Ein Daddy zum Verlieben
Dana Summer
1
Lyn O´Shea, die mit vollem Namen Aislyn hieß, wusste nicht, was ihren Blutdruck mehr in die Höhe schnellen ließ - das anstehende Bewerbungsgespräch in einer der wenigen Firmen Londons, welche sich auf Restaurationen von Möbelstücken spezialisiert hatten, oder aber die Kurznachricht auf ihrem Mobiltelefon. Verdammt, wenn sie nicht zu spät kommen wollte, dann musste sie jetzt schleunigst ihre Beine in die Hand nehmen und losrennen. Aber die Nachricht ihrer großen Schwester Cayla ließ sie das Gegenteil tun. Lyn blieb stehen, um eilig auf ihrem Smartphone eine Antwort zu verfassen.
Ruf dich in einer Stunde zurück. Okay?
Dann hechtete sie weiter, drängelte sich an den Leuten vorbei, die ihr in ihren Augen nur den Weg versperrten, und kam dann, schwer atmend und mit hochroten Wangen, vor dem Gebäudekomplex der Firma Smith & Son zum Stehen. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus, als sie an der über zwanzig Meter hohen mausgrauen Hausfassade emporblickte. Die tiefen Fenster sowie die imposante Eingangstür wirkten übermächtig und angsteinflößend. Wenn sie den Job nur nicht so dringend brauchen würde, könnte sie diesem Gespräch vielleicht ein wenig gelassener entgegensehen. Aber da sie sich seit über drei Monaten mit irgendwelchen Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, war dies nun eine immense Chance, die sie unbedingt nutzen wollte.
In Gedanken ging sie noch einmal die Daten der Firma durch. Das Entstehungsjahr, die Anzahl der Mitarbeiter, die abgeschlossenen Projekte, und nicht zuletzt die Anforderungen an den neu zu beschäftigenden Mitarbeiter. Die Anstellung wäre perfekt. Perfekt für jeden, der sich auf das Restaurieren von Möbeln und Holzobjekten spezialisiert hatte. Lyn war sich absolut sicher, dass sie bestens geeignet für diesen Job war. Sie hatte sich sehr gut auf das anstehende Gespräch vorbereitet und musste nur noch ihre immer stärker werdende Nervosität in den Griff bekommen. Wenn nur nicht diese fragwürdige Nachricht ihrer Schwester in ihren Gedanken herumgeistern würde, könnte sie sich viel besser konzentrieren. Verdammt. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Lyn hatte noch genau acht Minuten Galgenfrist. Acht ganze Minuten, bevor sie dieses wichtige Gespräch führte, das über ihre Zukunft entscheiden würde.
Die Zeit rannte ihr davon, und doch verweigerten ihre Beine den Dienst. Erst das Räuspern eines Mannes hinter ihr brachte sie dazu, den Weg freizugeben.
Die Fragen in ihrem Kopf wurden immer drängender, und sie wusste genau, so konnte sie das Bewerbungsgespräch nicht vernünftig führen. Nein, sie musste wissen, was los war. Warum ihre Schwester sie seit geschlagenen zwanzig Minuten immer wieder anzurufen versuchte. Das sah Cayla gar nicht ähnlich und dann noch die Nachricht mit der Bitte, sie möge sie, sobald sie das las, zurückrufen, denn es sei extrem wichtig.
Lyn zückte ihr Smartphone, wählte die Nummer ihrer Schwester, die bereits nach dem dritten Klingeln abhob.
»Lyn, Himmel, bin ich froh, dass du anrufst.« Ihre Schwester war völlig aufgewühlt, und Lyn spürte sofort, dass irgendetwas vorgefallen sein musste.
»Was ist los? Hat Grandpa wieder einen Schwächeanfall?« Das letzte Mal, als Grandpa Ian mit Krankenwagen und Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert worden war, lag erst wenige Wochen zurück. Damals hatte der Verdacht bestanden, er hätte einen Herzinfarkt erlitten. Zum Glück hatte sich diese Diagnose nicht bestätigt, und sein Zusammenbruch, sofern man es so nennen konnte, wurde auf den enormen Stress geschoben, dem er sich in den letzten Monaten ausgesetzt hatte. Sein Arzt hatte ihm daraufhin Ruhe verordnet, an die ihr Grandpa sich allerdings nur bedingt hielt.
»Nein, zum Glück nicht«, beruhigte Cayla sie sofort, »allerdings befürchte ich, dass er bald wieder einen bekommt, wenn er so weitermacht.«
»Was ist denn dann los?« Den Blick auf ihre Armbanduhr geheftet, trat sie ungeduldig von einem Bein auf das andere. Ihr blieben nur noch sechs Minuten.
»Ich habe heute beim Aufräumen von Grandpas Schreibtisch eine beunruhigende Entdeckung gemacht.«
»Oh nein, nicht schon wieder!« Lyn stöhnte. Die letzten Wochen hatte Ian so manch seltsame Einfälle gehabt. Angefangen von der Schnapsidee, mit Schafrennen seine Schulden zu begleichen, die er nur aus Liebe zu seiner über zehn Jahre jüngeren Freundin aufgenommen hatte. Außer Cayla, die nach einem Brief von Ian Hals über Kopf nach Irland gereist war, um in Fastbel Hill, dem Wohnort ihres Grandpas, nach dem Rechten zu sehen, hatte niemand aus der Familie von den Schulden und der damit verbundenen Bedrohung für Ians Farm gewusst. Selbst als Cayla hinter all die Geheimnisse gekommen war, hatte sie weder Lyn noch den Rest der Verwandtschaft eingeweiht, was Lyn ihrer Schwester zuerst krummgenommen hatte. Doch nachdem Cayla ihr erzählt hatte, warum sie alles für sich behielt, konnte sie die Beweggründe ihrer Schwester besser verstehen. Ians aktueller Einfall war, die Farm in ein Seniorenheim umzubauen. Die nächste Schnapsidee, wie Lyn fand.
»Ich fürchte doch.«
»Und was ist es diesmal?« Wieder stöhnte Lyn auf.
»Ich glaube, er plant etwas, womit keiner von uns rechnet.«
»Das ist ja mal was ganz Neues«, höhnte Lyn, »die letzten Wochen ist er zu einem wandelnden Überraschungspaket mutiert. Allerdings hat noch keiner seinen Sinn für diese Art von Geschenken verstanden.«
»Wie wahr. Aber das hier übertrifft wirklich alles.«
»Soll heißen?« Die Ungeduld nahm langsam ein Ausmaß an, das Lyn kaum noch bewältigen konnte. Ihr blieben noch wenige Minuten. Sie musste los.
»Bis jetzt sind es nur Vermutungen, aber ...«
»Komm schon, Cayla, was hast du entdeckt? Mir läuft die Zeit davon.« Den letzten Satz hätte sie besser nicht gesagt, denn nun war es an ihrer Schwester, nachzufragen.
»Dir läuft die Zeit davon? Warum? Was machst du denn gerade?«
Lyn stöhnte hörbar laut aus. Sie hatte absichtlich keinem von diesem wichtigen Termin erzählt. Da ihr die letzten beiden Bewerbungsgespräche leider keine Anstellungen gebracht, sondern sie frustriert und mit großen Selbstzweifeln zurückgelassen hatten, wollte sie es diesmal besser machen und niemandem davon berichten.
»Ich ... oh Mist.« Der Zeiger ihrer Armbanduhr schien sich gegen sie verschworen zu haben, denn er raste in gefühlt höllischer Geschwindigkeit weiter. »Ich erzähl dir später alles in Ruhe, aber jetzt muss ich zu meinem Bewerbungsgespräch. Sorry, Cayla.« Eilig beendete sie das Telefonat und huschte durch die Tür. Nervöser und mit noch mehr Fragen im Kopf als zuvor. Na bravo.
*
Josh schluckte die aufsteigende Wut hinunter. »Er ist dein Sohn!« Obwohl er wirklich versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, um seinen vierjährigen Jungen Noah, der ein paar Meter entfernt auf dem Boden saß und mit Autos spielte, nicht auf sich aufmerksam zu machen, gelang es ihm nicht. Denn in diesem Moment hob der Kleine seinen Kopf, um ihn mit seinen eigenen graublauen Augen anzusehen. Die Stirn hatte er in Falten gelegt, und Josh konnte in seinem Blick erkennen, dass sein Sohn sich fragte, ob alles gut wäre.
Aufmunternd lächelte er ihn an, versuchte ihm das Gefühl zu nehmen, dass etwas nicht stimmte. Dann ging er hinüber zur angrenzenden Küche, schob die Tür zu, um ungestört weiterreden zu können. »Ernsthaft, Cecily, so können wir nicht weitermachen. Du hast ihm versprochen, dass du ihn heute abholst, ein paar Stunden mit ihm verbringst.« Mit Nachdruck fügte Josh hinzu: »Er wartet auf dich!«
»Sag ihm, ich hole ihn nächstes Wochenende ab. Heute ist ganz schlecht. Cindy und Jess sind hier, und wir wollen in die Stadt.« Während seine Ex, die Mutter seines Sohnes, das sagte, spürte Josh, dass sie ihren Entschluss bereits gefasst hatte. Dass ihr, wie schon seit jeher, alles andere wichtiger war, als Zeit mit ihrem Kind zu verbringen. Wut vermischt mit Fassungslosigkeit machte sich in ihm breit. Er liebte seinen kleinen Sohn mehr als alles. Josh würde alles für ihn geben, alles tun, damit es Noah gutging. Er war der wichtigste Mensch in seinem Leben. Erst durch Noah hatte Josh den Sinn des Lebens richtig verstanden, das Leben eine Bedeutung bekommen. Das Wissen, dass die eigene Mutter das nicht so sah, machte ihn fertig. Er konnte nicht begreifen, warum sie nicht für ihren Sohn da sein wollte. Ihn dabei beobachten, wie er sich entwickelte. Wie er größer wurde, seine eigenen Interessen fand. Josh hasste es, sich so machtlos zu fühlen. Er hasste es, dass er Noah Tag für Tag vertrösten musste. Josh war kurz davor, Cecily anzubrüllen. Ihr zu sagen, was für eine herzlose Person sie doch war. Doch er wusste auch, dass all der Streit, die Wortgefechte, die sie die letzten Monate ausgetragen hatten, zu nichts führten. Er musste sich zusammenreißen. Noah zuliebe.
»Cecily, ich ...« Kraftlos ließ er sich gegen die kalte Zimmerwand sinken, versuchte den aufkeimenden Sturm, der sich in ihm auszubreiten drohte, zu unterdrücken. »Bitte, ich möchte nicht streiten. Nicht mehr!«
»Dann hör auf mir ständig zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, Josh! Ich werde Noah nächste Woche holen. Punkt!«
Sie drückte die Hand auf die Sprechmuschel und sagte irgendetwas zu den Leuten, die bei ihr waren. Doch es war zu leise, sodass er nur Bruchteile verstand. Kurz darauf war Gelächter zu vernehmen, welches noch immer im Hintergrund zu hören war, als sie die Hand wieder wegnahm und meinte: »Ich melde mich wegen nächster Woche. Bis dann.«
Und weg war sie.
»Und was kommt nächste Woche dazwischen?«, flüsterte Josh in den Hörer, ballte die freie Hand zu einer Faust und war kurz davor, sie auf die Arbeitsplatte der Küche sausen zu lassen. Jedes Telefonat mit dieser Frau machte ihn noch frustrierter. Zerrte noch mehr an seinen Nerven, an seiner Kraft. Vielleicht sollte er wirklich auf seine Familie hören. Vielleicht sollte er sie nicht mehr anrufen und warten, bis sie sich aus freien Stücken bei ihrem Sohn meldete. Doch Josh wusste nicht, wie er das Noah beibringen sollte. Wie er ihm sagen sollte, dass seine Mummy keine Zeit für ihn hatte. So viel hatte Josh die letzten Monate verarbeiten müssen. Angefangen vom Scheitern ihrer Ehe bis hin zu dem kläglichen Versuch, Dinge über sich ergehen zu lassen, die seinem Selbstbewusstsein einen gehörigen Knacks gegeben hatten. Alles nur, um Noah nicht spüren zu lassen, dass etwas nicht in Ordnung war. Doch dass ein Vierjähriger schlauer war als mancher Erwachsene, hatte er ebenso schnell feststellen müssen.
Erschöpft blieb er an den Küchentresen gelehnt stehen, blickte aus dem Fenster, hinaus auf den kleinen, glitzernden See und zu den dunklen, hohen Laubbäumen, die sich dahinter wie eine Art Wand erhoben. Dieser Anblick, vermischt mit der unendlichen Ruhe, die von diesem Ort ausging, sollte eigentlich Balsam für seine Seele sein. Doch obwohl er sich hier in Fastbel Hill, dem abgelegenen Haus seiner Großmutter mütterlicherseits, die vor Jahren verstorben war, unglaublich wohlfühlte, fand er nicht die ersehnte Erholung. Zu viele Dinge waren vorgefallen, und Josh musste zugeben, dass ein gebrochenes Herz lange nicht so schnell heilte wie ein gebrochenes Bein.
Als er sich wieder gefasst hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer. Noah blickte ihn mit erwartungsvollen Augen an, und es zerriss ihm das Herz, aber er musste ihm sagen, dass seine Mummy keine Zeit für ihn hatte. Das Leuchten in Noahs Augen erlosch im selben Moment, als Josh die Worte aussprach.
»Schon okay, Daddy«, meinte er und setzte sein Spiel fort.
2
Lyn wusste, schon bevor sie sich von dem Herrn verabschiedete, dass sie diese Stelle nicht erhalten würde. Zwar hatte sie ihre Nervosität in den Griff bekommen und die Gedanken in ihrem Kopf ausgeblendet, trotzdem war das Gespräch nicht wie erwartet verlaufen. Mr. Yamamoto war zwar nett zu ihr gewesen, dennoch hatte sie gespürt, dass ihn ein Bewerber vor ihr mehr überzeugt hatte. Vermutlich genau der Mann, der sie so selbstsicher von oben herab gemustert hatte, als er das Büro von Mr. Yamamoto verließ.
»Wir werden uns dann bei Ihnen melden, Mrs. O´Shea.«
Lyn nickte, versuchte zu freundlich zu schauen, doch sie scheiterte dabei kläglich. Geknickt ging sie zu dem gläsernen Aufzug, um nach unten zu fahren. Die Enttäuschung musste ihr förmlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn auf dem Weg lächelte ihr ein junges Mädchen aufmunternd zu.
Als sie dann endlich ins Freie trat und ihr eine Wolke von Abgasen entgegenschwappte, angelte sie sich aus ihrer Tasche einen Schokoriegel, um wenigstens ein paar Glückshormone am heutigen Tag abzubekommen. Lyn hatte ihre ganze Hoffnung in diese Stelle gesetzt, denn sie wusste, dass es im Moment keine weiteren offenen Arbeitsplätze für ihren Beruf gab. Zumindest nicht in London und Umgebung. Das wusste sie deshalb so genau, weil sie seit Wochen nichts anderes tat, als im Internet nach einer freien Stelle als Restauratorin zu recherchieren.
Als sie den ersten Schokoladenriegel verputzt hatte und bereits nach dem nächsten angelte, sah sie, wie das Display ihres Mobiltelefons leuchtete. Sie musste gar nicht erst darauf schauen, um zu wissen, dass ihre Schwester sie zu erreichen versuchte. Obwohl sich ihre Lust auf ein weiteres Telefonat mit Cayla gerade stark in Grenzen hielt, nahm sie doch ab. Schließlich konnte ihre super erfolgreiche Schwester ja nichts dafür, dass Lyn das Sorgenkind der Familie blieb.
»Na endlich. Und erzähl, wie lief's?«
»Ich glaube nicht, dass es klappt.« Lyn wickelte das Papier ihres Schokoriegels auf.
»Warum bist du denn immer so pessimistisch? Wart es doch erst mal ab.«
»Ich bin nicht pessimistisch, nur realistisch.«
Caylas Seufzer drang bis zu ihr durch. »Darüber brauchen wir heute nicht zu diskutieren. Aber nun sag schon! Was lief deiner Ansicht nach nicht gut? War es wegen meines Anrufs vor deinem Bewerbungsgespräch? Ich hätte dich wirklich nicht angerufen, wenn ich gewusst hätte, dass du einen solch wichtigen Termin hast. Womit wir zum nächsten Punkt kommen. Warum hast du mir denn nichts davon erzählt?«
Lyn war bewusst, dass Cayla nicht verstehen konnte, was in ihr vorging. Sie ahnte nicht, wie es war, immer im Schatten der supertollen Geschwister zu stehen.
Viel zu früh hatte Lyn schon das Gefühl gehabt, das Problemkind der Familie zu sein. Schließlich war sie noch nie so entscheidungsfreudig wie ihre beiden Geschwister gewesen. Während Cayla und ihr großer Bruder Kaden bereits früh wussten, welche Berufswahl sie einmal ansteuerten, hatte Lyn lange Probleme damit gehabt, das Passende für sich zu finden. Ihr Interesse war nun mal nicht dasselbe wie das der anderen Mädchen in ihrem Alter. Sie wollte nicht als Krankenschwester, Lehrerin oder in einem Büro arbeiten. Nein, sie wollte etwas Handwerkliches erlernen. Doch all die Vorschläge ihrer Familie und Freunde gefielen ihr nicht. Lyn hatte, seit sie denken konnte, eine Vorliebe für antike Objekte. Dazu interessierte sie sich für historische Kunst und besaß ein gutes Auge für Details. Es war wohl eher dem Zufall zu verdanken, dass sie nach zwei abgebrochenen Ausbildungen, während derer sie dermaßen unglücklich war, einen Praktikumsplatz in einem Antiquitätengeschäft annehmen konnte, der Inhaber ihr Talent entdeckte und sie auf die Ausbildung zum Restaurator hinwies. Nach einem zwölfwöchigen Praktikum in diesem Beruf wusste sie, dass sie genau das erlernen wollte. Allerdings bedeutete dies auch, dass ihre Eltern eine Menge Geld für eine Privatschule investieren mussten. Geld, das weder ihr Bruder Kaden, der bei der Luftwaffe stationiert war, noch ihre Schwester, die erfolgreiche Liebesromanautorin war, je in Anspruch genommen hatten. Dennoch hatten ihre Eltern alles dafür getan, damit sich Lyn ihren Traum erfüllen konnte. Die Ausbildung hatte ihr wahnsinnigen Spaß gemacht, und sie hatte die Abschlussprüfung mit Bravour bestanden. Doch all das half ihr nun auch nicht. Freie Stellen waren rar. Zudem hatte sie bis jetzt noch keinerlei Berufserfahrung vorzuweisen, was ihrem Lebenslauf nicht zugutekam. Natürlich war sie auch bereit ein Praktikum anzunehmen. Doch die waren immer unbezahlt, und Lyn wollte und konnte nicht länger ihren Eltern auf der Tasche liegen. Schließlich war sie 26 Jahre alt und musste lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Vielleicht ergab sich irgendwann die Möglichkeit für einen Praktikumsplatz, bei dem sie auch noch Zeit für einen gut bezahlten Nebenjob hatte.
»Können wir das Thema für heute einfach gut sein lassen?«
»Wenn du das möchtest.«
»Ja, Cayla.« Lyn schmiss das Folienpapier ihres Schokoladenriegels in den nächsten Mülleimer. »Erzähl mir lieber, was jetzt auf diesem ominösen Schrieb stand?«
»Nun ja, Grandpas Geburtstag steht in wenigen Wochen an, und wie du weißt, möchte er, dass ihr alle kommt.«
Und wie Lyn das wusste. Cayla hatte ihr vor wenigen Tagen erst davon berichtet. Als dann kurze Zeit später ein Brief von ihrem Grandpa folgte, hatte sie die Bestätigung, dass es ihm wirklich ernst war. Ian wollte an seinem vierundsiebzigsten Geburtstag die ganze Familie beisammenhaben. Er wollte, dass alle seine neue Freundin Rose kennenlernten. Doch sowohl Kaden, der gerade im Ausland stationiert war, wie ihre Eltern, die auf Weltreise irgendwo in einem Busch in Indien herumirrten, hatten keine Zeit. So blieb nur Lyn übrig.
»Hm ja, ich dachte, ... er hat es sich vielleicht anders überlegt«, gab sie halbherzig zu. Auch wenn Lyn Irland und die Farm ihres Grandpas liebte, so konnte sie ihm keinen Besuch abstatten.
»Nein, ganz im Gegenteil. Wie mir scheint, plant er ein richtig großes Event daraus zu machen.«
»Oh, ist das die Neuigkeit, die du vermutest?« Lyn war schon fast ein wenig enttäuscht. Nicht weil ihr Grandpa sich nichts Spektakuläreres hatte einfallen lassen, nein, seine Überraschungen hatten die letzten Wochen schon genug angerichtet. Vielmehr war es die Tatsache, dass sie sich deswegen so aus der Bahn werfen ließ. Besser gesagt, dass ihre Schwester darum so einen Tumult machte und sie dadurch mit ihren Gedanken zu Beginn des Vorstellungsgesprächs woanders gewesen war.
»Nein, schön wär's. Das würde ich ja noch verkraften.«
»Okay, jetzt wird es spannend. Sag schon, was hat Grandpa angerichtet?«
»Er hat – frag mich bloß nicht, wie er das geschafft hat –, eine Eventmanagerin beauftragt, die eine ganze Stange Geld kostet«, rückte Cayla nun endlich heraus.
»Wie? Für seinen Geburtstag?«
»Das steht hier nicht. Ich habe nur einen Kostenvoranschlag, bei dessen Summe mir übel wird.«
»Was steht denn noch darauf?«
»Das ist es ja. Nichts. Nur eine Auflistung der einzelnen Positionen. Also Essen, Trinken und Dekoration. Ich habe auch keinen Anhaltspunkt, für wie viel Gäste das sein soll.«
»Klingt für mich etwas kurios.«
»Für mich auch.« Ihre Schwester seufzte.
»Aber warum sollte er dafür so viel Geld ausgeben? Ich meine, die Party könnten doch gut Rose und du planen. Woher wusste er überhaupt, wo er so jemanden findet?«
»Das ist ja, was mich wundert. Er kennt sich mit diesem Zeug doch gar nicht aus, und warum möchte er seinen Geburtstag überhaupt so groß aufziehen? Das ist doch nicht normal.«
»Welche von Grandpa Ians Ideen sind schon normal?!« Lyn verdrehte die Augen.
»Auch wahr. Trotzdem … Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Oh Mann, Lyn, was soll ich denn jetzt tun?«
»Ihn darauf ansprechen, was sonst? Und ihm vorschlagen, dass ihr euch um die Vorbereitungen kümmert.«
»Ja, schon, aber wer hilft mir dann diese Party zu planen?«
»Hm, Rose oder ihre Tochter vielleicht?«
Für einen langen Moment herrschte beklommenes Schweigen. Lyn hatte schon die Befürchtung, das Telefonat wäre durch ein Funkloch beendet worden, doch dann räusperte sich ihre Schwester.
»Und wenn du einfach schon früher kommst? Ich meine, im Moment sieht es ja jobmäßig nicht so rosig aus und ...«
»Ja, streu nur Salz in die Wunde.«
»Ach Lyn, ich weiß, dass du nicht gerade scharf darauf bist, nach Fastbel Hill zu kommen, aber Grandpa würde sich wirklich unheimlich freuen. Wir alle würden das, und ich könnte zudem echt deine Unterstützung gebrauchen. Grandpa heckt irgendetwas Seltsames aus. Außerdem habe ich im Moment weder die Zeit noch die Nerven für ein weiteres Hirngespinst von ihm.«
Zugegeben, Cayla hatte sich die letzten Wochen wirklich mit so manchem Problem von Grandpa herumärgern müssen.
»Mein Abgabetermin ist in wenigen Tagen, und ich habe gerade mal die Hälfte.« Ihre Schwester seufzte theatralisch. »Ich habe einfach keine Zeit für Grandpas verrückte Pläne.«
»Und seine Freundin, Rose?«
Ihre Schwester stieß ein Schnauben aus. »Glaubst du ernsthaft, dass unser Grandpa ihr etwas von seinen Plänen erzählt hat?«
»Vermutlich nicht.«
»Eben, und genau deshalb brauche ich dich. Du könntest doch etwas früher kommen und ...«
»Den Babysitter für Grandpa spielen«, vollendete Lyn den Satz.
»Ja ... Nein ... Ach komm, mach es mir nicht so schwer. Du weißt doch, wie er so tickt. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, egal wie bescheuert die Idee auch sein mag, zieht er es durch. Da braucht es schon Überzeugung der Extraklasse, um ihn davon abzuhalten.«
»Ha.« Lyn lachte auf. »Und du glaubst, dass ausgerechnet ich diese Extraklasse besitze?«
»Ja. Wir beide gemeinsam. Komm, wir sind doch eine Familie und müssen zusammenhalten.«
»Ich weiß nicht recht ...« Lyns Widerwille bröckelte. Cayla hatte die letzte Zeit viel mit Grandpa Ian zu tun gehabt, und es war nicht fair, dass sie alles alleine regeln musste. Dennoch. Fastbel Hill war ein Ort, um den sie weiterhin einen großen Bogen machen wollte.
»Ach verflixt«, johlte Cayla in diesem Moment auf.
»Ist was passiert?«
»Jaaaa, verflucht.«
»Was ist denn los?«
»Ach, das Warmwasser ist noch nicht richtig eingestellt. Entweder ist es eiskalt oder man verbrüht sich was, so wie ich eben meine Hände«, klärte Cayla sie auf, und Lyn vernahm, wie das Wasser im Hintergrund plätscherte.
»Dann schnell, kühlen!«
»Schon dabei. Sollte man doch echt nicht glauben. Der Handwerker war wegen des Problems schon das dritte Mal da und bekommt es nicht in den Griff. Dabei meinte Josh, dass es nur eine Einstellungssache ist.«
Josh. Allein das Aussprechen seines Namens genügte, damit Lyn sich gleich noch eine Spur unbehaglicher fühlte. Denn er war ein Grund mehr, nicht nach Fastbel Hill zu reisen. Die Schmach, die er ihr angetan hatte, steckte noch immer in ihren Knochen. Auch wenn es Jahre her war und seine Worte unbedacht gewesen sein mochten, vergessen konnte sie sie nicht.
»Bist du noch dran?«, wollte ihre Schwester wissen, und gleich darauf stieß sie ein »Ach verdammte Hühnerscheiße!« aus.
Durch die Leitung drang nicht nur Caylas Fluch, sondern auch ein lautes Scheppern, so als ob irgendetwas kaputtgegangen wäre.
»Was ist denn bei dir los?«
»Frag nicht«, zischte sie verärgert, »eigentlich wollte ich den Werkzeugkoffer aus dem Regal holen und habe dabei nicht gesehen, dass darauf ein Päckchen mit Schrauben lag. Jetzt kullern alle auf dem Boden, und ich darf sie einsammeln. Dabei habe ich genug andere Dinge, um die ich mich kümmern sollte, verflixte Scheiße.«
Lyn wusste nicht, was sie mehr verwunderte. Die Tatsache, dass Cayla einen Werkzeugkoffer besaß, oder aber die wüsten Schimpfwörter, die sie gerade von sich gab.
»Seit wann besitzt du einen Werkzeugkoffer, und seit wann fluchst du wie ein Rohrspatz? Das kenne ich gar nicht von dir.«
»Vermutlich haben die ganzen Handwerker, die seit Tagen damit beschäftigt sind, neue Rohre im Arbeiterhaus zu verlegen, schon auf mich abgefärbt.«
»Verstehe. Was willst du denn überhaupt mit dem Werkzeug anfangen?«
»Das Problem mit dem Wasser selbst in Angriff nehmen.«
Lyn wusste, wenn sich ihre Schwester etwas in den Kopf gesetzt hatte, war nichts und niemand mehr sicher, bis das Problem behoben war. Doch bei dem Gedanken, dass Cayla irgendwelche Reparaturen selbst vollzog, bekam Lyn ein mulmiges Gefühl.
»Sollte das nicht lieber irgendwer machen, der sich auskennt?«
Ihre Schwester gab darauf keine Antwort, stattdessen bearbeitete sie Lyn weiter. »Komm schon, Lyn, du kannst dich vor Grandpas Geburtstagsparty nicht drücken.«
»Doch, denn genau das habe ich vor«, murmelte Lyn und schlenderte an einem Schaufenster vorbei, in dem gerade die neuste Frühjahrskollektion vorgestellt wurde. Sie warf einen Blick hinein, schüttelte dann unmerklich den Kopf, weil sie sich fragte, wer sowas überhaupt tragen konnte, oder besser gesagt, wollte. Für sie mussten die Kleidungsstücke in erster Linie bequem sein.
»Ach bitte, Schwesterherz. Grandpa bedeutet es wirklich viel, dass du kommst. Außerdem haben wir uns seit Monaten nicht gesehen.« Cayla wusste genau, dass diese indirekten Vorwürfe Lyn nicht kaltließen. Schließlich hatte sie recht. Das letzte Mal, als sie Cayla mit ihrem Freund Blake getroffen hatte, war, als diese die wichtigsten Habseligkeiten ihrer Schwester aus deren Wohnung geholt hatten. Blake war Lyn sofort sympathisch gewesen, und sie hatte sich unheimlich für ihre Schwester gefreut, dass sie einen so tollen Mann an der Seite hatte. Blake sah nicht nur gut aus, er war auch sehr freundlich und – das war das Wichtigste – unheimlich verschossen in ihre große Schwester. Er vergötterte Cayla, trug sie auf Händen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Lyn hatte von Beginn an mitbekommen, dass Blake, der früher als Scheidungsanwalt tätig gewesen war, nicht an die Liebe glaubte und um diese einen großen Bogen machte. Doch als er ihrer Schwester begegnet war, hatte ihn wortwörtlich Amors Pfeil getroffen. Wegen Cayla war er nach Fastbel Hill gekommen, und zusammen würden sie in wenigen Wochen in das ehemalige Arbeiterhaus der Farm einziehen, welches gerade aufwendig renoviert wurde.
»Gib dir einen Ruck. Ich bezahl dir auch das Flugticket.«
»Es geht nicht um die Kosten des Fluges, zumindest nicht ausschließlich.« Lyn druckste herum und setzte ihren Weg zur U-Bahn fort. Seit Cayla London den Rücken gekehrt hatte, lebte sie in deren Wohnung. Da Cayla diese nicht aufgeben wollte, weil sie wegen ihrer Bücher immer mal wieder Termine bei ihrem Verlag hatte, hatte sie Lyn vorgeschlagen, dort kostenlos zu wohnen. Das Angebot hatte Lyn nur zu gerne angenommen, denn mit ihrem Minigehalt von ihrem Aushilfsjob hätte sie sich keine Miete leisten können.
»Und was ist es dann? Was hält dich davon ab, das herrlich entspannte Landleben zu genießen?«
»Na so entspannt scheint es mir nicht zu sein. Seit du in Fastbel Hill wohnst, hast du ständig andere Neuigkeiten«, zog Lyn ihre Schwester auf und spielte auf all die Telefonate der letzten Monate an. Irgendwie musste sie das Gespräch in eine andere Richtung lenken. Auch wenn Lyn ihrer Schwester so gut wie alles erzählen konnte, bei diesem Thema war es anders. Denn sie wusste, Cayla würde es nicht verstehen. Schließlich verstand sie es ja selbst kaum. Es lag Jahre zurück und war nichts anderes als ein peinlicher – okay, extrem peinlicher – Vorfall in ihrer Kindheit, dennoch, sie assoziierte ihn immer noch mit Fastbel Hill.
»Die ich nicht länger ohne einen Teil meiner Familie bewältigen kann.«
»Cayla, ich, ... ich kann nicht kommen.«
»Warum nicht? Du warst das letzte Mal hier bei Grandmas Beerdigung. Aber das war nur ein Tag. Davor, als wir Jugendliche waren. In dem Sommer als du so unheimlich in Josh verknallt warst und ihm diese süßen Briefe geschrieben hast«, sprach Cayla weiter und weckte mit ihren Worten all die schmerzhaften Erinnerungen an damals. »Du hast ihn ständig verfolgt und ...«
»Nichts von alldem war süß, Cayla. Kannst du diesen überaus peinlichen Abschnitt meines Lebens bitte nicht weiter ausführen?« Lyn sehnte sich die U-Bahnhaltestelle herbei, die sie dazu zwingen würde, das Telefonat zu beenden.
»Hä, du warst noch ein halbes Kind, natürlich war es süß. Ist dir das echt so peinlich?«
»Ja, genau das ist es.«
»Aber es liegt doch schon eine halbe Ewigkeit zurück und ... Moment mal.«
Sie wusste es. Noch bevor ihre Schwester es aussprechen konnte. Cayla hatte erahnt, warum Lyn um Fastbell Hill so einen großen Bogen machte. Und dann sprach sie es aus. »Du willst nicht herkommen wegen Josh und deiner früheren Schwärmerei.«
»Es war mehr als eine Schwärmerei, Cayla. Ich hab den Typen gestalkt«, stellte Lyn richtig.
»Jetzt übertreibst du aber!«
»Findest du? Ich nicht.«
»Dann habe ich recht? Das ist der Grund, warum du nicht kommen willst?«
Lyn schwieg, was ihre Schwester als ein stummes Ja deutete.
»Das ist doch Blödsinn. Sorry, Schwesterherz, aber kein Mensch erinnert sich mehr an damals.«
»Denkst du.«
»Das ist so. Es liegt über zehn Jahre zurück, und so schlimm, wie du denkst, war es nicht. Die paar Briefe. Was ist schon dabei? Glaubst du ernsthaft, Josh erinnert sich noch daran? Ganz bestimmt nicht.«
»Und wenn doch?«
»Dann gehst du ihm einfach aus dem Weg.« Für ihre Schwester mochte das ja logisch klingen, aber Lyn wusste es besser. Fastbel Hill war ein Dreihundert-Seelen-Dorf. Wie bitte sollte sie dem Mann, der sie so unendlich viele schlaflose Nächte in ihrer Teenagerzeit gekostet hatte, aus dem Weg gehen? Wie sollte sie all die Erinnerungen, die sie mit Sicherheit auf Ians Farm einholen würden, unterdrücken?
»Klar«, meinte Lyn ironisch, »Josh werkelt jeden Tag in eurem Haus herum, und ich gehe ihm aus dem Weg. Super Plan.«
»Na, dann werde ich ihn bitten, eine andere Baustelle vorzuziehen. Mensch, Lyn. Du bist doch sonst nicht so. Was ist aus meiner schlagfertigen, taffen Schwester geworden?«, hakte Cayla nach und setzte noch eins drauf. »Soll ich ihn, um dein Gewissen zu beruhigen, auf damals ansprechen?«
»Untersteh dich!«, warf Lyn energisch ein. Dass ihre Stimme lauter als beabsichtigt war, merkte sie daran, dass sich zwei Passantinnen nach ihr umdrehten und sie mit einem neugierigen Blick bedachten. Ein wenig leiser fuhr sie fort: »Du wirst kein Wort darüber verlieren, Calya!«
»Aber wenn das der Grund ist, warum du nicht mehr nach Fastbel Hill kommst, dann muss das Thema geklärt werden.«
Oh Mann. Genau das war der Grund, warum sie all die Jahre kein Sterbenswörtchen darüber verloren hatte.
»Das Thema ist geklärt«, versuchte sie halbherzig ihre Schwester davon zu überzeugen.
»Na anscheinend nicht. Denn wenn es das wäre, würdest du ja kommen und dich nicht vor Grandpas Geburtstagsparty drücken.«
»Ich drück mich nicht.« Natürlich tat sie das. Lügen war zwecklos.
»Dann kommst du also?« Es war keine Frage, eher ein Beschluss. »Komm schon, Lyn. Wir wissen alle nicht, was die Zukunft bringt, und Grandpa bedeutet es wirklich, wirklich extrem viel!«, betonte sie. »Er war schon unsagbar enttäuscht, dass Mum und Dad nicht kommen können. Als Kaden dann noch abgesagt hat, war er richtig traurig. Wenn du jetzt auch noch einen Rückzieher machst, dann ... Komm schon. Ich gelobe auch, dass niemand dich auf damals ansprechen wird. Dafür werde ich sorgen!«
»Nein, Cayla. Wenn du mit den Leuten darüber redest, dann wühlst du ja indirekt das Thema wieder auf.«
»Anders kannst du ja anscheinend nicht damit umgehen«, warf Cayla ihr vor.
»Doch, kann ich.« Beleidigt zog Lyn ihre Unterlippe vor. Ihre Schwester hatte es mal wieder geschafft, dass sie sich unheimlich dämlich vorkam.
»Dann kommst du also? Na los, sag ja!«, bettelte Cayla.
Lyn haderte mit sich, aber sie wusste genau, ihre Schwester würde nicht eher Ruhe geben, bevor sie nicht zustimmen würde. Womit sie wieder beim Thema war. Wenn Cayla was wollte, dann bekam sie es auch.
»Na gut.« Begeistert klang sie wirklich nicht. »Ich komme, aber ich werde unter keinen Umständen im selben Haus schlafen wie du und Blake. Ich kann mich nämlich daran erinnern, dass die Wände auf Grandpas Farm recht hellhörig sind und ...«
»Echt jetzt? Du kommst?«
»Ja, echt!«
»Oh Lyn, ich freue mich total«, kreischte ihre Schwester in dem Moment los. »Und ich verspreche dir, dass du in Kadens Zimmer schlafen kannst. Obwohl, das geht ja gar nicht. Ich lass mir was einfallen, okay?«
»Hm, na gut.« Lyn erblickte das Schild der U-Bahnhaltestelle und seufzte. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
*
Josh legte den Hammer beiseite und stieß einen kaum überhörbaren Fluch aus. Dabei wusste er nicht, was ihn mehr verärgerte. Die Treppe in dem kleinen Arbeiterhaus auf Ians Farm, die dringend neue Holzbretter benötigte, oder seine Ex, die ihm gerade per Kurznachricht mitgeteilt hatte, dass sie heute nicht mit Noah telefonieren könne, weil sie ein wichtiges Meeting hätte, dass sich bis in die späten Abendstunden hineinzog. Und das, obwohl sie es ihrem Sohn versprochen hatte. Zuletzt hatte Noah etwas von ihr gehört, als sie Josh eröffnet hatte, dass sie den Kleinen am Wochenende nicht sehen konnte. Oder eher wollte. Mit aller Kraft zerrte Josh das marode Brett heraus und schleuderte es dann, als er es in den Händen hielt, weit von sich. Mit einem Scheppern kam es am Treppenende unten im Hausgang auf.
»Wow, das war knapp.« Cayla, die vor der Treppe zum Stehen kam, schaute zu ihm hinauf.
»Sorry, ich habe dich nicht kommen gehört«, murmelte er, warf einen kurzen Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass er seine Freundin aus Kindheitstagen nicht mit dem Holz getroffen hatte.
»In Zukunft werde ich mich wohl besser lautstark ankündigen, wenn du öfters vorhast mit Gegenständen um dich zu schmeißen.« Cayla sah hinauf zur Treppe und meinte dann: »Sieht ja schon richtig gut aus.«
»Ja, wie man es nimmt«, brummte er und machte sich weiter an die Arbeit. Er hatte noch mindestens zehn Bretter, die erneuert werden mussten, und das wollte er erledigt haben, bevor es Abend wurde.
»Was denkst du denn, bis wann du fertig sein wirst?«
»Mit der Treppe oder mit dem ganzen Haus?«, hakte er nach.
»Mit der Treppe, Josh. Sag mal, ist alles okay bei dir? Irgendwie wirkst du gestresst.«
»Nein, alles gut«, log er. Josh war ein Mann, und Männer waren nun mal nicht dafür gemacht, ihr komplettes Seelenleben darzulegen, auch wenn die rothaarige Frau da unten seine beste Freundin war.
»Klingt aber nicht so.« Cayla kannte ihn zu gut, um zu wissen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. »Wenn es dir zu viel wird mit dem Umbau, dann sag es mir bitte, Josh. Ich weiß ja, dass du noch andere Baustellen hast, um die du dich kümmern musst, und uns nur dazwischengeschoben hast, weil wir Freunde sind.«
Auch wenn sie recht damit hatte, dass er sich gerade vor Aufträgen kaum retten konnte und gar nicht wusste, wie er alles unter einen Hut bekommen sollte, so wollte er nicht, dass Cayla dachte, seine schlechte Laune hätte damit zu tun. »Es ist nicht wegen der Arbeit. Die Arbeit macht mir Spaß, und ich bin froh, dass mein kleiner Betrieb so gut läuft.« Josh hatte gemeinsam mit seiner Ex und Noah ein paar Jahre in Nordirland gelebt. Als die Beziehung zu Noahs Mutter und ihm immer mehr in Schieflage geriet, hatten sie in Sligos einen Neustart gewagt. Doch auch dieser Umzug konnte nicht mehr retten, was ohnehin schon zum Scheitern verurteilt war. Als Josh dies schmerzhaft bewusst wurde, hatte er gemeinsam mit Noah seine Sachen gepackt, um wieder dorthin zu gehen, wo er die schönste Zeit seines Lebens hatte verbringen dürfen. Nämlich in Fastbel Hill. Dort war er aufgewachsen. Dort lebte seine Familie, zu der er dank seiner Ex kaum noch Kontakt hatte. Doch für ihn war das die einzig richtige Entscheidung, und er war froh, dass alle ihn und seinen kleinen Sohn mit offenen Armen empfangen hatten. Dass seine Baufirma, die sich auf Holz spezialisiert hatte, so gut angenommen wurde und er hier richtig Fuß fassen konnte. Josh hatte nach und nach das Haus seiner Großeltern mütterlicherseits, die beide bereits verstorben waren, umgebaut. Noch immer war es nicht fertig, aber auf dem besten Weg dahin.
»Wegen Noahs Mutter?«, hakte Cayla nach, die genauso wie der Rest nicht viel über sie wusste.
Statt einer Antwort nickte er nur.
»Willst du darüber reden?«, kam dieselbe Frage, die sie ihm immer stellte, sobald das Thema auf Cecily, Noahs Mum, fiel.
Und wie immer sagte Josh: »Nein danke.«
Er war froh darüber, dass Cayla es so hinnahm und nicht weiterbohrte.
Josh zerrte an dem nächsten Brett, das noch fester vernagelt war als die anderen. »Warum fragst du wegen dem Fertigstellen der Treppe?«
Cayla winkte ab. »Ich habe nicht wegen der Treppe gefragt, sondern weil Lyn uns besucht. Schon morgen hat sie einen Flug von London hierher bekommen.«
»Schön.« Mehr fiel ihm zu diesem Thema nicht ein. Beim letzten Mal, als er Caylas kleine Schwester zu Gesicht bekommen hatte, war er neunzehn gewesen. Die einzige Erinnerung, die er an Lyn hatte, war die, dass sie ihm mit ihrer auffälligen Schwärmerei gehörig auf den Geist gegangen war.
»Nun, jedenfalls hat sie eine Bedingung gestellt, um herzukommen.«
»Hm, und die wäre?« Was sollte so ein kleines Mädchen schon für Bedingungen haben?
»Sie möchte nicht im Farmhaus schlafen.«
»Ah und warum?« Josh war so damit beschäftigt, die Schrauben zu lockern, dass er nur mit einem Ohr zuhörte.
»Sie will nicht im selben Haus wie Blake und ich schlafen wegen auffälliger Geräusche, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Klar«, murmelte er. Josh wäre vermutlich auch nicht sonderlich scharf darauf, neben Blake und Cayla ein Zimmer zu haben. Oder neben irgendeinem anderen Paar, das in regelmäßigen Abständen seinem Vergnügen nachging.
»Da kam mir eben die Idee, ob sie nicht hier schlafen könnte. Die Zimmer sind doch so weit schon bewohnbar.«
»Die Zimmer ja, aber das Bad ist noch nicht fertig. Außerdem, wie soll ich hier arbeiten, wenn deine kleine Schwester ständig herumschleicht?«
»Da kommen wir ja schon zur nächsten Bedingung.« Nun klang Cayla nicht mehr ganz so amüsiert wie eben noch.
»Sagtest du nicht eine Bedingung?«
»Na ja«, druckste sie herum, »im Grunde sind es zwei.«
»Und? Was ist die zweite?«
»Solange sie hier ist, keine Handwerkerarbeiten. Zumindest keine, in denen du ...«, murmelte sie kleinlaut und fügte dann schnell hinzu, »am besten gar keine.«
Bildete er es sich nur ein oder verbarg Cayla da etwas vor ihm? Er wollte schon nachfragen, aber ließ es dann sein.
»Okay.«
»Meinst du, das ginge, Josh? Ich möchte natürlich nicht, dass du dadurch irgendwie in Verzug kommst, was deine anderen Aufträge angeht.«
»Mach dir darüber mal keine Sorgen, Kleines.«
›Kleines‹ war sein Kosename für Cayla, welchen er, seit sie mit diesem Blake liiert war, kaum noch benutzte. Schließlich sah der Typ ihn jedes Mal an, als ob er ihm eine verpassen wollte. Und das als Anwalt.
»Ich habe ein paar kleinere Aufträge, die nur wenige Tage in Anspruch nehmen. Dann werde ich diese einfach vorziehen.«
»Danke, Josh, das ist wirklich toll von dir.«
»Mach ich doch gerne.«
»Okay, dann lass ich dich mal weiterwerkeln. Schließlich wäre es gut, wenn die Treppe noch vor morgen fertig wird.«
»Das dürfte kein Problem werden«, meinte er und hob die Hand zum Gruß, als Cayla ging. Danach ließ er seinen aufgestauten Frust erneut an dem Holz aus.
Josh arbeitete bis spät in die Nacht hinein, um die Treppe fertigzustellen. Nachdem er sein Werkzeug eingesammelt hatte, machte er sich auf den Heimweg. Die gedämpfte Musik seines Autoradios schallte ihm entgegen, als er seinen Pickup startete und von Ians Farm fuhr. Es war weit nach Mitternacht geworden, und er war nicht nur völlig erschöpft, nein, sein Magen verlangte schon seit geraumer Zeit nach etwas Essbarem. Aus seiner Lunchbox, die er sich heute Morgen gemeinsam mit Noahs Frühstück hergerichtet hatte, nahm er das halb angegessene Sandwich und schob es sich in den Mund. Angewidert verzog er bei jedem Bissen das Gesicht. Obwohl er versuchte, jeden Tag etwas anderes auf sein Sandwich zu packen, schmeckte es doch irgendwie immer gleich. Langsam, aber sicher wurde es Zeit, eine Sandwichpause einzulegen. Vielleicht sollte er das Angebot seiner Grandma annehmen und bei ihr zu Mittag essen. Aber auf der anderen Seite hatte Josh ohnehin schon ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, weil seine Grandma jeden Tag für Noah kochte, ihn vom Kindergarten abholte und abwechselnd mit Joshs Mum betreute. Auch wenn er wusste, dass sie es liebte, sich um ihren Urenkel zu kümmern, wollte er ihr doch nicht noch mehr zur Last fallen. Schließlich hatte sie mit ihrem Lebensmittelladen schon genug um die Ohren, genau wie Joshs Mum, die in Vollzeit als Lehrerin arbeitete und erst gegen Nachmittag Unterrichtsschluss hatte. Auch sie kümmerte sich in seiner Abwesenheit um ihren Enkel und ging darin richtig auf. Joshs Familie vergötterte Noah, und für ihn war es beruhigend zu wissen, dass jemand in seiner Abwesenheit so gut für ihn sorgte. Dennoch, manchmal wünschte er sich, nicht immer auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Schließlich wusste Josh zu gut, wie anstrengend die Tage sein konnten und dass Noahs gelegentliche Trotzphasen gehörig an den Nerven zerrten. Alles wäre so viel leichter, wenn Noah eine Mutter hätte, die sich um ihn kümmerte, ihn liebte und Zeit mit ihm verbringen wollte.
Doch von alldem war Noahs leibliche Mutter weit entfernt. Cecily scherte sich weder um Noah noch verbrachte sie Zeit mit ihm und das schon seit seiner Geburt. Die Beziehung zwischen Cecily und Noah war vom ersten Moment, als er das Licht der Welt erblickt hatte, schwierig gewesen. Schwierig in dem Sinne, dass sie nicht wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte. Ihm die Liebe, die Wärme, die so ein kleines Wesen brauchte, schenken konnte. Zunächst hatte Josh es auf die anstrengende Geburt und die Wochenbettdepression geschoben. Doch als die ersten Monate vorbei waren und es keine Besserung gab, hatte er vorsichtig versucht, mit Cecily darüber zu reden. Doch für kein Wort von ihm war sie empfänglich gewesen. Eher das Gegenteil war der Fall. Sie zog sich noch weiter von Noah und auch ihm zurück. Und so veränderte sich alles.
Während Josh, wie so oft in der letzten Zeit, über seine Vergangenheit nachdachte, erreichte er schließlich sein Haus. Licht brannte im unteren Stockwerk, und der Wagen seiner Mum stand vor der Tür. Josh parkte direkt neben ihr und stieg aus. Leise trat er ein, weil er wusste, dass seine Mum Noah bereits zu Bett gebracht hatte.
Er streifte seine schmutzigen Arbeitsschuhe ab, zog den dicken Wollpullover aus und ging ins Wohnzimmer, wo er seiner Mum dabei zusah, wie sie seine Wäsche zusammenlegte.
»Mum, das musst du doch nicht tun«, murmelte er und durchquerte den Raum, um ihr zu helfen.
»Ach was, das mach ich doch gerne.« Sie hob ihre Hand und legte sie auf Joshs Wange. »Du siehst müde aus.«
Er nickte. »Es war ein anstrengender Tag. Aber sicher nicht nur bei mir. Wie war es mit Noah? War er lieb?«
»Noah war sehr lieb. Ich habe ihn nach dem Kindergarten bei Sally abgeholt, und dann sind wir gemeinsam mit deinem Dad einkaufen gegangen. Apropos. Dein Kühlschrank war leer. Ich habe ein wenig was besorgt.« Joshs Mum machte sich weiter daran, die Strümpfe zusammenzulegen.
»Danke schön.« Augenblicklich breitete sich wieder das schlechte Gewissen in ihm aus. Seine Mum hatte einen eigenen Haushalt zu führen,
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Text: Dana Summer
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Editing: Dr. Andreas Fischer
Layout: Zeilenfluss
Publication Date: 06-17-2019
ISBN: 978-3-96714-001-9
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