Lesbos, Sappho und die Päderastie
Mai 2018.
Durch die Zauberwelt der Ägäis kreuzt ein schmucker Motorsegler mit einer kleinen Touristengruppe. Ihr Reiseleiter heißt Professor Pfeifer, der einheimische Fremdenführer nennt sich Periklís.
Eines der Ziele ist die berühmte Insel Lesbos. Während man sich ihr nähert, doziert Pfeifer:
„Nun nehmen wir Kurs auf Lesbos. Periklís sagt natürlich: Lesvos (Leswos). Richtig?“
„Vollkommen richtig.“
„Das erinnert mich daran, dass auch im Deutschen die Koseform von Sebastian Wastl heißt. Und vor allem erinnert es mich an ein Gespräch, das ich einst mit einem griechischen Kommilitonen, er stammte aus Istanbul, in der Gemeinschaftsküche unseres gemeinsamen Studentenheims geführt habe. Er hielt eine Ölflasche mit der Aufschrift Vita in der Hand und bemerkte, genau so heiße der zweite Buchstabe des griechischen Alphabets. Und eigentlich müsste es im Deutschen heißen Alphavit und nicht Alphabet. Meinen Schock von damals habe ich inzwischen natürlich überwunden. Denn heute weiß ich, dass das Beta im Neugriechischen tatsächlich ausgesprochen wird wie Vita: das B (Beta) wie W, und das H (Eta) wie I. Seither habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Griechen überzeugt sind, dass die heutige Aussprache schon in der Antike üblich war. Was, nebenbei bemerkt, nicht einmal ganz falsch ist. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Epoche, die wir klassische Antike nennen, mindestens 1500 Jahre dauerte. Und so wurde eben mit der Zeit aus Lesbos Lesvos, aus Athenai Athinä oder, in der Volkssprache, Athina und aus Perikles Periklís.“
„Ja, aber wieso blieb ein E einmal unverändert und wurde ein andermal zu I?“, warf eine Dame ein. „Entschuldigung.“
„Keine Ursache, Frau Nelly. Die Frage ist absolut berechtigt. Ja, also, im Griechischen gibt es zwei Arten von E: ein kurzes, das Epsilon (E), und ein langes, das Eta (H). Das Epsilon wird immer noch wie E ausgesprochen. Das Eta hat sich zu I gewandelt. Und das TH von Athenai wird heute ausgesprochen wie ein englisches TH. Aber das sind natürlich nicht die einzigen Lautverschiebungen.“
„Und hat sich die Betonung auch so verändert? Ich meine, aus Périkles ist ja Periklís geworden.“
„Nein. Die Betonung hat sich überhaupt nicht verändert. Dass wir Périkles sagen, liegt einfach daran, dass wir seit jeher gewohnt sind, griechische Namen so aussprechen, als ob sie lateinisch wären, weil eben Latein viele Jahrhunderte lang die europäische Schul- und Wissenschaftssprache war. Die griechischen Betonungsregeln sind eben ganz anders als die lateinischen. Perikles hieß also in Wirklichkeit Periklés. Ebenso betonte man Sophoklés, Olympía, aber Ólympos, Aischýlos, Euripídes, Aristophánes, Thykydídes, Aristotéles, Hómeros, Aléxandros, und so weiter. Aber man betonte auch zum Beispiel Sólon, Pláton, Apóllon, Lésbos, und dergleichen mehr. Alles klar?“
„Nein, leider. Sehr verwirrend. Aber trotzdem vielen Dank.“
„Ja, wie gesagt, so wurde eben aus Lesbos mit der Zeit Lesvos.“
„Da müssten wir ja auch Lesven sagen statt Lesben“, rief eine andere Dame kichernd dazwischen.
„Ein wahres Wort“, erwiderte Pfeifer lachend. „Sie wissen ja, dass die lesbische Liebe nach Lesbos benannt ist, und auch, warum.“
„Sappho“, rief die kichernde Dame.
„Genau. Lesbos ist die Heimat Sapphos, der größten griechischen Lyrikerin, zumindest der Antike – manche Kenner sagen sogar: der größten Lyrikerin der Weltliteratur. Die spätere Antike nannte sie die zehnte Muse. Sie lebte um 600 vor Christus. Sappho ist eine leidenschaftliche, eine atemberaubende Dichterin. Ihre Lyrik zeichnet sich aus durch Gefühlsstärke und Gefühlsinnigkeit. Sie schreibt von Glück, von Sehnsucht, von Liebeskummer. Und jawohl, es handelt sich um ihre Liebe zu jungen Mädchen. Generationen von Philologen haben sich bemüht, diese als quasi harmlos, als rein geistig darzustellen. Diese Bemühungen gelten inzwischen als überholt. Heute fungiert Sappho als Schutzpatronin der Lesbierinnen. 2008 haben Lesbier, ich meine, Menschen aus Lesbos, vor einem Athener Gericht beantragt, man möge die Verwendung der Worte lesbisch und Lesbierin im sexuellen Sinn verbieten, weil es die Inselbewohner beleidige.“
„Sehr witzig“, erwidert die kichernde Dame. „Oder vielmehr, höchst sonderbar.“
Und einer der Herren fragt: „Aber war die Homosexualität auch bei den Männern ... Ich meine, da spricht man doch von der griechischen Liebe, oder nicht?“
„Ich nehme an, Sie sprechen von der Päderastie, der Knabenliebe?“
„Ja, genau. So heißt das.“
„Das ist nicht dasselbe wie Homosexualität. Oder sagen wir, eine Sonderform davon. Für die Griechen selbst waren Homosexualität und Päderastie zwei streng getrennte Dinge. Die Päderastie ist, wie der Name sagt, die Liebe eines erwachsenen Mannes, des sogenannten Liebhabers (Erastés) zu einem Knaben, dem sogenannten Geliebten (Erómenos). Und die war sozusagen gesellschaftsfähig. Der Mythos machte ja sogar den Göttervater Zeus zu einem Päderasten. Er entführte bekanntlich Ganymedes wegen dessen außerordentlicher Schönheit auf den Olymp und machte ihn zum Mundschenken der olympischen Göttertafel. Die Entführung durch den Adler des Zeus kannte erst der Hellenismus. Aber schon zur Zeit der Archaik galt als Motiv des Göttervaters die Liebe zu dem schönen Ganymedes. Mit Pädophilie oder Kindesmissbrauch hat Päderastie nichts zu tun. Denn erstens war, außer beim Göttervater, niemals Gewalt im Spiel, nur Werbung, Überredung. Das steht fest. Üblich waren Geschenke, besonders kleine Tiere. Geldgeschenke galten allerdings als unehrenhaft. Zweitens sollten die Knaben schon geschlechtsreif sein. Als ideales Alter galten sechzehn Jahre. Jedenfalls war zwölf die allerunterste Grenze. Es ging also keineswegs um Kinder, sondern um Jünglinge. Und drittens ging es dabei niemals ausschließlich um den sexuellen Aspekt, sondern in erster Linie, zumindest theoretisch, darum, durch eigenes Vorbild den Jüngling zu formen oder, wie es Platon im Symposion (184D-E) sinngemäß formuliert, ihn weise und gut zu machen, ihn in Vernunft und der übrigen Tugend zu fördern und ihm Bildung und die übrige Weisheit zu vermitteln. Jetzt werden Sie sagen, na ja, das ist halt Platon, und der idealisiert doch sicher diese ganze Angelegenheit. Und damit hätten Sie keineswegs ganz unrecht. Denn sein Ideal war tatsächlich die sexuelle Enthaltsamkeit. Nur, die Praxis sah zweifellos ganz anders aus. Die gesellschaftlich akzeptierte Form des Sexualverkehrs zwischen Mann und Jüngling war übrigens der Schenkelverkehr, wie er auch auf Vasenbildern dargestellt wird. Aber ohne jeden Zweifel sind auch andere Praktiken ausgeübt worden.“
Und Periklís: „Im heutigen Griechenland gibt es so was natürlich schon längst nicht mehr. Insofern ist die Bezeichnung griechische Liebe absolut irreführend. Aber wir wollten ja von Lesvos reden. Also, die Insel hat noch einen zweiten Namen. Seit dem Mittelalter heißt sie nach ihrer Hauptstadt auch Mytilíni, altgriechisch Mytilene. Sapphos Geburtsort ist aber nicht Mytilíni, sondern Eresós. Heute heißt er Skála Eresú, Landeplatz von Eresós. Das heutige Eresós liegt 4 Kilometer landeinwärts. Skála Eresú ist der vielleicht beliebteste und interessanteste Badeort von Lesvos, jedenfalls einer der schönsten. So beliebt ist er nicht nur wegen seines langen, dunkelgrauen vulkanischen Sandstrands, eines der besten von ganz Griechenland. Sondern vor allem, weil hier Sappho geboren wurde. Sicher ist das zwar nicht. Aber die spätere Antike war davon überzeugt. In Rom befindet sich eine Büste der Dichterin, die römische Kopie eines griechischen Originals des frühen 5. Jahrhunderts vor Christus, mit der Inschrift: ΣΑΠΦΩ ΕΡΕΣΙΑ, Sappho von Eresos. Daher ist der Ort eine Art Pilgerzentrum für Lesbierinnen. Jedes Jahr findet im September das internationale Women’s Festival statt. Und überhaupt ist der Ort ein Zentrum spiritueller, kultureller und künstlerischer Aktivitäten. In ihm könnten Sie eine Reihe von modernen Sapphostatuen entdecken.“
Und damit übergab er wieder dem Professor das Wort.
„Bei weitem nicht so berühmt wie Sappho ist der lesbische Romancier Longos. Er lebte im 2. Jahrhundert nach Christus. Weltberühmt hingegen sind die zwei Protagonisten seines auf Lesbos spielenden Schäferromans Daphnis und Chlóë. Er zeugte ein reiches Nachleben in Literatur, Musik und bildender Kunst. Ich erinnere nur an die Masse neuzeitlicher Schäferromane und sonstiger bukolischer Dichtung. Von Daphnis und Chlóë befruchtet wurden auch Oper, Operette und Ballett. Als Beispiele seien genannt die gleichnamige Operette von Jacques Offenbach und Maurice Ravels ebenfalls gleichnamige symphonie choréographique. Der Roman des Lesbiers Longos ist, mit einem neudeutschen Ausdruck, ein Coming-of-Age-Roman, voller sublimer Erotik. Goethe begeisterte er aufs Höchste.
Ein weiterer berühmter Sohn der Stadt Eresos, wenn ich ihn kurz erwähnen darf, ist der Philosoph Theophrast (370 bis 287 vor Christus), Schüler von Platon und Aristoteles, einer der umfassendsten Gelehrten der Antike, unter anderem Begründer der Botanik. Bis in die Neuzeit unüberholt waren seine Bücher über Pflanzenkunde und Pflanzenphysiologie. Eine starke Wirkung auf die europäische Aufklärung übte seine Schrift Charaktêres aus, eine Sammlung von dreißig scharf gezeichneten und fein differenzierten Menschentypen.“
„Na dann“, murmelte die kichernde Dame von vorhin. „Freuen wir uns also auf Lesbos!“
Das Titelbild zeigt eine Potraitbüste der Dichterin Sappho mit der Inschrift "Sappho Eresia" (Sappho von Eresos). Marmor, 2. Jahrhundert nach Christus, Kopie eines Originals aus dem frühen 5. Jahrhundert vor Christus. Rom, Palazzo dei Conservatori, Musei Capitolini.
https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-was-sie-schon-immer-ueber-griechenland-wissen-wollten/
"Ganz ausgezeichnet und wirklich lehrreich. Toll bebildert!" (katerlisator)
"Sehr spannend und informativ" (Tina, der wir auch die schönen neuen Coverbilder meiner fünf Bände der Reihe "Reiselust" verdanken)
Text: Karl Plepelits
Cover: Von Marie-Lan Nguyen - Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1208766
Publication Date: 04-08-2022
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