du deine Zukunft gerne wissen willst, werde ich sie dir trotzdem nicht sagen. Wie gesagt, ich bin wegen was anderem hier. Es geht um Avery und Ashley. Ihr müsst sie befreien, denn sie sitzen im Gefängnis.«     

Woher wusste sie beziehungsweise ich das? Auch wenn sie das damals auch von mir erfahren hatte… irgendwann musste ich es doch mal erfahren haben, oder? Oh, Hilfe. Das war zu kompliziert für mich. Ich glaube selbst mit meinen Fähigkeiten wäre es das.     

»Es wäre natürlich gut, wenn du mich wieder warnen würdest, wenn du alt und grau bist. Ist nur zu unserem eigenen besten. Und nein, ich verstehe es immer noch nicht.« Sie grinste. »Du kannst natürlich auch einen anderen Weg einschlagen, der sicherlich angsteinflößender ist, wenn auch besser. Aber seien wir mal ehrlich: Ich kenne mich natürlich am besten. Du wirst diesen Weg nicht wählen. Du wirst denken, dass dieser Weg gegen die Grundsätze spricht. Ich weiß natürlich, dass du ein Mensch bist, der viel Wert auf Regeln legt. Du nimmst den leichten und sicheren, wenn auch schlechteren Weg. Aber egal. Solange du mich warnen wirst, wenn du alt bist, werde ich dir verzeihen.«     

Ich hatte nie gedacht, dass ich so kompliziertes Zeug von mir geben konnte. Mir schwirrte der Kopf. »Moment, welchen komplizierteren Weg meinst du?« »Das wirst du schon noch früh genug erfahren, denn zum dritten Mal: Ich bin nicht wegen der Zukunft hier, sondern wegen dem hier und jetzt. Avery und Ashley. Das Gefängnis neben den Reichstag – und nimmt was mit, womit ihr sie auch unbemerkt befreien könnt.« Und so schnell wie sie erschienen war, verschwand sie dann auch wieder im Regen, der zum Glück langsam nachzulassen schien.     

»Okay, das war schräg«, sagte Ethan lachend. Meine Haltung lockerte sich langsam und ich grinste ebenfalls. »Das kannst du laut sagen. Aber würde es dir etwas ausmachen, wenn das unter uns bleiben würde?«     

»Unser kleines Geheimnis?«     

»Unser kleines Geheimnis«, sagte ich zustimmend. »Cool, ich hatte noch nie ein Geheimnis mit jemandem. Da ist natürlich das mit deinen Fähigkeiten, aber ich meine jetzt so eins, was man nur zu zweit hat.« »Erzählt Avery und du euch denn keine Geheimnisse?« Er überlegte einen kurzen Moment. »Nicht wirklich. Das ist wahrscheinlich eher ein Mädchending.«     

Ich seufzte. Ja, ein Mädchending. Das ist wahrscheinlich das Problem mit Jungs: Sie behalten alles für sich.   

Der Regen war endlich verzogen und die Sonne kam zum Vorschein – mehr oder weniger. Immerhin nahte der Abend. Aber ich hatte mir vorgenommen Ashley und Avery noch heute Nacht aus dem Gefängnis zu holen. Koste es was es wolle.

Kapitel 21

 [Avery Neverson]

 

Irgendwie hatte ich schon immer befürchtet, dass ich mal hinter Gitter kommen würde. Allerdings dachte ich eher an etwas wie mit Alkohol am Steuer, aber auf keinen Fall hatte ich nach Westdeutschland fliehen in Verdacht gehabt. Um ehrlich zu sein, eigentlich hatte ich schon vergessen, dass Deutschland mal getrennt gewesen war. Warum genau wir hier waren, wusste ich immer noch nicht. Nur weil die vermuteten, dass wir in Naher Zukunft fliehen würden? Bis dahin gab es die Mauer höchstwahrscheinlich gar nicht mehr.     

Ashley hatte sich inzwischen so wie Heinz in die Ecke gehockt und wartete einfach. Ich konnte das aber nicht, denn worauf sollte ich auch warten? Erneut ging ich zu dem Gitterfenster und streckte meine Hände hindurch. »Was erhoffst du dir davon, Junge?«, fragte mich Heinz. »Vielleicht sieht uns ja jemand. Befinden wir uns nicht im Erdgeschoss?«       

Heinz starrte mich verwirrt an und Ashley verdrehte nur die Augen und erklärte: »Sie müssen wissen, dass er nicht der Hellste von uns ist.« Wütend entgegnete ich: »Ach, und das was ihr macht kann uns helfen?« »Nein, aus dem einfachen Grund, weil wir auch nichts machen«, sagte Ashley genervt. »Oh man, arme Emily.«      Ich kniff die Augen zusammen. »Hä? Was hat denn Emily jetzt damit zu tun?« Ashley schien die gesagten Worte zu bereuen und schlug die Hände über ihren Kopf zusammen. »Ach, nichts.« Plötzlich packte mich die Neugierde und ich ließ nicht locker. Irgendwas verschwieg mir Ashley, soviel war sicher. »Wir können das auf die leichte oder die harte Tour machen. Entweder du sagst es mir einfach oder ich werde dich jetzt solange nerven bis du mir die Wahrheit sagst.«     

»Na, sie ist im Moment mit deiner besseren Hälfte zusammen. Die ist sicherlich genauso schlimm zu ertragen.« »Das stimmt doch hinten und vorne nicht. Ich weiß genau, was ihr von Ethan haltet. Ich habe gehört wie du und Tyler euch unterhalten habt. Ich zitiere: Ethan ist doch ein netter Kerl. Warum gibt er sich mit einem Blödmann wie Avery ab?«     

Als die Wut in meiner Stimme mitklang, schien Ashley sich schuldig zu fühlen. Sie atmete einmal tief durch. »Es tut mir echt leid. Du bist kein Blödmann.« Ashley kam zum Fenster hinüber und sprach in einem Ton weiter, sodass Heinz uns nicht hören konnte. »Du verdienst die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass Emily und ich deine Gedanken gelesen haben, als wir das erste Mal wieder eins wurden – in der Rakete.«     

Ich verstand jetzt gar nichts mehr. »Ja, ich weiß. Ihr habt Ethans und meine Gedanken gelesen. Das hat Emily schon gesagt.« Jetzt schien auch Ashley irritiert zu sein. »Du weißt nicht mehr an was du in dem Moment gedacht hast?« »Doch, ich dachte: Oh, wo ist Ashley nur abgeblieben? Aber was hat das jetzt hier mit zu tun?« »Hast du nur das gedacht?«, fragte Ashley eindringlich. »Glaub schon. Ich weiß nicht mehr genau. Jetzt komm zum Punkt.« Mit schwacher Stimme murmelte Ashley: »Na ja, sowohl Emily als auch ich haben in deinen Gedanken gelesen, dass du anscheinend Gefühle für Emily hast.«     

»Was?«, fragte ich etwas zu laut, sodass auch Heinz auf uns aufmerksam wurde. »Das ist ja totaler Bullshit.« »Aber wir haben es doch beide …« Energisch unterbrach ich sie: »Ihr geht mir langsam wirklich auf den Keks mit euren bescheuerten Fähigkeiten. Kann sein, dass ich vielleicht mal kurz positiv über Emily gedacht habe. Warum auch nicht? Sie hat mir schließlich in Mathe weitergeholfen. Und dann wird einem etwas an den Hals geworfen, was man selber noch nicht mal weiß. Ihr seid ein Haufen Verrückter, sage ich nur. Ich freue mich schon, wenn dieses bescheuerte Schulprojekt endlich vorbei ist.«     

»Wenn ich mich richtig erinnere, warst du die Person, die die Idee zu diesem Projekt hatte.« »Und wenn ich mich richtig erinnere, habt ihr zugestimmt.« Ashley schüttelte den Kopf. »Emily hat zugestimmt. Ich war schon immer für das Katzenprojekt. Klar, dann würden wir vielleicht nicht Zeitreisen können. Aber zumindest wären Tyler und Bella noch bei uns. Okay, und Jane. Das kann man sehen wie man möchte.«     

»Aber dann würde es uns irgendwann alle nicht mehr geben«, antwortete ich. Ashley lachte. »Erwischt. Du bereust das Projekt also doch nicht.« »Natürlich nicht. Das habe ich auch nicht gesagt. Ich sagte, die Mitglieder des Projektes gehen mir auf den Keks.«     

Irgendwie war mir schon klar, dass ich das eigentlich gar nicht so meinte, aber im Moment hatte ich einfach einen so großen Groll auf Ashley und Emily. »Aber ohne unsere bescheuerten Fähigkeiten hätten wir doch überhaupt keine Chance.« Ich stöhnte. »Ich weiß. Ihr seid trotzdem verrückt. Man sollte euch echt meiden.«      Es entstand eine längere Pause, in der sich die Situation etwas entspannte. Ashley ergriff als erste wieder das Wort: »Dann bist du also nicht in Emily verliebt?« »Um Gottes Willen, nein! Sie passt doch überhaupt nicht zu mir. Ich meine, das schlauste Mädchen der Welt und – na ja, ich weiß selber das ich nicht der schlauste Junge der Welt bin.«     

Ashley musste lachen. »Das fände ich gar nicht mal schlimm. Dumm und Schlau ergibt Normal. Aber egal. Ich meine, natürlich haben wir schon öfter mal solche Gedanken gelesen. Aber wir haben es immer ignoriert, weil etwas wie Beziehungen für uns eh nicht möglich wäre. Aber das hat sich ja jetzt geändert. Da sehe ich eher das Problem: Emily ist schließlich noch total unerfahren und du – kannst du deine Freundinnen überhaupt noch zählen?«     

Ich schaute sie grimmig an. »Wenn die Mädchen, mit denen ich zusammen war eben alles Dumpfbacken waren? Okay, ich finde Stacy ist eine Ausnahme. Sie ist total toll. Stacy ist übrigens meine Freundin schon seit fast einen Monat. Noch ein Grund, warum das alles ein Missverständnis sein muss. Ich bin glücklich vergeben.«      »Schon gut, ich hab’s ja verstanden.«     

»Ist Emily jetzt wohl sehr verletzt über meine Abfuhr? Immerhin geht es hier um mich.« Ashley geriet in einen Lachanfall. »Als ob. Wir hatten die ganze Zeit nur Bedenken, dass du am Boden zerstört sein würdest.«      »Dann ist ja alles geklärt. Viel Spaß bei eurer weiteren Jungssuche.« »Haha«, sagte Ashley gedehnt, wobei mir klar wurde, dass wohl weniger eine Suche sein wurde. Mädchen mit Superkräften sollten es nicht allzu schwer haben. Schnell verdrängte ich den Gedanken, dass es auch Mädchen gäben könnte, die für mich unerreichbar sind. Und ich verdrängte den Gedanken, dass es etwas Offensichtlich war, dass Emily mich nicht anziehend fand – ich bin schlichtweg nicht auf ihrem Intelligenzniveau. Auch wenn ich nicht an sie interessiert war, fühlte es sich mies an. Mir war es eben vorher bestimmt mit einer dummen Blondine glücklich zu werden und in einer Bruchbude zu hausen. Das war mir schon so lange klar… Wahrscheinlich suchte ich mir deshalb auch immer die gleiche Sorte Frauen.     

Noch ein Grund mehr warum Emily und Ashley sich verhört haben mussten. Emily war sowieso nicht mein Typ, denn sie war nun mal weder blond noch war sie blöd.     

Während ich so angelehnt am Fenster kauerte und mit meinen Armen wackelte, spürte ich, wie diese jemand ergriff. Erschrocken drehte ich mich um und entdeckte Emily, Ethan, Chloe und Addison. »Was zum Teufel macht ihr denn hier?«, fragte ich verdutzt. Vor allem alle zusammen. Wir hatten uns doch getrennt.     

»Also wir haben eine Säge dabei. Wonach sieht es wohl aus?«, fragte Emily mit einem Hauch Ironie in der Stimme. »Dann hat mein bescheuertes Hände aus dem Fenster halten doch geholfen?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein, wie wir wussten, dass ihr euch hier befindet ist eine lange Geschichte. Aber etwas haben deine Hände uns am Ende geholfen, damit wir wissen konnten, in welchem Verließ ihr genau seid.«     

Ich warf Ashley einen Blick zu, der ihr sagen sollte: Ich hab’s dir doch gesagt. Doch diese ignorierte mich einfach. »Das ist unmöglich«, murmelte Heinz und brachte damit das auf dem Punkt, was ich schon die ganze Zeit während dieses Projektes dachte.     

Ethan hatte schon die Säge angesetzt, als ich plötzlich bemerkte: »Warte, hören die hier nicht die Geräusche der Säge?« »Ja, glücklicherweise haben die zwei vor ihrer Mission Addison und mich getroffen. Ich habe gegen Emilys Willen ein paar Souvenirs von Zuhause mitgenommen. Aber ratet Mal, das rettet uns schon wieder den Arsch«, sagte Chloe.     

»Was heißt denn wieder?«, wollte Ashley, die nun auch neugierig zum Fenster rüber trat. »Lange Geschichte, für die wir leider erst später Zeit haben«, erklärte Addison kurz. Natürlich wusste ich, was Chloe von Zuhause mitgenommen hatte. Eine Flasche mit Tropfen, die Geräusche dimmen konnten.     

Heinz schaute fasziniert zu, wie die Säge die Gitterstäbe geräuschlos zerteilte. »Ihr seid ein komischer Haufen. Aber solange ihr mich mit hier rausholt, ist mir das vollkommen Recht.«     

»Klar doch. Du wolltest uns schließlich noch was Unglaubliches zeigen«, erinnerte ich ihn – hoffnungsvoll, dass wir nun endlich den Eingang finden würden. Er lachte. »Ja genau, das ist noch verrückter als ihr alle zusammen und das will was heißen. Aber gerade weil ihr so verrückt seid, könnte es jemanden ausnahmsweise echt mal interessieren.«     

Die vier schauten mich verdutzt an, da sie ja noch nicht wussten, dass Heinz uns bereits versprochen hatte, uns zum Eingang des Versteckes zu führen. Ich grinste breit. »Ashley, Heinz. Ich würde Mal sagen nichts wie raus hier.« Um mein Selbstbewusstsein noch ein wenig höher zu puschen, flüsterte ich Emily, während ich die Wand hinab sprang, zu: »Ach, übrigens. Du brauchst keine Bedenken zu haben. Ich bin nicht an dich interessiert.«

Kapitel 22

 [Emily Tanner]

 

Die Flucht aus dem Gefängnis war anfangs echt anstrengend, aber als wir alle wieder normal gingen, packte ich mich Ashley beiseite und fragte sofort: »Du hast es ihm erzählt?« »Ja, ich hab’s ausversehen angedeutet. Außerdem, was ist schon dabei? Er verdient doch die Wahrheit.«     

Okay, da hatte sie irgendwie schon Recht. »Na schön. Ich hätte es nur gerne selber gemacht. Sonst kommt es so rüber als wäre es mir peinlich.« »Aber es ist dir peinlich«, sagte Ashley lachend. »Sollte es aber nicht. Gerade jetzt, wo es doch alles nur ein Missverständnis gewesen ist.«     

Ashley schnaubte. »Vielleicht ist er nicht an dir interessiert, aber es war sicher kein Missverständnis. Unsere Fähigkeiten lügen doch nicht.« Ashley überlegte einen Moment. »Ich glaube es liegt daran, dass Avery sich auf eine Sorte von Mädchen festlegt. Die, die zu ihm passt und eine realistische Zukunft hat. Wahrscheinlich ist es dann normal, wenn er Phantasien entwickelt, die außerhalb seiner Reichweite sind.«     

»Außerhalb seine Reichweite? Avery ist der beliebteste Junge an unserer Schule.« »Ach, was heißt schon beliebt. Er ist dumm wie ein Straßenköter. Du eben nicht«, sagte Ashley.     

»Hey, jetzt übertreibst du aber.«     

»Du hast Recht, es gibt auch jede Menge intelligente Hunde«, sagte sie und lachte. Während ich die Augen verdrehte, murmelte sie: »Spaß beiseite. Ich denke dein Nachhilfeunterricht hat einen guten Einfluss auf ihn.«      Langsam schlossen wir wieder zu den anderen auf. Der warme Sommerwind zerzauste meine Haare, war aber angenehm. Während unserer Reise, die etwas länger dauerte als erwartet, erzählten Chloe und Addison schließlich was passiert war. Mir blieb echt der Atem weg. Und ich dachte schon, Ethan und ich hätten etwas Aufregendes erlebt. Auf die erwartende Frage, woher wir von Ashleys und Averys Gefangennahme wussten, sagte ich einfach, dass wir sie zufällig erblickt haben, als Männer mit Uniform sie festnahmen. Zum Glück konnte ich lügen ohne rot zu werden.     

Irgendwann erreichten wir einen verlassen und ruhigeren Teil von Berlin. Einen Teil, der mit jede Menge Kraut, ziemlich schwierig zu betreten war. »Tja, ich habe eben diesen Ort ausgesucht, damit mich niemand von der Stasi bemerkt«, erklärte uns Heinz.     

Mitten im Gestrüpp erblickte ich zwei Löcher, die einen guten Meter voneinander entfernt waren. Als ich näher auf die Löcher zuging, bemerkte ich, dass das eine der beiden so weit in die Tiefe reichte, dass ich kein Ende erkennen konnte. Das andere hingegen hörte nach einigen Metern auf und das Ende war deutlich abzusehen.     

»Geht da bloß nicht runter«, warnte uns Heinz. »Ich hatte Glück, dass mein Freund Diether dabei war und oben gewartet hatte. Er konnte mich nur mit Mühe wieder herausziehen. Das ist da unten Sau tief. Aber diese Tiefe habe nicht ich mit meiner Schaufel erreicht. Ich habe lediglich etwas Erde weggeschaufelt. Eigentlich glaube ich ja nicht an übernatürliche Sache, aber das ist echt magisch. Der Raum da unten zieht sich nämlich auch unendlich in die Länge, aber wenn ich ein paar Meter daneben grabe, passiert nichts.«     

Ich musste es einfach fragen: »Bist du hier noch oft? Ich meine, du machst nicht den Eindruck, wenn du da nicht mehr runter willst.« Er schüttelte hektisch den Kopf. »Natürlich nicht. Nur das eine Mal als ich da runter fiel – und jetzt, nur um es euch zu zeigen, aber auch gleichzeitig um euch zu warnen.«     

»Keine Sorge, wir gehen da ganz sicher nicht runter. Da ist es sicherlich total dreckig«, maulte Chloe und ich war überrascht, dass auch sie so ausgezeichnet lügen konnte. »Okay, war schön euch kennengerlernt zu haben. Aber ich muss jetzt echt wieder weiter. Leider bin ich immer noch auf der Flucht und ihr jetzt anscheinend auch. Zumindest zwei von euch komischen Käuzen.« Er warf Ashley und Avery noch mal einen Blick zu und verschwand dann auch schon in der Dunkelheit der Nacht.     

Als wir ungestört und vollkommen alleine waren, meinte ich direkt: »Ich finde, dass wir uns in der Vergangenheit schon mal einen Eindruck von dem Untergrund machen sollten. Jetzt, wo es da unten vielleicht noch nicht so gefährlich ist. Dann sind wir besser vorbereitet.« »Ja, wir. Das heißt: Du, Ashley und ich – als eine Person.« Ethan schaute Addison verwirrt an. »Ach, und wir sollen den Untergrund etwa nicht kennenlernen?«      »Na, da unten ist es nicht sonderlich schön, denke ich. Es reicht, wenn wir euch später einfach darüber informieren«, sagte Addison. »Ganz deiner Meinung. Warum etwas tun, was nicht nötig ist?«, stimmte Chloe zu. »Du musst auch in der Zukunft nicht mit runter kommen, Chloe. Ich will euch nur noch mal daran erinnern«, sagte ich.     

Doch Chloe schüttelte den Kopf. »Doch, muss ich. Jetzt ist es unnötig, aber in der Zukunft sicher nicht. Wir sind immerhin ein Team.« Ich stöhnte. Warum hatte ich dieses Thema überhaupt angefangen? Ich kannte die Einstellung meiner restlichen Gruppenmitglieder genau. Auch wenn uns diese Einstellung bereits Bella und Tyler gekostet hatte. Ich musste schlucken. Ich brauchte gerade dringend etwas von Ashleys positivem Optimismus. Wir werden Bella und Tyler schon retten, hätte sie sicher gesagt.     

»Na schön. Dann ergreift mal meine Hand«, sagte ich zu den beiden, was sie daraufhin taten.

Mir stockte der Atem, als wir einige Meter in der Tiefe sprangen. Nicht, weil es so tief ist, sondern einfach wegen der unerträglichen Hitze. Hier unten konnte man es wirklich nicht lange aushalten.     

Die Gänge hier unten hatten ziemlich viele Abzweigungen, einige davon unheimlich schmal, sodass man kaum in der Lage wäre hindurchzugehen. Allerdings gab es auch welche, die so breit waren, dass man sie auch schon als Raum bezeichnen könnte. Habt ihr das gehört?, fragte Addison plötzlich. Was gehört?, fragte ich. Addison hat Recht. Ich habe auch was gehört. Hier unten ist jemand. Ich höre Gedanken.     

Verwundert ließ ich die Gedanken auf mich wirken und musste feststellen, dass die beiden sich nicht getäuscht hatten. Da waren tatsächlich Gedanken, keine gewöhnlichen Gedanken. Ich weiß nicht genau. Hier unten kann man wirklich nicht lange überleben. Ich konnte nun auf Gedanken wahrnehmen, die von jemand anderen stammen mussten. Sei nicht albern. Natürlich können wir hier nicht lange überleben. Das hier unten ist ja auch für die Menschen. Dann können wir oben leben.     

Aber das ist doch nicht fair. Die Menschen werden hier unten auch sterben. Der andere Vodmus schien anderer Meinung zu sein. Wenn wir aber nichts unternehmen, werden wir auch sterben. Und zwar jeder einzelne von uns. Denatri wird es irgendwann nicht mehr geben. Ich will nicht sterben, du etwa? Außerdem müssen nicht alle Menschen sterben. Nur ein paar, sodass Gerechtigkeit herrscht. Die Hälfte der Menschen wird mit der Hälfte der Vodmus zusammen auf der Erde leben. Zufrieden?     

Die Antwort auf diese Frage würde ich nie erfahren, da die Gedanken sich in meinem Kopf auflösten. Denkt ihr nicht, dass es etwas gemein war, ihren Heimatplaneten in die Luft zu jagen? Immerhin haben sie vor mit uns zusammen auf der Erde zu leben, überlegte Ashley mit betrübter Stimme. Er hat sicherlich gelogen. Ein paar Menschen zu töten wird den Vodmus nicht reichen, da wir den Planeten irgendwann wieder so mit Menschenleben füllen, dass für sie kein Platz bleibt, meinte Addison. Außerdem kann man nicht einfach einen neuen Planeten einnehmen, nur weil der eigene es nicht mehr macht. Das ist nicht der natürliche Lauf des Lebens.     

Ach, und einen Planeten in die Luft zu sprengen ist es?, fragte Ashley etwas gereizt. Ich atmete einmal kurz durch. Nein. Das war einfach eine Aktion, die Wohl oder Übel getan werden musste. Mit diesem Satz verdrängte ich nur meine Schuldgefühle, die ich schon hatte, seitdem Denatri in die Luft gegangen ist. Immerhin hatten wir da mehr als nur einen Massenmord ausgelöst. Ohne länger einen Gedanken daran zu verschwenden, sprang ich mit einem Satz zurück an die Oberfläche.

Kapitel 23

 [Avery Neverson]

 

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich einfach in der Vergangenheit geblieben wäre. Klar, dort bin ich zwar ein gesuchter Flüchtling gewesen, aber zumindest erwartete mich dort nicht mein wütender Vater. Die Zeitmaschine musste uns nämlich ein wenig früher zurück bringen, dann als wir gerade erst ins Weltall gestartet sind. So blieb uns genug Zeit den Untergrund mit den Gefangenen zu finden. Außerdem könnten wir nicht zufällig uns selbst begegnen, da wir gerade überhaupt nicht in Reichweite sind.     

Ein Problem hatte ich jedoch nicht bedacht: Meinen Eltern hatte ich ja erzählt, dass ich für ein wichtiges Schulprojekt zum Mond fliegen musste. Somit staunten sie nicht schlecht, als ich nun schon wieder auf der Matte stand. »Ist ausgefallen«, murmelte ich nur mit gesenktem Kopf, da ich nicht in der Lage war in die funkelnden Augen meines Vaters zu gucken.     

»Ach, komm. Hör doch auf. Du schwänzt doch nur. So wie du es seit Wochen schon mit dem Basketballtraining machst. Ja, ganz recht. Dein Trainer hat angerufen. Wann hattest du vor mir davon zu erzählen?« Das hatte gerade noch gefehlt.     

»Ich möchte mich auf die Schule konzentrieren, deshalb habe ich aufgehört«, versuchte ich mich herauszureden, doch ich wusste sofort, dass das nicht funktionieren würde.     

»Jetzt bist du auch noch so dreist zu lügen. Du willst dich doch nur mit deinen Freunden treffen und möglichst viel Freizeit haben«, brüllte mein Vater, woraufhin ich zusammen zuckte. »Du wirst morgen wieder zum Training gehen oder du kannst sehen, wo du bleibst. Du wirst enterbt und stehst dann ganz alleine da.«      Ich suchte den Blick meiner Mutter, die nur stumm neben meinem Vater stand und glaubte, sie machte alles richtig. »Nein, ich werde morgen nicht zum Training gehen. Dann verschwinde ich halt, mir doch egal. Es ist eh überall besser als hier.« Solche Worte hatte ich zuvor noch nie in den Mund genommen. Ich hatte mich nie getraut. Von dem Moment an realisierte ich, dass das Projekt mich doch mehr verändert hatte als ich anfangs dachte.

Mit meinem Koffer in der Hand und den wichtigsten Sachen, die ich benötigte, irrte ich nun durch Seattle. Ich hatte echt keinen Schimmer wo ich hin sollte. Ethan wäre die mein erster Gedanke gewesen, wäre da nicht diese furchtbar schräge Freundschaft zwischen unseren Eltern. Die würden mich niemals bei ihnen wohnen lassen. Eigentlich waren Ethans Eltern ja nett, aber nicht wenn es um ihre Wahl von Freunden ging. Wie konnten sie sich nur mit meinen Eltern angefreundet haben?     

Ich könnte natürlich zu Stacy, aber gemeinsam zu wohnen wäre ein großer Schritt in unserer Beziehung, den ich noch nicht bereit war einzugehen. Dann waren da ja noch die anderen Mitglieder unseres Projektes. Da Tyler und Bella jedoch wegfielen, blieben nur noch Emilys, Addisons und Ashleys Zuhause – wobei ich dort auf Grund der jüngsten Ereignisse nur ungern einquartieren würde –, und Chloes Zuhause.     

Ich stöhnte. Ich hatte noch viele Freunde aus der Schule, doch ich musste überrascht feststellen, dass ich mich trotzdem Richtung Kingston Palace machte, die Straße, wo Chloe wohnte. Ich war selber überrascht, dass wir uns inzwischen so gut kannten, dass mir der Name der Adresse vertraut war.     

Ich hatte ja gewusst, dass Chloes Eltern ziemlich viel Asche hatten, doch wie viel wurde mir erst bewusst, als ich vor dieser Villa stand. Um Gottes Willen, hier würde ich ohne Ausweis doch niemals reinkommen. Ich wunderte mich schon, dass ich vor dem Eingang noch keine Wachen erblickte. Es ist nur ein Versuch. Schlimmstenfalls gehst du wieder, redete ich mir wieder und wieder ein, während ich an einem Pavillon, Springbrunnen und ähnlichem vorbei kam, die Mal eben im Vorgarten standen.     

Als ich die vergoldete Klingel mit dem Schild Bennett betätigte, zitterten nicht nur meine Hände. Mir öffnete eine Frau die Tür, die Chloe sein könnte, wenn diese Frau nicht schon ein paar Falten im Gesicht hatte. Außerdem lächelte sie freundlich, was Chloe fast nie tat. »Kann ich ihnen irgendwie helfen?« Okay, vielleicht standen meine Chancen doch nicht so schlecht.     

»Es tut mir leid, aber ich weiß nicht wo ich hin soll. Ich habe mich mit meinen Eltern gestritten und die haben mich quasi rausgeschmissen. Könnte ich vielleicht nur für eine Weile hier wohnen? Ich würde auch versuchen etwas zu zahlen.« Auch wenn sie das Geld wahrscheinlich nicht nötig hätten, würde es vielleicht besser rüber kommen. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich noch etwas Wichtiges vergessen hatte. »Ich bin übrigens ein Freund von Chloe.«     

Das Lächeln der Frau wurde noch breiter. »Wird aber auch mal Zeit, dass ich Chloes Freunde kennenlerne. Komm nur rein. Wir essen gerade.« Der Essensaal erinnerte mich fand an das Innere eines Schlosses. Man, hatte Chloe es gut. Als ich meinen Koffer hereinzog, starrte Chloe mich mit großen Augen an, die fast so groß wie die von ihrem Vater waren. »Wer ist denn das?«, fragte er ohne jegliche Emotionen in der Stimme.      »Ein Freund von Chloe«, sagte Chloes Mutter lachhaft und zwinkerte dabei. Mit gesenkter Stimme flüsterte sie: »Chloe, da hast du dir ja echt ein Sahneschnittchen ausgesucht.« »Nein, ich bin nicht…«, setzte ich an, doch Chloe unterbrach mich: »Was zur Hölle tust du hier, Avery?«     

Ich stellte meinen Koffer ab und setzte mich mit an den Tisch, da meine Füße von meinem Spaziergang schmerzten. »Ich habe Probleme mit meinen Eltern. Kurz gesagt: Ich musste von Zuhause weg.« Ihre Augen verengten sich. Sie war eindeutig verwirrt. »Und jetzt willst du hier wohnen? Warum? Weil ich die geilste Wohnung habe?«     

»Nein, deshalb eigentlich nicht«, murmelte ich. »Aber Chloe«, setzte ihre Mutter an. »Du darfst so hübsche Jungs doch nicht vergraulen. Die sind deine Zukunft, das habe ich dir doch schon tausend Mal gesagt.« Da wurde mir plötzlich klar, dass bei Chloe, anders als bei mir, Chloes Mutter anscheinend das Sagen hatte.      Chloe warf mir einen bösen Blick zu, anscheinend, weil ich einfach so hier aufgetaucht war. Jetzt wo ich ihre Mutter kannte, hätte ich dies vielleicht doch überdenken sollen. Aber immerhin lächelte sie ständig und wollte nur das Beste für ihre Tochter, anders als meine Eltern.     

»Na schön, du kannst im Poolhaus schlafen. Ich zeig’s dir«, maulte Chloe und zog ich praktisch mit sich mit. Als wir den Speisesaal verlassen hatten und ihre Eltern außer Sicht- und Hörweite waren, blieb sie abrupt stehen. »Okay, jetzt mal Karten auf den Tisch. Warum bist du wirklich hier?« »Das sagte ich doch bereits und es ist die Wahrheit.«     

Chloe dachte eine Weile nach. »Aber warum bist du dann zu mir? Ich hätte ernsthaft geglaubt, ich wäre deine letzte Wahl gewesen.« »Naja, ich konnte nicht wirklich wählen. Ethans Eltern wären echt ein Problem und bei den dreien … naja, sagen wir mal ich habe dein Haus ihrem doch irgendwie vorgezogen.«     

Ich hatte das Gefühl, dass Chloe noch weiter mit mir diskutieren wollte, doch schließlich hielt sie doch inne und ging weiter Richtung Poolhaus. Erst jetzt bemerkte ich, die riesig das Haus wirklich war. Bis wir das Poolhaus erreicht hatten, mussten wir noch ein ganzes Stückchen gehen.     

Als Chloe mir die Tür aufhielt, entfuhr es mir: »Wir sind uns ziemlich ähnlich.« »Was?«, fragte sie verdutzt. »Wir haben beide Eltern, die … naja, etwas eigen sind. Aber lass dich glücklich schätzen, dass sich deine wenigstens um dich sorgen.« »Ja, wenn es um meine Zukunft geht vielleicht. Aber ich bin hier ziemlich oft alleine.« »Hm… ich wünschte, dass ich öfter alleine zu Hause wäre«, murmelte ich, denn dann hätte ich dieses ganze Problem überhaupt nicht.     

»Aber du hast wahrscheinlich Recht. Wir sind uns ähnlich. Deshalb wollte ich anfangs auch mit dir zusammen an den Raumanzügen arbeiten. Du gehörst zu der Sorte, mit denen ich mich auch auf meiner alten Schule angefreundet hätte.«     

»Was soll das jetzt bedeuten? Sind wir jetzt Freunde, oder wie?« Auch wenn wir mit unserem Projekt schon so viel zusammen erlebt hatten, dass wir uns eigentlich alle als Freunde bezeichnen sollten, war ich mir bei manchen immer noch nicht sicher. Chloe gehörte auch zu dieser Sorte.     

»Ich denke schon«, murmelte Chloe.     

»Weil es Sinn macht und wir uns so ähnlich sehen? Weil du dich früher immer mit jemanden wie mir angefreundet hast?« »Das dachte ich immer, aber eigentlich stimmt das nicht. Man kann Menschen nicht in bestimmte Schubladen stecken und sagen, dass wir zu derselben Sorte gehören. Jeder Mensch ist schließlich unterschiedlich.«     

Wow, diese Worte hätte ich nie und nimmer aus Chloes Mund erwartet. Sie klangen so gebildet. Eigentlich hasste ich weise Worte von anderen Menschen, aber ich stellte überraschend fest, dass mir Chloe jetzt sympathischer wurde. Ich schob meinen Koffer ans Bett und ließ mich anschließend darauf nieder. Hilfe, mir wurde erst jetzt klar, wie kaputt ich war. »Ich sollte etwas schlafen. Morgen ist schließlich der große Tag.«     

Fasziniert schaute ich aus dem Fenster und bemerkte den gigantischen Pool im Hintergarten. »Wow, darf ich den auch benutzen?« Chloe seufzte. »Ich dachte du wolltest schlafen.« Da kam mir eine Problematik in den Sinn, die wir zuvor noch gar nicht angesprochen hatten. »Ähm … Chloe? Ich denke, dass ich in Kürze nicht zu meinen Eltern zurückkehren kann. Und…«     

Zum Glück unterbrach Chloe mein Gestotter. »Bleib solange wie nötig. Ich meine, das Haus ist groß genug… und meine Mutter scheint dich anscheinend auch zu mögen. Aber den Pool kannst du nur benutzen, wenn du ihn auch wieder sauber machst.« Ich wusste doch, dass die Sache einen Haken hatte. Aber der war wahrscheinlich berechtigt.     

Schließlich verließ Chloe das Poolhaus und ich sank kurz darauf in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Kapitel 24

 [Ashley Summers]

 

Unsere Reise nach Deutschland war etwas kniffliger als sie es in der Vergangenheit gewesen war. Inzwischen lebten auf der Erde mehr Menschen und ruhige Fleckchen gab es nur noch selten. Aber irgendwann wurden wir natürlich fündig und Ethan, Avery und Chloe konnten endlich den engen Behälter auf Rädern verlassen.     

»Ich bin immer noch dafür, dass die drei oben bleiben. Dort unten ist es sicherlich verdammt gefährlich«, sagte ich nun zum hundertsten Mal. Emily und Addison waren zum hundertsten Mal meiner Meinung, doch die drei Sturköpfe wollten unbedingt mit.     

»Es ist unser Schulprojekt. Jeder muss mitmachen, sonst ist das Arbeitsverweigerung«, meinte ausgerechnet Chloe, die den Untergrund ja total ekelig fand. »Das ist doch keine Arbeitsverweigerung! Ihr habt schon so viel zu diesem Projekt beigetragen. Ohne euch wären wir niemals so weit gekommen. Wir würden zum Beispiel immer noch in dieser Matsche stecken, aus der Chloe uns gerettet hat. Und unsere Rakete wäre zersprungen, wenn Avery nicht das Steuer übernommen hätte«, meinte Emily.     

»Und das habe ich nur, weil Ethan es mir zu rief«, erklärte Avery uns. »Seht ihr. Jeder von euch hat bereits einen großen Teil beigetragen. Es gibt einen Unterschied zwischen mutig und lebensmüde. Wenn ihr mitkommt, ist das lebensmüde. Wir drei haben Superkräfte mit denen wir die Gefangenen schon befreit kriegen«, sagte ich.     

Eine kurze Zeit war es still. Endlich, sie schienen es tatsächlich in Erwägung zu ziehen. Schließlich räusperte sich Chloe. »Eigentlich würde ich schon ganz gerne oben bleiben. Ich könnte Wache halten.« »Ja, ihr alle drei könnt das«, sagte Addison eindringlich. Bei Ethan und Avery dauerte es zwar etwas länger, doch irgendwann nickten sie endlich zustimmend.     

»Gut, dann wollen wir mal«, sagte Emily und streckte uns die Hand entgegen. Am liebsten hätte ich ihre Hand nicht ergriffen. Ich wollte als eigenständiger Mensch den Vodmus in den Allerwertesten treten, doch ich wusste nur zu gut, dass das nicht möglich wäre. Also griff ich schließlich doch danach und mein Körper erfuhr wieder dieses schreckliche Gefühl von Enge und Gefangenschaft. Verständlich, immerhin hatte mein Körper jetzt keine Kontrolle mehr.     

Der Sprung in den Abgrund, ließ mich wieder an das letzte Mal denken. Da, als wir die Vodmus trafen. Sie wollten doch auch nur leben und wir hatten einfach so ihren Planeten zerstört. Eine Aktion, die ich noch immer anzweifelte. Aber Emily und auch Addison hielten sie für notwendig.     

Ich spürte nicht nur diese Hitze, sondern auch diese erschreckende Dunkelheit vor meinen Augen. Wie konnte Emily nur wissen wo sie hinging? Für mich war hier alles schwarz. Aber natürlich! Jetzt wusste ich wie sie es anstellte. Sie wusste selber nicht wo es lang ging. Doch sie tastete und lauschte auf die Gedanken der Gefangenen, die sie zu ihrem Ziel brachten.     

Mir gefällt das nicht, meinte ich. Obwohl ich keine Antwort erhielt, wusste ich genau, dass es den anderen beiden genauso erging. Irgendwann nahmen wir nicht nur die Gedanken der Opfer wahr, sondern auch das Stöhnen und Verzweifeln. Wir mussten fast da sein.     

Der Gang wurde immer breiter und die Dunkelheit wich auch von uns. Als ich eine Fackel an der Wand erblickte, wusste ich warum. Aber ich hätte mir im Nachhinein gewünscht, dass diese Fackel nicht gebrannt hätte, denn der Anblick war einfach nur schrecklich. Hier unten waren Unmengen von Leuten, die verzweifelt Löcher buddelten, um von hier fort zu kommen.     

Obwohl das hier erst der Beginn war und die Menge an Menschen noch überschaubar war, war es einfach nur grässlich. Himmel, die Vodmus hatten vor die Hälfte der gesamten Menschheit hier unten zu lagern. Mein Mitleid, das ich zuvor noch für die Vodmus verspürt hatte, wich langsam von mir.     

»Hört bitte einmal alle zu. Wir haben einen Ausgang gefunden und wir werden euch hier nach und nach alle wieder herausholen«, verkündete Emily. Hoffnungsvoll kamen nun einige Menschen auf uns zu gerannt. Darunter erkannte ich auch Bella.     

Emily, links von dir. Da ist Bella, sagte ich. »Bella!«, rief nun auch Emily. Doch diese wirkte irgendwie irritiert. »Entschuldigung, aber woher kennen wir uns?« Schockiert mussten wir feststellen, dass es ihr unten wohl noch schlimmer als erwartet war. Die Menschen schienen auch ihr Gedächtnis verloren zu haben.     

Plötzlich drehte sich aus der Ecke ein Mädchen um, das mir erschreckend vertraut vorkam. Jane! Aber sie war doch tot… »Tut mir ja leid, aber das kann ich leider nicht zulassen«, entgegnete sie mit zuckersüßer Stimme.     

Auch Emily stockte der Atem. »Ich habe dich doch von der Rakete gestoßen.« »Ja, das hast du. Ich bin immer noch enttäuscht von dir. Aber die Sache hatte auch Vorteile. Die Vodmus wissen nun mit wem sie es wirklich zu tun haben. Wir kennen dich besser, Emily. Die Vodmus verbesserte mich und machte mich stärker… unbesiegbarer.«     

»Das ich nicht lache. Du hast gegen unsere Fähigkeiten keine Chance.« Jane lachte auf. »Oh doch, die habe ich in der Tat. Aber ich werde dir eine letzte Chance geben. Ich hoffe, dieses Mal entscheidest du dich richtig, Emily. Denn ich fand es echt traurig, als du dich in der Rakete plötzlich gegen mich gewendet hast. Ich dachte, dass unsere Freundschaft all die Jahre echt gewesen sei. Ich mochte dich wirklich, Emily. Ich wollte dir nie was Böses. Ich wollte dich nur kennenlernen. Hier ist mein Vorschlag: Die Vodmus wollen nur die Hälfte der Menschheit nach hier unten bringen. Schließe dich uns an, und du gehörst zu der besseren Hälfte, die verschont bleibt. Natürlich schließt das deine Freunde mit ein. Wir könnten unsere Freundschaft erneuern. Denn über all die Jahre konnte ich wirklich feststellen, dass uns zwei etwas Besonderes verbindet.« Als ich Emilys zögern bemerkte, rief ich schnell: Vergiss doch nicht, dass sie ein Roboter ist. Zum Glück hörte sie auf mich. »Du konntest nie so etwas wie Freundschaft empfinden. Du bist ein Roboter… du bist ja nicht mal menschlich!«     

Jane schien ernsthaft enttäuscht, doch ich wusste es natürlich besser. Zu diesen Emotionen wurde Jane nur programmiert. »Aber Emily! Du unterschätzt die Fähigkeiten der Vodmus. Sie bauen Roboter, die so echt sind, dass sie wahrhaft fühlen können.«     

Diese Worte ließen nicht nur Emily, sondern auch mich inne halten. Emily versuchte verzweifelt die Worte »Aber du bist nicht mal menschlich« zu wiederholen. Aber damit konnte sie natürlich nicht wirklich bei Jane kontern. »Ach, und das von der Person, die ebenfalls alles andere als normal ist. Du bist auch nicht wie die anderen Menschen, Em.« Oh nein, jetzt kam sie auch noch mit diesem Spitznamen an. Den Spitznamen, den sie quasi erfunden hatte. Hätte ich doch jetzt nur die Kontrolle über diesen Körper.     

Hoffnungsvoll versuchte ich Emily vom Gegenteil zu überzeugen. Emily, Jane hatte Recht. Sie kann uns besiegen. Aber nicht körperlich. Sie redet dir Worte zu, die dich vom Kämpfen abhalten. Das ist nicht die Jane, die du jahrelang kanntest. Die Vodmus haben eine neue Jane erschaffen und sie mit den Erinnerungen der alten Jane programmiert.     

»Ich glaube dir nicht«, entfuhr es Emily glücklicherweise, während sie mit ihrem Fuß gegen Jane tritt. »Du willst es also auf die unschöne Weise. Bitte, aber ich wette, du wirst es später bereuen. Denn Em – ich verrate dir eins – du kannst mich nicht besiegen. Du hattest Recht. Ich gebe es zu, ich bin nicht menschlich. Aber trotz deinen supertollen Fähigkeiten bist du es. Und deshalb, nur aus diesem Grund, kann ich dich besiegen.«     

Emily lachte. »So ein Quatsch. Das Menschliche in mir macht mich stärker, nicht schwächer.« Sie setzte erneut zum Schlag an. Als Jane auf die Knie ging lächelte sie. »Von wegen, die Vodmus haben dich stärker gemacht. Du bist immer noch so schwach wie in der Rakete.«     

»Ja, du hast Recht. Ich habe mich nicht verändert. Aber du hast es, nicht wahr?«, fragte sie. Was meinte sie damit? In wie weit haben wir uns verändert?     

»Deshalb meinte ich eben auch, dass ihr menschlich seid. Vorher wart ihr das nämlich nicht und auch jetzt seid ihr kein Stückchen anders als ich.« Sie machte eine kurze Pause. »Na los. Tötet mich. Ihr seid dazu in der Lage, weil ihr nicht menschlich seid. Genauso wie ihr in der Lage wart, den gesamten Planeten der Vodmus in die Luft zu sprängen. Ob ihr es zugeben wollt oder nicht, mit diesen Fähigkeiten seid ihr kalt und herzlos – eben unmenschlich, genau wie ich, das muss ich zugeben.«     

Auch wenn ich nichts von Jane hielt, hatte sie Recht. Wir sind nicht besser als die Vodmus oder als Jane. Wir würden Jane töten, wir haben sogar einen ganzen Planeten ausgelöscht. Mir wurde plötzlich klar, dass ich so nicht kämpfen wollte, denn das bin ich einfach nicht. Ich bin kein Monster, ich bin ein Mensch. Und wenn ich schon kämpfen wollte, sollte ich das auch als einer tun.     

Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt Emilys Körper zu verlassen, doch mein Unterbewusstsein konnte nicht anders. Da konnten auch Addisons warnende Worte Das ist eine Falle nichts mehr dagegen ausrichten. Ich verließ Emilys Körper für einen kleinen Augenblick. Ich konnte gar nicht mehr richtig schalten, denn schon überrollte mich Dunkelheit. Aber wenigstens fühlte ich mich frei.

Kapitel 25

 [Emily Tanner]

 

Ich dachte immer, dass Addison nicht damit klar kam, dass sie keinen eigenen Körper hatte. Wahrscheinlich war das auch so, aber Ashley hat es insgeheim wohl ziemlich viel ausgemacht. Sie hatte es nur wie so viele Male zuvor, einfach verdrängt.     

Es ging alles so schnell. Ich konnte gar nicht richtig schalten, was um mich herum passierte. Bevor mir überhaupt erst klar wurde, dass Ashley sich nicht mehr in meinem Körper befand, hatte Jane ihr auch schon das Genick gebrochen. Hektisch berührte ich Ashleys Körper, um sie wieder in Sicherheit zu wissen.     

Ashley? Geht es dir gut?, fragte ich sofort. Keine Antwort. Sekunden später verließ Ashley auch schon wieder meinen Körper. Ich versuchte es abermals, doch sie blieb nie lange in mir. Bis es irgendwann gar nicht mehr funktionierte, als ich sie berührte.     

Jane lachte schadenfroh. »Ich habe es dir doch gesagt. Ashleys Menschlichkeit hat sie am Ende getötet. Ich habe euch gewarnt.« Erst als ich vor lauter Tränen Jane verschwommen wahrnahm, bemerkte ich überhaupt erst, dass ich geweint habe. »Ashley war die Stärkste von uns.« Ich hielt kurz inne und fuhr mit einem Zorn in der Stimme fort, von dem ich selber überrascht war, dass ich dazu fähig war. »Du bist sowas von tot, Jane. Dafür, dass du Ashley getötet hast.«     

Obwohl jeder Mensch an dieser Stelle zusammen gezuckt wäre, blieb Jane kalt. Noch ein Grund, warum sie gelogen hatte: Sie konnte ganz bestimmt nicht fühlen.     

»Nur zu. Töte mich. Aber das wird nichts ändern. Einige Vodmus haben überlebt und befinden sich irgendwo vereinzelnd auf der Erde. Keine Chance sie zu finden. Es wird zwar eine Weile dauern, aber die verbliebenen Vodmus werden nicht aufgeben. Sie werden weiter machen und weitere Menschen hier runter schleppen, bis die Menschheit oberhalb so weit reduziert ist, dass die Bevölkerung der Vodmus wieder steigen kann.«     

»Wir werden nicht aufgeben. Wir werden nach ihnen suchen. Außerdem kennen wir nun den Eingang und werden jeden einzelnen Menschen wieder befreien.«     

»Mag sein. Aber die Vodmus leben länger als du. Selbst wenn die Menschheit zu deinen Lebzeiten verschont bleibt, deine Nachkommen wird es treffen«, erklärte mir Jane mit gehärteter Miene. Obwohl ich den Hauch von Wahrheit in ihren Worten erkannte, drängte ich sie von mir. Ich hatte Heute einfach zu viel durchgemacht.     

»Mach’s gut, Jane. Weißt du, für mich war unsere Freundschaft echt gewesen.« »Aber das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu erklären, Em. Für mich auch!« »Mag sein, dass du davon überzeugt bist. Doch das Problem ist, dass du dazu programmiert wurdest. So wie du dazu programmiert wurdest, Ashley zu töten. Tut mir ja leid, aber daraus kann sich einfach keine Freundschaft entwickeln.« Ich konnte mir einfach keine weiteren Worte anhören, die mich vom Gegenteil überzeugen sollten. Dazu hatten wir beide eine zu bedeutende Vergangenheit – oder ihr Vorgänger… wie auch immer.     

Auch wenn Jane ein Roboter ist, ist sie da gewesen, als meine anderen Mitschüler es nicht gewesen sind. Streber, war eines der harmlosesten Beleidigungen gewesen. Doch das hatte sich dank Jane geändert. Denn Jane war in der Schule immer beliebt gewesen, was mich als ihre Freundin ebenfalls in der Schulhierarchie weiter nach oben brachte.     

Ich hatte immer geglaubt, dass Bella sich nur deshalb mit mir angefreundet hatte, weil ich kein Loser mehr war. Jeder dachte, es wäre ich gewesen, die wegen ihres Tattoos auf Bella zugegangen ist. Aber ganz echt… was für ein Schwachsinn! Es war meine Beliebtheit gewesen. Eine Beliebtheit, die ich Jane verdankte.     

Nein, stopp! Ich verdankte ihr gar nichts. Es war die ganze Zeit über ein Spiel gewesen. Sie war eine Spionin der Vodmus… sie hatte Ashley getötet! Ohne weiter nachzudenken, trat ich sie zu Boden. Sie versuchte nicht mal aufzustehen. Der Ast auf dem Boden, den ich schon länger ins Auge gefasst hatte, fand nun endlich seinen Weg in meine rechte Hand.     

»Danke, Em.« Nein! Ich wollte nichts mehr hören. Ich hatte den Ast schon gehoben. Ich hatte es eigentlich nicht vorgehabt, doch ich konnte einfach nicht anders. Die Worte kamen einfach automatisch über meine Lippen: »Danke wofür?« »Das weißt du nicht? Dass du einen Teil in meinen Leben eingenommen hast. Zwar wurde ich dazu beauftragt ein Auge auf dich zu werfen, doch danke, dass du mich nicht zurück gewiesen hast. Du warst der einzige erfüllende Part in meinem Leben. Der Part, der mich wenigstens ein bisschen menschlich machte. Auch… wenn es am Ende nicht gereicht hat.«     

Meine Hand zuckte und mir liefen neue Tränen aus den Augen. Die Worte, die die Vodmus für sie programmierten. Denke daran, Em, hallte Addison in mir wieder. Sie hatte mich Em genannt. Da wurde es mir klar. Ich hatte inzwischen Freunde gewonnen, die mich wirklich liebten. Nicht, weil es irgendwer von ihnen verlangte.     

»Auf nimmer Wiedersehen, Jane 2.0«, murmelte ich und hatte endlich die Kraft aufgebracht, die es erforderte den Ast erneut zu heben und mit aller Kraft durch ihr Herz zu bohren. Doch da war kein Herz. Natürlich nicht…     

Als Janes Körper erschlaffte ohne einen Tropfen Blut abzugeben, wurde mir eigentlich erst richtig bewusst, dass sie wirklich nur ein Roboter gewesen war… nichts weiter. Meine Beine verloren den Halt und ich sackte über Ashleys leblosen Körper zusammen.     

Wir müssen sie nach oben bringen, Addison. Wir müssen alle nach oben bringen. Plötzlich löste sich Bella aus der Menge heraus und kam auf uns zu gerannt. »Oh Gott! Ich erinnere mich wieder an alles.«     

Und auch der Rest der Menschenmenge fing an sich zu regen, allerdings voller Hoffnung und Erleichterung, da ihnen Bewusst wurde, dass sie diesen Ort verlassen konnten. Doch wir fühlten nicht so, denn Jane hatte mit fast allem Recht gehabt. Die Vodmus würden nie aufhören ein Problem für uns zu sein. Ashley war umsonst gestorben.

Kapitel 26

 [Ethan Bradley]

 

»Abschließend kann ich sagen, ja, wir haben hier keine klare Vorgehensweise aufgeführt. Aber geht es darum wirklich in diesem Fach? Wir wollten erreichen, dass weniger Menschen in Seattle verschwinden – und das haben wir. Zufall oder nicht, das kann sich jeder selber denken. Aber den wichtigsten Punkt haben wir auf jeden Fall erfüllt: Unsere Schulprojektgruppe ist quasi wie eine Familie geworden.     

Klar, wir haben dafür keinerlei Beweise, aber die brauchen wir auch nicht. Im Leben geht es um mehr, als um Schulnoten. Wir haben bei diesem Projekt viel gelernt und ich kenne diese Leute inzwischen wahrscheinlich besser als einige aus meiner richtigen Familie. Und das mag etwas heißen«, sagte ich zum Abschluss unserer Präsentation.     

»Danke an unseren letzten Vortrag. Schade, dass euch eine Schülerin abgesprungen ist, aber gegen einen Umzug kann man ja nichts machen«, sagte Mrs. Backer. Ihr Ton verriet nichts darüber wie sie unseren Vortrag fand. »Setzt euch bitte.«     

Während ich zurück zu meinem Platz steuerte, raunte mir Avery ins Ohr: »Das muss mindestens eine Eins werden.« Ich starrte ihn entgeistert an. »Warum? Hast du die Ergebnisse deiner Nachprüfung etwa schon?« »Ne, aber ich brauche trotzdem eine Eins.«     

Ich bezweifelte ehrlich gesagt, dass das eine Eins werden würde, auch wenn wir eine verdient hätten. Aber ich wollte Avery seine Hoffnung nicht kaputt machen und antwortete deshalb nichts weiter.     

»Ich verteile jetzt die Aufwertungsbögen an jeweils ein Projektmitglied. Die anderen Teilnehmer müssen sich die Ergebnisse dann bei demjenigen abholen.« Bei unserer Gruppe erhielt Bella den Zettel, die ausdruckslos auf das Blatt starrte. Avery war der Erste, der zu ihr lief. »Und?«, fragte er aufgeregt. »Geht. Eigentlich habe ich Schlechteres erwartet«, antwortete Bella.     

»Wie geht? Ich brauche kein geht. Ich brauche eine Eins.« »Zumindest hat sie uns die volle Punktzahl für Arbeitsklima gegeben. Aber natürlich haben wir bei unserem Projektthema keine Punkte erhalten. Mrs. Baker hat uns das nicht abgekauft, wie zu erwarten. Du musst dich wohl mit einer Vier zufrieden geben«, meinte Bella zu Avery, der daraufhin aufgebracht den Raum verließ.     

Mrs. Backer rief ihm noch hinterher: »Hey, Avery! Wo willst du hin? Hiergeblieben!« Bella rollte die Augen. »Er hat doch nicht ernsthaft geglaubt, dass wir hier eine Eins bekommen würden, oder?« Ich wollte ihr antworten und Avery verteidigen, doch leider fiel mir auch nichts ein. Ich hätte ja auch nicht mit einer Eins gerechnet.     

Plötzlich meldete sich Chloe von links hinter mir. »Soll ich mal nach ihm schauen? Ich glaube er ist aufgebracht, weil er momentan einige Probleme mit seinen Eltern hat.« Chloe wartete Mrs. Backers Antwort nicht mehr ab und folgte Avery in den Flur.     

»Aber ich sollte doch Avery noch ausrichten, dass er sich im Sekretariat seine Noten abholen soll.« »Ich sag’s ihm«, sagte ich und folgte Avery und Chloe nach draußen.     

Ich brauchte gar nicht weit zu gehen, um Avery zu finden. Er saß mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt auf dem kalten Boden der Aula und unterhielt sich mit Chloe. Ich räusperte mich vorsichtig. »Es tut mir leid, aber Mrs. Backer möchte, dass du dir im Sekretariat deine Noten abholst.«     

»Das hat mir gerade noch gefehlt. Englisch und Mathe kann ich noch schlechter«, sagte er, erhob sich aber trotzdem vom Fußboden.     

»Vielleicht sind die Ergebnisse ja ganz okay«, versuchte Chloe zu sagen, doch Avery unterbrach sie: »Wie oft muss ich es noch sagen? Okay, reicht nicht. Ich schaffe es nie Mathe und Englisch nie im Leben über 3,0 und die benötige ich um zu bestehen, weil ich in den Nebenfächern schon so viele Fünfen habe. Ich habe Fünfen in Fächern, die ich eigentlich besser als Mathe und Englisch kann.«     

Er wollte sich gerade schon auf den Weg machen, da drehte er sich noch mal um und überlegte: »Ethan, kannst du wohl mitkommen?« Ich zögerte. Eigentlich war der Unterricht bei Mrs. Backer noch nicht beendet. Doch Chloe meinte: »Ist schon gut. Ich werde Mrs. Backer sagen, was los ist.« »Danke«, flüsterte Avery und mir wurde klar, dass er wirklich nicht alleine gehen wollte. Nicht nur, weil er jemanden zum Quasseln wollte.

Als Mr. Johnson im Sekretariat stand, schluckte Avery schon überdeutlich. Normalerweise waren Lehrer bei einer einfachen Notenvergabe nicht mehr anwesend. Ob er ihm mitteilen wollte, dass er die Klasse wiederholen musste?     

Gerade weil Mr. Johnson darauf bestand, dass ich vor der Tür warten sollte. Der Arme! Ich wusste was Mr. Johnson von Avery hielt. Er hasste ihn dafür, dass er Mathe hasste. Und jetzt müsste er alleine mit ihm in einen Raum sein.     

Und wie lange! Ich hatte zwar nicht auf die Uhr geschaut, aber es kam mir so vor, als würde ich eine gute halbe Stunde auf Avery warten. Was musste er ihm alles noch mitteilen? Eine halbe Stunde lang? Andererseits – ich wusste nur zu gut, dass Mr. Johnson eine richtige Labertasche war.     

Endlich öffnete sich die Tür und Avery hielt mir das Blatt mit den Ergebnissen entgegen, die ich jedoch noch nicht erkennen konnte, da die Schrift zu klein war. Aber ich brauchte es auch nicht zu lesen, Avery teilte mir das Ergebnis sofort mit: »Ich habe bestanden, Ethan! Ich kann’s gar nicht fassen. Eine Drei in Englisch, die von Mr. Jenkins abgesegnet wurde, aber nur, weil man in Englisch eigentlich nicht schummeln kann. Von einer Fünf auf eine Drei… das ist immerhin ein Notensprung von zwei.«     

»Wow, und da du diese komplexe Matheaufgabe anscheinend auch lösen konntest, war Mathe wohl auch nicht so schlecht. Auch eine Drei?«, fragte ich ihn mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. »Nein, eine Zwei, Ethan, eine Zwei! Und das in Mathe! Das hat Mr. Johnson natürlich auch gedacht, weshalb es auch so lange gedauert hatte. Für eine Nachprüfung war natürlich keine Zeit mehr, da dies schon die Nachprüfung war, aber er stellte mir trotzdem noch einige Fragen zur Kontrolle.«     

»Cool, dann scheinen die Nachhilfestunden von Emily doch geholfen zu haben.« »Scheint so«, murmelte er und wir gingen zu den anderen in die Pause.

Kapitel 27

 [Ethan Bradley]

 

Während der letzten Nacht träumte ich von unserer Begegnung mit der alten Emily aus der Zukunft. Mir gingen ihre Worte einfach nicht mehr aus dem Kopf: Du kannst natürlich auch einen anderen Weg einschlagen, der sicherlich angsteinflößender ist, wenn auch besser. Aber seien wir mal ehrlich: Ich kenne mich natürlich am besten. Du wirst diesen Weg nicht wählen. Du wirst denken, dass dieser Weg gegen die Grundsätze spricht. Ich weiß natürlich, dass du ein Mensch bist, der viel Wert auf Regeln legt. Du nimmst den leichten und sicheren, wenn auch schlechteren Weg. Aber egal.     

Ich hatte jetzt schon eine ganze Weile über diese Worte nachgedacht und was sie wohl bedeuten könnten. Vielleicht kannte Emily die Antwort ja bereits und wollte sie einfach nicht wahr haben. Und da ich der einzige war, der sonst noch davon wusste, schien ich es irgendwie als meine Aufgabe anzusehen.     

Plötzlich fielen meine Augen zu meinem Schreibtisch, auf dem das Gedicht lag, das Emily für jeden von uns aufgeschrieben hatte. Wir hatten es uns alle zur Aufgabe gemacht, die Bedeutung davon zu finden. Ich hatte es mir schon eine ganze Weile nicht mehr angeguckt, immerhin hatten wir einen Plan wie wir die Gefangenen aus dem Untergrund befreien konnten. Das Gedicht verlor somit an Bedeutung.       

Mir kam in den Sinn, jetzt wo alles vorbei war, müssten wir doch auch die Bedeutung dieses Gedichtes kennen. Ich nahm mir vor es noch ein letztes Mal durchzulesen, bevor es in den Papierkorb landete: Die Zeiten sind noch zu ändern. Wird’s je ein Ende nehmen? Doch einer wird’s beenden müssen. Eh das Ende niemals kommt.

Verschließ den Schlüssel in das Grauen, der in die Tiefe führt. Auch wenn du dich selbst gerettet hast, deine Nachfolger wird’s wieder plagen.

Drum schlage alle Warnung in den Wind. Verschließ das Grauen der Wiederholung. Und helfe dir selbst, deinen Nächsten. Vergangenheit am längsten eilt.

Und plötzlich machte alles klick in meinem Kopf, als wäre es schon immer logisch gewesen. Hektisch griff ich zu meinem Telefon und scrollte zum Buchstaben E in meiner Kontaktliste. Es klingelte drei Mal bevor Emily an ihr Handy ging.     

Bevor sie sich überhaupt melden konnte, rief ich in den Hörer: »Wir brauchen sofort ein aller letztes Projekttreffen!« »Was? Warum das?«, fragte Emily verdattert. »Siehst du dann. Kannst du bitte Addison und Bella Bescheid geben? Ich informiere den Rest.« Obwohl Emily noch immer vollkommen perplex wirkte, antwortete: »Na schön. Um drei Uhr treffen wir uns bei mir.«

Ich war der Erste, der Emilys Haus erreichte. Bis auf Addison und Emily war noch keiner da. Allerdings dauerte es auch nicht lange, bis der Rest eintrudelte. Kein Wunder, mein Haus war Emilys Zuhause am dichtesten dran.     

»Was gibt es denn jetzt noch zu besprechen?«, fragte mich Emily als wir vollzählig auf ihrem Bett und Sofa lungerten. »Ihr wisst ja alle nur zu gut, dass es noch nicht vorbei ist. Ein paar Vodmus sind immer noch da draußen.« Chloe schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ach? Und du hast die restlichen jetzt gefunden? Ich dachte das wäre eher Emilys Part.«     

Ich ignorierte ihre Bemerkung einfach. »Es gibt nur eine Möglichkeit, wie das alles je ein Ende finden kann. Es darf gar nicht erst geschehen. Wir müssen das Loch direkt danach schließen, nachdem Heinz es gegraben hat. Dann werden die Vodmus den Untergrund nie entdecken und jede Rasse wird auf natürliche Weise aussterben. Wir müssen deren Planeten nicht zerstören und die Vodmus braucht nicht die halbe Menschheit zu töten.«     

Eine Weile war es ruhig, bis Emily laut auflachte. »Wenn es doch so einfach wäre… die ganze Sache einfach ungeschehen zu machen. Denkst du, das wäre mir noch nicht in den Sinn gekommen? Spätestens als wir diese Zeitmaschine gebaut haben, auf jeden Fall. Doch das geht nicht. Man darf die Vergangenheit nicht so massiv ändern, Ethan. Ohne die verschwundenen Personen wären viele Dinge in der Zukunft anders gelaufen. Wie zum Beispiel unser Schulprojekt… es hätte niemals existiert. Wir hätten uns nie kennengelernt.«     

»Aber, Emily. Das sagt doch das Gedicht: Drum schlage alle Warnung in den Wind. Verschließ das Grauen der Wiederholung. Das sagte übrigens auch dein älteres Ich. Du wirst es nicht tun, weil es gegen die Regeln ist. Auch wenn es der richtige Weg ist, auch wenn es das ist, was wir laut diesem Gedicht machen sollten, wirst du es nicht tun, weil du Angst hast. Angst vor deinem plötzlich vollkommen anderen Leben. Nur das steht der ganzen Sache im Weg.«     

»Es hört sich so an, als wäre ich der einzige Grund, warum wir es nicht tun werden. Ich wette ihr habt alle Angst.« »Klar haben wir das, Emily. Es gibt einen Grund, warum wir dieses Projekt gemacht haben. Warum dein zukünftiges Ich dein junges Ich warnen muss.« Bei diesen Worten starrten mich alle entgeistert an, da ich vergessen hatte unser Geheimnis zu wahren. Aber das war mir jetzt auch egal. »Wir werden es nicht tun. Wir werden die Vergangenheit nicht ändern. Denn würden wir das, sehe unser Leben sicherlich wesentlich entspannter aus. Es könnte besser sein.«     

»Du solltest das Könnte betonen, Ethan. Mein Leben zum Beispiel, wäre garantiert schlechter verlaufen«, murmelte Avery. Obwohl die meisten hier sicherlich nicht wussten, wovon er sprach, wusste ich es ganz genau. Er ist der Meinung, dass er ohne dieses Projekt in der Schule durchgefallen wäre.     

»Ich verstehe, warum wir die Vergangenheit nie geändert haben. Auch ich würde es nicht wollen… Wir sind nun Mal alle Menschen. Uns interessiert nicht wie es der nachfolgenden Generation geht, die wir eh nicht kennen. Solange es uns nur gut geht. Und dank dieses Projektes geht es mir ehrlich gesagt besser. Ich bin irgendwie kein Außenseiter mehr«, sagte Tyler. »Doch ich denke, es hat sich etwas geändert. Es ist ein Ereignis eingetreten, das die Male davor nicht eingetreten ist. Ich spreche von Ashleys Tod. Würden wir die Vergangenheit ändern, wäre sie mit aller Wahrscheinlichkeit noch am Leben.«     

»Die Zukunft wird sich immer ändern, Leute. Aber auch wenn sich unser Leben von Grund auf ändern wird, ist es immer noch unser Leben. Wir treffen die Entscheidungen darüber. Also ich finde, wir sollten es wagen. Für die Menschheit!«, sagte ich noch abschließend, bevor die Abstimmung beginnen würde.

Kapitel 28

[Emily Tanner]

 

Es war Ashleys Tod gewesen, der meine Hand bei der Abstimmung für die Option die Vergangenheit ändern in die Höhe schießen ließen. Als ich schließlich meine Hand gehoben hatte, war das Ergebnis fast einstimmig. Bis auf Averys Hand waren alle Hände oben.     

Das war also der Grund, warum wir uns nun in der engen Kabine der Zeitmaschine befanden, anstatt Zuhause und den Stress aus unseren Knochen schliefen. Denn das ist es was die vergangenen Wochen gewesen waren: stressig. Wir könnten jetzt so gut Ruhe gebrauchen. Doch wir mussten noch ein letztes Mal in Aktion gehen. Bevor wir ein Leben bekommen würden, welches total langweilig und normal werden würde.     

Ich zögerte nun doch wieder. Obwohl ich mir anfangs nichts lieber als das gewünscht hätte, mochte ich mein Leben wie es jetzt war. Ich war ein Mädchen, das Aktion in ihrem Leben brauchte. Stopp! Ich musste aufhören so selbstsüchtig zu denken. Wir mussten es tun… für Ashley und für die Menschheit.     

Wir hatten noch ein wenig Zeit, bis Heinz dieses Loch graben würde. Somit hatten wir uns bei einer alten Holzhütte niedergelassen, von der wir Heinz prima unbemerkt beobachten könnten.     

Ich hatte es mir gerade auf einer Bank gemütlich gemacht, als ich merkte, wie mich jemand am Ärmel zog. Es war Avery, der anscheinend von mir verlangte, dass ich ihm hinter die Hütte folgte. Ein wenig genervt folgte ich ihm schließlich. »Was?«, maulte ich, obwohl ich schon ahnte, was er von mir wollte.     

Seine nächsten Worte schienen meine Vermutung zu bestätigen. »Bitte, Emily. Du musst die anderen überzeugen, dass wir das Loch nicht schließen. Wenn du dagegen bist, ändern die anderen sicherlich schnell ihre Meinung.«     

»Da gibt es nur ein Problem, Avery. Ich war zwar Anfangs dagegen, aber ich werde meine Meinung jetzt nicht mehr ändern. Nicht, wo ich weiß, dass es Ashley zurückbringen könnte.« »Aber alles was du bis jetzt erlebt hast wirst du vergessen.« »Wir werden neue Erinnerungen sammeln«, entgegnete ich. »Warum bist du nur so dagegen? Es ist das Richtige. Und es bedeutet nicht zwangsläufig, dass dein Leben schlecht wird.«     

»Ich weiß, dass es nicht schlecht wird. Mein Leben war nie schlecht. Immerhin bin ich schon immer der beliebteste Schüler unserer Schule gewesen. Aber ich werde dann vergessen haben, dass das nicht das Leben ist, das ich eigentlich möchte.« »Wie meinst du das? Avery… wenn wir die Vergangenheit ändern wird das nicht deine Persönlichkeit ändern. Du kannst immer noch der sein, der du sein möchtest.«     

Avery schaute nun zu Boden, da er sich anscheinend für etwas schämte. »Das denke ich nicht. Ich wusste es nie. Himmel, ich wusste es ja nicht Mal bis vor ein paar Stunden. Erst als ich mir mein Leben ohne dieses Projekt vorstellen musste.« »Ich wusste nicht, dass dir das Projekt je so wichtig gewesen ist.«     

Endlich schaute er mich wieder an. »Ich ja auch nicht. Doch dann habe ich es mir vorgestellt… ein Leben ohne dieses Projekt… das heißt ein Leben ohne dich. Emily, du hattest die ganze Zeit Recht gehabt. Anscheinend hatte ich doch Gefühle für dich, aber ich Blödmann wusste es erst, als mir klar wurde, ich würde dich verlieren. Und jetzt wo ich es endlich weiß… wird es nie passieren.«     

Ich starrte Avery sprachlos an. Ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Vor mir stand immerhin Avery, ein totaler Vollidiot, der gerade so die Schule geschafft hat. Er passte ja überhaupt nicht zu mir. Ashley würde jetzt wahrscheinlich sagen: Zum Glück musst du dich nicht länger mit diesem Problem rumschlagen. Immerhin ändern wir gleich die Vergangenheit.     

Doch unbewusst stellte ich plötzlich fest, dass vor mir ein weiterer Grund stand, warum ich die Vergangenheit eben nicht ändern wollte. Das einzige was ich an dieser Stelle nur herausbrachte, war: »Oh…«      Vorsichtig kam Avery einen Schritt auf mich zu. Als ich mich nicht von der Stelle bewegte, zog er mich zu sich heran und begann mich zu küssen. Anfangs zögerlich, da er sich nicht sicher war, ob ich es auch wollte. Als ich dann meine Hände um seinen Hals legte, wurde er selbstbewusster.     

Er verharrte nur wenige Zentimeter vor meinen Mund, während er erneut fragte: »Wirst du die anderen davon überzeugen, die Vergangenheit nicht zu ändern?« Ich brauchte eine Weile, bis ich zur Antwort ansetzte: »Das… geht nicht. Das wäre selbstsüchtig und falsch.«     

Genervt löste er sich von mir. »Damit hast du vermutlich Recht. Du tust immer das Richtige… im Gegensatz zu mir. Gerade deshalb brauche ich dich doch in meinem Leben.«     

»Wenn du so jemand in deinem Leben brauchst, wirst du ihn auch finden. Vielleicht wird es eine Weile dauern, bis du denjenigen findest, aber es wird bestimmt irgendwann passieren.« »Ich will aber nicht irgendjemanden. Ich will dich.« Ich stellte fest, wie sich bei seinen Worten meine Wangen röteten.     

»Naja… wir werden wahrscheinlich immer noch auf dieselbe Schule gehen. Allerdings… werden Addison und Ashley bestimmt noch in meinem Körper sein, was eine Beziehung sicherlich schwierig machen wird.« »Beziehung oder nicht ist mir egal. Hauptsache du bist überhaupt ein Teil meines Lebens.«       

Verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten. »Avery, du bist wie du bist. Ereignisse wie dieses Schulprojekt haben es nur zum Vorschein gebracht. Auch wenn es dieses Schulprojekt dann nicht geben wird, wird es andere Ereignisse geben. Ereignisse, die dich irgendwann zu der Person machen werden, die ich angefangen habe so warnsinnig zu mögen.«     

Er fing an zu lächeln. Gut, es waren die richtigen Worte gewesen. »Na schön, ich hoffe du hast Recht.« Schließlich gingen wir wieder zu den anderen, als wäre nichts gewesen. »Da seid ihr ja endlich. Heinz ist bereits mit Graben fertig. Sein Freund wird ihn jede Sekunde wieder hochgezogen haben und sie werden diesen Ort für immer verlassen«, informierte uns Bella.     

Und es dauerte tatsächlich nur noch ein paar Minuten, bis die beiden ängstlich diese Gegend hinter sich ließen. »Kommt endlich!«, rief uns Tyler zu und wir folgten ihm.

Das Loch war schließlich geschlossen und wir kamen wieder bei der Zeitmaschine an. Doch dieses Mal fühlte es sich anders an, als wir zurück in die Zukunft reisten. Die Zeitmaschine schien nicht länger zu existieren, ebenso wie das Leben, was ich bis vor kurzem gekannt hatte.

Epilog

 [Tyler Williams]

 

Meine Mutter hatte mich immer vor so etwas gewarnt. Wahrscheinlich war das auch mein Problem. Ich bin zu naiv, traue irgendwelchen Fremden und zack – sitze ich im Schlamassel. Ich konnte mich ja nicht einmal erinnern, wie ich überhaupt hier her gekommen bin, so sehr mussten mich meine Entführer zugerichtet haben.      Eben war ich noch Zuhause bei meinen Eltern. Wir hatten wieder einen Spieleabend, den ich so sehr liebte. Dann waren wir einfach nur zu dritt und es war, als wäre die Welt vollkommen in Ordnung. Aber was machte ich mir vor: Das war sie ganz und gar nicht.     

Im nächsten Moment musste ich an meine Eltern denken. Was haben die Entführer nur mit denen gemacht? Höchstwahrscheinlich haben sie die bereits getötet. Obwohl mein Körper mit Angst erfüllt war, stieß ich hervor: »Wo sind meine Eltern?«, weil ich es einfach wissen musste. Auch wenn ich die Reaktion der Entführer nicht verkraften könnte.     

»Sie sind tot«, sagte eine ältere Frau mit grauen Haaren. Zwar hatte meine Mutter immer vermutet, dass ich von jüngeren Jungs entführt werden würde. Aber die Zeit hat sich nun mal geändert. Heutzutage sind Omis und Opis so fit, dass sie locker einen noch nicht ganz ausgewachsenen Jungen entführen könnten. »Ich verstehe. Und jetzt werdet ihr mich als nächstes töten.«     

Ein älterer Mann erwiderte: »Was ist das denn jetzt für eine verrückte Phase? Man, wir…«, doch die Frau unterbrach den Mann: »Nicht. Hast du denn gar nichts gelernt? Das hat doch alles keinen Sinn.«     

Die Unterhaltung des Mannes und der Frau waren in meinen Ohren nur Bahnhof. Langsam begann das Band, mit dem sie mich an den Stuhl gefesselt hatten, zu brennen. Als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, fragte er die Frau: »Ist das Band wirklich nötig?«     

Langsam wurde ihm bewusst, dass der Mann nur wegen der Frau bei dieser Sache mit machte. Sie war also das eigentliche Problem. Vielleicht würden sie ihn gehen lassen, wenn der ältere Mann die ältere Frau überreden könnte. Sie schien ihm zumindest zu vertrauen. Da sie ungefähr gleich alt waren, war es gut möglich, dass sie verheiratet waren.     

Als die Frau sich erhob, stellte er fest, dass sie ein Blümchenkleid trug. Vielleicht sollte das eine Tarnung sein, genau wie ihr fortgeschrittenes Alter. Denn so stellte man sich die Täter unter keinen Umständen vor – eher die Opfer. Vielleicht würden sie mich sogar als Täter darstellen, immerhin entsprach ich eher der Norm.      »Es ist nötig«, antwortete die Frau im Blümchenkleid. »Aber Gestern…«, setzte der alte Mann an, doch die Frau unterbrach ihn erneut. »Gestern ist nicht Heute. Es ist jedes Mal anders und das weißt du. Würde ich das Band lösen, wäre er schneller über alle Berge als ich Ich-habe-es-dir-ja-gesagt sagen könnte.     

»Bitte, ich will doch nur Nachhause«, flehte ich die beiden an, doch diese schienen mich gar nicht zu beachten. Der Mann atmete verzweifelt aus. »Ich frage mich jedes Mal, wie du das nur immer wieder schaffst. Ich könnte es nicht.«     

»Wenn du es nicht kannst, dann überrede sie bitte! Sage ihr einfach wie falsch das alles ist und lasst mich einfach gehen!«, schrie ich ihn an, da ich irgendwie die Kontrolle verloren hatte. »Weißt du, was dieses Mal in seinem Kopf herum schwirrt?«, fragte der Mann die Frau, die daraufhin den Kopf schüttelte und dann aus meiner Sichtweite verschwand.     

»Hör zu, mach dieses Mal bitte schnell – bevor die anderen da sind am besten«, sagte der Mann, der eigentlich die Frau gemeint haben musste, doch er sah mich direkt an als er diese Worte aussprach. Jetzt verstand ich wirklich gar nichts mehr.     

Als das Blümchenkleid wieder meine Sichtweite erreichte, zuckte ich zusammen. Sie kam in Begleitung. »Hättet ihr nicht noch ein bisschen warten können?«, fragte der Mann die anderen, die den Raum betreten hatten. »Ich wüsste nicht warum. Es ist ja nicht so als würden wir das zum ersten Mal sehen«, entgegnete eine blondierte Frau, die trotz ihres vielen Makeups wahrscheinlich nicht jünger als die anderen war.     

»Aber dieses Mal ist es glaube ich besonders schlimm«, sagte der Mann neben mir. »So ein Quatsch. Es ist immer schlimm, dieses Mal ist es nur anders«, entgegnete die Frau im Blümchenkleid.     

»Aber hey, du kriegst das doch wieder hin, oder?«, fragte eine Frau, die sich anscheinend noch ziemlich gut für ihr Alter gehalten hatte oder einfach jünger als die anderen war. Wobei ihre grauen Haare etwas anderes verrieten. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete die Frau im Blümchenkleid. »Das werden wir gleich sehen.«     

Als sie immer näher auf mich zukam, merkte ich wie meine Hand zitterte. In ihrer Hand hielt sie etwas, das ein Buch sein musste. »Ich werde mit dir einen Deal machen. Ich lasse dich frei, wenn du dir dieses Buch Wort für Wort und Seite für Seite durchliest.«     

Wollte sie mich etwa manipulieren? Würde ich darin womöglich auf etwas stoßen, was ich eigentlich gar nicht wollte? Da es jedoch meine einzige Chance von hier weg zu kommen zu sein schien, ließ ich mich auf den Deal an. Ich dürfte die Worte einfach nicht an mich ran lassen.     

Als ich das Buch entgegen nahm, zitterte meine Hand immer noch. Vorsichtig schlug ich das Buch auf. Vorne stand geschrieben: Zur Erinnerung an Tyler Williams. Hatten diese Entführer etwa ein Abschiedsbuch für mich angefertigt, jetzt wo sie mich töten wollten? Die mussten doch psychisch nicht mehr ganz gesund sein. Trotzdem begann ich schließlich zu lesen:

Hey Idiot, ja du hast schon richtig gehört. Idiot. Und nein, es ist keine Beleidigung, wenn man es gegen sich selber richtet. Ganz recht, du hast dieses Buch selbst geschrieben. Ist noch nicht lange her. Für dich mag es aber in der Zukunft liegen, da dein doofes Gehirn ja immer noch denkt, es wäre in der Blüte seiner Jugend. Aber ich verrate dir mal was: dein Leben ist eigentlich schon fast vorbei. Und jetzt sei nicht traurig oder so, denn dein Leben war echt klasse. Nein, ich werde dir jetzt nicht mitteilen, was alles so spannendes in deinem Leben passiert ist. Das muss ich auch gar nicht, denn das wichtigste im Leben sind nicht die Augenblicke, wie viele immer denken. Das, was sich nie ändern wird, ist das woran du wirklich festhalten kannst.     

Na schön, um dich etwas zu beruhigen: Dein Leben war alles andere als langweilig. Aber das ist wahrscheinlich auch kein Wunder, wenn man drei Mädchen mit Superkräften kennt. Ja, du hast schon richtig gehört: Superkräfte.     

Da haben wir einmal Emily. Vielleicht siehst du sie ja gerade. Sie hat rotbraune Haare, die inzwischen wahrscheinlich eher grau sein mögen, aber vielleicht nimmst du noch ihre Sommersprossen wahr. Unsere Gruppe, bestehend aus acht Leuten, hat sich bereits zu Schulzeiten kennengelernt. Ich glaube die drei Mädchen – Emily, Addison und Ashley – sind der Grund warum wir alle miteinander befreundet sind und uns kennengelernt haben.     

Ohne Emily hättest du wahrscheinlich nie Avery, ihren Mann, kennengelernt. Obwohl Avery der beliebteste Junge der Schule war, hat er sich mit einem Loser wie dir angefreundet. Ich weiß noch, dass das früher ein ziemliches Problem gewesen ist, als Avery sich mit Emily treffen wollte, da zu dieser Zeit Ashley und Addison noch in ihrem Körper waren. Als Emilys Körper dann jedoch mit ungefähr achtzehn Jahren vollkommen ausgewachsen war und jeder seinen eigenen Körper bekam, hatte sie endlich die Möglichkeit ein Privatleben zu führen – genau wie die anderen beiden auch.     

Ab dem Moment ist diese Gruppe eigentlich entstanden. Addison brachte Chloe in die Gruppe, was ziemlich verwunderlich ist. Chloe ist auf dem ersten Blick nämlich eine ziemliche Tussi, doch Addison konnte mehr sehen – frei von jeglichen Vorurteilen. Und obwohl sie manchmal etwas eigen ist, hast du dich doch mit ihr angefreundet. Bella kam durch Emily in diese Gruppe, da sie schon ziemlich lange beste Freunde sind. Ich meine, seit ihrer Kindheit. Und du brachtest Ethan in die Gruppe, deinen besten Freund seit der Oberschule. Aber ich glaube, dass sich das inzwischen geändert hat und du jeden in dieser Gruppe als deinen besten Freund bezeichnen kannst. Okay, manche vielleicht etwas mehr als andere.       

Ich könnte dir jetzt sagen, wie du in diese Gruppe gekommen bist, schließlich warst du schon immer ein ziemlicher Außenseiter und hattest nur Ethan als deinen Freund. Aber ich tue es nicht, denn das ist deine Strafe! Ich weiß, dass es eine Krankheit ist und du nichts dafür kannst. Aber kämpfe gegen dein verdammtes Gehirn an! Kämpfe so wie es deine Ehefrau jeden Tag für dich macht, denn du kannst dich glücklich schätzen sie zu haben. Nur sie schafft es, dass du dich jeden Tag aufs Neue wieder erinnerst. Ich kann dir nicht sagen, ob du dich dieses Mal erinnern wirst, denn das entscheidet das verdammte Alzheimer. Doch tu mir einen Gefallen: Selbst wenn du dich mal nicht erinnern solltest, tu einfach so als würdest du es. Denn sonst würde es ihr das Herz brechen, da sie denkt, dass der Alzheimer inzwischen so weit fortgeschritten ist. Dann denkt sie, dass sie dich weggeben muss – ins Heim.     

Aber es ist sicher besser für dich, wenn du bei dir Zuhause bist mit den Menschen, die dich lieben. Da ich mich nun Mal am besten kenne, weiß ich, dass du Worte schon immer gehasst hast. Deshalb bitte ich dich jetzt umzublättern.

Mit zitterigen Händen starrte ich auf die folgenden Seiten, die nur mit Fotos gefüllt waren. Fotos, die mich mit fremden Personen zeigten. Es fühlte sich an, als wären diese Fotos bearbeitet worden, da ich mich an keins dieser Bilder erinnern konnte. Ich hatte schon seit ich denken kann einen Fotoapparat, den mein Vater mir zu meinem Geburtstag geschenkt hatte, denn er hatte mir schon früh mitgeteilt, dass ich womöglich Alzheimer kriegen könnte.     

Langsam hob ich meinen Blick von dem Buch und schaute die wunderschöne Frau in dem Blümchenkleid an. »Ashley«, murmelte ich und lächelte sie an. Erleichtert atmete sie aus. »Du erinnerst dich.« »Natürlich erinnert er sich. Er erinnert sich immer. Fast schon etwas unheimlich, aber im positivem Sinne. Freundschaft ist eben die beste Medizin«, antwortete die sommersprossenübersäte Emily.     

Und Avery, der den Arm um sie gelegt hatte, fragte sich: »Ob wir wohl auch alle miteinander befreundet wären, wenn Addison und Ashley in Emilys Körper geblieben wären?« »Natürlich wären wir das. Vielleicht wären manche Dinge anders abgelaufen, aber das Wichtigste im Leben ändert sich nie. Ich denke, dass unsere Freundschaft Schicksaal gewesen ist. Nur deshalb bin ich noch bei euch anstatt in einem Heim bei völlig Fremden zu hocken«, entgegnete ich.

Imprint

Publication Date: 06-21-2015

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Dedication:
Für alle, die gerne mal in der Zeit reisen würden :D

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