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Das Wunder einer Herbstnacht

 

„Du, Ferdinand, sie fährt mit“, ruft sie triumphierend aus. „Die Mutter vom Alexander. Sie hat angeboten, dich am Lenkrad hie und da abzulösen. Ob dir das recht ist?“

„Na, und ob mir das recht ist“, erwidere ich und fühle mich durch diese Mitteilung sogar außerordentlich erleichtert. Es ist ja doch eine ganz schön weite Strecke bis Nizza.

 

Ja, anlässlich des achtzigsten Geburtstages meiner Mutter weile ich – zum ersten Mal seit wie vielen Jahren? – zurzeit in Melk. Soll sie doch über meinen „Räuberbart“ lästern, wenn’s ihr Spaß macht. Hier lebt sie unter einem Dach mit meinem jüngeren Bruder, seiner Doris und Enkelin Andrea.

Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Doch zu meiner Bestürzung finde ich das Haus in größter Aufregung vor. Andrea, so jammern sie, ist „ausgerissen, abgehauen, durchgebrannt“, noch dazu mit ihrem Freund Alexander, dem Sohn von Doktor Zaim, dem Primarius im Melker Spital, einem gebürtigen Syrer, wie Omi missbilligend feststellt.

Wahrscheinlich hat sie unsere Vorwürfe nicht mehr ausgehalten.“ So mein Brüderlein Martin.

Das ist also der Kummer meiner Lieben. Und der erinnert mich an meinen eigenen unauslöschlichen Schmerz über den Verlust meiner geliebten Nasrin. Sie war Perserin und studierte Medizin in Graz. Ihr Ehemann ist Ägypter. Wegen ihrer Liebe zu mir hat er sie in Ägypten ermordet. Das ist mittlerweile fünfzehn Jahre her. Aber die Sehnsucht, genauer, die sehnsüchtige Erinnerung an sie, ist, nach so vielen Jahren noch, frisch wie am ersten Tag. Ungebrochen ist meine Trauer.

 

Bravourös übersteht Omi die vielen Besuche zu ihren Ehren. Unsere Verwandtschaft setzt sich nämlich nicht aus drei Sippen zusammen. Nach dem Tod meines Vaters heiratete meine Mutter noch einmal, und dieser Ehe entstammt Martin. Während nun ich den Namen meines leiblichen Vaters, Hahn, trage, heißt meine Mutter, eine geborene Longhi, seit ihrer Verehelichung mit meinem Stiefvater wie dieser Swoboda und ebenso Martin samt Familie.

Erschöpft sitzen wir am Abend alle in Omis Wohnzimmer. Da läutet im Vorzimmer das Telefon. Martin saust hinaus, hebt ab.

„Unsere Ausreißer sind aufgetaucht“, schreit er, während er danach hereinstürmt. „Beim Onkel Roger.“ (Er lebt in Nizza.)

Sagenhaftes Freudengeheul. In Nizza! Nicht zu fassen!

Martin wirft mir einen durchdringenden Blick zu und sagt mit auffallend leiser, beschwörender Stimme: „Du, Ferdinand? Du hast doch Zeit. Würdest du ...“

Er zögert, weiterzusprechen.

„Hinfahren und sie abholen?“, ergänze ich.

„Würdest du das für uns tun? Du siehst ja ...“

„Na klar. Ehrensache.“

„Jö, du bist ein Schatz“, jubelt Doris, fällt mir um den Hals und küsst mich auf die Wange.

„Ja, dann fahr ich am besten gleich los. Jetzt in der Nacht ist weniger Verkehr.“

Und Martin: „He, Ferdinand, du bist wirklich ... Aber ich glaube, die Zaims sollten wir ...“

Und Doris, ohne Martin ausreden zu lassen: „Ha, die Zaims! Ja, klar. Die müssen wir sofort ...“

Und während sie noch spricht, stürzt sie auch schon ans Telefon, um Alexanders Eltern die Freudenbotschaft zu verkünden und danach triumphierend zu verkünden, dass seine Mutter angeboten hat, mitzufahren und mich am Lenkrad hie und da abzulösen.

 

Martin lotst mich durch das nächtliche Melk bis zu einer Stelle, wo wir auf dem Gehsteig zwei dunkle Gestalten stehen sehen. Und im selben Moment, wo mein Blick auf Frau Zaim fällt, durchzuckt es mich von Kopf bis Fuß, und ich habe eine Halluzination und glaube, wie schon so oft, Nasrin leibhaftig vor mir zu sehen. So sehr bin ich nach über fünfzehn Jahren innerlich noch immer von ihr erfüllt. Die Figur der Frau Doktor, ihre Gesichtszüge, soweit sie in der Dunkelheit zu erkennen sind, ihre Stimme – all dies erinnert mich an meine brutal ermordete Nasrin. Nur, ihre Worte dringen nicht bis in mein Bewusstsein vor. Das Gleiche gilt für das, was der Herr Doktor zu mir sagt.

Also gut: Kurze Verabschiedung. Unverzüglicher Start.

Die Frau Zaim neben mir versinkt in anhaltendes Schweigen, wirft mir aber, soweit ich in der Dunkelheit aus den Augenwinkeln erkennen kann, immer wieder verstohlene Blicke zu.

„Wie lang werden wir denn in etwa brauchen?“, beginnt sie nach geraumer Zeit.

Ich werfe ihr einen raschen Seitenblick zu, der mich abermals in einige Verwirrung stürzt. „Na ja, wenn wir in einem Zug durchfahren ... Das sind ja weit über tausend Kilometer. Ich finde es wirklich sehr lieb von Ihnen, dass Sie mich ab und zu ablösen wollen.“

„Versteht sich doch von selbst.“

„Sagen Sie, ist Ihr Alexander auch von daheim geflüchtet?“

„Wieso geflüchtet?“

„Na, die Andrea ist von daheim geflüchtet.“

„Haben sie ihr Vorwürfe gemacht?“

„Ich glaube, ja.“

„Und wieso? Weil sie mit unserem Alexander ...?“

„Klar.“

„Na so was.“

Sie schüttelt den Kopf und versinkt erneut in brütendes Schweigen. Mir selber geht, frei nach Goethe, ein Mühlrad im Kopf herum.

Endlich finde ich den verlorenen Faden wieder.

„Versteh ich Sie also richtig? Sie haben Ihrem Alexander keine Vorwürfe gemacht?“

„Sie meinen, wegen der Andrea? Nein, wirklich nicht. Da ist also die Idee, scheint’s, von ihr ausgegangen.“

„Schaut so aus. Sie soll die Vorwürfe ihrer Oma nicht mehr ausgehalten haben.“

„Was für Vorwürfe?“

„Tja, das ist es eben. Äußerst unsachliche, würde ich sagen.“

„So? Welche denn?“

„Wollen Sie’s wirklich wissen?“

„Ja, wieso denn nicht?“

Und dazu lässt sie ein entzückendes Lachen hören, das mich sofort wieder an Nasrin erinnert und mich veranlasst, ihr einen schnellen Blick zuzuwerfen.

„Ja, wissen Sie, sie ist halt noch voller Vorurteile.“

„Welche Vorurteile denn?“

„Na ja, so ausländerfeindliche halt.“

„Das gibt’s doch nicht. Wo wir doch so gut integriert sind. Wir haben nie irgendwelche Probleme gehabt, die auf Ausländerfeindlichkeit zurückzuführen wären. In Melk akzeptiert man uns wie Einheimische. Übrigens besitzen wir schon lang die österreichische Staatsbürgerschaft.“

„Und dabei fällt mir auf, dass Sie praktisch akzentfrei sprechen.“

„Ja? Danke für das Kompliment.“

Hier versickert das Gespräch. Auf den nächsten zehn oder zwanzig Kilometern begnüge ich mich mit gelegentlichen Seitenblicken und kann beobachten, dass auch sie mir nach wie vor verstohlene Blicke zuwirft.

 

„Frau Doktor?“, beginne ich erneut.

„Ach, sagen Sie doch Frau Zaim zu mir. Ich bin keine Frau Doktor. Leider.“

„Also gut. Frau Zaim. Ihr Sohn Alexander. Haben Sie ihm diesen Namen gegeben, um ihm eventuelle Schwierigkeiten wegen Ausländerfeindlichkeit und so zu ersparen?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie denken wahrscheinlich, Alexander ist ein typisch abendländischer Name.“

„Na freilich.“

„Das ist aber ein großer Irrtum. Er ist auch im Orient bekannt und beliebt.“

„So? Hätte ich nicht gedacht.“

„Das glaube ich Ihnen gern. Im Arabischen sagt man nämlich nicht Alexander, sondern Iskandar.“

„Aha, und da nennen Sie also Ihren Sohn daheim Iskandar. Sehe ich das richtig?“

„Ach, jetzt schon lang nicht mehr. Übrigens wird bei uns ausschließlich deutsch gesprochen.“

„Aha.“

„Apropos Alexander“, fahre ich nach längerem Schweigen fort. „Wissen möcht ich, wie weit die heutige Jugend geht. Ich meine, in der Liebe.“

„Sie meinen, wie weit Alexander und Andrea gehen?“

„Ja eben. Ob sie schon ... na ja, ob schon was haben miteinander. In unserer Jugend ist man in diesem zarten Alter ja höchstens gegangen miteinander. Wir waren ja nicht einmal aufgeklärt. Aber heutzutage ... Hat Ihnen Ihr Alexander was geflüstert?“

„M-m, hat er nicht. Aber wenn Sie meinen persönlichen Eindruck hören wollen ... Mir kommen sie immer so vor wie Daphnis und Chloe, falls Sie die Geschichte kennen.“

„Ja, glauben Sie? Na, freilich kenne ich die Geschichte von Daphnis und Chloe. Lese ich doch auf jeder Griechenlandreise vor. Ich bin nämlich Reiseleiter. Drum hab ich eben momentan genügend Zeit.“

„Oh, Reiseleiter sind Sie? Und Sie lesen auf Ihren Reisen Daphnis und Chloe vor?“

„Ja, ja. Wieso erstaunt Sie das so?“

„Weil ... Weil ... Ich hab’s nämlich auch auf einer Griechenlandreise kennengelernt. Mit einem sehr netten Reiseleiter. Der hat’s vorgelesen. Ist aber schon lang her.“

„Aha, machen das andere auch? Freut mich zu hören.“

Darauf bleibt sie mindestens ein paar Kilometer weit stumm, ohne ihr Gesicht von mir abzuwenden. Und das verwirrt mich auf die Dauer so sehr, dass mir überhaupt nichts zu sagen einfällt. Gleichzeitig fühle ich eine unerklärliche Erregung in mir aufsteigen.

Schließlich wendet sie ihr Gesicht wieder von mir ab, lehnt sich zurück und beginnt langsam und auffallend zögernd: „Sagen Sie, wär’s möglich ... wär das möglich, dass wir uns schon einmal begegnet sind?“

Ob wir uns schon einmal begegnet sind? Jetzt bin ich vollkommen durcheinander. Mein Gefühl sagt mir: Ja. Mein Verstand sagt mir: Nein. Wenn Gefühl und Verstand im Zwiespalt sind, wer hat dann recht? Natürlich der Verstand. Oder nicht?

„Dass wir uns schon einmal begegnet sind? Nein. Nein, bestimmt nicht. Wieso ... Wieso glauben Sie?“

Doch anstatt meine Frage zu beantworten und mich von meinem immer noch andauernden Zwiespalt zu erlösen, versinkt sie neuerlich in brütendes Schweigen. Wenn ich doch nur ihr Gesicht sehen könnte!

Irgendwann wendet sie sich wieder mir zu und betrachtet mich, soweit ich erkennen kann, lange Zeit mit beunruhigender Aufmerksamkeit, bleibt aber stumm.

Schließlich glaube ich es nicht mehr auszuhalten und schicke mich gerade an, sie zu fragen, wieso sie mich so intensiv, und ohne ein Wort zu sagen, anschaut, oder ob wir uns vielleicht doch schon einmal begegnet sind, oder ihr zu gestehen, dass sie mich an eine Frau erinnert, die ich vor langer Zeit gut gekannt habe, die aber zu meinem allergrößten Leidwesen nicht mehr unter den Lebenden weilt. Da höre ich sie mit auffallend leiser und unsicherer Stimme sprechen.

„Sagen Sie, Herr Swoboda, sind Sie ... tun Sie schon lang reiseleiten?“

„O ja“, erwidere ich, erleichtert über den Aufschub, „schon seit gut zwanzig Jahren. Aber ...“

„Seit gut zwanzig Jahren?“, ruft sie mit aufgeregter Stimme dazwischen.

„Ja, ja, nur ... Wissen Sie, meine Melker Verwandten heißen schon Swoboda. Aber ich nicht.“

„Nein?“

„Nein, ich heiße Hahn.“

„Hahn?“, stößt sie mit noch aufgeregterer Stimme hervor. „Und ist Ihr Vorname ... Ist Ihr Vorname vielleicht ... Ferdinand?“

„Ja, ja. Aber wieso ...“

„Waren Sie ... Haben Sie sich vielleicht früher einmal rasiert, ich meine, regelmäßig?“

„Ja ... ja, ja ... Wieso ...“

Sie lässt mich aber nicht ausreden, sondern ruft in höchster Aufregung: „Ha! Dann hab ich mich also doch nicht getäuscht. Aber durch Ihren Bart und dadurch, dass ich dachte, Sie heißen auch Swoboda ... Aber dass Sie mich nicht erkennen. Erkennen Sie mich wirklich nicht?“

Ich werfe ihr einen raschen Blick zu. Mit großen Augen starrt sie mich an. Und wieder habe ich das Bild meiner verlorenen Nasrin vor mir. Aber das ist doch nicht möglich. Welcher Dämon narrt mich mit einem solchen Trugbild?

„Sie erinnern mich ...“, murmle ich in möglichst sachlichem Ton, um nicht meine Erregung mit mir durchgehen zu lassen, „Sie erinnern mich wahnsinnig an eine Frau, die ich einmal kannte, aber ...“

Schweigen.

„Sagen Sie“, fahre ich zögernd fort, „Sie kommen doch aus ... Sie sind doch Syrerin. Oder nicht?“

„Mein Mann ist Syrer“, sagt sie ebenso leise und ruhig wie ich; aber die unterdrückte Erregung in ihrer Stimme entgeht mir nicht. „Ich selber bin ...“

Sie stockt.

„Perserin?“, stoße ich hervor und werfe ihr einen raschen Blick zu.

„Ja“, flüstert sie.

„Ja?“, rufe ich und trete auf die Bremse. „Heißen Sie zufällig ... Heißen Sie mit Vornamen zufällig Nasrin?“

„Ja“, flüstert sie. Und von da an höre ich nur noch ihr schweres Atmen.

 

Mit größtmöglicher Vorsicht lenke ich den Wagen auf den Pannenstreifen, bringe ihn zum Stehen, schalte den Motor ab, drehe mich nach meiner Beifahrerin um – und schon hängt sie, von heftigem Schluchzen erschüttert, an meinem Hals.

„Bist du ... Bist du wirklich meine Nasrin?“, stammle ich, meiner Sinne kaum noch mächtig.

Heftiges Nicken.

„Nasrin Muhi ad-Din?“

Heftiges Nicken.

„Nasrin, die Frau des Dschamal?“

Heftiges Nicken.

„Nasrin, die ewige Liebe des Ferdinand Hahn?“

Erneutes heftiges Nicken. „Ja“, haucht sie unter Tränen.

„Ja?“

Und im selben Augenblick schwinden meine letzten Zweifel, und ich schlinge meine Arme um ihren Körper, küsse ihr tränenüberströmtes Gesicht und breche gleichzeitig selbst in Tränen aus und schäme mich ihrer nicht.

Träume ich? Wache ich? Ich weiß es nicht, bin wie in Trance. Wie aus weiter Ferne höre ich die Worte: „Ach, mein Ferdinand! Ach, mein süßer Liebling! Glaub mir, ich hab dich nie vergessen.“

Und das ist nun eindeutig Nasrins Stimme.

Aufs Neue schießen mir die Tränen hervor, reichlicher und hemmungsloser als zuvor. All der Schmerz, all die Trauer, all die unerfüllte Sehnsucht der letzten fünfzehn Jahre bricht unvermittelt hervor und überflutet mein Inneres mit derselben Gewalt, wie wenn ein Staudamm bricht und die angestauten Wassermassen das ganze Tal überfluten und alles mit sich reißen.

Irgendwann geht die Überflutung zurück, die Wassermassen fließen ab, meine Tränen versiegen. Ich nehme Nasrins Gesicht in beide Hände und bedecke es mit meinen Küssen, und zwischen den Küssen stoße ich, immer noch schluchzend, hervor: „Ich dich ja auch nie. Oh, wenn du wüsstest, wie viel Sehnsucht ich um dich ausgestanden habe, wie viel Schmerz, wie viel Trauer!“

„Trauer?“

„Na, du bist gut.“

Ich versuche ihr ins Gesicht zu schauen. Aber es ist viel zu finster, um Einzelheiten wahrzunehmen, außer wenn einmal ein Fahrzeug vorbeiflitzt.

„Komm, lass dich anschauen“, murmle ich und schalte die Innenbeleuchtung ein. „Bist du wirklich meine Nasrin?“

Nun, wo die Überflutung meines Innern vorbei ist, kommen die Zweifel zurück. Ist das ein Phantom? Sitze ich einer Sinnestäuschung auf? Habe ich Halluzinationen? Narrt mich meine Erinnerung?

Aber nein, das ist doch eindeutig das Gesicht meiner Nasrin, zwar mit einer anderen Frisur und natürlich älter geworden – älter und reifer, älter und schmäler, älter und mit einigen Falten, die mir neu sind, und dadurch ausdrucksvoller, aber um nichts weniger schön, als ich es in Erinnerung habe. Und ihre Stimme – nein, die hat sich überhaupt nicht verändert. Ihr Akzent – ja, der hat sich allerdings stark verändert.

„Na, mir scheint, du kennst mich nicht mehr“, flüstert sie, unter Tränen leise lachend.

„Ja, aber wie ist denn so was möglich?“

Hierauf reiße ich mich zusammen und sage in sachlicherem Ton: „Weißt du was? Wir können hier nicht stehen bleiben. Fahren wir bis zum nächsten Parkplatz, ja? Dort können wir aussteigen und ...“

„Und dann kannst du dich vergewissern“, ergänzt sie, leise lachend, „ob ich wirklich deine Nasrin bin.“

Zugleich macht sie sich von mir los, aber nicht, ohne mir noch einen unbeschreiblich süßen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Ich betrachte sie noch ein kleines Weilchen, und dabei drohen meine Gefühle erneut die Oberhand über mich zu gewinnen. Aber mit einiger Mühe gelingt es mir diesmal, sie zu beherrschen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schalte ich die Innenbeleuchtung aus, starte und fahre los. Der nächste Parkplatz ist bald erreicht. Ich biege in ihn ein, halte an, stelle den Motor ab.

 

Stumm und regungslos, so sitzen wir nebeneinander und schauen uns in der Dunkelheit unverwandt an. Der Mund bleibt uns verschlossen.

„Wollen wir aussteigen?“, murmle ich schließlich.

Draußen schließe ich sie in meine Arme, und sie schließt mich in ihre Arme. Und so stehen wir aneinander gepresst, ohne uns zu küssen, genießen die so lang vermisste körperliche Nähe. Erst nach geraumer Zeit beginnen wir uns zu küssen und küssen uns, als wollten wir die ganzen verlorenen fünfzehn Jahre auf einmal nachholen.

Bald werden meine Hände lebendig. Sie suchen und finden einen Weg durch Nasrins Kleidung. Endlich, nach so langer Zeit, können sie wieder ihre wundervolle, weiche, samtige, mir noch so vertraute Haut spüren. Ich juble auf – und erleide einen Schock. Denn Nasrin löst ihre Arme von meinem Rücken, greift nach meinen Händen, entfernt sie von ihrer Haut.

„Bitte nicht“, flüstert sie.

„Nicht?“, stoße ich fassungslos hervor. „Ja, wieso ...?“ Gleichzeitig presse ich sie noch fester an mich. „Aber hast du nicht gesagt, du hast mich nie vergessen?“

„Ach, wie könnte ich jemals aufhören, dich zu lieben.“

Und dieser Satz, dieser eine Satz, übt auf mein angeschlagenes Gemüt eine fürchterliche Wirkung aus. Augenblicklich breche ich erneut in Tränen aus und heule hemmungslos in ihre Lockenpracht hinein und kann mich lange nicht beruhigen.

„O du mein armer Liebling“, flüstert sie. „Komm, beruhige dich. Ich liebe dich ja noch genauso wie früher. Aber solang du mich festhältst und mich so an dich drückst, kann ich nicht denken, kann ich dir nichts erklären. Komm, lass mich los, gib mir die Hand, und gehen wir ein bisserl auf und ab, ja? Und ich erklär dir dann alles.“

Ich halte sie noch ein Weilchen eng umschlungen. Aber dann tue ich wortlos wie geheißen und nehme sie bei der Hand. Und so beginnen wir auf dem dunklen Parkplatz hin- und herzuwandern.

Schließlich bleibe ich stehen, wende mich ihr zu.

„Ach, Nasrin“, seufze ich. „Wenn du wüsstest, wo ich dich überall gesucht hab. Sogar in ägyptischen Grabgewölben. Und jetzt darf ich nicht einmal mehr deine Samthaut spüren?“

„Hast du denn gedacht ...“

„Ja, was glaubst denn du? Nach allem, was du mir über die ägyptischen Ehemänner erzählt hast. Und wenn dein Mann auch so blöd daherredet.“

„Du meinst, mein Exmann?“

„Na freilich. Der Dschamal.“

„Und der hat blöd dahergeredet?“

„Na, und wie. Der hat doch echt so getan, als ob er dich ... als ob er dich ins Jenseits befördert hätte. Und mich hätte er tatsächlich um ein Haar ...“

„Umgebracht?“

„Ja eben, stell dir vor.“

„O nein! Mein armer Liebling!“

„Siehst du, mich nennst du deinen armen Liebling. Aber deine Samthaut lässt du mich nicht spüren.“

„Na ja, das ist ja genau das, was ich dir erklären sollte.“

Bangen Herzens warte ich auf die angekündigte Erklärung. Nasrin lässt mich lange warten und erweckt den Eindruck, als habe sie einen schweren inneren Kampf auszufechten.

„Bitte“, beginnt sie schließlich mit auffallend ernster Stimme, „sei mir nicht böse. Aber wenn du mich wirklich liebst, wirst du für meine Situation Verständnis haben. Schau, mein Mann ...“

„Dein jetziger Mann?“

„Genau, mein jetziger Mann ... Weißt du, ich darf ihn nicht enttäuschen.“

„Liebst du ihn so?“

„Ich bin ihm zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich ...“

Sie bricht ab, und ich höre sie schwer atmen.

„Liebt er dich so?“

„Er ist mir in meiner schwersten Zeit beigestanden und hat mich in meinem Unglück ...“

Wieder verstummt sie mitten im Satz, offensichtlich überwältigt von ihren Erinnerungen.

„Du meinst, nachdem du so plötzlich verschwunden warst?“

„Ja. Ja.“

„Und verschwunden bist du, weil du schwanger warst. Ist das richtig?“

„Ah, hat er dir das erzählt, der Taugenichts?“

„Ach wo, kein Sterbenswörtchen. Sondern er hat so getan, als wärst du zusammen mit seinem Bruder nach Ägypten geflogen, um deine Schwiegermutter zu pflegen, und dort gestorben. Nein, die Marilyn hat’s mir erzählt.“

„Die Marilyn? Wer ist das?“

„Na, weißt eh: Sein Betthaserl.“

„Ach so. Ja, ich bin im Bilde. Aha, die hat’s dir erzählt?“

„Na ja, ich hab sie mit vieler Mühe ausfindig gemacht und angerufen. Ich hab mir gedacht, die weiß am ehesten, wo du steckst.“

„Und dabei hat sie dir verraten, dass ich schwanger bin?“

„So ist es.“

„Ja, ich war schwanger, und er hat’s gemerkt und mich so lang beschimpft, drangsaliert und mit dem Umbringen bedroht, bis ich’s geglaubt hab und abgehauen bin.“

„Aha. Und wohin?“

„Nach Wien.“

„Ach, und dort?“

„Bei einer ehemaligen Schulfreundin, die in Wien studierte, hab ich Unterschlupf gefunden. Aber dann sind Komplikationen aufgetreten, und ich bin ins Spital, in die Ambulanz. Und dort hab ich meinen jetzigen Mann kennengelernt. Der war Assistenzarzt. Und er hat sich in selbstloser Weise meiner angenommen und mir geholfen. Und sich dabei in mich verliebt. Er hat sich mit größter Geduld um mich bemüht und mich schließlich überredet, ihn zu heiraten, nachdem ich mich vom Dschamal hab scheiden lassen. Und er hat sich als der beste, liebevollste, einfühlsamste, großzügigste, toleranteste, rücksichtsvollste Ehemann erwiesen. Ein paar Jahre später hat er dann eine Stelle am Melker Krankenhaus bekommen und bald danach eine Privatordination eröffnet. Das ist also, in groben Umrissen, meine Lebensgeschichte. Und jetzt verstehst du vielleicht, warum ...“

„Warum du ihn unter keinen Umständen enttäuschen möchtest?“, versuche ich zu ergänzen.

Sie nickt.

„Und warum du deinen alten Liebling unter keinen Umständen ...“

Aber Nasrin legt mir ihre Hand auf die Lippen und flüstert: „Pst! Red nicht so. Bitte mach’s mir nicht noch schwerer, als es für mich so schon ist.“

Und im nächsten Augenblick bricht sie in Tränen aus und hängt auch schon, bitterlich schluchzend, an meinem Hals.

„So schwer ist es für dich?“, flüstere ich.

„So schwer ist es für mich“, flüstert sie.

„Sei nicht so traurig“, flüstert sie nach langem Schweigen. „Denk einfach daran, dass ich dich trotzdem liebe.“

Dieses süße Geständnis wirkt in meinem durch den Aufruhr der Gefühle getrübten Bewusstsein wie ein Lichtstrahl in der Finsternis.

„Und dass du überhaupt lebst und gesund bist“, flüstere ich. „Und dass ich dich wiedergefunden hab. Das ist ja schließlich die Hauptsache, nicht?“

Sie nickt feierlich. „Und dass ich dich wiedergefunden hab. Und von jetzt an wollen wir ständig in Kontakt bleiben, gell?“

„Das wollen wir. Unbedingt.“

„Und du wirst mir nie böse sein?“

„Ich werde dir niemals böse sein. Es wird mir genügen zu wissen, dass du lebst, dass es dir gut geht und dass du glücklich bist.“

„So lieb hast du mich?“

„So lieb hab ich dich.“

Und diese Abmachung besiegeln wir mit einem feierlichen Kuss.

Siehe auch

 

 

 

 

 https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-wenn-dich-jemand-auf-die-rechte-wange-kuesst/

 

"Die Leseprobe hat mir sehr gut gefallen, ich werde sicher weiter lesen. LG Lissa" (straubing)

Angaben zum Autor

Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.  

Imprint

Text: Karl Plepelits
Cover: Von Adam Elsheimer (1578 – 1610): Die Flucht nach Ägypten (1609) – The Bridgeman Art Library, Objekt 505268, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25489279
Publication Date: 10-20-2021

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