Eine gewisse Melancholie erfasste mich jedes Mal, wenn ich durch die engen Gassen auf der Kopfsteinpflasterstraße entlang der Lauch zum Marché couvert, der alten Markthalle, die aus Ziegelstein und Sandstein erbaut worden war und der typischen Bauweise im zweiten Kaiserreich unter Napoleon III entsprach. Kurz hielt ich bei der Brücke inne, an deren Eisengeländer viele kleine rote Vorhängeschlösser in Herzform hingen. Fast hätte man es für eine Kunstinstallation halten können. Doch jedes dieser Schlösser stand für ein Liebespaar, das sich hier einmal ein Versprechen gegeben hatte. Manchmal waren sogar die Namen der Liebenden kunstvoll in das Metall eingraviert worden. La petite Venise. Nicht zufällig hieß das Viertel Klein-Venedig. Die Schlüssel lagen nun schlummernd auf dem Grund der Lauch, die gemächlich vorbei plätscherte und die Endgültigkeit dieses Rituals besiegelte. Ich fragte mich, was wohl aus den ganzen Liebespaaren mittlerweile geworden war. Waren sie glücklich geworden oder hatten sie sich vielleicht schon längst wieder getrennt?
Wie sehr wünschte ich mir ebenfalls, endlich die Liebe meines Lebens zu finden. Es war nicht so, dass ich es noch nie versucht hätte. Aber das große Glück war eben noch nicht dabei gewesen. Ich war durchaus hübsch. Meine Augen waren so dunkelbraun wie mein Haar, das ich mit einem Pagenschnitt in Form hielt. Nicht ganz 1,60. Zierliche Figur. Ich liebte Röcke mit bunten Mustern, die ich gerne mit einer Bubikragenbluse und hohen Absatzschuhen kombinierte, die mich etwas größer erscheinen ließen. Nicht selten merkte ich die interessierten Blicke der Männer auf mir ruhen. Doch ein adrettes Aussehen war eben nicht alles. Ich war viel zu scheu, um auf fremde Menschen einfach zuzugehen, weswegen ich eher zurückgezogen lebte, was mir auch prinzipiell nichts ausmachte. Doch manchmal wallte in mir eben diese Sehnsucht auf, die schönen oder auch weniger schönen Momente des Lebens mit jemandem teilen zu können. Eine Schulter zum Anlehnen. Jemanden, der einen einfach versteht, ohne dass es großer Worte bedurfte.
Meine große Leidenschaft galt den Büchern. Ich liebte es, in fremde Gedankenwelten einzutauchen und mich dort voll und ganz fallen zu lassen. Bücher waren schon seit meiner Kindheit meine besten Begleiter und ersetzten mir die Geschwister, die ich nie hatte. Vom Lesen war ich mittlerweile auch zum Schreiben gekommen. Ich verfasste gerne kleine Geschichten. Dort konnte ich mir meine Welt erschaffen, wie ich sie mir erträumte und meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Meist inspirierten mich die kleinen Dinge des Lebens. An Fantasie hatte es mir noch nie gemangelt. Mein Tagebuch war mittlerweile zu meinem besten Begleiter geworden. Während andere Menschen niemals ohne ihr Handy aus dem Haus gingen, lag bei mir immer mein kleines ledernes Büchlein in der Handtasche, das mit einem breiten Riemen vor fremden Blicken geschützt war. Ihm vertraute ich die Gedanken an, die ich sonst mit niemandem Teilen konnte. Wehmütig blickte ich in das glitzernde Wasser der Lauch und setzte schließlich meinen Weg zum Marché couvert fort.
Jeden Donnerstag ging ich dort hin, um meinen Wocheneinkauf zu erledigen. Ich liebte die vielen Gerüche, die mir dort in die Nase stiegen. Der Duft der vielen Currysorten beim Gewürzhändler. Das frische Obst. Und auch die etwas strenge Note am Käsestand. Nirgendwo in der ganzen Stadt gab es frischeres Brot als hier. Überall konnte man ein bisschen probieren. Besonders angetan hatte es mir aber der kleine Weinstand von Jean-Paul…
***
Es war nicht der Wein, der mich an Jean-Paul so faszinierte. Er stammte von einem Weingut ganz in der Nähe. Das hatte ich im Internet über ihn herausgefunden. Und er war lediglich am Donnerstag in der großen Markthalle und verkaufte dort den Wein seiner Familie. Dabei war er so anders wie die anderen Marktleute. Das war mir sofort aufgefallen, als ich ihn zum ersten Mal dort gesehen hatte. Während die anderen lauthals ihre Ware anboten, hielt er sich dezent zurück. Ruhig und mit großer Geduld stand er hinter dem kleinen Verkaufsstand, der mit den verschiedensten Weinen zugestellt war, und wartete auf Kundschaft. Ich mochte seine stille Art. Irgendwie fühlte ich mich ihm dadurch auf seltsame Weise verbunden, wohl ich mit ihm noch nie ein Wort gewechselt hatte.
Ich kam immer eine halbe Stunde vor Schließung der Markthalle hierher. Dann war es nicht mehr so überlaufen und ich konnte in Ruhe einkaufen. Gerne hielt ich mich immer ein wenig länger beim Gemüsehändler auf, der mir seine Ware schmackhaft machte. Tatsächlich war ich dort allerdings hauptsächlich, weil ich so von sicherer Distanz aus Jean-Paul beobachten konnte. Sein Haar war pechschwarz und leicht gelockt, während man in seinen grünen Augen regelrecht versinken konnten. Er war wohl nicht viel älter als ich. Höchsten 30. Ewig hätte ich dort stehen und ihm zuschauen können, wie er seinen Stammkunden den Wein verkaufte. Ich hatte mir schon einmal überlegt, ob ich mir nicht auch eine Flasche Wein an seinem Stand kaufen sollte. Doch traute ich mich nicht, obwohl ich ein gelegentliches Glas Wein sehr zu schätzen wusste. Ich hatte Angst, dass er meine Nervosität bemerken könnte. Und wie hätte ich ihm durch den Kauf einer Weinflasche je wirklich näherkommen können.
„Darfs noch etwas sein, Mademoiselle Dupont?“, riss mich der Gemüsehändler aus meinen Tagträumen.
„Nein, das wäre dann alles.“
Er reichte mir die Papiertüte mit meinen Einkäufen und ich bezahlte schnell. Langsam schlenderte ich weiter durch die Markthalle, vorbei an Jean-Paul, der keine Notiz von mir nahm. Doch ließ es bereits mein Herz höherschlagen, wenn ich so nah an seinem Stand vorüberging. Wenn ich doch nur ein bisschen mehr Mut hätte. Ich kaufte noch Brot, welches ich in meinen Einkaufskorb legte, der mittlerweile gut gefüllt war und verließ langsam die Markthalle. Dabei waren meine Gedanken noch immer bei Jean-Paul.
Kurz stellte ich meine Einkäufe neben mir ab und lehnte mich über das Brückengeländer. Die Fassaden der bunten Stadthäuser wurden vom orangeleuchtenden Licht der Abendsonne hell angestrahlt. Es war eine wunderbare Stimmung, die ich gerne noch ein wenig genoss. Im Wasser unter mir schipperten die Fremdenführer noch Touristen in kleinen Booten über die Lauch, als sich plötzlich jemand neben mich stellte. Vorsichtig schielte ich hinüber und konnte es im ersten Moment gar nicht richtig glauben. Es war Jean-Paul. Ich spürte, wie ich rot anlief und meine Hände zu schwitzen begannen. Ich konnte nur hoffen, dass er meine Nervosität nicht bemerkte.
„Ich liebe dieses Viertel. Man hat das Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben. Alles läuft hier etwas gemächlicher“, sagte er plötzlich und ich wusste nicht so recht, ob er nun von mir eine Antwort erwartete.
Ich nickte zustimmend, traute mich allerdings nicht so recht, ihm in die Augen zu schauen, obwohl ich nichts lieber gemacht hätte.
„Ich habe Sie schon oft in der Markthalle gesehen. Sie sind mir gleich aufgefallen. Ich hoffe, es ist nicht zu aufdringlich, wenn ich Ihnen das sage. Es ist nämlich eigentlich überhaupt nicht meine Art, einfach so eine Mademoiselle anzusprechen.“
„Nein, ist schon okay“, antwortete ich ihm etwas schüchtern und für ein paar Sekunden trafen sich unsere Blicke, was die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen ließ.
„Ähm. Wenn Sie wollen, ich habe hier noch etwas für Sie. Ich hoffe, Sie mögen Rotwein“, meinte er etwas verlegen zu mir und hielt mir eine Papiertüte hin, in der sich eine seiner Weinflaschen befand.
„Merci“, bedankte ich mich völlig überrascht bei ihm. „Womit habe ich denn das verdient?“
„Einfach so. Weil Sie mir sympathisch sind“, zwinkerte er zu mir. „Ich muss nun leider gehen. Genießen Sie den guten Tropfen. Vielleicht denken Sie ja dabei auch ein wenig an mich.“
Ehe ich das Ganze so richtig begreifen konnte, war er auch schon wieder weg. Das Einzige, was mich daran erinnerte, dass es kein Traum gewesen war, war die Papiertüte mit der Weinflasche, die ich immer noch in meiner Hand hielt. Mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht machte ich mich langsam auf den Heimweg.
***
Ich zählte die Tage, bis es wieder Donnerstag Abend war und konnte es kaum erwarten, wieder zum Einkaufen zum Marché couvert zu gehen. Den guten Wein von Jean-Paul hatte ich genossen bis auf den letzten Tropfen, dabei hatte ich mich ihm so seltsam nahe gefühlt, obwohl er gar nicht da gewesen war. Mit klopfenden Herzen betrat ich die große Markthalle, wo bereits eine gemütliche Feierabendstimmung herrschte und schritt bedächtig den langen Gang entlang. Der Gemüsehändler winkte mir freudig zu, doch ich hatte keine Augen für ihn und ging weiter zum Stand von Jean-Paul.
„Hat Ihnen der Wein gemundet?“, fragte er mit ruhiger Stimme, als er mich erblickte.
„Sehr sogar“, antwortete ich etwas verlegen und erwiderte sein Lächeln.
„Falls Sie Interesse haben, würde ich Sie gerne auf eine Weinverkostung in unserem Weingut einladen. Es liegt nicht weit von hier entfernt“, bot er mir recht überraschend an und wartete auf eine Antwort von mir.
Obwohl mir bewusst war, dass die Region rund um die Stadt eine reizvolle Landschaft bot, bewegte ich mich nur selten außerhalb der Stadtmauern von Colmar. Ich war nicht gerade ein abenteuerlustiger Mensch. Ein gutes Buch zusammen mit einem Café au Lait, welches ich auf dem Sofa oder auf dem Balkon in Ruhe lesen konnte, war für mich der Inbegriff einer perfekten Wochenendplanung.
„Gerne“, hörte ich mich antworten und war von mir selbst überrascht, dass ich diese Einladung so einfach angenommen hatte.
„Ich freue mich. Kommen Sie doch einfach Samstag Nachmittag vorbei“, meinte Jean-Paul zu mir und drückte mir einen Flyer vom Weingut in die Hand.
„Ich freue mich auch.“
Mit einem wohligen Kribbeln in der Bauchgegend spazierte ich wenig später glücklich durch die engen Gassen der Altstadt nach Hause in meine kleine Wohnung.
***
Die vergangenen beiden Tage hatten sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Doch nun war es endlich so weit. Bald würde ich hoffentlich Jean-Paul wieder begegnen. Ich war noch nie bei einer Weinverkostung gewesen, hatte aber im Internet gelesen, dass man dabei den Wein gar nicht trinkt, sondern wieder ausspuckt, um die Sinneswahrnehmung durch den Alkoholgehalt nicht zu trüben. Somit musste ich mir wenigstens keine Gedanken darüber machen, wie ich danach wieder nach Hause kommen würde und konnte beruhigt mit dem Auto fahren. Leichte Aufregung machte sich in mir breit, als ich mich im Spiegel betrachtete. Viel anders als sonst hatte ich mich nicht gekleidet. Allerdings hatte ich mir erlaubt, meine Augen etwas mit Wimperntusche und Kajal zu betonen. Dezenter Lippenstift vervollständigte mein Make-up. Was ich sah, gefiel mir gut. Schnell schnappte ich mir meine Handtasche und sauste durch das Treppenhaus in den Hinterhof, wo mein kleiner, gelber Renault Clio auf mich wartete.
Es war faszinierend, kaum hatte ich die Stadtgrenzen hinter mich gelassen, offenbarte sich eine wunderbare Landschaft, die sich aus sanften Hügeln und blühenden Feldern zusammenfügte. Ich sollte viel öfter von der Stadt aufs Land fahren, dachte ich so bei mir, während ich über die kleinen holprigen Sträßchen fuhr und mich einfach irgendwie glücklich fühlte.
Das Weingut von Jean-Pauls Familie befand sich in einem der kleinen Dörfer, die umrahmt waren von den Weinbergen. Die bunten Fassaden der alten, aber doch sehr gepflegten Häuser reihten sich nahtlos aneinander und ergaben eine gemütliche Kulisse, die zum Verweilen einlud. Ich stellte meinen Clio am Straßenrand ab und lief auf dem Kopfsteinpflasterweg entlang. Irgendwo hier musste es doch sein.
Nicht weit entfernt von der Kirche fand ich es schließlich. Vor dem alten hölzernen Eingangstor plätscherte ein kleiner Brunnen beruhigend vor sich hin. Es war wie eine andere Welt, als ich schließlich durch den Bogen in das Weingehöft trat. Landwirtschaftliche Maschinen und Geräte standen im Innenhof. Blauregen rankte sich über ein Gitter in die Breite und verstärkte das Gefühl in einem verwunschenen Märchenschloss zu sein.
Ich betrat den kleinen Verkaufsladen, dessen Tür weit geöffnet war. In Regalen waren viele verschiedenen Weinflaschen ausgestellt. Leichte Zweifel überkamen mich und die Unsicherheit drohte mich zu übermannen. Niemand war weit und breit zu sehen. Hatte ich Jean-Paul etwa missverstanden? Wo waren die anderen Gäste, die zur Weinverkostung geladen waren? Auch der Laden war völlig verwaist.
„Bonjour“, rief ich sehr zaghaft in den Raum, in der Hoffnung, dass mich irgendjemand hörte.
Als Antwort auf meine Begrüßung hörte ich zu meinem Glück Geräusche aus dem Hinterzimmer und es dauerte nicht lange, da stand eine durchaus attraktive Frau mittleren Alters vor mir. Sie hatte die gleichen dunklen Locken wie Jean-Paul, die allerdings bereits mit weißen Strähnen durchwoben waren. Ich mutmaßte, dass es wohl seine Mutter war.
„Bonjour, Mademoiselle. Was kann ich für Sie tun?“, fragte mich die Dame, die nun hinter einem langen Tresen aus Holz stand.
Nervös knete ich meine Hände.
„Ähm. Ich… Ich bin heute hier, wegen einer Weinverkostung“, stotterte ich leise vor mich hin.
„Ah. Dann sind Sie wohl die Mademoiselle, die zu Jean-Paul möchte“, wusste sie auch sofort Bescheid, was mir fast ein wenig unangenehm war.
Laut rief sie seinen Namen in das Hinterzimmer und es dauerte nicht lange, da tauchte er plötzlich vor mir auf. Ich musste schlucken.
„Schön, dass Sie endlich da sind, Mademoiselle…“
„… Dupont“, ergänzte ich. „Aber Sie können mich auch gerne Sophie nennen.“
„Sophie. Was für ein wunderschöner Name. Er passt perfekt zu Ihnen“, dabei lächelte er mich verschmitzt an und nahm mir wenigstens ein kleines bisschen meiner Unsicherheit. „Kommen Sie mit, ich habe schon etwas vorbereitet.“
Langsam folgte ich ihm durch das Hinterzimmer, das zu einem langen, dunklen Gang führte und schließlich in einer Art Küche mündete, welche aus altem Nussholz gebaut war. Der Boden war aus Naturstein. In einem kleinen Ofen brannte Feuer. Mitten im Raum war ein großer Eichentisch mit etlichen Stühlen, wo bereits verschiedene Weinflaschen und Gläser standen.
„Wo sind denn die anderen?“, traute ich mich schließlich zu fragen.
„Wir sind nur zu zweit. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus“, meinte er etwas verlegen zu mir.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf.
„Setzen Sie sich doch“, bot er mir einen der Stühle an „Ich hoffe, Sie essen Austern. Die passen perfekt zum Pinot Gris.“
Dabei hielt er mir eine Falsche Weißwein vor mein Gesicht.
„Gerne.“
Ich beobachtete ihn, wie er routiniert mit einem kurzen Ploppen den Korken aus der Flasche zog und mir einschenkte. Auf einem Teller mit Eis und Zitronen hatte er die Austern angerichtet, die noch geknackt werden mussten.
„À ta santé.“
Er hielt mir sein Weinglas entgegen, um anzustoßen. Nervosität machte sich in mir breit.
„Wo spucke ich denn den Wein hin?“, fragte ich ihn etwas nervös, als ich mich erinnerte, was ich über Weinverprobungen gelesen hatte. Ich wollte mich ja schließlich nicht blamieren. Jean-Paul schmunzelte spitzbübisch.
„Bei uns auf dem Weingut wird geschluckt und nicht gespuckt. Das war zumindest die Lebensphilosophie meines Großvaters. Er war kein Freund von Verschwendung und wusste das Leben zu genießen.“
Sein Lächeln ließ mich meine Unsicherheit schnell vergessen. Unsere Gläser klirrten kurz aneinander und der gekühlte Weißwein glitt angenehm meine Kehle hinab.
Die Austern waren köstlich. Ihr salziger Geschmack erinnerte an das Meer. Jean-Paul war ein sehr galanter Gastgeber. Etliche angebrochene Flaschen Wein standen mittlerweile vor uns auf dem Tisch und wir waren längst per du. Draußen herrschte bereits die Nacht und im Ofen flackerte das Feuer gemächlich vor sich hin. Der Alkohol hatte mich meine Schüchternheit vergessen lassen. Wir saßen uns gegenüber und plauderten angeregt, als würden wir uns schon ewig kennen. Erst viel zu spät wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr in der Lage war, nach Hause zu fahren. Schlagartig erfüllte mich ein Anflug von Panik.
„Das ist mir jetzt irgendwie unangenehm. Aber ich weiß nicht, wie ich nun nach Hause kommen soll“, stammelte ich unbeholfen vor mich hin und kam mir auf einmal schrecklich dumm vor.
Jean-Paul stand direkt vor mir und unsere Blicke trafen sich. Sanft lächelnd strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Das ist kein Problem. Ich kann dir für heute Nacht eines der Gästezimmer anbieten“, meinte er mit ruhiger Stimme zu mir.
Ich zögerte nicht lange und stimmte zu. Eine Wahl hatte ich eh nicht.
Wenig später standen wir vor der Tür des Zimmers. Es war höchste Zeit, sich zu verabschieden. Aber keiner von uns beiden wollte, dass es nun zu Ende ging.
„Bonne nuit“, startete ich einen Versuch, der jedoch kläglich scheiterte.
Ehe ich es so recht fassen konnten, berührten sich unsere Lippen sanft und Jean-Paul drückte mich an sich. Ich konnte die Armmuskeln unter seinem Shirt spüren. Vorsichtig bugsierte er mich in das kleine, gemütlich eingerichtete Gästezimmer und schloss die Tür hinter uns. Er war nicht nur beim Wein ein echter Genießer. Langsam knöpfte er mir die Bluse auf, die schließlich lautlos auf den warmen Eichenfußboden glitt. Fast zeitgleich befreite ich ihn von seinem Shirt. Er trug eine kleine Narbe am Bauch, die ich sanft streichelte, bevor wir uns auf die Matratze des antiken Bettes fallen ließen, das mit einer rosaroten Tagesdecke belegt war. Während wir eng nebeneinanderlagen, wanderte meine Hand über seinen Bauch immer weiter hinab. Er schloss seine Augen und genoss es, während sein Atem sich etwas beschleunigte.
Als ich später in der Nacht an seinen nackten, warmen Körper geschmiegt in seinen Armen einschlief, musste ich kurz mit einem Schmunzeln auf den Lippen an die Lebensphilosophie von Jean-Pauls Großvater denken.
***
Mit ihrem kleinen, ledernen Tagebuch auf dem Schoß saß Sophie auf ihrer Lieblingsbank direkt am Ufer der Lauch, als sie den letzten Satz ihrer Geschichte dort hineinschrieb. Das Wasser des Flusses floss beruhigend vorbei und die letzten Strahlen der Abendsonne beleuchteten die Kulisse der bunten Stadthäuser Colmars. Neben ihr stand ein Pinot Gris, den sie vorhin im Marché couvert bei Jean-Paul gekauft hatte. Zu was eine Flasche Weißwein alles inspirieren konnte, dachte Sophie schmunzelnd bei sich und war ganz in Gedanken versunken. Ob es zwischen ihr und Jean-Paul im realen Leben wohl jemals so weit kommen würde?
„Ich liebe dieses Viertel. Man hat das Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben. Alles läuft hier etwas gemächlicher“, sprach plötzlich eine angenehm ruhige Männerstimme hinter ihr.
Es war der sympathische Weinhändler aus der Markthalle, der sich plötzlich neben sie auf die Bank setzte. Sie nickte zustimmend, traute sich allerdings nicht so recht, ihm in die Augen zu schauen, obwohl sie nichts lieber gemacht hätte.
Text: Coco Eberhardt
Editing: Coco Eberhardt
Proofreading: Coco Eberhardt
Publication Date: 05-01-2022
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Dedication:
Und manchmal ist Liebe so schüchtern, dass sie als Freundschaft verkleidet kommt. (Unbekannt)