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Meinen ersten Mord beging ich – nein, so muss es heißen: Mein erster Mord passierte mir, da war ich noch keine dreizehn Jahre alt.

Ich litt an Kinderasthma. Deshalb verbrachte ich die Sommerferien im Jugendheim Mitterberghaus im Massiv des Hochkönigs, um dort an der Höhenluft zu genesen. Dieser fromme Wunsch meiner Mutter ging zwar leider nicht in Erfüllung. Das Asthma wurde dadurch um nichts besser. Aber es hatte schlimme Konsequenzen.

Übrigens hatte ich mein Leiden zweifellos der Nikotinsucht meines Stiefvaters zu verdanken. Der pflegte nämlich hemmungslos die Wohnung mit seinem Zigarettenrauch zu verstinken und zu verpesten, ohne an das Wohl der Lunge eines kleinen Kindes zu denken. Und ohne daran zu denken, dass dieses kleine Kind einmal größer, älter, reifer werden und für diese ständigen Misshandlungen Rache nehmen könnte.

Ich war damals rasend fromm. Kein Wunder, wenn man Kinder in eine Klosterschule schickt, in meinem Fall ins Melker Stiftsgymnasium. Obendrein hatte ich eine annehmbare Sopranstimme und durfte daher mit ihr als Sängerknabe, oft genug nur zähneknirschend, sämtliche Gottesdienste und sonstige Festivitäten der frommen Patres in der prachtvollen barocken Stiftskirche verschönern – und gleichzeitig meinen Eltern das Schuldgeld ersparen. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich gar nicht eine Höhere Schule besuchen dürfen. Wie mein Stiefvater so schön sagte: „Was braucht der Bub ins Ginasium gehen?“ Er meinte: Die Hauptschule tut’s für diesen Lausbuben doch auch. Aber Gott sei Dank …

Also: Jugendheim Mitterberghaus am Hochkönig im Bundesland Salzburg, irgendwann im Sommer des Jahres 1953. Nachmittag. Freizeit.

Freizeit: Das bedeutet, unsere braven Erzieher und Erzieherinnen hatten kein eigenes Programm für uns, sondern ließen uns tun und lassen, was uns beliebte. Uns zum Beispiel Spiele ausdenken. Im Spieleausdenken war ich immer schon gut. Denn dafür braucht man Phantasie. Und was ein Meistermörder werden will, braucht, so wie es aussieht, besonders viel davon. Sonst haben sie ihn gleich, die Bullen, oder wie wir damals sagten, die Schantis (Gendarmen).

Und welches Spiel dachte ich mir an diesem speziellen Tag aus? Es klingt vielleicht bizarr oder einfach blöd. Aber mir war’s damals ernst. Ich beschloss, einmal zur Abwechslung Priester zu spielen und als solcher eine „heilige Messe zu zelebrieren“, wie es die frommen Patres nennen. Für eine katholische Messe benötigt man bekanntlich Hostien. Und solche besaß ich an diesem Tag sogar. Natürlich keine richtigen Hostien. Sondern kleine, runde Kekse, die ich in meiner Phantasie in Hostien verwandelte. (Und die Hostien verwandeln sich ihrerseits angeblich in den Leib Christi.) Diese Kekse waren mir erst tags zuvor von edlen Spendern geschenkt worden.

Besagte edle Spender waren zwei fröhliche amerikanische Soldaten, die zur allgemeinen Überraschung in einem Jeep in unmittelbarer Nähe unseres Kinderheimes aufgetaucht waren. Das ergab natürlich ein Riesenhallo, und rasch waren sie von einer kleinen Schar von Büblein umringt, die sie und ihr Gefährt wie Besucher aus einer fernen Galaxie bestaunten. Und irgendwie waren sie das ja auch, zumindest für alle, die so wie ich aus der sowjetischen Besatzungszone stammten und noch nie erlebt hatten, dass sich Besatzungssoldaten mit der einheimischen Bevölkerung oder auch nur mit uns Kindern abgaben. (Ich muss allerdings zugeben, dass ich in dieser Hinsicht auch schon Gegenteiliges gehört habe.)

Sie, die Amis, redeten uns nämlich sofort leutselig an, natürlich auf Englisch. Und das war, jedenfalls für mich, ebenfalls eine Sensation. Denn das waren die ersten englischen Worte, die ich aus dem Munde sogenannter Native Speakers hörte. Ich sagte mir, eine solche Gelegenheit kommt für mich nie wieder. Und da alle anderen stumm blieben – ihnen hatte offensichtlich Ehrfurcht oder Feigheit den Mund verschlossen –, beantwortete ich kurz entschlossen alle ihre Fragen, so gut ich’s eben konnte. Auf Englisch, versteht sich. Ein Wort ergab das andere, und zwischen ihnen und mir entwickelte sich eine lebhafte Plauderei. Die zwei Amerikaner freuten sich offensichtlich über unser, nein, mein Interesse. Und ich freute mich, dass ich meine bescheidenen, aber mühsam erworbenen Englischkenntnisse endlich einmal praktisch anwenden konnte.

Zu meinem Missvergnügen ertönte plötzlich aus dem Heim laut und deutlich die Glocke, die alle zum Abendessen zusammenrief. Und augenblicklich machten alle kehrt und sausten dem Futtertrog entgegen, um ja nicht zur Abfütterung zu spät zu kommen und eventuell hungrig zu Bett gehen zu müssen, oder vielleicht auch nur, um nicht von den Erzieherinnen wegen Säumigkeit gemaßregelt zu werden – alle, sagte ich, außer mir und dem Emil. (Mit ihm hatte ich mich inzwischen bestens angefreundet.) Mir wäre es einfach unhöflich oder sogar unzivilisiert erschienen, den so netten und freundlichen Amerikanern mitten im Satz schnöde den Rücken zu kehren, ohne sie wenigstens ausreden zu lassen, und auch, ohne mich von ihnen zu verabschieden.

Der Lohn der „guten Tat“, wenn ich so sagen darf, blieb nicht aus. Der eine, der sich als Jeremy vorgestellt hatte, hatte auf einmal ein Papiersackerl in der Hand und warf es mir, fröhlich lachend, zu, ehe er uns seinerseits fortschickte. Ich war so gerührt, dass ich mich kaum richtig bedanken konnte. Erst auf dem Rückweg öffnete ich das Sackerl. Es war voller Kekse, und sie schmeckten himmlisch. Wir kosteten sie natürlich auf der Stelle, Emil und ich. Und sie erinnerten mich in ihrer Größe und Gestalt tatsächlich an die Hostien in der Kirche.

In der Nacht kam mir dann die Idee, einige davon wirklich als Hostien zu verwenden und mit ihnen Priester zu spielen. Als Altar würde dabei am besten wohl einer der vielen Felsen in der Umgebung dienen. Gedacht, getan. Am nächsten Tag forderte ich den Emil auf, mir als Ministrant zur Seite zu stehen, und marschierte mit ihm zu einer etwas abseits gelegenen niedrigen Felsstufe, die ich zum Altar erklärte und wo wir in unserem Spiel voraussichtlich ungestört bleiben würden.

Vor diesem behelfsmäßigen „Altar“ knieten wir uns nieder, falteten, wie es sich gehört, brav die Hände. Und dann begann ich feierlich zu psalmodieren: „Kyrie eleison! Kyrie eleison! Kyrie eleison! Christe eleison!“ und so weiter, und so fort, so gut ich’s halt konnte, sprich, soweit ich mir die Texte, egal, ob lateinisch oder deutsch, von meinen gesanglichen Darbietungen bei den Proben und in der Stiftskirche selbst gemerkt hatte. (Kyrie eleison und Christe eleison sind natürlich griechische Worte. Aber das wusste ich damals noch nicht.) Und der Emil sekundierte mir, so gut er’s konnte, eifrig als Ministrant. Sängerknabe war er zwar keiner, aber wenigstens eifriger Kirchengeher und wirkte in seiner Heimatpfarre, im Gegensatz zu mir, als echter Ministrant.

 

In dieser Form „zelebrierten“ wir also hingebungsvoll diese kindliche (oder, wenn man will, kindische) Imitation einer katholischen Messe. Da verspürte ich, völlig unverhofft, einen harten Schlag am Hinterkopf, verlor das Gleichgewicht und kollerte ein paar Meter den steilen Hang hinunter, ehe ich mich zum Glück in einem Gebüsch verfing. Gleichzeitig hörte ich eine wütende Stimme schreien, was der Peter und der Emil da treiben, sei eine Gotteslästerung, eine Blasphemie, und das dürfe auf keinen Fall ungesühnt bleiben.

Diese Stimme kannte ich. Sie gehörte dem Horstl, einem großen und kräftigen Buben, der uns und alle anderen schon oft terrorisiert hatte. Nur, dass er so wahnsinnig fromm war, dass er unser Spiel als Gotteslästerung betrachten konnte (den Ausdruck Blasphemie kannte ich noch nicht), das hätte ich ihm niemals zugetraut. Was ich damals noch nicht wusste, aber früher als gedacht lernte: Terrorisieren, oder sagen wir, knechten kann einer alle anderen nur dann, wenn alle anderen, oder zumindest fast alle anderen sich terrorisieren und knechten lassen. (Diese Regel gilt selbstverständlich auch und vor allem in der Politik.) Jedenfalls hatten wir uns alle und hatte auch ich mich bisher stets als fügsam und nachgiebig gezeigt, nämlich dem Horstl gegenüber.

Ich rappelte mich auf und sah, dass auch der Emil ein Opfer seiner Fäuste geworden war. Und das gab mir den Rest. Wie durch ein Wunder war meine Fügsamkeit mit einem Schlag vorbei, verflogen, vom Winde verweht. Ohne ein Wort zu sagen, stürmte ich hinauf zu unserem „Altar“, wo der Horstl noch immer wütete und uns Gemeinheiten ins Gesicht schrie. Sicher hätte er nie erwartet, dass einer von uns beiden die Hand gegen ihn erheben würde. Wir waren ja – in seinen Augen – samt und sonders Arschlöcher und Feiglinge.

Nun, das mit den Arschlöchern konnte ich nicht beurteilen. Jedenfalls, Feigling wollte ich ab sofort keiner mehr sein. Meine Faust traf ihn offenbar so unvorbereitet, dass nun er das Gleichgewicht verlor und den steilen Hang hinabzukollern begann. Ich selber war hinter ihm her und traktierte ihn so oft und so häufig mit Fußtritten, dass er es nicht schaffte, den Absturz zu stoppen und wieder auf die Füße zu kommen, um mir die nun wohl mehr als verdiente Abreibung zu verpassen.

Letzteres musste ich natürlich verhindern. Und aus diesem tiefen Grunde lenkten meine Fußtritte seinen Absturz in eine ganz bestimmte Richtung, nämlich auf eine Geländekante zu, unterhalb deren eine hohe Felswand klafft. Dort angelangt, versetzte ich ihm einen allerletzten, sozusagen den ultimativen Fußtritt. Und im nächsten Moment war Horstls verhasste Gestalt hinter besagter Geländekante verschwunden. Ich hörte noch einen leisen, aber grausigen Schrei und dann nichts mehr.

Mein erster Schrecken wich sehr rasch einer heimlichen Erleichterung – heimlich deshalb, weil ich sie mir gegenüber natürlich nicht zugeben konnte. Das verbietet ja die christliche Ethik. Da lautet doch eines dieser Zehn Gebot: Du sollst nicht töten.

Aber vielleicht habe ich den Horstl eh nicht getötet, und er hat diesen Absturz überlebt und muss halt in ein Krankenhaus, um seine Verletzungen zu heilen? Das wäre eine wunderbare Lösung des Problems. Dann hätte ich das Fünfte Gebot gar nicht übertreten und müsste trotzdem keinerlei Abreibung befürchten. Und auch alle anderen bräuchten vor dem Gewalttäter keine Angst mehr zu haben.

Solche Gedanken bestürmten mich, während ich mich vorsichtig bis zur Geländekante vorarbeitete, um hinabzuspähen und die Lage zu erkunden. Und was ich da erblickte, ließ mir das Blut in den Adern erstarren, und die Knie wurden mir gefährlich weich. Am Fuß der Felswand lag nämlich ein blutiges Bündel Mensch. Und dieses Bündel lag dort wie ein mit roter Farbe beschmierter Sack Kartoffeln und sah dem Horstl kaum noch ähnlich. Worauf sich mein Gedankensturm zu einem regelrechten Orkan auswuchs. Ich weiß nicht, wie lang ich da, wie vom Gorgonenhaupt versteinert, hinunterstarrte und mich in einem schlimmen Alptraum zu befinden glaubte.

 

Von dieser Versteinerung wurde ich erst erlöst, als ich hinter mir Emils mehr oder weniger unartikulierte Stimme hörte. Sie klang zuerst verwundert und dann bestürzt. Schließlich wurde sie aber wieder vollständig artikuliert.

„Himmel! Was hast du gemacht?“, stieß er voller Entsetzen hervor. Und diese Frage war ohne jeden Zweifel an mich gerichtet.

„Wieso ich, du Spinner?“ fuhr ich ihn wütend an. „Und schrei doch nicht so! Müssen das alle hören?“

„Na sicher“, erwiderte er mit unsicherer Stimme. „Sie müssen ihn doch retten. Und je früher, umso besser.“

„Jetzt spinnst du aber total. Damit wir zwei sofort als die Bösewichte dastehen, die ihn da hinunter befördert haben. Willst du das?“

„Nein, nein, natürlich nicht. Übrigens, wenn mich nicht alles täuscht, hast du ihn da ganz allein hinunter befördert, gell. Ich jedenfalls nicht.“

„Soso. Du nicht. Dann hat dich also der liebe Horstl verschont und nur mich misshandelt?“

„Mich verschont? Nein, überhaupt nicht. Was glaubst du, wie mir der Hinterkopf weh tut! Und dazu alle meine Rippen!“

„Weiß ich doch. Und nur, weil ich das gesehen hab und dich rächen wollte, bin ich auf den Horstl los. Jetzt kannst du also nicht mehr behaupten, du hast damit nichts zu tun, und nur ich wäre der Bösewicht.“

„Na ja, so gesehen ...“

Und dann wusste Emil nicht mehr weiter.

„Wir können nur hoffen, dass uns keiner gesehen hat. Das wird sich ja in Kürze herausstellen. Und daher müssen wir jetzt schnell weg und so tun, als ob nichts passiert wär.“

„Ja, ja, da magst du schon recht haben. Andererseits ... Wenn wir rasch Hilfe holen, könnte er vielleicht noch gerettet werden.“

„Er? Dieser Gewalttäter? Dieser Unhold? Glaubst du nicht, dass alle aufatmen werden, wenn sie von ihm nicht mehr tyrannisiert und unterdrückt werden?“

„Ja, sicher. Aber trotzdem ...“

Und wieder wusste Emil nicht weiter und machte ein unglückliches Gesicht.

Um ihm die Entscheidung, was jetzt zu tun sei, abzunehmen, gab ich ihm einen (nicht allzu festen) Stoß und sagte: „Komm! Wir gehen jetzt hinauf zu unserem Altar und feiern die heilige Messe fertig.“

Emil warf, im Gegensatz zu mir, noch einen scheuen Blick über die Felswand hinunter. Anscheinend konnte er sich an dem Anblick des blutigen Kartoffelsacks da unten nicht sattsehen. Und erst, als er sich sattgesehen hatte, folgte er mir zögernd den Hang hinauf. An unserem „Altar“ angekommen, stellten wir allerdings fest, dass unsere sogenannten „Hostien“ nicht mehr auffindbar waren. Die müssen bei Horstls Überfall verloren gegangen sein. Wie? Keine Ahnung.

„Na ja, macht auch nichts“, bemerkte ich, mehr zu mir selbst. „Sicher kann man auch ohne Hostien eine Messe zelebrieren.“

Und dann überraschte mich Emil, der inzwischen nachgekommen war, mit der gemurmelten Bemerkung: „Du, Peter, ich mag nicht mehr. Kannst allein zelebrieren. Sicher kann man auch ohne Ministranten ...“

„Was, so ein Feigling bist du?“, höhnte ich.

„Wieso Feigling? Ein Feigling, kommt mir vor, bist eher du. Und überhaupt, glaub ich, müssen wir ehestens melden, was da jetzt passiert ist.“

„Du, ja nicht!“, herrschte ich ihn an und nahm sogleich eine drohende Haltung ein, um ihm ein bisschen Angst zu machen. „Willst du uns ins Unglück stürzen?“

Und um sicherzugehen, dass er sein Vorhaben auch wirklich fallen lässt, verzichtete ich darauf, meine „heilige Messe“ fertig zu zelebrieren, und begleitete ihn zurück ins Heim. Und ließ ihn auch dort so lange nicht aus den Augen, bis irgendjemand Horstls Fehlen bemerkte und einer Erzieherin meldete. Diese organisierte sofort eine Suchaktion, zuerst im Haus selbst und dann im Freien.

Natürlich bestand auch jetzt noch immer die Gefahr, dass Emil unser Geheimnis ausplaudert, um die Suchaktion abzukürzen und Horstls Rettung zu beschleunigen. Also behielt ich ihn auch weiterhin scharf im Auge. Aber Gott sei Dank, er plauderte nicht. Er hielt dicht. Meine Überredungskunst, mein gutes Zureden hatte gewirkt – falls es nicht eher meine angedrohte Gewalttätigkeit gewesen war, die ihn davon überzeugt hatte, dass es besser war, so zu tun, wie ich wollte. Nach meiner bisherigen Friedfertigkeit muss sie für ihn wohl ebenso unerwartet gekommen sein wie für den Horstl.

Übrigens war es schon tiefe Nacht, als man diesen mithilfe von Taschenlampen endlich entdeckte. Und da war die allgemeine Bestürzung groß, vor allem unter den Erziehern und Erzieherinnen. Unter den Kindern war sie, soweit ich erkennen konnte, vielfach gemischt mit ausgesprochener Erleichterung. Denn der Horstl war mausetot, sein Leichnam auf erschreckende Weise zerschmettert.

Aber das sahen nur die wenigsten von uns. Denn am nächsten Morgen war er verschwunden, fortgebracht entweder in einem Rettungswagen oder in einem Leichenwagen, und wir wurden alle zu einer langwierigen (und langweiligen) Trauerfeier vergattert. Und da der Emil wirklich dicht hielt, blieb mein Anteil an dieser Tragödie, Gott sei noch einmal gedankt, mein und Emils Geheimnis. Freilich, unsere Freundschaft war seitdem beschädigt, um nicht zu sagen, zerbrochen. Und das tat mir echt leid.

Ja, das hatten wir dem Horstl, diesem dummen Schlägertyp, zu verdanken. Und seinen Absturz, seinen Tod – ja, den hatte er letzten Endes seiner eigenen Dummheit zu verdanken. Und seinem Schlägertum. Und vor allem seiner übertriebenen, fehlgeleiteten Frömmigkeit – oder muss es heißen: seinem Aberglauben? Weil, was anderes als Aberglaube ist es denn zu meinen, im Spiel eine heilige Messe zu feiern sei gotteslästerlich, blasphemisch?

Eine ähnliche Form von Aberglauben kultivierte, muss ich leider zugeben, meine Mutter. Als Sängerknabe hatte ich das in der katholischen Liturgie überaus häufig vorkommende Wort Halleluja ständig im Ohr und sang es daheim zum Spaß gerne und aus vollem Hals in leicht abgewandelter Form als „Hatscheluja“. Dafür wurde ich unfehlbar jedes Mal von meiner Mutter mild gerügt. Ihre Rüge hatte stets denselben Wortlaut: „Bub, tu dich nicht versündigen!“

(Dabei war uns beiden die Bedeutung des Wortes Halleluja völlig unbekannt. Erklärt hat es uns niemand. Heute ist es natürlich ein Kinderspiel, sie zu eruieren. Man fragt einfach bei Madame Wikipedia nach und erhält als Antwort: Der Ausdruck ist hebräisch und bedeutet „Lobet den Herrn!“)

Beschädigt war aber nicht nur meine Freundschaft mit Emil, sondern auch mein Gewissen. Bisher war es ja rein gewesen wie ein Gebirgsbach oder wie frischgefallener Schnee. Jetzt auf einmal war es irgendwie getrübt, besudelt.

Ich sage absichtlich: irgendwie. Denn andererseits fühlte ich mich total unschuldig an Horstls Schicksal – na gut, sagen wir, fast total unschuldig. Und eben dieses „fast“, das trübte und besudelte mein Gewissen „irgendwie“. Und in der Nacht, im Bett, wenn meine Gedanken durch keine äußeren Reize abgelenkt waren, überkamen mich regelmäßig schwere Gewissensbisse und im Schlaf schlimme Alpträume. Nach dem Aufwachen verfluchte ich dann die Alpträume und drängte die Gewissensbisse quasi mit Gewalt zurück und sagte mir: Und du bist doch unschuldig!

Gleichzeitig wurde mir aber klar, wie leicht es ist, einen Menschen vom Leben in den Tod zu befördern und bei all dem unerkannt zu bleiben. Und hoffte, dass ich nie wieder in eine solche Situation kommen werde. Ist es denn wirklich garantiert, dass man dabei unerkannt bleibt? Je mehr ich in unserer Tageszeitung, die ich, ungeachtet des ausdrücklichen und wiederholten Verbots des Stiefvaters, ungerührt und mit Vergnügen las, ganz einfach, weil ich ansonsten kaum etwas an Lesestoff besaß ... Also noch einmal von vorn: Je mehr ich in der Zeitung von Morden lesen konnte, die die Polizei aufgedeckt hatte, umso mehr bezweifelte ich meine ursprüngliche Vermutung, dass es für einen Mörder leicht ist, unerkannt zu bleiben. Und umso mehr empfand ich das menschliche Leben (oder jedenfalls mein Leben) als Alptraum.

 

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So vergingen die Jahre, und wir, die Österreicher, bekamen den langersehnten Staatsvertrag, und die zehn Jahre – oder wenn man die Nazizeit nach dem sogenannten

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Karl Plepelits
Cover: Schmetterlingstal. By The Aga - https://www.flickr.com/photos/theaga/267592661/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22521092
Publication Date: 05-12-2023
ISBN: 978-3-7554-4220-2

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