Liebes Tagebuch!
Melk, Sonntag, 10. Jänner 1954.
Ha, ist das lustig: Anlauf nehmen und über die zugefrorenen, nur mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten „Lacke“ rutschen! Besonders dann, wenn dieses Vergnügen mit einem Wettkampf verbunden ist, so nach dem Motto: Wer kann am weitesten rutschen?
Denn natürlich vergnügte ich mich nicht allein mit so einer Rutschpartie, sondern zusammen mit meinen Freunden Hansi und Wuki oder vielmehr gegen sie. Es sollte ja ein Wettkampf sein. Na, und außerdem hält die Bewegung warm.
Hält warm? Ja, klar, solange man halt trocken bleibt. Aber irgendwann stand ich schon fast als Sieger fest, da splitterte und krachte unter meinen Füßen unverhofft das Eis. Und schon steckte ich bis zu den Oberschenkeln im Wasser und spürte die eisige Hand des Sensenmanns auf meiner Brust.
Ja, mein liebes Tagebuch, heute Nachmittag ist schon wieder was passiert. Ein Unglück, ja eine Katastrophe, oder sagen wir, ein peinliches Mißgeschick. Und wo? Natürlich, in der Au, wo sonst. Und wie? Indem ich im Eis einer zugefrorenen Lacke eingebrochen bin. Kein besonders schöner Abschluß eines vergnüglichen Wettbewerbs zwischen uns dreien: dem Hansi, dem Wuki und mir. Wir wohnen zwar alle drei in Melk, sehen uns aber sonst meistens nur in unserer Klasse. Es ist dies, damit das ein für allemal klar ist, die 4. Klasse des Stiftsgymnasiums.
Der offizielle Name unseres Wohnortes lautet zwar Melk an der Donau. Aber genaugenommen liegt die Klosterstadt Melk gar nicht an der Donau selbst, sondern an einem Arm der Donau. Sie wird hier von ausgedehnten Auwäldern begleitet. Es ist wahrscheinlich nicht allgemein bekannt, daß sich in ihnen zahlreiche kleinere und größere Lacken befinden. So nennt man hier die Teiche oder kleinen Seen, deren Wasser offensichtlich nach dem Prinzip der kommunizierenden Gefäße mit dem der Donau verbunden ist. Das hat zur Folge, daß der Wasserspiegel besagter Lacken extrem unterschiedlich sein kann. Und wenn die Donau Hochwasser führt, steht sowieso jedesmal die ganze Au unter Wasser.
Im Winter führt die Donau normalerweise Niederwasser. Und nicht nur das. Der Wasserspiegel sinkt dann ständig noch weiter ab. Letzteres merkt man besonders deutlich an den Eisdecken der Lacken und des Donauarms, wenn auch er zufriert. An den Ufern bildet sich nämlich immer eine abschüssige Eisschicht, und die Eisdecke selbst ist in Ufernähe offenbar dünner oder brüchiger, jedenfalls weniger tragfähig als weiter draußen.
Ja, also, mein liebes Tagebuch, da gab unter meinen Füßen das Eis auf einmal nach, und ich steckte bis zu den Oberschenkeln im eiskalten Wasser. Na, zum Glück war ich da schon nahe dem Ufer. Ja, zu meinem Glück. Denn wäre ich das nicht gewesen, ich wäre wohl bis zum Hals oder womöglich bis über den Haarschopf im Wasser gesteckt, und was dann?
Klar, daß ich nach dem ersten Schrecken schnell aus dem Wasser herauszuklettern versuchte. War übrigens gar nicht einfach. Ja, Grund hatte ich unter den Füßen, Gott sei Dank. Aber wie kommt man in so einem Fall ins Trockene?
Nach längeren vergeblichen Versuchen schaffte ich es endlich, auf festeres Eis herauszukrabbeln und zur Sicherheit auf allen vieren ans nahe Ufer zu robben. Der Hansi und der Wuki waren mir natürlich sofort zu Hilfe geeilt, wohlgemerkt, indem sie einen großen Bogen um das von mir produzierte Eisloch machten. Im Prinzip war ich wohlbehalten, nur eben klatschnaß und hätte möglichst schnell trockengelegt werden müssen. Sollte ich mir vielleicht zur Sicherheit die Hose samt Schuhen und Socken ausziehen und so nach Hause wandern? Das war natürlich eine total absurde Idee. Da wäre mir ja noch kälter geworden, abgesehen von dem peinlichen Aufsehen, daß ich damit erzeugt hätte. Und überhaupt, gar so schlimm war es eigentlich gar nicht, die nasse Kälte. Nur die Schuhe versuchte ich von dem eingedrungenen Wasser zu befreien, um leichter marschieren zu können. Aber vorm Sterben hatte ich keine Angst mehr.
Meine einzige Sorge bestand jetzt darin, mein Mißgeschick zu Hause geheimzuhalten. Ich mußte unbedingt verhindern, daß meine Mutter vor nachträglicher Angst außer sich gerät und ein Mordstheater macht. Am Ende fühlt sie sich gar bemüßigt, nach dem Pracker, sprich, dem Teppichklopfer, zu greifen und, wie dem Teppich auf der Teppichstange den Staub, mir den angeblichen Übermut aus dem Hinterteil zu klopfen.
Das Vergnügen auf dem Eis war damit definitiv beendet. Sofortige Heimkehr war geboten. Auf dem Heimweg mitten durch die Stadt würde mein beklagenswerter Zustand zum Glück wohl unbemerkt bleiben. So hoffte ich zumindest.
Aber nein, meine Hoffnung wurde enttäuscht. Wir überquerten gerade den Hauptplatz, da hielt mit quietschenden Reifen ein Auto rechts neben uns, auf der Fahrerseite ging das Fenster auf, und eine mir nur allzu bekannte Stimme rief mir zu: „Ja, Plepelits! Hörst du, wie schaust denn du aus?“
Es war der Pater Friedrich, unser Latein- und Deutschprofessor im Stiftsgymnasium. Daß er in einem Auto herumkurvte, war für uns keine Überraschung. Soviel wir wissen, ist er der Einzige unter all den Patres im Stift, der ein solches Privileg besitzt. Dies ist uns übrigens ein ständiges Rätsel. Im Religionsunterricht haben wir doch gelernt: Ordenspriester haben Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobt. Wie kommt dann also der Pater Friedrich zu einem eigenen Auto?
Verflixt, ausgerechnet der Friedrich! Wie peinlich!
Vor Schreck brachte ich nicht einmal einen Gruß, geschweige denn eine Antwort auf seine Frage heraus. Der Hansi und der Wuki sagten brav, zwar etwas zaghaft: „Grüß Gott.“ Sie erkannten meine Verlegenheit, und mit bedauernder Stimme verriet der Wuki ihm das Offensichtliche: „Naja, eingebrochen ist er halt.“ Und der Hansi fügte eifrig hinzu: „Ja, wissen Sie, das Eis war auf einmal zu dünn.“
Der Pater Friedrich machte große Augen. „Das Eis? Welches Eis denn?“
„In der Au. Auf einer Lacke.“
„Soso.“
Ich nickte heftig, und es gelang mir zu sagen: „Ja, ja. Und jetzt muß ich schleunigst heim, mich umziehen, trockenlegen.“
„Ja, Plepelits, dann beeil dich, daß dich nicht der Sensenmann holt“, rief er, schloß das Fenster und brauste davon.
„He, so nett kenne ich den Friedrich gar nicht“, bemerkte der Wuki, während wir weitermarschierten. (Eigentlich heißt er ja Hans-Horst, aber aus unerfindlichen Gründen wird er von Eltern, Verwandten und Freunden unverdrossen Wuki genannt.)
Und der Hansi: „Unglaublich. Direkt mitfühlend. Sind wir von ihm gar nicht gewohnt.“
Und ich: „Na, hoffentlich verrät er mich nicht an meinen Stiefvater. Ihr wißt ja, der arbeitet im Stift. Als Buchhalter. Wenn nur meine Mutter nichts merkt.“
Und Gott sei Lob und Dank, bis jetzt hat sie jedenfalls nichts gemerkt. Der Hansi und der Wuki begleiteten mich zu mir nach Hause. Und es gelang mir, mich durch die tagsüber immer unversperrte Haustür ins Haus und durchs Vorzimmer, an der Küche, dem gewöhnlichen Aufenthaltsraum, vorbei ins leider wie üblich ungeheizte Wohnzimmer zu schleichen. Dort steht nämlich nicht nur mein Bett, sondern auch der Wäsche- und der Kleiderschrank. Und während der Hansi und der Wuki meine Mutter in der warmen Küche mit harmlosen Erzählungen unterhielten, vertauschte ich das nasse Zeug eilends mit trockenem Gewand, ehe ich mich selber in die Höhle des Löwen, das heißt, der Löwin wagte.
Kann man nur hoffen, daß der Pater Friedrich mich nicht verrät. Und daß mich der angedrohte Sensenmann nicht holt.
Liebe Grüße, Dein Karli
Text: Karl Plepelits
Cover: Melk, von der Donau aus gesehen (Teleaufnahme). By Uoaei1 - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68653945
Publication Date: 07-05-2022
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