Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Nackt. Nicht alles an ihr war perfekt. Trotzdem gefiel ihr im Großen und Ganzen das, was sie da sah.
„Mensch Betty, du hast aber abgenommen. Du siehst super aus. Wie hast du denn das gemacht?“, hatte ihre ehemalige Kollegin Luzi neulich völlig begeistert zu ihr gesagt.
Und sie war nicht die Einzige, der Bettys enormer Gewichtsverlust aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte Luzi es gut gemeint, als sie das gesagt hatte. Dachte, es wäre ein Kompliment für Betty. Doch Betty hasste es regelrecht, wenn jemand so etwas zu ihr sagte. Nicht nur deshalb, weil sie nie so recht wusste, was sie darauf antworten sollte.
Du siehst super aus.
Wieder musst sie an diese Worte denken, als sie sich so betrachtete. Ob Luzi das auch noch sagen würde, wenn sie Betty nackt sehen würde? Die Dehnungsstreifen waren immer noch zu sehen und sie würden wohl auch nie wieder ganz verschwinden. Ihre Haut war an manchen Stellen schlaff. Und dünner sein bedeutete auch nicht, dass man keine Orangenhaut mehr hat. Heißt schlank sein eigentlich automatisch, dass man super aussieht? Sie war doch kein anderer oder gar ein besserer Mensch geworden. Nur eben leichter. Und mit jedem Kilo, das sie leichter geworden war, war auch ihr Leben etwas leichter geworden.
Leicht hatte sie es vorher wahrlich nicht gehabt. Ihre Mutter ein Pflegefall, um die sie sich in nahezu jeder freien Minute kümmern musste. Und dann noch der Job, den sie wegen des Geldes brauchte, aber eigentlich noch nie gerne gemacht hatte. Und ihr Mann, dessen Liebe sich über die Jahre verloren hatte und mehr von ihr forderte, als sie geben konnte. All das hatte ihre Energie geraubt, die sie mit Essen kompensieren musste, um diese Zeit zu überleben. Alle hatten es gesehen und mitbekommen, aber damals hatte keiner zu ihr so etwas gesagt wie: „Mensch, Betty, du siehst ganz schön fertig aus. Alles in Ordnung bei dir? Kann ich irgendetwas für dich tun?“ Was hasste sie doch diese Oberflächlichkeit, die sich nur auf Äußerlichkeiten zu beschränken schien.
Wie hast du denn das gemacht?
Luzis Frage schoss ihr wieder durch den Kopf. Schon oft hatte sich Betty mit Diäten gequält, weil sie dachte, sie müsste irgendeinem Ideal entsprechen. Aber Diäten führten bei ihr eher ins Gegenteil, wie sie feststellen musste. Und wenn der Erfolg dann geplatzt war, ging es ihr meist schlechter als vorher.
Mittlerweile hatte Betty akzeptiert, dass das Leben ein Auf und Ab war. Was eben auch für ihren Körper galt. Er war ihr ein guter Freund geworden. Nicht perfekt, aber ehrlich. Ein Freund, auf den sie gerne hörte, weil er ihr recht schnell sagte, was gut oder schlecht für sie war. Und das konnte man nicht am Ausschlag einer Körperwaage messen. Wie hatte Betty das also gemacht?
„Meine Mutter ist gestorben, ich habe meinen Job gekündigt und mich scheiden lassen. Dann habe ich meine Waage bei Ebay verkauft, die Diätshakes entsorgt und mich stattdessen für einen Salsatanzkurs und einen Indischkochkurs angemeldet. Ich versuche auf mich und mein Herz zu hören, statt auf andere. Und mir ist es völlig egal, wie du meine Figur findest.“
Das wäre die Antwort, die sie Leuten wie Luzi manchmal gerne zur Antwort geben würde. Aber das traute sie sich nicht. Noch nicht…
Ein letztes Mal betrachtete sie sich nackt im Spiegel, bevor sie sich ihre Klamotten überzog und mit einem guten Gefühl zu ihrer neuen Arbeitsstelle ging.
Text: Coco Eberhardt
Editing: Coco Eberhardt
Proofreading: Coco Eberhardt
Publication Date: 01-23-2022
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Dedication:
Tue deinem Körper etwas Gutes, damit die Seele Lust bekommt, darin zu wohnen. (Teresa von Avila)