Cover

Titel

 

KUSS DER SCHAMANENTOCHTER

 

REVOLTE,

VERLORENER SCHATZ

UND SCHMUGGLER

 

BUCH 2

DIVA UNVERZAGT

 

Copyright ©2020 Peter Bernhardt

 

Titel der englischen Originalausgabe:

 

Kiss of the Shaman’s Daughter

Revolt, Lost Treasure, and Smugglers

Book 2

Diva Undaunted

 

Second Place

2022 Arizona Authors Association Literary Contest

 

Copyright ©2010 Peter Bernhardt

 

 

Alle Figuren, Organisationen und Vorgänge in diesem Roman sind entweder ein Produkt der lebhaften Fantasie des Autors oder fiktional verwendet.

 

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk darf weder in Teilen noch im Ganzen ohne die vorherige schriftliche Zustimmung des Autors genutzt oder reproduziert werden, abgesehen von kurzen Auszügen, die in Besprechungen oder Literaturkritik zitiert werden.

 

 

https://sedonauthor.com

 

 

  1. Auflage 2020

 

Übersetzung ins Deutsche vom Autor

 

 

Für Marilyn

 

 

 

 

Ich möchte mich herzlich bei den Mitgliedern der Sedona Writers Critique Group, des Internet Writing Workshops und meinen Betalesern für ihre konstruktive Kritik bedanken, die diesen Roman ungemein verbesserte.

 

Fachkundige Beratung von Kerry Taliaferro, vormaliger Korrepetitor an der Suttgarter Oper, und Ed Garrett, Archäologe, ermöglichte es mir authentisch über Oper, Archäologie, die Pueblo Indianer und indianische Kultur zu schreiben.

 

Besonders dankbar bin ich für Marilyns scharfe Einsichten die mich zu höchsten Leistungen anspornten, für ihr wohlüberlegtes Feedback bei der Geburt jedes Kapitels und für ihre standhafte Unterstützung.

 

Günter Forster feilte an meinen deutschen Sprachfähigkeiten, die nach über fünzig Jahren in den USA etwas eingerostet sind, wofür ich mich herzlich bedanke.

 

 

 

 

Prolog

 

Er ergreift ihre Hand, zieht sie durch die Eingangstür und tritt schnell hinter sie. Er schubst sie vorwärts in den Raum und lässt den schweren Türriegel hinter ihnen einschnappen. Sie fühlt sich im dämmrigen Raum gefangen und schaut sich in Panik um. Auf den ersten Blick kann sie nur ein paar schmale Lichtstrahlen zwischen Brettern an einer Wand erkennen, die eine ehemalige kleine Öffnung abdecken. Könnte sie vielleicht die Bretter losreißen und entfliehen?

Während ihre Augen sich dem fahlen Licht anpassen, bemerkt sie seinen lüsternen Blick. Er streckt seine Hand aus. »Weißt du, was das ist?«

»Samen der Sonne«, antwortet sie automatisch.

»Gib mir deine Hand.«

Sie gehorcht.

»Das ist ein goldenes Armband.« Er schiebt es auf ihr Handgelenk. »Du kannst es tragen, immer wenn du mich hier besuchst, aber du darfst es nicht mitnehmen.«

Das anmutige, goldene Armband sieht atemberaubend auf ihrer dunklen Haut aus, aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um von schönen Dingen abgelenkt zu werden.

»Ich bin dein Freund.« Er legt seine Hand auf ihr Handgelenk. »Wenn du ein gutes Mädchen bist, wird es dir und deiner Familie gut gehen. Hast du verstanden?«

Sie versteht das nur zu gut und spielt auf Zeit. »Ich möchte Ihnen von morgen erzählen.«

Seine Finger schließen sich eng um ihr Handgelenk und er zieht sie gewaltsam an sich. »Erzähl es mir später. Es gibt etwas, das nicht bis morgen warten kann.«

Sie wendet ihr Gesicht gerade rechtzeitig ab, um seinen Lippen auszuweichen. Sie versucht, ihn wegzustoßen. Sie ist jung und kräftig, aber die Größe und die Lust des Wüstlings machen ihn stärker. Mit einem Arm um ihre Taille drückt er sich gegen ihren Körper. Ihre schmerzenden Brüste lassen sie zurückschrecken, und sie spürt, wie er unter ihrer Manta fummelt.

Verzweifelt taumelt Teya und stößt an einen Tisch. Er drückt sie dagegen und zwingt sie, sich rückwärts zu beugen. Während sie aus dem Gleichgewicht gerät, lässt er seine Hand ihren Oberschenkel hinaufgleiten und erforscht gierig die weichen Falten ihres Fleisches. Ihre Kehle schnürt sich zu und erstickt den Schrei, der in ihr aufsteigt. Sie kann ihn nicht aufhalten.

Dann durchströmt sie eine starke Welle von Entschlusskraft und Stärke. Ich bin die Tochter eines Schamanen und Nachkomme eines stolzen Volkes. Ich werde diesem schrecklichen weißen Mann nicht nachgeben. Wenn ich muss, werde ich ihn bis zum Tod bekämpfen.

 

Kapitel 1: Das Wiedersehen

 

 

Santa Fe, New Mexico, Montagnachmittag, 6. August 1990

 

Sobald er das Sandia Hotel erreichte, hörte Charles Slater auf zu laufen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und suchte die Straße hinter sich ab. Keine Spur von den zwei Männern, die ihm gefolgt waren, sondern nur Touristen die durch die Innenstadt von Santa Fe bummelten. Er betrat die Hotellobby, wo ein großes Banner über dem Empfang die Archäologen von New Mexico willkommen hieß. Da er spät dran war, eilte er zu den Tagungsräumen. Ein Schild an der Tür des Santa Clara Raumes kündigte einen Vortrag über die Aufstände der Puebloindianer an. Slater ging hinein.

Obwohl der rost-orangefarbene Teppichboden seine Schritte zum nächsten Stuhl abdämpfte, drehten sich ein paar Leute in der hinteren Reihe um. Er musterte den Raum—sieben Reihen mit jeweils weniger als zehn Stühlen, kein Mittelgang, zwei Hinterausgänge. Nicht gut, außer es gab noch einen anderen Weg hinaus. Er entspannte sich ein bisschen, als er vorne ein Notausgangskennzeichen über einer Nebentür erspähte.

Der Dozent, graues Haar und dicke Brillengläser, war kaum über dem Pult sichtbar, las mit eintöniger Stimme aus einem Manuskript vor. Die Zuhörer kämpften offensichtlich gegen Langeweile an. Doch Slater langweilte sich nicht. Er schaute andauernd auf die Hinterausgänge. Gerade als er dachte er hätte seine Verfolger abgehängt, trat ein stämmiger Kerl durch die linke Hintertür herein und blieb dort stehen. Slater beobachtete die andere Seite. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er einen glatzköpfigen Mann in Jeans erblickte, der den rechten Hinterausgang bewachte.

Er hatte beide vorher unter den Scharen von Touristen gesehen, die sich das riesige Angebot an indianischem Schmuck auf der Santa Fe Plaza anschauten. Sie waren ihm mehrmals über den Weg gelaufen und als sie wieder auf einer Nebenstraße von der Plaza auftauchten, wurde ihm klar, dass sie ihm auf der Spur waren. Ihre Gegenwart an beiden Hinterausgängen schloss die Möglichkeit aus, es handele sich um Zufall. Wer waren diese Kerle und was hatten sie herausbekommen?

Slater unterdrückte den Drang, rasch die zwölf Meter zum Notausgang zu eilen. Um die aufsteigende Panik zu mindern, atmete er einmal tief durch, und dann nochmal. Er wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn, stand auf und näherte sich dem Podium. In sein Manuskript vertieft, las der Dozent weiterhin eintönig vor, bis das Germumel der Zuhörer seine Aufmerksamkeit erregte. Als er aufschaute, hob Slater die Hand.

Der Dozent wies ihn ab. »Fragen erst zum Schluss, bitte.«

Drei Meter bis zum unbewachten Notausgang. Slater rannte zu der Tür und drückte auf die Stahlstange. Aus dem Augenwinkel bemerkte er ein Durcheinander am hinteren Ende des Raumes. Er stürmte so heftig durch die geöffnete Tür, dass er auf die Flur Wand aufprallte. Der Knall, mit dem die Tür zuschlug dröhnte im ganzen Gang nach. Putzschichten prasselten auf ihn ein. Er rappelte sich hoch und stieß gegen einen Tisch und Stühle, die entlang der Wand standen. Mit großer Anstrengung schob er den schweren Tisch vor die Tür, schnappte sich einen Stuhl und keilte ihn zwischen dem Tisch und der gegenüberliegenden Wand ein. Genau in diesem Moment sprang die Tür einen Spalt auf und krachte gegen die Barrikade.

Slater hörte zwei zornige Männerstimmen. Höchstens eine Minute bis seine Verfolger durch die Hinterausgänge kamen. Er floh den Gang hinunter zur Lobby Bar. Da konnte er sich nicht verstecken. Er spurterte durch die Lobby, an mehreren Wandtelefonen und dem Hotelrestaurant vorbei, bis er eine Tür am hinteren Ende eines Flurs erreichte. Das müsste ein Ausgang sein. Er drückte die Klinke herunter. Da nichts geschah, warf er seine Schulter gegen die Stahltür. Sie rührte sich nicht.

In die Lobby zurückkehren war zu riskant. Das Restaurant war seine einzige Hoffnung. Mit wenigen Schritten erreichte er eine Glastür, weiß beschriftet Chez Paul. Er öffnete die Tür und trat herein. Die meisten Tische waren mit Gästen besetzt, die ein spätes Mittagessen genossen. Vielleicht ein andermal hätte Slater die gemütliche Atmosphäre und die gedämpften Unterhaltungen als angenehm empfunden, doch heute nicht.

Die Empfangsdame kam ihm entgegen. »Haben Sie reserviert, Sir?«

»Äh . . . nein. Ich treffe mich mit einem Freund. Darf ich mich mal umschauen?«

»Aber selbstverständlich.«

Er lief um die Tische herum und gab vor, er suche nach jemanden. Auf dem Weg zum Ausgang auf die Straße, ging er an einer Tür zu einem Nebenraum vorbei. Sie könnte zu einem sicheren Versteck führen während seine Verfolger durch das Restaurant liefen und die Straße absuchten. Einer inneren Stimme folgend, öffnete er die Milchglastür.

Eine attraktive junge Frau mit langem, dunklem Haar, das auf ihre rote Bluse fiel, legte ihre Gabel hin. Als sich ihr Begleiter umdrehte, starrte ihn Slater fassungslos an. Obwohl sein Haar jetzt braun und nicht mehr blond war und er sich seit dem Jurastudium einen Schnurrbart wachsen ließ, erkannte Slater sofort Rolf Keller, der Mann der ihm sein Diplom gekostet hatte. Verdutzt trat er ein und schloss die Tür hinter sich.

♫ ♫ ♫

Rolf starrte den Eindringling an: Er war schlank, trug eine ausgebeulte Cargohose, dazu ein marineblaues Freizeithemd. Sein Gesicht war sonnengebräunt und nicht mehr blass wie damals während dem Jurastudium. War das wirklich Charles Slater, sein ehemaliger Klassenkamerad, der Wochen vor dem Abschluss der Schule verwiesen wurde?

»Das gibt’s doch nicht―Rolf Keller, mein Kumpel vom Jurastudium«, sagte Slater, nach Luft ringend.

Immer noch derselbe Klugscheißer dachte Rolf, während er um Fassung rang. »Was machst du denn hier?«

Sylvia schaute ihn verwundert an. War sie wegen der Unterbrechung oder seinem Versäumnis den Eindringling vorzustellen verärgert?

Slater setzte sich auf einen Stuhl, immer die Tür im Blick, und wandte sich Sylvia zu. »Ich heiße Charles Slater.«

»Sylvia Mazzoni.«

»Was führt euch nach Sante Fe?«, fragte Slater.

»Sylvia singt in der Oper«, sagte Rolf. »Wie steht’s mit dir? Hast du gewußt, dass ich hier bin?«

»Nein, reiner Zufall . . . doch bin ich froh, dass ich hier hereingestolpert bin. Ich sitze etwas in der Klemme, und du bist vielleicht gerade der den ich brauche.«

»Machst du Witze?«

Sylvia starrte sie beide an. »Wollt ihr mir etwa verraten, was hier vorgeht? Was habt ihr gegeneinander?«

»Ich wurde fälschlich beschuldigt, ich hätte meinen Artikel für die juristische Fachzeitschrift plagiiert und Rolf war der Chefredakteur. Daraufhin bin ich aus Brandenburg Law School hochkantig rausgeflogen.«

»Das stimmt nicht, und das weißt du auch.«

Slater hob die Hand. »Du kannst ihr deine Version später erzählen. Du weißt genau, dass ich ungerecht behandelt wurde. Nur zwei Wochen bis zum Abschluss, und sie haben mich entlassen wegen etwas, das ich nicht getan habe.« Er deutete auf ihre Teller. »Bitte esst weiter.«

Sylvia betrachtete ihr Lachsfilet, aber machte keine Anstalten ihr Besteck in die Hand zu nehmen. Rolf ignorierte sein halbgares Filet Mignon. Den Appetit verloren, legte er das Messer und die Gabel weg. Das war’s wohl mit einem intimen Rendezvous, das er für dieses Wiedersehen mit Sylvia geplant hatte.

Mit dem Gedanken er könnte vielleicht das Beste aus dieser heiklen Situation machen, fragte er beiläufig: »Also welches Studium hast du dann gewählt?«

»Ich bin ein . . .« Slater starrte an ihm vorbei.

Rolf drehte sich um. Eine Bedienung stand am Eingang und sah Slater an. »Darf ich Ihnen eine Speisekarte bringen?«

»Nein, danke.«

Die Bedienung zuckte mit den Achseln und zog die Tür hinter sich zu.

Slater atmete tief durch. »Ich bin Professor für Archäologie in der Abteilung Anthropologie an der Universität in Albuquerque. Aber während den Semesterferien wohne ich hier in Santa Fe.« Er betrachtete Rolf. »Ich muss wirklich dringend mit dir sprechen.« Er zögerte und sah kurz zu Sylvia hinüber.

Als Rolf nicht reagierte, fuhr Slater fort: »Ich habe schon immer die Geschichten über verlorene Schätze aus der spanischen Kolonialzeit bezweifelt, aber über das Wochenende musste ich meine Meinung vollkommen ändern.«

Rolf setzte sein Glas abrupt ab.

Slater blickte auf Rolf, dann auf Sylvia, dann im Raum umher. Rolf bemerkte Sylvias fragenden Blick. Rolf spürte aufsteigende Skepsis, als er sich an Slaters verschlagenes Benehmen während dem Jurastudium erinnerte.

Slater lehnte sich nach vorn. »Ich habe einen Fund gemacht . . . nun ja, sagen wir mal ein einzigartiger Fund, was ich nie für möglich gehalten hätte.«

»Ich bin Anwalt, Sylvia ist Opernsängerin, und du bist der Experte. Warum sagst du uns das alles?«

»Weil ich in der Klemme sitze. Mir sind zwei Schlägertypen auf den Fersen. Ich muss sie abschütteln. Deshalb bin ich hier reingeplatzt.«

»Wer ist hinter dir her und aus welchem Grund?«

Slater hatte anscheinend die Frage nicht gehört. Er starrte über Rolfs Schulter auf die Tür. Dann huschten seine Augen wie wahnsinnig im Raum umher. Rolf drehte sich um. Die Glastür zeigte einen verschwommenen Umriss von drei sich nähernden Gestalten.

Rolf wandte sich um. Slater saß wie erstarrt auf dem Stuhl.

»Schnell. Unter den Tisch!«

Slater duckte sich unter das weiße Tischtuch, das fast bis zum Boden hing. Rolf winkte Sylvia zu sich heran. Die Tür öffnete sich. Die Empfangsdame stand mit zwei Männern auf der Schwelle.

Verlegenheit vortäuschend, nahm Rolf die Hand von Sylvias Schulter weg. »Wie wär’s wenn Sie anklopften, bevor Sie hier hereinplatzten?«

»Es tut mir leid, Sir. Die Gentlemen hier suchen dringend nach jemandem.«

Die zwei Männer—der eine kräftig mit blondem Haar, der andere muskulös und glatzköpfig—kamen Rolf nicht als Gentlemen vor.

Der blonde Mann präzisierte: »Mitdreißiger, schlank, trägt Khakis, marineblaues Hemd. Haben Sie ihn gesehen?«

Rolf schüttelte den Kopf. »Nein, haben wir nicht. Wie man unschwer erkennen kann, haben wir keinen Besuch nötig.«

Die Empfangsdame schaute verblüfft. Falls die Bedienung ihr von dem Besucher erzählt hatte, ließ sie sich nichts davon anmerken. »Entschuldigen Sie die Störung.«

Der Blonde blockierte die Tür und schaute sich gründlich um. Rolf konnte Slaters Atem hören. Gerade als er dachte, die anderen hätten es auch gemerkt, traten die drei von der Tür zurück und gingen.

Slater kroch mit hochrotem Kopf unter dem Tisch hervor. Er stützte sich am Tischbein und verhakte sich dabei am Tischtuch. Die Gläser tanzten und verschütteten das Wasser auf den Tisch. Slater setzte sich wieder, behielt aber die Tür im Auge.

Er atmete auf. »Das war knapp. Danke.«

Mit ihrer Serviette wischte Sylvia den Wasserfleck weg. Rolf sah über den feuchten Fleck vor sich hinweg. »Die kamen mir wie Gangster vor. Warum gehst du nicht zur Polizei?«

»Vielleicht sollte ich.« Er hielt für einen Moment inne, dann fragte er: »Rolf, wie lange bleibst du in New Mexico? Ich brauche wirklich dringend Hilfe.«

»Wenn du juristischen Rat über Archäologie suchst, dann bist du an den Falschen geraten. Das ist ein Fach, von dem ich nichts verstehe.«

»Das ist es nicht. Irgendjemand hat Wind davon bekommen, dass ich einen großen Fund gemacht habe und hat die Schlägertypen auf mich gehetzt. Hör mal, Rolf, normalerweise würde ich dich nie um Hilfe bitten, aber es muss einen Grund dafür geben, dass ich auf dich hier gestoßen bin. Ich bin in arger Not, und ich bitte dich: hilf mir aus der Klemme. Zumindest, denk doch darüber nach. Was beim Jurastudium passiert ist, das wäre vergeben und vergessen—reiner Tisch gemacht.«

»Zum Vergeben gibt es gar nichts«, blaffte Rolf. Doch wie schnell Slater seine Fassung wiedererlangt hatte nachdem er mit knapper Not entkommen war―das verlangte Rolfs Respekt, egal wie sehr er sich dagegen wehrte. Außerdem wäre Sylvia mit der Theaterprobe voll ausgelastet, sodass er viel freie Zeit zur Verfügung hätte, um sich mit so etwas Ungewöhnlichem zu befassen.

Also konnte Rolf seine Neugierde als Prozessanwalt nicht zügeln. »Aber ich bin bereit, dir zuzuhören.«

»Aber nicht hier.« Slater schaute auf seine Uhr. »Jetzt ist es zwei. Kannst du mich um vier bei meiner Bank treffen? Ich muss dir etwas zeigen.« Er holte einen Kuli hervor und schrieb auf eine Papierserviette, welche er Rolf reichte. »Das ist die Adresse.«

»Ich überleg’s mir«, sagte Rolf.

Slater ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt, und sah hinaus. Dann drehte er sich um. »Wir sehen uns um vier.« Er warf Sylvia einen Blick zu. »Euch beide.«

Mit einem unheimlichen Geräusch zog er die Tür hinter sich zu. Passend für einen Geist aus der Vergangenheit, dachte Rolf.

 

 

 

 

 

Kapitel 2: Die Wiedergutmachung

 

 

Santa Fe, Montagnachmittag, 6. August 1990

 

Nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte, überprüfte Slater das Restaurant. Von seinem Beobachtungsstand hinter einer getopften Birkenfeige bemerkte er mehrere leere Tische. Die Mittagsmahlzeit war fast vorbei. Da er nichts Außergewöhnliches wahrnahm, trat er hinter dem Baum hervor und steuerte auf den Ausgang auf die Straße zu, blieb dann aber stehen, als die Empfangsdame auf ihn zukam.

Sie starrte ihn an. »Zwei Männer haben vorher nach Ihnen gesucht. Ich wusste gar nicht, dass Sie noch da sind, Sir.«

»Danke für Ihre . . . Diskretion.«

Sie nickte.

»Sind die Männer weg?«

»Ja.«

»Haben Sie zufällig bemerkt, in welche Richtung sie gegangen sind?«

Sie zögerte; offensichtlich überlegte sie, was sie ihm sagen wollte. Schließlich sagte sie: »Der eine ging zur Lobby zurück. Der andere lief auf die Straße hinaus.«

Wie konnte er von hier unentdeckt wegkommen wenn beide Ausgänge bewacht waren? Er zog einen Zwanzig-Dollar-Schein aus seiner Brieftasche.

Mit einem verlegenen Lächeln nahm sie das Geld. »Hier entlang.«

Er folgte ihr durch zwei große Schwingtüren in die Küche. Sie gingen um geschäftige Köche herum. Schwarze Kochtöpfe verströmten einen Geruch von Knoblauch und Zwiebel. Niemand schenkte den beiden Beachtung. Sie stieß eine Tür auf. Er hastete an ihr vorbei und fand sich in einer Sackgasse wieder, vollgepackt mit zwei riesigen Müllcontainern.

Er gab Acht, damit er nicht auf dem mit Küchenabfällen vermüllten Asphalt ausrutschte, und wandte sich um, danke zu sagen. Doch die Tür war verschlossen.

Besorgt er könnte in der Sackgasse in der Falle sitzen, eilte er auf den einzigen Ausgang zu. Kurz vor dem Gehweg hielt er an und schaute in beide Richtungen. Tatsächlich, im Schatten einer gegenüber dem Restaurant gelegenen Nische lauerte der Glatzköpfige.

Slater wartete auf eine sich nähernde Fußgängergruppe. Damit er sie nicht verunsichern würde, nickte er dem Paar an der Spitze zu und trat heraus. Er benutzte sie als Schild, indem er mehrere Schritte voraus ging. Sobald er um die nächste Ecke bog, duckte Slater sich in einen Ladeneingang weg und beobachtete die Straße. Er wartete einige Minuten um sicher zu stellen, dass er nicht verfolgt wurde.

Dann ging er mit schnellen Schritten zur Bank, um notwendige Vorbereitungen zu treffen, bevor Rolf und Sylvia eintrafen. Je mehr er über seine Verfolger nachdachte, umso mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass er konkrete Pläne schmieden musste.

Vielleicht war es ja ein gutes Vorzeichen, dass nach so vielen Jahren sich seine Wege mit Rolf gekreuzt hatten. In den letzten neun Jahren musste Slater sich ungern eingestehen, dass er es versäumt hatte mehrere Quellen in seinem Artikel für die juristische Fachzeitschrift zu zitieren. Trotzdem, es war doch nicht solch ein Plagiat gewesen, das seinen Schulverweis nur Wochen bevor dem Abschluss rechtfertigte. Und Rolf, als Chefredakteur, hätte es gewiss kategorisch ablehnen können, die Angelegenheit an den Dekan zu verweisen.

Slater grübelte immer noch als er die Bank betrat und der jungen Kassiererin sagte, er müsste sofort Herbert Stanford sprechen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und fragte sich ob Rolf und Sylvia wohl aufkreuzen würden. Slater ahnte, dass Rolf sein Verhalten in der Plagiat-Angelegenheit bereute, aber reichte dies aus, um ihm behilflich zu sein?

Bevor er das Problem durchdenken konnte, kam Herbert Stanford den Gang entlang, und Slater konzentrierte sich darauf, welche Vorbereitungen er treffen musste.

♫ ♫ ♫

Sylvia beobachtete wie Rolf ungläubig den Kopf über die groteske Störung schüttelte. Vielleicht könnte sie seine mürrische Laune vertreiben, indem sie ihn neckte. »Wer hätte das gedacht? Ein sittenstrenger Anwalt mit einer hochinteressanten Vergangenheit. Hast du wirklich den Verweis deines Schulkameraden herbeigeführt?«

Es hatte tatsächlich geklappt. Rolfs Gesicht entspannte sich ein bisschen. »Nein. Der Dekan hat das getan.«

»Aber Slater hat dir die Schuld zugeschrieben?«

»Ja. Ich war der Chefredakteur, und er empfand ich hätte die Verweisung seines Falles an den Dekan verhindern können. Und vielleicht hatte er nicht ganz Unrecht.«

»Aber der Dekan hat ihn für schuldig befunden und von der Schule verwiesen?«

Rolf nickte. »War von vornherein festgestanden. Der Dekan konnte ihn nicht ausstehen.«

»Und trotzdem hast du deswegen ein schlechtes Gewissen?« Sylvia berührte seinen Arm.

»Ich schätze schon. Slater hat einen Artikel eingereicht mit Passagen von mehreren Quellen, die er nicht zitierte. Ich hielt es mehr für Fahrlässigkeit als absichtliches Plagiat, aber trotzdem entschied ich mich zusammen mit den anderen Redakteuren den Fall an den Dekan zu überweisen. Im Nachhinein bereue ich, dass ich den anderen zugestimmt hatte, obwohl ich Slater nicht leiden konnte. Auf jeden Fall hat er mir Rache geschworen.«

»Glaubst du, es war ihm ernst damit?«

»Damals wohl schon, aber ich dachte, er hätte es im Laufe der Jahre vergessen. Ich habe mir die größte Mühe gegeben nicht daran zu denken.« Er drückte ihr die Hand. »Aber lass uns von etwas angenehmeren sprechen. Du hast mir gerade von deiner Theaterprobe erzählt, als Slater hereingeplatzt ist.«

Sie erwiderte seinen Handdruck. »Du wirst es nicht für möglich halten, aber es könnte sein, dass ich Tosca singen werde«, sagte sie voll Begeisterung.

Rolf klappte die Kinnlade herunter. »Die Titelrolle?«

»Jawohl, Floria Tosca.«

»Aber ich verstehe nicht. Du wurdest für die Rolle der Micaëla in Carmen engagiert.«

»Sie müssen eine Sopranistin aus New York, die abgesagt hat, ersetzen. Es wird geheim gehalten, aber ich habe gehört, ihre Stimme leidet an Überanstrengung.«

»Hast du Tosca schon mal gesungen?«

»Nein, aber ich kenne es gut. Ich habe die Rolle in der Stuttgarter Opernschule studiert, und ich war die Zweitbesetzung an mehreren deutschen Opernhäusern, bin aber nicht zum Zug gekommen, einzuspringen.« Sie schaute ihm in die Augen. »Rolf, verstehst du, was das für meine Karriere bedeuten könnte? Vorausgesetzt, sie teilen mir die Rolle zu und ich kann sie begeistern.«

»Starruhm.« Er lächelte. »Aber was ist mit Micaëla? Du singst doch bestimmt nicht in beiden Opern, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Falls ich tatsächlich Tosca singen darf, lassen sie wahrscheinlich einen Sopran aus ihrem Opernstudio-Programm die Rolle der Micaëla übernehmen.«

Er umarmte sie und zog sie sanft an sich. »Herzlichen Glückwunsch, meine Diva«, flüsterte er und küsste sie flüchtig aufs Ohr.

Einen Augenblick lang schmiegte Sylva sich an ihn, dann wich sie zurück. »Verhexe mich nicht. Für Glückwünsche ist es allzu früh.«

»Wann wirst du es erfahren?«

»Wahrscheinlich nach der Probe morgen früh mit dem stellvertretenden Dirigenten. Wir werden heute zusammen zu Abend essen. Ich habe ihm von deiner Leidenschaft für die Oper erzählt, und er hat gesagt, du sollst auch mitkommen.«

»Ich wäre nicht im Weg?«

»Nein, ich glaube er will einfach miteinander bekannt werden. Die Nagelprobe wird morgen früh sein.« Sie zögerte, als ob sie die richtigen Worte suchen würde. »Rolf, du siehst ein, wie sich das auf unsere geplante romantische Zeit in Santa Fe auswirkt. Falls ich die Rolle bekomme, muss ich jeden verfügbaren Augenblick aufs intensivste proben. Tosca ist bei weitem anstrengender als Micaëla.«

»Aber gewiss kannst du trotzdem Zeit für uns nehmen, oder?«

Er machte ein bestürztes Gesicht.

»Rolf, während der letzten paar Monate gab es keinen Tag, an dem ich nicht an unser Wiedersehen gedacht habe.« Sie küsste ihn flüchtig auf die Wange. »Ich verspreche dir, Zeit für uns zu finden, komme, was da wolle.«

»Toll.« Er umarmte sie für einen Augenblick fest. »Ich weiß, du musst dein Letztes geben und die Gelegenheit ausnützen.«

»Ich habe gehofft, du würdest es verstehen.«

Seine Mundwinkel zeigten ein leichtes Lächeln an. »Außerdem könnte mein Kumpel vom Jurastudium und seine Zwangslage mich auf Trab halten. Ich kann’s kaum erwarten herauszufinden, was so besonders an seinem Fund ist. Er muss riesig sein.«

»Du kannst es doch nicht ernst meinen. Ich traue ihm nicht, und ich dachte, du auch nicht.«

Rolf schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Zufälle. Bei all den vielen Restaurants in Santa Fe musste Slater ausgerechnet hier hereinstolpern. Das ist doch höchst unwahrscheinlich.«

Sie schaute ihn kritisch an. »Was willst du damit sagen?«

»Ich mein ja bloß, wahrscheinlich hat es seinen Grund, dass wir nach all dieser Zeit uns wiedergetroffen haben. Nach meinem AA-Programm, sobald ich bereit bin, den neunten Schritt zu tun, bietet meine höhere Macht mir die Gelegenheit dazu.«

»Möchtest du eine Scharte auswetzen?«

Rolf nickte. »Ich hatte die Gelegenheit dir Wiedergutmachung zu leisten, als wir in Ostdeutschland um unser Leben rannten. Es war bestimmt kein Zufall, dass mein Chef mich letztes Jahr dorthin geschickt hat. Ebenso wenig ist es, dass ich hier auf Slater gestoßen bin.«

»Mag sein, aber ich habe ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Vielleicht sollten wir lieber nicht zur Bank gehen.«

»Sylvia, hör mir zu. Um mein AA-Programm zu praktizieren, muss ich die Sache wieder ins rechte Lot bringen. Wenn ich das nicht mache, kann es gut sein, dass ich wieder zu trinken anfange.«

Rolfs Inbrunst überzeugte sie. »Dagegen lässt sich nichts sagen, aber wenn du gehst, dann komme ich mit.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

Sie hielt seinem Blick stand. »Aber klar doch.«

Er schaute auf die Uhr. »Na gut, dann gehen wir halt in unser Zimmer zurück.«

Sie war im Begriff, darauf hinzuweisen, dass sie ein paar Stunden Zeit hatten, als Rolf sie bei der Hand nahm und meinte: »Schließlich ist Slater nicht der Grund dafür, dass wir in Santa Fe sind.«

Sylvia neckte ihn. »Du meinst meinen Opernauftritt?«

Bevor Rolf mit dem Geplänkel fortfahren konnte, kam die Bedienung mit der Rechnung. Während er bezahlte, dachte Sylvia an ihre Verabredung mit Slater zurück. Vielleicht sollte sie es sich anders überlegen, aber sie war neugierig, warum er sie ausdrücklich ersucht hatte mitzugehen. Sie schob diese Gedanken beiseite, und Händchen halten gingen beide zum Hotelzimmer.

♫ ♫ ♫

High Desert National Bank mit ihrer Fassade aus Glas und Stahl stand in starkem Kontrast zum Ambiente der Plaza. Zu modern und nicht in Harmonie mit Santa Fe’s traditionsreicher Nachbarschaft, dachte Sylvia. Rolf trat unter den Sensor und die automatische Glasschiebetür öffnete sich.

Slater empfing sie sobald sie die Bank betraten. »Hier entlang.«

Sie folgten ihm zu einem der Lobby gegenüberliegenden Büro. »Herbert Stanford, Vice President«, zeigte ein Schild an der offenen Tür an. Slater klopfte halbherzig und ging hinein. Ein Mann mittleren Alters erhob sich von seinem Stuhl und ging um den großen Schreibtisch aus Holz herum.

Nachdem die Vorstellungen und Händedrücke erledigt waren, sprach Stanford Sylvia an: »Wie ich höre sind Sie eine Opernsängerin. Treten Sie in der Santa Fe Opera auf?«

»Ja.«

»In welcher Oper?«

Nach kurzem Zögern sagte sie: »Bis morgen weiß ich’s.«

»Echt? Ich dachte, Opernsänger werden Monate oder Jahre im Voraus engagiert. Das lässt für die Einstudierung nicht viel Zeit, nicht wahr?«

Sylvia war sich nicht sicher, wie sie darauf antworten sollte. Sie wollte sich nicht verkünsteln, indem sie voreilig von Tosca redete, denn es war längst nicht sicher, dass sie die Rolle übernehmen durfte.

Slater griff in das Gespräch ein. »Falls du so weit bist, Herbert, gehen wir zu meinem Tresorfach.« Seine Stimme deutete Ungeduld an.

»Gewiss.« Stanford führte sie aus seinem Büro heraus. Sie durchquerten die Lobby und gingen an ein großes Stahltor. Er trat an einen kleinen Arbeitstisch aus Metall, auf dem ein offenes Logbuch lag. Er nahm einen Kuli, machte einen Eintrag und ließ Slater unterzeichnen. Nach Erledigung der Formalitäten, öffnete Stanford das Stahltor, wobei er das Kombinationsschloss vor fremden Blicken schützte. Sie gingen an einem abgesperrten Tresorraum vorbei und traten in einen langen Raum voller Tresorfächer. Er steckte einen Schlüssel von seinem Schlüsselbund in ein großes Tresorfach mit der Nummer 72.

Nachdem Slater das Fach mit seinem Schlüssel öffnete, entnahm Stanford den Hauptschlüssel. »Ich bin in meinem Büro, falls Sie mich brauchen.« Er drehte sich um und ging weg.

Slater deutete auf die Stühle rings um einen Metalltisch mitten im Raum. »Setzt euch, bitte.«

Rolf zog einen Stuhl für Sylvia heran und einen für sich selbst. Sie rutschte auf dem harten Metallsitz hin und her. »Zum Verweilen ermutigt die Bank ihre Kunden nicht, oder?«

Slater hatte es anscheinend nicht gehört, da er sich ganz darauf konzentrierte, die graue Metallbox aus dem Tresorfach herauszuziehen. Sobald sie teilweise heraus war, ließ er davon ab und langte hinein. Soweit Sylvia aus ihrem Blickwinkel sagen konnte, war der Kasten vollgestopft. Er legte mehrere Artikel auf ein Regal und kramte weiterhin herum. Er nahm ein Papier in die Hand, aber bevor sie es genauer sehen konnte, legte er es zurück. Dann trug er mehrere kleine Tüten und Lederbeutel zum Tisch.

Rolf stand auf. »Kann ich dir dabei helfen?«

Slater gab ihm ein Zeichen, sich hinzusetzen. »Nein, danke. Ich will euch nur ein paar Artikel zeigen, damit ihr wisst, ich mache euch über meinen Fund nichts vor.« Er ging ans Regal zurück und schnürte die Velourbeutel, die mit Etiketten versehen waren, auf. Slater drehte sie sofort um, aber nicht bevor Sylvia einen flüchtigen Blick auf ein Etikett erhaschte, das mit Großbuchstaben beschriftet war. Sie konnte nicht mehr als die Buchstaben HP entziffern.

Nachdem er alles vom Regal zum Tisch getragen hatte, wickelte Slater mehrere Artikel aus und setzte sie vorsichtig nebeneinander. Bevor Sylvia sie völlig begutachten konnte—sie erkannte Tonscherben, Speerspitzen und Federn—deutete Slater auf die Stücke auf dem Tisch. »Das mag nach einer Menge von Knochen und Federn und Keramikscherben aussehen, aber ihr könnt es mir glauben, es ist etwas Besonderes.«

Er hielt einen kleinen Knochen hoch. »Der stammt von einer Adlerknochenpfeife, die indianische Schamanan über Jahrhunderte hinweg bei ihren geheimsten Zeremonien benutzten.« Er legte den Knochen hin. »Und diese Materialstücke? Wenn ihr sie näher betrachtet, seht ihr, dass sie einst feines, weiches Wildleder waren. Sie sind mit Federn und traditionellen Knochenperlen bestickt, die selten benutzt wurden, nachdem die Europäer Glasperlen einführten.«

Damit sie die Stoffe besser sehen konnten, drehte Slater sie um. »Überdies, die Qualität und der Entwurf weisen darauf hin, dass sie Überbleibsel eines ganz besonderen Ornats sind, wahrscheinlich eine Robe für die wichtigsten Rituale, die vor den Spaniern geheim gehalten wurden. Feines Wildleder verrottet leicht, selbst in der Wüstenluft. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Er hatte immer lauter gesprochen, als seine Begeisterung anstieg. Dann konnte er die Kontrolle wiedererlangen. »Also, das genügt. Ihr könnt euch jetzt ein Bild davon machen.«

Rolf nahm die Artikel auf dem Tisch unter die Lupe. »Wie alt sind die? «

»Ich denke sie gehen zumindest bis in die frühe spanische Kolonialzeit zurück.«

Während Slater die Artikel aufsammelte, berührte Rolf einen Beutel aus Hirschfell. »Was ist da drinnen?«

»Das ist ein Medizinbeutel.« Slater öffnete ihn, langte hinein und holte mehrere Artikel hervor. »Das sind Sachen, die Indianer als gute Medikamente bei Jagden und Stammesfehden trugen. Du schaust auf Fetische, ein Messer, wie es bei Zeremonien verwendet wurde und einige Halbedelsteine.«

»Fetische?«, fragte Rolf.

»Holzschnitzereien und Steinreliefe von verschiedenen Tieren.« Slater nahm zwei kleine Steinreliefe zur Hand. »Ein Bär und dies da stellt einen Puma dar.«

Während Rolf sich über das Zeremonienmesser erkundigte, zog ein kleiner Halbedelstein, der wie ein Kristall aussah, Sylvias Aufmerksamkeit auf sich. Milchigweiß, fast gräulich, er war durchscheinend und mit bogenförmigen, bunten Reifen verziert.

»Eindrucksvoll, nicht wahr?«, sagte Slater.

Sylvia nickte. »Was ist es?«

»Ein Achat.« Slater musste ihre Verblüffung bemerkt haben. »Mikrokristalliner Quarz, auch als Chalcedon bekannt. Wir finden sie in vielen Medizinbeuteln zusammen mit Türkis und Obsidian da drüben.« Mit einer weit ausholenden Armbewegung deutete er auf andere Steine auf dem Tisch, aber Sylvia bewunderte dauernd den Achat.

»Wo haben Sie dies alles gefunden?«, fragte sie.

Slater zog einen Stuhl heraus und setzte sich. Er nahm einen der Speerspitzen zur Hand und drehte sie mehrmals um, als ob er die Frage nicht gehört hätte. Schließlich legte er das Objekt zurück auf den Tisch und sah sie an. »Viele Pueblos von der spanischen Kolonialzeit existieren nicht mehr. Ich habe zahllose Sommer damit verbracht, nach einem bestimmten zu suchen, und am letzten Wochenende habe ich den Ort ausfinding gemacht, wo dieser verschollene Pueblo einst stand. Von dort kommen diese Artikel her.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und da gibt es noch viel mehr.«

»Welcher Pueblo und wo ist er, oder was davon noch vorhanden ist?«, fragte Rolf.

»Das sage ich lieber nicht.« Slater sah sie beide an. »Er wird in keinem Reiseführer oder Plan, die man kaufen kann, aufgeführt. Aber sollte es notwendig sein, sorge ich dafür, dass ihr ihn finden könnt.«

Bei diesen Worten erinnerte sich Sylvia an die Männer, die sie beim Mittagessen gestört hatten.

»Es ist doch illegal solche Artefakte auszugraben, nicht wahr?«, sagte Rolf.

Slater hielt Rolfs Blicken stand. »Wie ihr Rechtsanwälte gerne sagt, es kommt darauf an.«

Sylvia spürte, dass er im Begriff war mehr zu verraten, aber anscheinend überlegte er es sich noch einmal.

Rolf deutete auf die kleinen Lederbeutel, die Slater nicht aufgemacht hatte. »Was enthalten die?«

»Fürs Erste reicht es. Ich wollte euch nur eine Vorstellung von meinem Fund geben.«

Sie tauschte Blicke mit Rolf während Slater die Artikel wieder einpackte und sie in das Tresorfach zurücklegte, welches er daraufhin in sein Fach schob. Nachdem es zuklinkte, setzte sich Slater zu ihnen an den leeren Tisch.

»Das war nur eine kleine Probe. Ich möchte euch ein paar größere Artikel auf meiner Ranch zeigen, und euch mehr über ihre Entdeckung berichten. Wie wär’s wenn ihr heute bei mir zum Abendessen kommen würdet?«

»Es tut mir leid, aber wir sind bereits zum Abendessen verabredet«, sagte Sylvia bevor Rolf antworten konnte. Sie war sich nicht sicher, ob er sich an das Treffen mit dem stellvertretenden Dirigenten erinnerte.

»Könnt ihr nicht umdisponieren? Es ist äußerst wichtig.« Slater starrte sie beide an.

»Nein, es geht um meinen Opernauftritt.«

»Ach so.« Slater strich sich mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. »Um welche Uhrzeit ist euer Abendessen und wo geht ihr hin?«

Obwohl sie meinte, es ginge ihn nichts an, antwortete Sylvia: »Gabriel’s in Tesuque um sechs.«

»Das Restaurant ist nur ein paar Minuten von meiner Ranch entfernt. Ihr könntet doch nach dem Abendessen vorbeikommen.« Er holte eine Karte aus einer Hosentasche hervor und gab sie Rolf. »Meine Adresse. Kommt vor Sonnenuntergang, wenn möglich.«

Obwohl weder sie noch Rolf ausdrücklich zugestimmt hatten, begriff Sylvia, sie kamen nicht darum, ihn heute Abend zu besuchen. Sie hoffte, es würde ihre Zusammenkunft mit dem stellvertrenden Dirigenten nicht unter Zeitdruck setzen.

»Kannst du ohne Gefahr nach Hause gehen?«, fragte Rolf

Slater zuckte mit der Achsel. »Ich kann es mir nicht aussuchen.« Er biss die Zähne zusammen. »Ich muss mich um bestimmte Dinge kümmern. Ich erwarte euch dann also gegen acht.«

Slater stand auf, führte sie aus dem Raum und der Bank heraus. Draußen suchte er die ganze Straße ab, bevor er den Blick auf sie richtete. »Eines noch. Ich habe es in die Wege geleitet, dass ihr Zugang zu meinem Tresorfach habt, sollte mir etwas zustoßen. In diesem Fall, sucht Stanford sofort auf.«

»Wenn das so gefährlich ist, solltest du zur Polizei gehen«, sagte Rolf.

»Ich kann nicht, aber ich treffe Vorkehrungen. Du bist Anwalt. Du weißt Bescheid über Vorkehrungen.« Beim Weggehen sagte Slater noch: »Also dann bis heute Abend.«

 

 

 


Kapitel 3: Abendessen mit Rico





Tesuque, Montagabend, 6. August 1990



Rolf nahm die Hand vom Lenkrad und deutete auf das freifließende Dachwerk der Santa Fe Opera, welches über die Hügel auf der Westseite der vierspurigen Highway 84 emporragte. »Da ist sie, Sylvia, die Stätte wo du dein amerikanisches Debüt feierst. Deine deutschen Auftritte in Carmen waren fabelhaft. Aber hier Tosca singen? Die Met und die weltbesten Opernhäuser werden dir die Bude einrennen.«

Sylvia drückte seinen Arm. »Ich muss diese Inszenierung in unter einer Woche lernen, falls ich die Rolle überhaupt bekomme. Gut, dass ich sie bereits kenne, oder ich würde es nie schaffen.«

»Zweifle nicht an dir selbst. Du wirst das Publikum und die Kritiker fesseln.«

Er betrachtete ihr Profil—südländischer Teint, dunkles Haar, lavendelfarbenes Hemd mit offenem Kragen, das sie mit eng anliegenden Jeans trug. Für ihn war sie jetzt sogar noch attraktiver als während ihrer Studienzeit in Berlin, doch seine Empfindungen gingen weit über leibliche Hingezogenheit hinaus. Das monatelange Getrenntsein hatte sie anscheinend nur noch verstärkt. Ihre knappes Entkommen im vorhergehenden Herbst von der Stasi in der DDR hatte eine Verbundenheit geschafft, ein tieferes Verhältnis gefestigt.

Sylvias Neckerei riss ihn von seinem Tagtraum los. »Wie wär’s, wenn du deinen Blick auf die Straße richten würdest?«

»Wenn du darauf bestehst.« Sein übertriebener starrer Blick nach vorn brachte sie zum Lachen. Er sah kurz zu ihr hinüber. »Was weißt du über den stellvertretenden Dirigenten?«

»Er heißt Rico Ghostbear, und er ist kein typischer Operndirigent.«

»Indianer?«

»Ja. Vom Tesuque Pueblo.« Sylvia blickte voraus. »Wir haben vielleicht gerade unsere Ausfahrt verpasst.«

Rolf schaute nach Verkehrsschildern, sah aber nur das Sangre de Cristo Gebirge im glühenden Abendrot. Das Restaurant befand sich ein paar Meilen nördlich von der Oper kurz hinter Tesuque.

Sie studierte die Autokarte auf ihrem Schoß. »Schon gut. Hier kommt unsere Ausfahrt.«

Als er das Auto auf die Ausfahrt zusteuerte, sagte er: »Ich frage mich, ob dieser Rico sich bei indianischen Artefakten auskennt.«

»Ich hab’s doch gewusst; du traust Slater nicht.«

»Es könnte nicht schaden, wenn wir uns seine Geschichte von einem Ureinwohner Amerikas bestätigen ließen.«

Sie fanden das Restaurant mit Leichtigkeit. Die Empfangsdame führte sie zu einem Tisch im Innenhof. Als ein stämmiger Mann sich erhob, musste Rolf Sylvias vorheriger Begutachtung zustimmen: Ricos Image verstieß gegen jegliches Dirigenten-Stereotyp. Ein rotes Gummiband hielt sein schwarzes Haar in einem Pferdeschwanz, und eine Türkis Halskette zierte seine Brust. Kraftvolle Bizepse ragten aus seinem über Jeans getragenen kurzärmeligen Sporthemd heraus. Berücksichtigend, dass man Indianern ihr Alter schwer ansehen konnte, schätzte Rolf ihn Anfang Vierzig, nur ein paar Jahre älter als er selbst.

Nach der Vorstellung bestellte Rico Guacamole für alle und empfahl mehrere Hauptspeisen. Kaum hatten sie ihr Essen bestellt, als ein kleiner Keller mit dunklen Haaren einen Servierwagen neben ihren Tisch rollte. Fachmännisch teilte er die Avocados, ließ das Fruchtmark in eine große Holzschale fallen, fügte fein gehackte Zwiebel, Chili, Salz, Pfeffer und noch ein paar Gewürze hinzu. Nach heftigem Umrühren teilte er die Guacamole auf drei kleine Schüssel auf, servierte, rollte den Servierwagen weg, und wünschte ihnen einen guten Appetit.

Rico schaufelte eine reichliche Menge der klumpigen, grünen Mischung auf einen Tortilla-Chip und schob ihn in den Mund. Der glückselige Ausdruck auf seinem Gesicht bestätigte, dass er das Essen liebte; nach seinen Bizeps zu urteilen, lagerte sein stämmiger Körper eher Muskeln als Fett an.

Rolf probierte die Zubereitung und befand sie als köstlich. Er wusste, Sylvia hatte sie noch nie gekostet. Sie schaute reichlich skeptisch, als sie einen kleinen Happen nahm. Nach kurzem Zögern nickte sie billigend.

Rico strahlte. »Lecker?«

Sie hob ihr halb volles Rotweinglas und nickte abermals. Rolf freute sich, dass sie Wein zum Essen trank, obwohl sie ja wusste, dass er keinen Alkohol trinken durfte. Er und Rico hatten Wasser bestellt.

Während sie die delikate Vorspeise aßen, sagte Rico zu Sylvia: »Wie ich höre, hatten Sie einen Bombenerfolg in Europa mit Ihrer Darstellung der Micaëla.«

Als er Sylvias Zögern bemerkte, fügte Rolf hinzu: »Das Publikum und die Kritiker waren ganz begeistert von ihr—selbst Hans Brummer schrieb eine überschwängliche Kritik im Berliner Tag, und weiß Gott, der alte Kauz ist schwer zufriedenzustellen.«

Sylvia berührte seinen Arm und warf ihm einen verlegenen Blick zu.

Rico schluckte seinen letzten Bissen von Guacamole hinunter. »Die Berichte aus Europa haben unseren Generaldirektor nachhaltig beindruckt, der zu der Zeit noch nach einer Sopranistin für die Rolle der Micaëla Ausschau hielt.« Er schmunzelte. »Und jetzt wollen wir Sie auf Tosca umsatteln— so eine schwere Aufgabe in so kurzer Zeit.«

Rolf spürte einen Anflug von Angst in Sylvias Stimme, als sie sagte: »Es ist eine herausfordernde Rolle. Ich werde mir alle Mühe geben, Ihren Erwartungen zu entsprechen.«

Rico sah sie an. »Sie sind sich doch sicher darüber im Klaren, dass dies eine einmalige Gelegenheit darstellt?«

»Aber sicher!«

Rico nahm einen Schluck Wasser. »Bevor wir Sie für die Rolle freigeben können, müssen wir morgen früh die Partitur durchproben, und dann sehen wir weiter. Aber lasst uns nicht den ganzen Abend über Tosca reden.«

Das Gespräch hörte auf während der Kellner den Hauptgang servierte: Hähnchen in Mole Poblano Soße für Sylvia und Rico, und einen Teller mit einer Auswahl von Tamale, Enchilada, Burrito und anderen mexikanischen Spezialitäten für Rolf.

Rolf wandte sich Rico zu. »Sylvia hat mir gesagt, Sie sind vom Tesuque Pueblo.«

»Ja, da bin ich aufgewachsen.«

»Wie kamen Sie zu einer Opernkarriere? «

»Das ist eine lange Geschichte. Ich war schon im Kindesalter an Musik interessiert. Ich sang und spielte mehrere Instrumente. Meine Mutter hat mich für einen Jungenchor in der Schule angemeldet, wo wir Musik aller Art gesungen haben—Folksong, Balladen, Broadway, leichte Klassik. Eines Tages hat der Direktor meiner Mutter von einem Gesangslehrer in Santa Fe erzählt und wollte ihm empfehlen, mich als Schüler aufzunehmen. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte, aber meine Mutti hat mich nicht gefragt. Als sie mich zu meiner ersten Gesangstunde fuhr, meinte sie, es wäre eine einmalige Chance, mich weiterzubilden, um später in der Außenwelt einen festen Grundstock zu haben. Ich musste ihr versprechen, meinem Vater kein Sterbenswörtchen davon zu sagen. Seiner Meinung nach ging ich zur Chorprobe.«

Während Rico zu essen aufhörte, ließ Rolf seinen Blick über den großen Innenhof mit mehreren Brunnen schweifen. In der Ferne schienen die Hügel der New Mexico Landschaft schemenhaft in der frühen Abendsonne.

»Bis heute weiß ich nicht, wie sie für den Unterricht bezahlt hat«, fuhr Rico mit der Erzählung fort. »Wie sich herausgestellt hat, war der Lehrer ein Opernsänger im Ruhestand. Als wir uns das Thema Oper vornahmen, geschah etwas Magisches. Es ist schwer zu erklären. Es war fast so, als ob Oper in meine Seele eingebrannt wurde.«

»Es ging mir genauso«, platzte Sylvia heraus.

Rolf konnte es nachvollziehen, blieb aber still, da er dachte, es wäre anmaßend, wenn er, ein Laie auf dem Gebiet der Oper, seine Leidenschaft für diese Materie herausstellen sollte. Niemand sprach, bis sie mit dem Essen fertig waren.

Rico schob seinen Teller zur Seite. »Kurz gesagt, meine Tenorstimme im Teenageralter war gut genug, um in das Studienprogramm der Santa Fe Opera aufgenommen zu werden. Aber das Studium habe ich nicht beendet.«

Er nahm einen Schluck Wasser. Rolf erkannte, dass er um Worte rang. Nach einer kurzen Pause, hob Rico den Blick. »Ich hatte mir etwas eingebrockt. Damals dachte ich der Druck und der Stress waren daran schuld. Nach ein paar Jahren kam ich wieder auf den rechten Weg, aber bis dann hatte ich meine Chance verpasst, als Opernsänger Karriere zu machen.«

Obwohl Rolf ahnte, in welche Schwierigkeiten Rico geraten war, hielt er den Mund. Stattdessen sagte er: »Wie kamen Sie zu einem italienischen Vornamen?«

»Das habe ich meiner Mutter zu verdanken.« Sein Gesicht leuchtete auf. »Sie hörte sich gerne Enrico Caruso an, von seiner Frau ›Rico‹ genannt.« Er wurde nachdenklich. »Ich denke, sie hatte große Pläne für mich als Sänger. Aber Operndirigent zu sein ist auch nicht übel.«

»Und wie sind Sie dann Dirigent geworden?«, fragte Sylvia.

»Sagen wir mal, aufgrund zufälliger Ereignisse bekam ich die notwendige Ausbildung, und jemand von der Santa Fe Opera gab mir eine Chance.« Er lächelte. »Und hier bin ich.«

Rolf beschloss, seiner Vermutung nachzugehen. »Sind Sie ein Freund von Bill W.?«

Rico blickte ihn starr an, offensichtlich verdutzt über die Frage, ob er ein Mitglied der Anonymen Alkoholiker war, dem Zwölf-Schritte Programm, das Bill Wilson mitbegründete. Dann huschte ein leichtes Lächeln über sein Gesicht. »Ja, Sie auch?«

Rolf nickte. Er bemerkte es fast nicht, als Sylvia murmelte: »Unglaublich!«

Jetzt stand er mit Rico auf gutem Fuß, denn AA-Mitglieder hatten eine besondere Beziehung zueinander.

Während der Kellner den Tisch abräumte, nahm Rolf erneut das Ambiente in sich auf: die geraunten Unterhaltungen an Nachbartischen im Innenhof, die fernliegende Bergkette im goldenen Licht der Abendsonne.

Sylvias Stimme unterbrach seinen Tagtraum. »Rolf und ich fragten uns, ob Sie uns mit einem sachkundigen Kenner von indianischen Artefakten in Kontakt bringen können.«

»Aus welcher Zeit?«

»Wir sind uns nicht sicher.« Sie schaute Rolf fragend an, anscheinend unsicher, wie viel sie preisgeben sollte.

Nach kurzem Zögern sagte Rolf: »Wahrscheinlich frühe spanische Kolonialzeit. Wir brauchen nur jemanden, der ein paar Grundfragen beantworten kann.«

»Je nachdem, um was es sich handelt, bin ich vielleicht dazu imstande.«

Der Kellner unterbrach mit einer betörenden Beschreibung der Dessertkarte. Rico und Sylvia lehnten kopfschüttelnd ab, und Rolf war dabei, ein Gleiches zu tun, aber dann überlegte er es sich noch einmal. »Falls Sie es nicht eilig haben, lasst uns Nachtisch bestellen und noch ein wenig weiterreden.«

Rico stimmte zu, sichtlich fasziniert. Nachdem der Kellner mit ihren Bestellungen gegangen war, sprach Rico: »Ich weiß nicht, was Sie haben, doch sollten Sie sich bewusst sein, dass viele indianische Artefakten, die in Händen von Sammlern und Museen landen, illegal erworben wurden. Sie gehören rechtmäßig den Indianerstämmen.« Er blickte Rolf an. »Als Rechtsanwalt sind Sie sicherlich mit den verschiedenen schützenden Bundesgesetzen vertraut.«

»Ich weiß, es gibt solche Gesetze, aber das ist nicht mein Fachgebiet.«

Der Kellner servierte ihnen Kaffee und Flan. Rolf rührte Zucker und Milch in seinen Kaffee. Wie viel sollte er Rico erzählen? Sylvias leichtes Kopfschütteln sagte ihm, er sollte vorsichtig sein. Er nippte an dem heißen Getränk, immer noch unschlüssig, was er sagen sollte.

Rico machte den Mund auf. »Ich wohnte auf dem Pueblo bis ich zwanzig Jahre alt war, als ich das Opernstudium hinschmiss und kräftig zu trinken anfing. Ich kenne mich bei sakralen Zeremonienartikel aus, und oft hörte ich den Erzählungen der Stammesältesten unserer Vorfahren zu, die jahrhundertelang bis zur Antike zurückgingen. Kurz gesagt, wahrscheinlich kann ich Ihre Fragen beantworten.«

»Ich bin heute einem ehemaligen Klassenkameraden begegnet. Er ist Archäologe, und er hat uns mehrere Artikel gezeigt, die er als höchst selten und wertvoll bezeichnete.« Rolf verstummte, als Rico die Hand hob.

»Was für Artikel?«

Um ein wenig Zeit zu gewinnen, nahm Rolf seine Kaffeetasse wieder zur Hand. Slater wollte wahrscheinlich seine Entdeckung geheim halten, jedoch hatte er das nicht ausdrücklich gesagt. Das würde er bestimmt tun, wenn sie ihn auf seiner Ranch besuchten. Rolf beschloss, sich auf allgemeine Äußerungen zu beschränken.

»Ich kann leider keine Einzelheiten preisgeben, außer dass es sakrale Zeremoniengeräte sind, die von den Spaniern immer vernichtet wurden.«

»Warum hat dieser Freund sie Ihnen gezeigt? Benötigt er Rechtsberatung?«

»Er ist eigentlich kein richtiger Freund. Seit dem Jurastudium habe ich ihn nicht mehr gesehen. Und ich habe ihm erklärt, dass ich auf diesem Gebiet keine juristische Sachkenntnis besitze.«

Rico fragte: »Hat der Archäologie Ihnen gesagt, wo er diese Artikel gefunden hat?«

»Die Fundstätte befindet sich auf einem seit der Kolonialzeit verschollenen Pueblo. Er behauptet, er hätte ihn nach langjähriger Suche ausfindig gemacht.«

»Hat er Ihnen den Namen des Pueblos verraten?«

Rolf schüttelte den Kopf.

»Nun ja, es könnte eins von vielen verschwundenen Pueblos sein.« Rico lehnte sich im Stuhl zurück, anscheinend ernüchtert. »Ohne den Namen—«

»Ich sah ein Etikett«, redete Sylvia dazwischen. »Doch bin ich mir nicht sicher, ob es irgendetwas zur Sache tut.«

»Was stand drauf?«, fragte Rico.

Rolf sah sie groß an. Sie drückte ihm die Hand. »Tut mir leid, Rolf, ich vergaß es zu erwähnen.«

»Sie konnten das Etikett lesen?« Ricos Stimme enthielt einen Hauch von Ungeduld mit einem Anflug von gespannter Erwartung.

»Ich bin mir nicht sicher, dass wir Ihnen das erzählen dürfen«, sagte Sylvia.

Rolf berührte ihre Hand. »Schon gut. Slater hat uns nicht zur Geheimhaltung verpflichtet.«

»Ich denke nicht.« Nach kurzem Zögern sagte sie: »Das Etikett enthielt zwei Buchstaben.«

»Und die waren?«, fragte Rico.

»HP.«

Rico drängte sich so abrupt nach vorn, dass sein Stuhl fast umkippte. Er fing ihn, bevor er auf den Natursteinboden poltern konnte. Dennoch gafften ein paar Gäste aufgrund der Störung. Rico setzte sich fest hin. »Das gibt’s doch nicht.«

»Sie wissen, was es bedeuted?«, fragte Sylvia.

»Mir kommt nur ein Pueblo in den Sinn: Honovi.« Rico blickte in den Abendhimmel. »Wir haben eine schwache Ahnung, wo die Siedlung einst gestanden hat, doch niemand hat sie tatsächlich lokalisiert.«

»Warum ist dieser Pueblo so außergewöhnlich?«, fragte Sylvia.

»In unserer Folklore nimmt Honovi Pueblo eine Sonderstellung ein«, sagte Rico. »Er spielt eine Schlüsselrolle in einer überlieferten Erzählung, die bis zum Aufstand der Puebloindianer im Jahre 1680 zurückgeht.«

Rolf hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach, und Sylvias fragendem Blick nach zu urteilen, sie auch nicht.

Rico sah sie beide an. »Sie haben noch nie etwas von dem Aufstand gehört? Naja, das kann ich gut verstehen. Das wird bestimmt nicht in den Schulen des weißen Mannes gelehrt. An diesem Freitag, dem 10. August, finden in vielen Pueblos Feiern zum Gedenken an das 310. Jahrjubiläum des Aufstands statt. Damals hatten die Spanier New Mexico seit über achtzig Jahren besetzt. Sie haben das Land ausgebeutet, unser Volk geknechtet, Sklavenarbeit verlangt, unsere Führer eingesperrt, unsere Kivas geplündert, unsere Zeremonien verboten, und unsere Frauen missbraucht.«

Sylvia schnappte Rolf am Arm. Mit dem Löffel schnitt Rico ein Scheibchen Flan ab, ließ es im Mund zergehen und nahm einen Schluck Kaffee. »Soll ich mehr erzählen?«

»Ja, bitte«, forderte Sylvia ihn auf.

Rico nickte. »Ich erinnere mich an eine Erzählung―von unseren Stammesältesten überliefert―über einen lüsternen Mönch, einen verlorengegangenen Schatz, und eine Dreizehnjährige, die an dem Aufstand bestimmend mitwirkte. Sie war eine Schamanentochter, und sie hieß Teya, was »edel« oder »geschätzt« bedeuted. Stellen Sie sich mal vor, wir sitzen mit einem Großvater meines Stammes um ein offenes Feuer. Ich will Ihnen die Geschichte genau so wiedergeben, wie sie mir erzählt wurde.«

Er wiederholte sein geflissentliches Ritual mit Flan und Kaffee—wohl um seine Gedanken zu sammeln oder aber ihre Neugier zu erwecken, das konnte Rolf nicht sagen.

Nach kurzem Überlegen setzte Rico seine Tasse ab, lehnte sich zurück, und starrte in die Ferne. »Vor langer Zeit schmiedeten unsere Vorfahren einen Plan, um sich gegen die spanischen Invasoren zu erheben. Es war ein guter Plan, indem er alle Pueblos zusammenbrachte, wobei sie sich verpflichteten, die Fremdlinge aus unserem Land zu vertreiben. Viele unserer Vorfahren sind für diese Sache gefallen, aber wir waren die Invasoren für viele Jahre los.«

Der rhytmische Tonfall von Ricos Stimme war hypnotisierend, und Rolf konnte sich beinahe einen Lagerfeuerabend ausmalen, wobei Rico die Worte eines verhutzelten Ältesten begierig in sich aufnahm, als er Kindern mit aufgerissenen Augen fesselnde Folklore erzählte, und der Himmel sich in die Wüstennacht verdunkelte.

Rico sprach weiter: »Wie Sie sich vorstellen können, geschah der Aufstand nicht von heute auf morgen. Einer der Führer war ein Oberpriester namens Popé vom San Juan Pueblo. Die Spanier hatten ihn geschlagen und eingesperrt. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis verbrachte er die nächsten fünf Jahre damit, den Aufstand zu planen. Dies sollte am Sonntag, dem 11. August, geschehen.«

Rico wischte sich die Stirn ab. »Aber ich will mal nicht zu vorschnell sein.« Er atmete tief durch. »Zuerst wollen wir uns mal das Leben im Honovi Pueblo ein paar Tage vor dem Aufstand vorstellen.«








Kapitel 4: Die Kiva



Honovi Pueblo, Dienstagnachmittag, 6. August 1680


Teya schützt die Augen gegen die Nachmittagssonne und starrt den Feldweg hinab, vorbei an den in der Brise zitternden Mesquitebäumen, Feigenkakteen, und Wacholdern. Ein plötzlicher Windstoß hebt ihre Manta-Decke hoch. Damit der Umhang sich nicht entfaltet, drückt sie ihn fest an den Körper.

»Kannst du sie schon sehen?« Die Stimme ihres Vaters kommt vom ersten Stock ihres Wohnraums herab.

Sie graut sich vor dem Gedanken, es gäbe wieder Streit zwischen ihren Eltern, oder was vielleicht sogar noch schlimmer wäre, frostige Verschwiegenheit während der Familienmahlzeit. Sie wendet sich und sieht auf Honokans strenges Gesicht oben auf der Leiter. Er starrt ebenfalls in die Ferne.

Warum fragt er mich, wenn er von dort oben besser sehen kann?, denkt sie. Jedoch sagt sie: »Nein, Vater.«

»Wegen deiner Mutter werde ich zu spät zur Kiva kommen.« Er zieht sich von der Leiter zurück.

Teya hält nochmals Ausschau, und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Biegung auf dem Pfad, um die Nashota erscheinen muss. Nichts stimmt mehr. Sie sehnt sich nach den Tagen, als ihre Eltern in Liebe und Respekt zueinander standen. All das änderte sich nach Honokans Jagdunfall. Danach musste Nashota Fleisch für die Familie in der Mission des Franziskaners Francisco Morales holen gehen. Lohnte es sich wegen Bisonfleisch einen Streit anzuzetteln? Warum nimmt Vater ihr das übel? Und warum geht er alltäglich zu Versammlungen in der Kiva?

Als eine schlanke Figur um die Kurve kommt, hört Teya mit ihren endlosen Fragen auf. »Mutter kommt«, ruft sie die gegen die Abodemauer lehnende Leiter hinauf.

Gerade wenn sie denkt, sie war nicht laut genug, wiederholt die hohe Stimme ihres jüngeren Bruders die Botschaft für ihren Vater. Mutter nähert sich in großer Eile, ihr Haar hinter dem Kopf in einem Chongo gebunden. Vielleicht täuscht sie sich, doch Teya meint, der Haarknoten sieht nicht mehr so ordentlich aus wie vorher, als ihre Mutter sich auf den Weg zur Mission machte. Nashota schlägt die Augen nieder und ihre üblicherweise sanften Gesichtszüge sind verzerrt, als ob sie unter etwas leide.

»Brennt das Feuer?«, fragt Natosha, als sie mit einem Bündel über die Schulter geschlungen, die Leiter hinaufsteigt.

»Ja, Mutter.« Teya folgt ihr die Stufen hinauf. »Und ich habe das Mais zubereitet, wie du es gewünscht hast.«

Teyas Vater und Bruder kauern in einer Ecke des Raums, weg vom heißen Feuer.

»Heute gibt’s Wildfleisch«, verkündet Natosha.

»Beeil dich, oder ich verpasse die Versammlung«, ist Honokans Antwort. Er sieht seine Frau nicht an, und sie ihn auch nicht.

Die Fleischschnitte kochen in kurzer Zeit, und sie essen schweigend. Teya erinnert sich an Familienmahlzeiten, die mit Plauderei und Gelächter gefüllt waren. Nicht länger. Ihr Vater ist fertig und steht auf, um zu gehen.

»Warum trefft ihr euch jeden Tag in der Kiva?«, fragt ihre Mutter. »Was ist los?«

»Frag lieber nicht, Frau. Ich kann dir das unmöglich erzählen, das weißt du doch.« Er stülpt ein geflochtenes Stirnband über sein schwarzes Haar und steigt unbeholfen, jeweils Sprosse für Sprosse, das kranke Bein voraus, die Leiter hinab.

Nashota zuckt mit der Achsel, und hebt die Schalen auf. Ohanko bedrängt sie, ihn mit seinen Freunden spielen zu lassen, etwas, das normalerweise nicht nach dem letzten Mahl des Tages erlaubt ist. Zu Teyas Überraschung genehmigt es ihre Mutter.

Nashota wartet bis Ohanko weg ist, bevor sie fragt: »Wenn dein Vater dir die Gebräuche der Schamanen lehrt, sagt er irgendetwas über die Kiva-Versammlungen?«

»Nein, tut er nicht.« Auf den zweifelnden Blick ihrer Mutter hin, fügt Teya hinzu: »Du weißt, dass sie die Treffen geheim halten.«

Nashota nickt. »Ja, doch habe ich ein schlechtes Gefühl. Es beunruhigt mich, Tochter.« Sie zögert. »Falls du irgendetwas erfährst, versprich, es mir zu sagen.«

»Das verspreche ich dir, Mutter.«

Teya gleichfalls schwant nichts Gutes, was diese Versammlungen angeht. Aber wie kann sie herausfinden, was die Männer vorhaben, wenn Frauen in der Kiva nicht erlaubt sind? Spontan schnappt sie sich einen Topf und sagt ihrer Mutter, sie hole Wasser vom Fluss.

Sie überquert die Plaza und geht in Richtung Fluss, aber richtet die Augen auf den Eingang der unterirdischen Kiva jenseits des Weges. Es ist niemand in Sicht. Die Männer müssen bereits versammelt sein. Sie sucht die Umgebung ab―weit und breit kein Mensch, außer ihrem Bruder und seinen Freunden, die in einem entfernten Feld umherlaufen. Sobald sie sicher ist, dass sie nicht beobachtet wird, geht Teya zu einer Bärentraube bei dem Kiva-Luftabzug, von wo eine dünne Rauchsäule aufsteigt. Sie schiebt die Zweige zur Seite und kriecht in eine Ausbuchung in der Mitte, ihr Lieblingsversteck.

An einem Abend kamen die Männer zu einer Zeremonie, bevor sie sich wegschleichen konnte. Um nicht entdeckt zu werden, legte sie sich flach auf den Boden und fand dabei heraus, dass sie die Stimmen von der Kiva unter ihr hören konnte. Sie konnte nur ein paar Wörter verstehen. Damals war sie nicht daran interessiert, und sie hatte nicht hingehört. Doch jetzt ist sie darauf erpicht, den Grund für diese geheimen Versammlungen in der Kiva zu erfahren. Ihr schlechtes Gewissen wegen ihres geheimen Lauschen verfliegt schnell, sobald sie die halblauten Stimmen der Krieger vernimmt. Doch sie sind zu leise, um auch nur ein Wort zu verstehen.

Bei einbrechender Dunkelheit wird der Luftabzug schwach durch einige Fackeln erhellt. Als die Diskussion hitziger wird, bekommt sie nun einige Worte und Satzfetzen in der Abendluft mit. Damit sie besser hören kann, drückt sie ihr Gesicht dicht an die Erde. Da dreht der Wind und bläst ihr Rauch ins Gesicht. Ihre Augen brennen. Sie unterdrückt ihren Hustenreiz.

Eine zornige Stimme erhebt sich: »Die Franziskaner zwingen uns wie Sklaven zur Feldarbeit.«

Eine zweite schreit: »Sie plündern unsere Kivas aus und zerstören alles was uns heilig ist.«

Teya hört den Ausruf ihres Vaters: »Und sie missbrauchen unsere Frauen.«

Ein helles Licht schießt die Öffnung hoch, so als ob die Flammen in der Kiva-Feuergrube ebenso aufgewühlt worden sind. Dann kehrt der niedrige Fackelschein zurück.

Ihr Arm wird taub, da sie sich zu fest an einen dicken Zweig geklammert hat. Während sie los lässt, spricht ihr Vater wieder: »Der Plan ist geschmiedet. Bald erheben wir uns gegen die Fremden und sind wieder frei.«

Voll Schreck verliert Teya das Gleichgewicht und spürt kaum, dass das Gestrüpp der Äste ihren Arm zerkratzt. Die Krieger planen einen Aufstand gegen die Spanier!

Trotz der kühlen Abendbrise fängt sie an zu schwitzen. Was wäre, wenn Stammesangehörige, die mit den Fremden auf freundschaftlichem Fuß stehen, sie vor dem Aufstand warnen? Was geschieht mit ihrem Volk, falls der Aufstand scheitert? Teya wischt sich den Schweiß von der Stirn und rafft sich auf, so viel wie möglich herauszufinden. Sie kriecht in die Mitte des Buschs zurück.

Ihr Vater spricht immer noch: »Läufer vom Tesuque Pueblo bringen Popés Seil, das uns sagt, wie viele Tage wir zählen, bis wir die Waffen aufnehmen.«

Seine Worte werden mit zustimmenden Kampfrufen begrüßt.

Sie hat von dem mysteriösen Priester vom San Pueblo Pueblo gehört. Man sagt, er hat den Mann seiner Tochter steinigen lassen, weil er für die Spanier Spionage betrieb. Was für einen Plan hat sich dieser Popé ausgedacht? Kann er die spanischen Soldaten besiegen und die Franziskaner und die Ansiedler vom Land ihres Volks endgültig vertreiben? Eines ist sie sich sicher―viele werden sterben.

Die Stimmen verebben. Sie kann es nicht riskieren, weiterhin zu bleiben. Das Treffen geht bald zu Ende.

Sie ist gerade im Begriff, aus dem Busch hervorzukriechen, als sie den Ausbruch ihres Vaters hört. »Überlasst mir Morales. Ich werde meine Familienehre wiederherstellen.«

Ihr Magen verkrampft sich in Pein. Sie stürzt davon, wobei sie den mitgebrachten Topf umkippt und zerschmettert. Sie rappelt sich hoch und starrt auf die schwarzgestreiften Scherben, alles, was übrig ist von ihrem Lieblingstopf, den sie mit Mutters Hilfe gemacht hat. Doch jetzt muss sie weg, bevor die Männer die Kiva verlassen. Sie kickt die Stücke in eine kleine Vertiefung unter der Bärentraube und läuft nach Hause, ungewiss, was sie ihrer Mutter erzählen soll.













Kapitel 5: Nachtisch





Tesuque, Montagabend, 6. August 1990


Als das Licht der niedrigen westlichen Sonne schwächer wurde, hörte Rico damit auf, in die Ferne zu blicken, und griff fest nach seinem Teller, sodass der übriggebliebene Flan wackelte. Wie ausgehungert von dem Erzählen von Teyas Geschichte, verschlang er den Nachtisch mit ein paar Bissen. Syliva atmete mehrmals tief durch, wie eine Taucherin, die beim Auftauchen an Sauerstoffmangel litt. Sie fragte sich, ob die Geschichte Rolf auch so nahegegangen war wie ihr.

Kein Laut, außer dem Klirren von Kaffeetassen in Untertellern. Rolf brach den Bann, indem er dem Kellner winkte und ihm eine Kreditkarte reichte. Rico protestierte leicht, aber Rolf bestand darauf zu zahlen.

Bevor der Kellner den Innenhof ganz überqueren konnte, rief ihn Rico zurück. »Haben Sie zufällig eine Landkarte von New Mexico?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

Nachdem er weg war, sagte Sylvia zu Rico: »Wir haben eine Umgebungskarte im Auto.«

»Auf der Karte könnte ich Ihnen vielleicht die Gegend zeigen, wo man glaubt, dass Honovi Pueblo sich befand. Wie viele der Pueblos aus der spanischen Kolonialzeit ist Honovi spurlos verschwunden.«

Ricos geheimnisvolles Lächeln, kaum sichtbar im schwachen Licht, veranlasste sie zu fragen: »Aber Sie wissen wo—?«

»Wenn ich mir die Karte ansehen könnte . . .«

Rolf sprang auf. »Ich hole sie.« Er ging durch den Innenhof und verschwand im Speisesaal.

Sylvia dachte an Teya zurück. Sie wollte unbedingt wissen, was mit dem Pueblo-Mädchen geschah.

Ricos Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Darf ich Ihnen mal eine persönliche Frage stellen?«

Seine Stimme war so leise, Sylvia zögerte, unsicher ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Äh. Eine persönliche Frage?« Als sie sein leichtes Nicken erblickte, sagte sie: »Was möchten Sie gern wissen?«

»Wie gut kennen Sie Rolf?«

Sie unterdrückte das Verlangen, ihm zu sagen, es ginge ihn einen Dreck an. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn zu beleidigen, da er die Entscheidung traf, ob sie Tosca singen durfte. Also sagte sie in einem gleichmäßigen Ton: »Warum fragen Sie?«

»Ihre persönlichen Angelegenheiten gehen mich ja nichts an, aber es ist halt so, dass mir diese ganze Sache bizarr vorkommt. Slater hat Rolf seit der Schulzeit nicht mehr gesehen. Trotzdem verrät er ihm, dass er einen bedeutenden indianischen Fund gemacht hat.« Da sie schwieg, fuhr er fort: »Ich denke, Sie können verstehen, warum ich Zweifel hege. Meine wirkliche Frage ist wohl, ob Sie Rolf gut genug kennen, um

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Peter Bernhardt
Images: Peter Bernhardt
Cover: Peter Bernhardt
Editing: Günter Forster
Translation: Peter Bernhardt
Layout: Peter Bernhardt
Publication Date: 12-10-2020
ISBN: 978-3-7487-6799-2

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