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Kapitel 1 – Meine Zeitmaschine

Das Schlimme an der Vergangenheit ist, dass man sie nicht ändern kann. So hatte ich es mir zumindest immer gedacht, bevor ich eines Tages den Entschluss fasste, eine Zeitmaschine zu bauen, um das Unmögliche dennoch wahr zu machen. Ich bin mir darüber bewusst, dass alles, was ich im Folgenden niederschreiben werde, von den meisten Menschen für völlig unglaubwürdig gehalten wird; trotzdem aber versichere ich, dass eben dieses vollkommen Unglaubliche tatsächlich geschehen ist.

Ich wurde 1970 in der Bundesrepublik Deutschland geboren und bin männlich. Meine Identität möchte ich geheim halten. Ich werde nur so viele Angaben machen, wie es zum Verständnis der Ereignisse im Jahre 2013 erforderlich ist. Was zunächst kaum nachvollziehbar sein dürfte, ist die Tatsache, dass es mich dreimal gibt, obwohl ich keine Zwillingsbrüder habe. Meine beiden anderen Ichs gleichen mir aufs Haar und stellen gewissermaßen künstlich hergestellte Kopien dar.

Seit ich denken kann, ist in meinem Leben kein Tag vergangen, an dem ich nichts über Hitler gehört habe. Der größte Verbrecher aller Zeiten ist bis heute – nicht nur in meinem Vaterland – allgegenwärtig. Sobald man den Fernsehapparat eingeschaltet hat, muss man nicht lange suchen – man findet fast immer auf irgendeinem Sender Filme, die den Zweiten Weltkrieg thematisieren, oder Dokumentationen über das Dritte Reich, wenn nicht gar über Hitler selbst. Der von ihm entfesselte Zweite Weltkrieg in Europa kann vom menschlichen Geist nicht vollständig erfasst werden und scheint alle Dimensionen zu sprengen. Man muss von mindestens 50 Millionen Menschen ausgehen, die wegen dieses Krieges ihr Leben verloren haben. Das ist eine Zahl, die leicht dahingeschrieben ist. Um ihr mehr Anschaulichkeit zu verleihen, habe ich mir irgendwann in frühen Jahren einen Vergleich ausgedacht: Eine Fläche von 50 Quadratmetern besteht aus 50 Millionen Quadratmillimetern, wobei ein Quadratmillimeter in etwa die Größe eines Stecknadelkopfes hat. Lebt also jemand in einer 50-Quadratmeter-Wohnung, so entspräche jeder Quadratmillimeter der Wohnungsfläche einer infolge des Zweiten Weltkriegs gestorbenen Person, ob es sich bei dieser nun um einen Soldaten, um eine Frau, um ein Kind oder um einen Häftling in einem Konzentrationslager handelt. Kann ein einziger Krieg so viele Menschenleben kosten, wie eine 50-Quadratmeter-Wohnung über Quadratmillimeter verfügt? Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, doch es scheint leider tatsächlich so gewesen zu sein.

Eines Tages fasste ich deshalb einen wahnwitzigen Entschluss: Ich wollte Hitlers Verbrechen verhindern. Allerdings bestand das Problem darin, dass ich ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod das Licht der Welt erblickt hatte. Was ich unbedingt benötigte, war eine Zeitmaschine, mit deren Hilfe ich mich in die Vergangenheit würde begeben können, um ihn rechtzeitig vor seinen unfassbaren Untaten zu beseitigen. Eigentlich ein Ding der vollkommenen Unmöglichkeit, doch ich hatte einen Trumpf im Ärmel: Ich war und bin hochbegabt. Schon im Alter von vier Jahren konnte ich quadratische Gleichungen lösen, mit sieben sogar schon Differenzialgleichungen. Ich befasste mich schon in frühesten Kindertagen mit Mathematik, Physik und technologischen Entwicklungen aller Art. Die Grundschule und später das Gymnasium langweilten mich, denn ich fühlte mich total unterfordert. Oft musste ich unfähige Lehrer berichtigen und ihnen erklären, wie man noch leichter und eleganter eine Aufgabe lösen konnte. Ich hatte durch die schulische Unterforderung viel Freizeit, denn die Hausaufgaben erledigte ich im Handumdrehen. Noch bevor ich 1988 mein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 0,7 und mit einer maximalen Ausbeute von 900 Punkten mit Auszeichnung bestand, hatte ich bereits viele geniale Erfindungen gemacht und zum Patent angemeldet. Ja, man konnte durchaus sagen, dass ich ein Genie war. Durch einen raffinierten Trick, den ich hier nicht weiter erörtern möchte, gelang es mir, sowohl dem Wehrdienst bei der Bundeswehr als auch dem Zivildienst zu entgehen, sodass ich sofort nach dem Abitur eine der besten Universitäten Deutschlands besuchen konnte. Ich studierte mehrere Fächer gleichzeitig, darunter Physik, Chemie, Informatik und Elektrotechnik. Dennoch fühlte ich mich völlig unterfordert und verstrickte mich nicht selten in heftige Diskussionen mit Professoren. Die von ihnen abgegebenen Erklärungen zu naturwissenschaftlichen Phänomenen und technologischen Fragestellungen hielt ich nur für ungenau und lückenhaft. Ich erläuterte ihnen meine Sicht der Dinge, doch sie konnten mir geistig nicht folgen. Nach nur wenigen Jahren hatte ich eine beträchtliche Anzahl von Universitätsabschlüssen mit Bestnoten in der Tasche. Ich musste keine Bewerbungen schreiben, denn mein Ruf als technisches Wunderkind war mir schon längst vorausgeeilt. Viele Unternehmen kontaktierten mich und boten mir ein fürstliches Erstgehalt an. So arbeitete ich jahrzehntelang mit größtem Erfolg für mehrere Unternehmen und wurde reich. Alles, was ich anpackte, gelang mir in vorzüglicher Weise. Ich beschäftigte mich unermüdlich mit technischen Innovationen. Meine Arbeitswut, mein großes Talent und meine unstillbare Neugier eröffneten mir neue Erkenntnisse, die es mir ermöglichten, immer bessere und komplexere Erfindungen zu konstruieren. Tief im Innern spürte ich, dass ich eines Tages die Grenzen des schier Unvorstellbaren als erster Mensch der Welt überschreiten würde.

Im Jahr 2009 hielt ich mein Wissen und Können für ausreichend, um mein nächstes und schwierigstes Projekt in Angriff zu nehmen: die Zeitmaschine. Bereits einige Jahre zuvor hatte ich auf einem DIN-A4-Blatt mit wenigen Gleichungen bewiesen, dass es nicht gänzlich unmöglich ist, Zeitreisen zu unternehmen, wenn nur die dafür notwendigen Materialien verfügbar sind. Als wohlhabender Ingenieur konnte ich mir alles kaufen, was ich benötigte. Ab Februar 2009 arbeitete ich in meinem nur 50 Quadratmeter großen Labor im Keller meines Hauses Tag und Nacht wie besessen an meiner Zeitmaschine. In Arbeitspausen schlenderte ich immer wieder durch den Raum und starrte dabei auf den Boden, bei dessen Anblick ich zwangsläufig an die Toten des Zweiten Weltkriegs dachte: jeder Quadratmillimeter auf dem Boden ein menschliches Todesopfer der größten kriegerischen Auseinandersetzung aller Zeiten.

Im Juni 2013 war die Zeitmaschine endlich fertig. Es hatte viele Rückschläge und Enttäuschungen gegeben und ich hatte noch niemals so hart und ausdauernd an einem und demselben Projekt gearbeitet. Es hatte mir alles abverlangt und mir meine Grenzen aufgezeigt. Somit stellte die Konstruktion der Zeitmaschine die größte Leistung meines Lebens dar. Noch nie zuvor hatte irgendein Mensch auf der Welt etwas so Komplexes, Bahnbrechendes und Phänomenales konstruiert. Wer war schon Thomas Alva Edison? Wer schon Carl Benz? Wer schon Otto Hahn und wer schon Albert Einstein? Alles Namen, die zweifellos hinter meinem verblassen würden, wenn denn jemals irgendjemand ihn erführe. Ja, meine Genugtuung und mein Stolz waren so groß wie noch nie – die Zeitmaschine war mein Meisterstück und stellte alles bisher Erfundene in den Schatten. Ich war mir sicher, dass sie funktionieren würde. Zur Kontrolle stellte ich zwar noch einige zusätzliche Berechnungen an, aber insgeheim wusste ich: Sie würde funktionieren und mich mein Vorhaben durchführen lassen.

Sonntag, neunter Juni 2013, 16:30 Uhr. Die einsatzbereite Zeitmaschine lag auf einem Tisch in meinem Kellerlabor und wurde prüfend von mir betrachtet. Sie sah aus wie ein handelsübliches Handy und niemand, der sie gesehen hätte, wäre auf die Idee gekommen, dass es sich um eine Zeitmaschine handelte. Ihre quaderförmige Gestalt mit den Abmessungen 10,4 Zentimeter mal 5,1 Zentimeter mal 2,3 Zentimeter verlieh ihr ein hohes Maß an Handlichkeit und leichter Bedienbarkeit. Sie wurde energetisch von eigens von mir entwickelten Hochleistungsakkus versorgt. Wie meine Erfindung funktionierte, möchte ich nicht erklären, aber ich kann grob erläutern, wozu sie in der Lage war. Zu diesem Zwecke könnte ich nun eine Bedienungsanleitung oder Produktbeschreibung aus der Zwischenablage meines Computers einfügen; aus Gründen der Geheimhaltung jedoch haben derartige Dokumente nie existiert. Ich möchte jetzt einmal annehmen, dass ein beliebiger Benutzer meine Zeitmaschine in seinen Händen hält. Ich bin dazu bereit, ihm Folgendes zu erläutern: Dem Benutzer dieser Zeitmaschine werden Reisen in die Vergangenheit oder in die Zukunft ermöglicht. Dabei ist zu beachten, dass es – wie bei jedem anderen technischen Produkt – Leistungsgrenzen gibt. Bei Reisen in die Vergangenheit kann der Benutzer mit diesem Gerät maximal 348 Jahre zurücklegen. Es wird ihm also nicht möglich sein, den Dreißigjährigen Krieg hautnah mitzuerleben. Für Ausflüge in die Zukunft beträgt die maximale Überbrückungszeit 17526 Jahre. Der beträchtliche Unterschied zwischen unterer und oberer Leistungsgrenze erklärt sich dadurch, dass Reisen in die Vergangenheit weitaus komplexer und aufwendiger sind, weshalb sie deutlich mehr Energie verbrauchen als Reisen in die Zukunft. Sicherlich wäre es mir möglich gewesen, eine Zeitmaschine für Exkursionen in vorchristliche Zeit zu bauen, aber dafür hätte ich mehr Zeit und Material benötigt. Man muss sich vor Augen halten, dass meine damalige Erfindung mit einem Volumen von 122 Kubikzentimetern in Hosen- oder Jackentaschen verstaut werden konnte und längst nicht die voluminösen Ausmaße annahm, die man in manchen Science-Fiction-Filmen sieht. Bevor der Benutzer die Zeitmaschine verwendet, sollte er sich unbedingt klarmachen, in welcher Weise sie auf das Universum einwirkt. Ein wichtiger Grundsatz zum Verständnis von Zeitreisen mittels der von mir konstruierten Zeitmaschine ist die Tatsache, dass der Einfluss meines Gerätes auf nur eine einzige Zeitlinie beschränkt ist. Mit Zeitlinien, die möglicherweise in unbekannten Dimensionen verborgen sind, kann meine Erfindung nicht in Wechselwirkung treten. Mit meiner Erfindung ist es also nicht möglich, Paralleluniversen zu erzeugen oder in solche – falls und wo auch immer vorhanden – einzudringen. Ebenfalls ausgeschlossen ist somit die Aufrechterhaltung mehrerer Zeitlinien in einem Zustand der Gleichzeitigkeit. In manchen Science-Fiction-Filmen gibt es Szenen, in denen zum Beispiel der Wissenschaftler A auf einem Monitor beobachtet, wie der Wissenschaftler B nach einer Zeitreise ins Jahr 67 Millionen vor Christus verzweifelt versucht, einem Tyrannosaurus rex davonzulaufen. Dabei können die beiden Wissenschaftler auch noch per Funk miteinander kommunizieren. Das hier vorliegende Zeitmaschinenhandy kann weder bei Reisen in die Vergangenheit noch bei Reisen in die Zukunft Derartiges leisten. Der Benutzer kann sich – bildlich gesprochen – lediglich mit seiner Hilfe auf der Zeitachse nach links oder rechts bewegen. Das Datum und die Uhrzeit für den jeweiligen Standort auf dem Planeten Erde werden von diesem Gerät korrekt angezeigt. Jedweder von der Zeitmaschine ausgelöste Zeitsprung in die Vergangenheit wird von nicht mitreisenden Personen nicht registriert, obwohl alle Lebewesen und Moleküle ihm unterworfen sind. Der Begriff Zeitsprung darf hier nicht missverstanden werden. Bei einer Reise in die Vergangenheit verschwinden alle hinter dem Reisenden liegenden Zeitpunkte. Man kann sich die Zeit als eine von links nach rechts ausgerichtete Koordinatenachse vorstellen, deren Pfeilspitze sich seit dem Urknall vor 14 Milliarden Jahren immer weiter nach rechts bewegt. Bei einer Reise in die Vergangenheit hingegen wird die Bewegungsrichtung dieser Pfeilspitze umgekehrt. Es findet sozusagen ein Zeitabbau statt. Der auf der Pfeilspitze liegende Zeitpunkt, von dem aus man in die Vergangenheit gereist ist, hat sich nach links verschoben; die Länge der Zeitachse hat sich verkürzt. Die Zeitmaschine ist in der Lage, durch wiederholte Reisen in die Vergangenheit Personenvermehrungen hervorzurufen. Nachdem der Benutzer durch Verwendung der Tastatur Zeit-Ort-Koordinaten eingegeben hat, erfolgt die Zeitreise unmittelbar nach dem Drücken der grünen Entertaste. Anwendungsbeispiel: Der Benutzer steht kurz vor 20:00 Uhr in seiner Küche, in der er sich seit über einer Stunde aufgehalten hat. Für eine Reise in die Vergangenheit tippt er als Zielzeit 19:00 Uhr desselben Tages ein und als Zielort einen Sessel in seinem Wohnzimmer. Um genau 20:00 Uhr drückt er die Entertaste und reist eine Stunde in die Vergangenheit. Da die Zeitdifferenz der zurückzulegenden Zeitspanne nur 60 Minuten beträgt, dauert die Reise nur sehr kurz, denn sowohl bei Reisen in die Vergangenheit als auch bei Reisen in die Zukunft vergeht die Zeit für den Reisenden ungefähr 316 Millionen Mal schneller. Dieser Quotient von eins zu 316 Millionen ist eine charakteristische Gerätekonstante dieses Zeitmaschinenmodells. Während der bei diesem Beispiel ziemlich kurzen Zeitreise befindet sich der Benutzer in der sogenannten Zeitkammer, die von Außenstehenden während der Reise nicht wahrgenommen werden kann und in der Prozesse ablaufen, bei denen insbesondere bei Reisen in die Vergangenheit ein nicht unbeträchtlicher Teil des zur Verfügung stehenden Sauerstoffs verbraucht wird. Die Software meiner Erfindung ermöglicht dem Benutzer einen Austritt aus der Kammer direkt über dem Erdboden oder über einer begehbaren Fläche. Bei einer extrem kurzen Zeitreise bemerkt der Reisende gar nicht, dass er sich in der Zeitkammer befindet. Je kürzer die Reise dauert, umso weniger nimmt er temporale Effekte wahr. Die Zeitmaschine dreht also – wie vom Benutzer programmiert – die Zeit um eine Stunde zurück. Es findet ein Zeitabbau von 60 Minuten statt. Wäre der Benutzer um kurz vor 20:00 Uhr in seiner Küche von Zeugen beobachtet worden, hätte niemand sein Verschwinden um 20:00 Uhr miterleben können, denn auch für jeden Beobachter wird die Zeit schlagartig um 60 Minuten zurückgedreht. Für dieses Anwendungsbeispiel bedeutet das, dass alles, was zwischen 19:00 Uhr und 20:00 Uhr ursprünglich geschehen ist, ungeschehen gemacht wird. Jeder Mensch auf diesem Planeten findet sich plötzlich, ohne dass er sich dessen bewusst wäre, um 19:00 Uhr wieder (bzw. zu einer dem entsprechenden Uhrzeit in der jeweiligen Zeitzone) und kann sich in keiner Weise daran erinnern, was er in den letzten 60 Minuten getan hat, weil es noch gar nicht geschehen ist. Um 19:00 Uhr landet der Benutzer auf seinem Sessel im Wohnzimmer und setzt sich danach sofort auf das bequemere Sofa. Da er – wie bereits erwähnt – vor seiner Zeitreise länger als eine Stunde in der Küche verbracht hat, weiß er nun ganz genau, was geschieht, wenn er zum Beispiel um 19:50 Uhr in die Küche geht. Er wird dort sein zweites Ich vorfinden, denn um 19:50 Uhr befand er sich selbst in der Küche. Das verblüffende Ergebnis dieser einen Reise in die Vergangenheit ist die sogenannte Personenvermehrung, denn den Benutzer gibt es jetzt zweimal. Die Frage ist, was nun geschehen soll. War ursprünglich geplant, nur einen Doppelgänger zu erschaffen, kann der Benutzer seinem zweiten Ich in der Küche um 19:50 Uhr mitteilen, dass keine Zeitreise mehr unternommen werden soll. Zu Meinungsverschiedenheiten bezüglich der weiteren Vorgehensweise kann es kaum kommen, denn sein zweites Ich will ja dasselbe wie er. Für den Fall, dass weitere Ichs produziert werden sollen, teilt der Benutzer seinem zweiten Ich mit, dass er oder sie um 20:00 Uhr die Reise des ersten Ichs wiederholen soll, allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass diesmal als Zielzeit 19:01 Uhr einprogrammiert wird. Jetzt geht der Benutzer wieder ins Wohnzimmer und setzt sich aufs Sofa. Um 20:00 Uhr wird abrupt die Zeit auf 19:01 Uhr zurückgedreht. Der auf dem Sofa sitzende Benutzer sieht auf dem Sessel sein zweites Ich auftauchen, das sich rasch zu ihm aufs Sofa setzt. Der Benutzer geht wieder um 19:50 Uhr in die Küche, um dem dritten Ich einen Besuch abzustatten. Jetzt kann das Spiel – falls gewünscht – wieder von vorn losgehen. In diesem Fall wählt das dritte Ich die Zielzeit 19:02 Uhr. Nach der rückwärtsgerichteten Zeitreise mit einer Überbrückungszeit von 58 Minuten taucht um 19:02 Uhr im Sessel das dritte Ich auf, das sich zu seinen beiden Ebenbildern aufs Sofa setzt, während sich das vierte Ich in der Küche befindet. Bei Personenvermehrungen ist darauf zu achten, dass sich nicht nur die Anzahl der Personen vermehrt, sondern auch diejenige der Zeitmaschinen. Wie man sich denken kann, muss man mit der Zeitmaschine verantwortungsvoll umgehen; keinesfalls darf man sie als Spielzeug betrachten. Eine planlose Verwendung der Zeitmaschine ruft unter Umständen paradoxe temporale Konstellationen hervor. Beispielsweise kann sich dies darin äußern, dass sich manche Wirkung schon vor ihrer eigentlichen Ursache vollzieht. Im Gegensatz zu Reisen in die Vergangenheit sind Reisen in die Zukunft weniger kompliziert. Möchte der Zeitreisende vom Zeitpunkt a zum Zeitpunkt b in die Zukunft gelangen, muss er nur die entsprechenden Koordinaten eingeben. Beim Drücken auf die Entertaste verschwindet der Reisende zum Zeitpunkt a, was auch von Zeugen beobachtet werden könnte, und taucht zum Zeitpunkt b wieder am programmierten Ort auf. Bei Reisen in die Zukunft dient die Zeitmaschine dem Nutzer lediglich als lebensverlängernde Maschine. Das Verhältnis aus Reisezeit und verstrichener Zeit außerhalb der Kammer beträgt ungefähr eine Sekunde zu zehn Jahren. Das entspricht in etwa dem bereits erwähnten Zeitquotienten von eins zu 316 Millionen.

Die Zeitmaschine wurde von mir aber nicht konstruiert, um sinnlose Just-for-fun-Experimente durchzuführen. Mir ging es nicht darum, mich zu klonen oder mich ständig von einem Ort zum anderen zu befördern. Mein einziges Ziel war die Herausnahme Hitlers aus der Weltgeschichte. Was sonst hätte ich als Deutscher mit einer Zeitmaschine tun sollen? Ich sah es als meine heilige Pflicht an, die unfassbaren Verbrechen der Nationalsozialisten ungeschehen zu machen. Gleich bei meiner ersten Reise in die Vergangenheit wollte ich unbedingt erfolgreich sein. Eine Tötung Hitlers vor dem Ersten Weltkrieg würde dazu führen, so schlussfolgerte ich, dass ein Zweiter Weltkrieg erst gar nicht entstehen würde. Ich konnte außerdem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ich bei meiner Rückkehr ins Jahr 2013 mein zweites Ich gar nicht vorfinden würde, weil sich mein Vater und meine Mutter aufgrund des ausgefallenen Zweiten Weltkriegs nie begegnet wären. Das liegt daran, dass meine Großmutter gebürtige Norwegerin ist und sich während des Zweiten Weltkriegs mit einem in ihrem Land stationierten Wehrmachtssoldaten eingelassen hat. Aus dieser Begegnung ging schließlich meine Mutter hervor. Ohne Zweiten Weltkrieg würde also eine Personenvermehrung nicht stattfinden – als einziger Mensch auf der Welt würde ich in dieser neuen Zeitebene keine aus ihr hervorgegangenen Eltern haben. Dieses Opfer musste ich bereit sein zu erbringen. Ich würde nach der Rückkehr ins Jahr 2013 eine völlig neue Umgebung vorfinden, und viele mir ursprünglich bekannte Menschen würden überhaupt nicht existieren.

Bevor ich mich auf die Reise machen würde, hatte ich noch eine wichtige Frage zu klären: Wann und wo sollte ich Hitler ausschalten? Selbstverständlich musste dies vor seiner Machtergreifung im Januar 1933 geschehen. Ich hielt es darüber hinaus für sinnvoll, noch vor dem Ersten Weltkrieg zuzuschlagen, weil er in der Zeit von 1889 bis 1913 als völlig unbedeutender Mensch die Geschichte der Menschheit sehr wenig bis gar nicht zu beeinflussen vermochte. Auch ging ich der Idee nach, ihn bereits im 19. Jahrhundert zu liquidieren, doch nach kurzer Überlegung entschied ich mich dagegen, weil ich es für zu unmenschlich hielt, einem unschuldigen Kind etwas anzutun. Schließlich fasste ich den Entschluss, ihn als 22-Jährigen im Jahre 1911 zu beseitigen. Nach meinen Recherchen wohnte er von 1910 bis 1913 im Männerwohnheim in der Meldemannstraße in Wien. Da ich mir bei meiner Reise in die Vergangenheit wegen mangelnder Bewegungsfreiheit keine warmen Sachen anziehen wollte, zog ich es vor, den Sommer des Jahres 1911 zu wählen. Laut historischer Wetteraufzeichnungen herrschte zu dieser Zeit ohnehin eine Hitzewelle in Mitteleuropa. So entschied ich mich spontan für den 24. Juli, weil es der Geburtstag meiner Großmutter mütterlicherseits ist. Der 24. Juli 1911 war ein Montag und zufälligerweise genau der Tag, an dem der amerikanische Archäologe Hiram Bingham die Inkastadt Machu Picchu wiederentdeckte.

Nachdem die wichtigsten Fragen geklärt worden waren, kümmerte ich mich um die Details, indem ich Kleidung und Gegenstände suchte, die im Wien des frühen 20. Jahrhunderts nicht auffallen sollten. Auf dem Dachboden meiner Luxusvilla kramte ich in alten Kisten und Truhen herum und fand eine alte Arbeitermütze sowie eine zerschlissene Arbeitstasche meines Großvaters. Ich zog ein weißes Hemd an und darüber eine dünne, graue Jacke. Im Wohnzimmer öffnete ich einen großen Schrank, in dem meine illegale Waffensammlung untergebracht war. Ich entschied mich für die praktische Beretta 92, die ich zusammen mit einem Ersatzmagazin in der Arbeitstasche verstaute. Außerdem packte ich noch zwei Reserveakkus für die Zeitmaschine, eine Mineralwasserflasche und ein Stethoskop hinzu. Da ich nicht genau wusste, was mich in der Vergangenheit erwarten sollte, legte ich mich noch eine Weile auf das Sofa, um mein Vorhaben noch einmal in allen Einzelheiten zu überdenken. Da war noch eine Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitete. Wohin sollte ich nach Beendigung meiner Wien-Mission reisen? Es war mir leider nicht möglich, in allen Einzelheiten vorherzusehen, was während einer Zeitspanne von 102 Jahren ohne Hitlers Beeinflussung geschehen würde. Im Gegensatz zu Zeitreisen in die Vergangenheit kann ein vollkommen sicherer Ankunftsort in der Zukunft nicht errechnet werden. Bei Reisen in eine weit entfernte Zukunft stellt jede noch so akribisch ausgewählte Ortskoordinate ein potenzielles Risiko dar. Wenn ich heute ins Jahr 2115 reisen und als Ortskoordinate eine Stelle mitten im Bayrischen Wald einprogrammieren würde, könnte mir niemand garantieren, dass ich nicht auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt landen würde oder auf einem Gelände einer chinesisch-russischen Gemeinschaftskaserne. So hatte ich mich für das Nächstliegende entschieden, nämlich für meine Luxusvilla. Am Ausgangsort meiner ersten Zeitreise sollte meine zweite enden.

Ich war mir sehr sicher, dass meine Zeitmaschine einwandfrei funktionieren würde. Dessen ungeachtet hätte ich sie für eine Reise in die Vergangenheit nur allzu gern getestet, aber ich wollte eine überflüssige Personenvermehrung unbedingt vermeiden. Trotz aller akribischen Berechnungen und Vorbereitungen wusste ich allerdings nicht, wie sich der Aufenthalt in der Zeitkammer anfühlen würde. Was ich genau wusste, waren die Reisezeit von ungefähr zehn Sekunden und die Tatsache, dass mir während dieser Zeit kaum atembare Luft zur Verfügung stehen würde; für einen längeren Trip hätte ich eine Sauerstoffflasche mitnehmen müssen.

Sonntag, neunter Juni 2013, 17:57 Uhr. Ich setzte mir die Mütze auf und stellte mich in meinem Wohnzimmer auf einen großen Teppich. In der linken Hand hielt ich die Arbeitstasche und in der rechten die Zeitmaschine. Als Zieldatum programmierte ich den 24. Juli 1911. Ich hielt es für sinnvoll, zu nachtschlafender Zeit in der Vergangenheit aufzutauchen; daher wählte ich als Zieluhrzeit 03:00 Uhr. Keinesfalls wollte ich mich am helllichten Tage auf die Meldemannstraße begeben, weil die Gefahr bestehen würde, direkt nach meiner Ankunft von einem Auto oder einer Kutsche angefahren zu werden. Außerdem wollte ich beim Verlassen der Zeitkammer unbedingt unbeobachtet bleiben. Als Zielort wählte ich Wien, Männerwohnheim Meldemannstraße, fünf Meter Abstand vom Haupteingang. Nervös blickte ich auf das Display meiner technischen Errungenschaft. Exakt um 18:00 Uhr und null Sekunden wollte ich durch Drücken der grünen Taste die erste Zeitreise aller Zeiten antreten. Um fünf Sekunden vor der vollen Stunde holte ich tief Luft. Mein Daumen zitterte zwar ein wenig, doch genau um 18:00 Uhr und null Sekunden drückte ich tatsächlich die grüne Taste.

Kapitel 2 – Meine erste Zeitreise

Um mich herum verschwand alles, was mich vor ein paar Millisekunden noch umgeben hatte. Ich war plötzlich umhüllt von einer tiefschwarzen Dunkelheit und hatte das Gefühl, schwerelos zu sein, denn unter meinen Füßen spürte ich nichts. Nach circa zwei Sekunden nahm ich merkwürdige Lichteffekte wahr, die ich nur grob beschreiben kann. Ich sah an den Rändern meines Gesichtsfeldes aus orangenen und grünen Kästchen bestehende Flecken. Die Kästchen flimmerten schwach und bildeten ein orange-grünes Schachbrettmuster. Aufgeregt bewegte ich meinen Kopf und meine Augen hin und her. Diese fleckenförmigen Erscheinungen schienen sich an mir nach hinten vorbeizubewegen und rotierten allesamt gegen den Uhrzeigersinn, wobei deren Umdrehungsgeschwindigkeit immer größer und größer wurde. Ich befand mich ganz allein in der Zeitkammer, an einem der einsamsten Orte im Universum, den man sich nur irgendwie vorstellen kann. Aus diesem Grund fühlte ich nach ungefähr acht Sekunden einen heftigen Schmerz der Einsamkeit in meinem tiefsten Innern und aus meinen Augen schossen Tränen des Entsetzens. Aus meinem leicht geöffneten Mund entwich ein Schrei, der sich für mich völlig verzerrt und surreal anhörte. Mit einem Mal wurde mein Körper wie von einem Erdbeben eine Sekunde lang durchgerüttelt und direkt vor mir erschien ein weißer Punkt, dessen Helligkeit kaum zu ertragen war. Er kam immer näher und füllte die gesamte Kammer mit grellem, weißem Licht, das mich so sehr blendete, dass ich meine Augen schließen musste. Nach ungefähr zehn Sekunden endete die Reise, doch ich war noch viele Augenblicke lang geblendet. Dass ich längst wieder festen Boden unter meinen Füßen hatte, bemerkte ich erst nach einer halben Minute. Ich schwitzte sehr stark und stand benommen mit zitternden Beinen auf etwas, das sich eindeutig härter anfühlte als mein Teppich im Wohnzimmer. Die Erschöpfung ließ meinen Körper auf die Knie und meinen Kopf nach unten sinken. Ich legte die Arbeitstasche und die Zeitmaschine auf den Boden. Mit der rechten Hand wischte ich mir die Tränen und den Schweiß aus meinem Gesicht, danach massierte ich mit meinem Zeigefinger und Daumen meine geschlossenen Augen, damit sie sich vor dem ersten Blick auf das Ungewisse so schnell wie möglich erholen konnten. Schließlich riss ich aufgeregt die Augen auf, hob meinen Kopf und blickte auf ein ungefähr fünf Meter von mir entferntes Gebäude, das aufgrund der Dunkelheit, an die ich mich erst wieder gewöhnen musste, zunächst kaum zu erkennen war. Nach einiger Zeit jedoch begriff ich es: Ich kniete zu nächtlicher Stunde mitten auf der Meldemannstraße in Wien. Was ich erblickte, stimmte nämlich sehr genau überein mit alten Schwarz-Weiß-Fotos, die ich mir einige Tage zuvor im Internet angesehen hatte. Ergriffen wie noch nie zuvor in meinem Leben konnte ich es kaum fassen. Als erstem Menschen aller Zeiten war mir soeben ein Zeitsprung in die Vergangenheit gelungen. Ich blickte aufgeregt auf das grün leuchtende Display der Zeitmaschine, welche die Uhrzeit 03:02 Uhr anzeigte und außerdem das Datum 24. Juli 1911. Völlig losgelöst rannte ich ein paarmal hin und her und sprang vor lauter Freude immer wieder in die Luft. Ich sah wohl aus wie ein Fußballspieler nach dem Erzielen eines entscheidenden Tores in der Nachspielzeit; um unentdeckt zu bleiben, verzichtete ich allerdings auf Jubelschreie. Ich freute mich nahezu lautlos, dass mir eine historische Leistung ohnegleichen gelungen war, und nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, sah ich mir die Umgebung genauer an. Ich stand zweifellos vor dem Männerwohnheim, in dem sich Hitler vermutlich gerade aufhielt und schlief. Dieses

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Arne Arotnow
Images: Arne Arotnow
Editing: Arne Arotnow
Publication Date: 01-27-2017
ISBN: 978-3-7396-9563-1

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