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Pappardelle mit Chianti

Ich wusste sofort, wer sie war, als sie dort an der staubigen Landstraße stand, umgeben von Pinienbäumen und Ginstersträuchern. Mit meiner roten Vespa hielt ich direkt neben ihr. Sie sah anders aus als sonst. Ihr langes, schwarzes Haar war einer modernen Kurzhaarfrisur gewichen und ließ sie ein bisschen erwachsener wirken. Außerdem trug sie eine blaue Caprihose und ein maritim wirkendes Shirt, was äußerst ungewöhnlich für sie war, denn ich kannte sie sonst nur mit noblen Designer-Kleidern. Mit einer wuchtigen Sonnenbrille versuchte sie ihre Augen vor mir zu verbergen. Doch die Farbe ihrer Regenbogenhaut brauchte ich nicht zu sehen, denn sie war mir so vertraut wie meine eigene. Der pinke Strohhut mit der ausladenden Krempe schützte sie nicht nur vor der Sonne, sondern auch vor neugierigen Blicken. Ich wusste alles über sie, doch sie nichts über mich. Wie ein Schatten war ich ihr so oft auf Schritt und Tritt gefolgt, ohne dass sie je Notiz von mir genommen hätte. Und nun standen wir uns hier in der Toskana einfach so gegenüber.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich sie ohne Befangenheit.

„Mein Fahrrad hat einen Platten“, gab sie mir zur Antwort.

Leichte Verzweiflung klang aus ihrer Stimme.

„Ich bin auf dem Weg nach Porto Santo Stefano. Wenn Sie wollen, kann ich Sie bis dorthin mitnehmen“, bot ich ihr selbstbewusst an.

Sie zögerte kurz. Wusste nicht so recht, ob sie dieses Angebot annehmen sollte. Konnte sie mir trauen? Doch ihre Not siegte über die Angst.

„Ja“, stimmte sie schließlich etwas schüchtern zu.

„Sie müssen sich an mir festhalten“, meinte ich zu ihr, als wir schließlich auf dem Roller saßen.

Wortlos gehorchte sie mir und legte ihre Arme um mein Becken. Es war schön, sie so nah an mir zu spüren. Ich startete den Motor und beschleunigte in sportlicher Fahrweise, was ihr einen kleinen Juchzer entlockte und mir ein mildes Lächeln aufs Gesicht zauberte. Ich hatte fast das Gefühl, als wäre das ihre erste Fahrt auf einer Vespa. So was hatte sie wohl auch gar nicht nötig.

„Wo soll ich Sie absetzen?“, versuchte ich gegen den Fahrtwind anzukommen, während wir gerade auf der warmen Teerstraße in den Ort hineinfuhren.

„Egal“, drang ihre Antwort rauschend an mein Ohr.

„Es kann Ihnen doch nicht egal sein, wo ich Sie absetzen soll?“

„Doch“, meinte sie zu mir und aus ihrer Stimme klang auf einmal eine gewisse Abenteuerlust, die ich ihr nicht zugetraut hätte.

Ich beschleunigte wieder. Mit einem kurzen Schrei fasst sie sich an den Kopf und konnte so gerade noch ihren Hut halten, der beinahe davon geweht wäre.

„Wo sind wir?“, wollte sie wissen, als ich den Roller in einer kleinen Ausbuchtung am Straßenrand geparkt hatte.

Sträucher und kleine Bäume säumten den Weg auf dem kleinen Hügel.

„Das wirst du gleich sehen“, antwortete ich frech.

„Was fällt Ihnen ein mich einfach so zu duzen“, empörte sie sich.

„Sag bloß, das stört dich? Wie heißt du denn?“, wollte ich von ihr wissen, obwohl ich ihren Namen bereits kannte und war gespannt auf ihre Antwort.

„Ähm… Felicia.“

Ich wusste, dass es gelogen war, doch spielte ich ihr Spiel mit.

„Felicia. Was für ein schöner Name. Ich bin Giovanni. Kannst mich aber auch einfach bloß Gio nennen, wie es meine Freunde machen“, meinte ich mit einem kühnen Lächeln zu ihr.

„Nun sind wir also nicht nur per du, sondern auch schon Freunde?“, erwiderte sie spitz, während wir langsam zu der kleinen Bucht hinabkletterten, die unter uns lag.

Einer meiner liebsten Orte hier, auch deshalb, weil er vom Tourismus bisher noch verschont geblieben war. Der Strand war feinkörnig und das Meer wirkte hier irgendwie besonders magisch. Blau. Klar. Intensiv. Ich ließ mich in den warmen Sand fallen. Mit großen Augen blickte sie mich an. Sie hatte ihre Sonnenbrille mittlerweile abgesetzt, womit sie sich ein Stück verletzlicher gemacht hatte. Dann legte sie sich vorsichtig neben mich.

„Wenn die Sonne ins Meer versinkt und sich ihr oranger Schatten darin noch ein letztes Mal spiegelt, ist dieser Ort der schönste auf Erden“, erklärte ich ihr.

Sie lächelte ruhig. Zärtlich strich ich ihr über den Arm, sodass sie eine leichte Gänsehaut bekam. Ich spürte, dass ihr diese Berührung gefiel. Doch war sie immer noch etwas angespannt. Sie hatte Angst. Angst vor zu viel Nähe. Angst davor, sich zu etwas hinreißen zu lassen, was sie später bereuen würde.

„Ich habe fürchterlichen Hunger“, durchbrach sie die stille Vertrautheit zwischen uns, die sich so selbstverständlich angefühlt hatte.

„In der Osteria von Paola gibt’s die besten Pappardelle“, meinte ich zu ihr.

„Keine Osteria“, bat sie mich mit flehendem Blick und ich wusste auch, warum.

„Gibt´s auch zum Mitnehmen.“

Wenig später saßen wir mit zwei Aluschüsseln voll Pappardelle und einer Flasche Chianti an dem kleinen Tisch auf dem Balkon meiner Wohnung am Hang, von wo aus man direkten Blick auf den Hafen hatte. Es begann bereits langsam zu dämmern und ich konnte nicht so recht glauben, dass sie einfach mit mir gekommen war und nun tatsächlich neben mir saß.

„A chi ci vuole male“, prostete ich ihr mit dem Rotweinglas zu, was sie mit einem milden Lächeln kommentierte.

„Was machst du eigentlich beruflich?“, wollte sie schließlich von mir wissen.

„Ich bin Fotograf“, antwortete ich ihr selbstsicher, wohl in dem Wissen, dass dies nur ein Teil der Wahrheit war.

„Und was fotografierst du?“

„In erster Linie Menschen. Die Seele eines Menschen auf einem Foto einzufangen, darin besteht die wahre Kunst der Fotografie.“

„Meinst du… Du könntest…“, sprach sie ihr Anliegen nicht ganz aus, doch wusste ich genau, was sie sagen wollte und stimmte nickend zu.

Ich konnte mein Glück kaum fassen. So eine Chance hätte ich mir nie erträumen lassen. Ich holte sofort meine Spiegelreflexkamera und legte los. Positionierte sie fachmännisch, wie ich es gelernt aber schon lange nicht mehr gemacht hatte. Sie folgte meinen Anweisungen, saß geradezu graziös auf dem Stuhl des Balkons, während die Sonne langsam im Meer versank.

„Fantastisch“, kommentierte ich, während ich wie wild auf den Auslöser drückte und gar nicht genug von ihr bekommen konnte.

„Kann ich sie sehen?“, wollte sie wissen, als ich endlich fertig war.

Ich setzte mich dicht neben sie und zeigte ihr die Fotos auf dem kleinen Display der Kamera.

„Sie sind wunderschön geworden“, kommentierte sie glücklich, schaute mir dabei tief in die Augen und wollte weiter wissen: „Meinst du, du hast meine Seele auf den Fotos eingefangen?“

Ich erwiderte ihren Blick und auf einmal wurde mir heiß und kalt. Geistesabwesend legte ich den Fotoapparat auf den Tisch, nahm ihre warme Hand in meine und bewegte wie in Zeitlupe meine Lippen mit halbgeschlossenen Augen auf die ihren zu. In diesem Moment wusste ich, dass ich alles riskierte. Doch zu meiner Überraschung wies sie mich nicht ab.

 

*

 

Es war noch früh am Morgen, als ich wieder erwachte. Eine Brise vom Meer ließ die weißen Leinenvorhänge wie aufgeblähte Hochzeitskleider in mein Schlafzimmer wehen. Sie war die ganze Nacht bei mir geblieben. Viel geschlafen hatten wir beide nicht. Ihr Duft lag wie Parfum auf dem Kissen neben mir, obwohl sie sich bereits längst, ohne ein Wort zu sagen, davongeschlichen hatte. Ich konnte sie immer noch spüren. Ihre Nähe. Die Wärme ihrer zarten Haut. Die zügellose Leidenschaft, die so gar nicht zu ihrem meist kühlen, zurückhaltenden Charakter passen wollte, der schnell mit Arroganz verwechselt werden konnte. Ich rappelte mich auf, war immer noch nackt und griff nach der Kamera. Versonnen schaute ich mir noch mal die Fotos von ihr an, wohl auch deswegen, weil ich mich versichern wollte, dass das alles kein Traum gewesen war. Auf den letzten Fotos lag sie unbekleidet schlafend in meinem Bett, wirkte sanft und friedlich. Sie wusste nicht, dass ich diese Fotos von ihr gemacht hatte. Dadurch hatte ich nun die Macht erlangt, ihr Leben zu zerstören. Viel Geld würde mir das Revolverblatt für das ich arbeitete, dafür bezahlen. Wie oft wurde ich schon auf sie angesetzt? Diese Begegnung war für mich wie ein Sechser im Lotto.

 

*

 

Prinzessin auf Abwegen, las ich die nächsten Tage als große Überschrift in der Zeitung.

 

Knapp einen Tag lang war die Prinzessin verschwunden, die derzeit mit ihrer Familie Urlaub auf ihrer Jacht in der Toskana macht. Niemand wusste, wo sie war. Sie hatte sich beim Wandern nahe der Ortschaft Porto Santo Stefano verirrt, so ließ das Königshaus verlauten. Mehr Details zu diesem Vorfall wurden nicht bekannt gegeben. Man sei glücklich, dass die Prinzessin wohlbehalten zurück sei und nun ihrer Verlobung mit Prinz Charlton nichts mehr im Wege steht.

 

Intensiv betrachtete ich das Foto, das neben dem Artikel abgedruckt war. Sie trug wieder eines ihrer edlen Kleider und stand wie eine Galionsfigur neben ihrem Verlobten. Doch sah ich in ihr nun auch etwas anders. Ich sah vor mir das verletzliche Mädchen, das auf der staubigen Landstraße auf Hilfe gewartet hatte. Ich sah die junge Frau, die aus dem goldenen Käfig versuchte hatte auszukommen. Ich sah ihre Seele.

Ich weiß nicht, was mich davon abgehalten hatte, die Fotos zu Geld zu machen. Als erfolgreicher Paparazzo war ich nicht gerade für meine Pietät gekannt. Ich konnte es mir nur so erklären, es war der Zauber einer Nacht, der alles verändert hatte.

 

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Publication Date: 10-23-2021

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Dedication:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne... (Hermann Hesse)

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